Donnerstag, 16. April 2015

Erinnerungen 3

Herz-Buben und Herz-Könige

  Das Deutsche Kardiologische Zentrum in der Spital-Allee ist eine dieser Medizin-Maschinerien, die die Phobien, die sie bei Patienten auslösen, sofort in die Diagnostik mit einbeziehen. Hypochonder sterben dort entweder gleich als nicht mehr zu rettender Notfall oder werden als geheilte und gefeierte Wunder der Medizin nach Entrichtung einer sechsstelligen Summe für all die angewandte Apparate-Medizin entlassen.
  Unser Patient begibt sich tatsächlich freiwillig dorthin. Und das kam so. Die Jahrzehnte lang diagnostizierte hysterische Herzphobie war nun  tatsächlich seit neuestem auch auf dem EKG zu erkennen.
  "Vasculäres Vorhofflimmern? Da habe ich gerade einen Vortrag bei einem Kongress auf den Bahamas zu gehört. Da haben Sie aber Glück, der Kollege, der eine neue Operationsmethode entwickelt hat, arbeitet hier in München, im DKZ. Wir haben zusammen Golf gespielt. Netter Kerl. Ich rufe ihn an. Und Sie führen dann ein informelles Gespräch mit ihm, ob Sie in seine Patientengruppe passen."
  Dr. Pavel Peiler, der internistische Begleiter unseres Patienten, war immer wieder von erfrischendem Optimismus und wusste eben auch Hypochonder zu motivieren. Stets ein neuer Therapie-Ansatz oder ein neues Wundermedikament aus dem Ärmel des weißen Kittels zaubernd und in beruhigendem Ton schier unendliche Lebenserwartungen in Aussicht stellend.
  In der Woche drauf wählt unser Patient von diesem Optimismus regelrecht infiziert die ihm wie ein Familienschatz überlassene angebliche Geheimnummer des Ordinarius:
  "DKZ ambulante Notfälle - bitte bleiben Sie in der Leitung, wir kümmern uns gleich um Sie!"
  Die Version von Richard Strauss' "Also sprach Zarathustra" die im Vorspann zu Stanley Kubriks "Odyssee 2001" ertönt, läuft im Anschluss an diese Bandansage. Und sie läuft - und sie läuft. Ein Schuft, wer schlechte Assoziationen dazu hat, aber der ungeduldige Patient legt dann doch nach fünf Minuten auf und wählt die Nummer gleich noch einmal.
  Diesmal kommt er eine Runde weiter:
  "Wenn Sie einen Untersuchungstermin vereinbaren wollen, wählen Sie die 1. Wenn Sie bereits in einer unserer Patientengruppen sind, wählen Sie die 2. Wenn Sie einen Operationstermin haben und eine Bettenbelegung vornehmen wollen, wählen Sie die 3. Für alle weiteren Fragen wählen Sie die 4."
  Der Patient wählt die 4.
  "DKZ ambulante Notfälle - was können wir für Sie tun?" Die gleiche Stimme wie auf dem Band, aber diesmal live. Der Patient nennt seinen und den Namen seines Internisten und erwähnt dessen freundschaftliches Verhältnis zum Ordinarius:
  "Ich habe nur eine Frage an den Herrn Professor zu seiner neuen Ablationsmethode. Alle eingehenden Untersuchungen wurden aktuell schon im Haderner Herzzentrum durchgeführt."
  "Wir erteilen am Telefon grundsätzlich keine Auskünfte. Sie müssen sich schon herbemühen."
  "Aber ich habe doch nur eine informelle Frage?"
  "Schon möglich, aber dazu brauchen Sie einen formellen, persönlichen Termin."
  "Könnte ich denn heute noch vorbei kommen?"
  "Freie Termine haben wir erst im neuen Quartal wieder."
  "Aber das wären dann ja noch mehr als zwei Monate."
  "Um genau zu sein 64 Tage. Ich kann Sie für den 7. Juni 9 Uhr eintragen, und nehmen Sie sich bis mindestens 12 Uhr nichts anderes vor. Das kann hier dauern."
  "Aber ich habe doch nur eine einzige kurze Frage."
  "Soll ich Sie nun eintragen?"

  Der Patient ist eine mündiger Patient und als Hypochonder so in einschlägiger Literatur zu Hause, dass er auf diversen Gebieten nahe an der Qualifikation zum Facharzt wäre, hätte ihm der Herr nur rechtzeitig ein Zeichen gesandt.
  Nach zwei Stunden Surfen im Internet hat er sich das Referat von Professor Dr. K. Thäter, gehalten am 19. Januar 2007 in Nassau, samt einiger Stellungnahmen in diversen Foren herunter geladen. Die Foren verraten auch, dass der Herr Ordinarius beim Golf bescheißt, aber das ist im Moment nicht so wichtig. Ein amerikanischer Kollege gibt im Internet zu bedenken, dass die neue Methode nur anzuwenden ist, wenn der Vorhof keine wesentliche Vergrößerung aufweist.
  Das wäre die Frage gewesen...
  Nun steht der Patient im Foyer des DKZ und kommt sich vor wie in der Abflughalle eines Großflughafens. Displays geben alle möglichen Hinweise, aber da ist der Patient schon nicht mehr von dieser Welt. Sein Herz, das unter der bewährten Medikation in den letzten Wochen kaum zu spüren war, schlägt Salti in der Brust. Die Krankenhaus-Phobie, die nicht geringer geworden ist, seit sich die beiden medizinischen Koryphäen in seinen Gehirn-Hälften einquartiert haben, schnürt ihm die Luft ab. Da sie Hirngespinste sind, hat er sich zu seinen Schemen Signalements ausgedacht, um sie greifbarer zu machen:
  Frau Dr. Jungfreud ist demnach eine hoch gewachsene Frau vom Typ "Kumpel zum Pferde stehlen", die immer so praktisch gekleidet erscheint, als bräche sie gerade zu einer ausgedehnten Wanderung auf. Dazu passt auch das robuste Schuhwerk mit dessen Zentimeter dicken Gummisohlen sie durch das Gehirn des Patienten quietscht.
  Professor Altuus wirkt hingegen wie das Matterhorn ohne Schnee. Im Gehen leicht nach hinten durchgebogen, überragt sein scharfes Profil alles auf schroffe hochnäsige Weise. Wenn es in Krankenhäuser geht, übernimmt er selbdritt meist das Kommando - wie der Mannschaftskapitän bei einem Heimspiel. Das heißt, der für das Außenverhältnis zuständige Patient adaptiert dessen stets ungeduldige Betrachtungsweise von leicht schräg oben hinten herabgebeugt. So einer schaut natürlich nicht auf Displays, sondern spricht den ersten halbwegs kompetent Aussehenden durch raschen Blick auf dessen Namensschild an:
  "Herr Kollege Stadlmeier! Ich hätte da eine Verabredung mit Professor Dr. Thäter. Wo finde ich den denn?"
  "Durch die zwei Glastüren durch, ganz am Ende des Flurs links. Herr Kollege!"
  Hinten links schwimmt ein leicht fächelnder weiblicher Karpfen in einem Aquarium, das sich als Empfang der kardiologischen Ambulanz entpuppt. Aber das ist jetzt auch schon egal, denn die ‚Karpfin’ betrachtet den Patienten wie einen Wurm, den es zu verspeisen gilt. Professor Altuus will sich – wie man auf Bayrisch sagt - nochmals kurz aufmandeln, zieht es dann aber vor, sich in seine linke Gehirnhälfte zurück zu ziehen. Frau Dr. Jungfreud gibt in solchen Situationen ihre Analytiker-Position - schweigend von hinten rechts -  grundsätzlich sowieso nie auf. Der Patient ist also wieder einmal allein gelassen und nennt eingeschüchtert seinen Namen:
  "Ich habe einen Termin bei Professor Dr. Thäter."
  Fischäugig glubscht sie mit ventilierenden Kiemen in ihren Computer:
  "Ich habe Sie hier nicht drin."
  Des Patienten Herz schlägt unregelmäßige Purzelbäume, bei denen es mitunter kopfüber hängen bleibt:
  "Aber ich habe den Termin schon im April gemacht."
  "Ja, und der Laufzettel für die Untersuchungen? Waren Sie vielleicht noch gar nicht in der Aufnahme? Da kann ich Sie ja gar nicht im Computer haben."
  "Aber ich komme doch gar nicht zu Untersuchungen. Ich habe doch nur eine Frage an den Herrn Professor, das hatte ich doch schon am Telefon gesagt."
  "Wir geben am Telefon keine Auskünfte. Gehen Sie jetzt bitte sofort in die Aufnahme, dann bekomme ich sie vielleicht heute Vormittag noch in den Ablauf."
  Nach einer Viertelstunde steht der Patient mit einem Stoß verschiedener Formulare wieder vor dem Aquarium. Die ‚Karpfin’ ist nun offenbar von einer ausreichenden Menge zu Würmern erniedrigter Patienten gesättigt und friedfertig zuvorkommend, weil sie Laufzettel einstrudeln kann:
  "Jetzt gehen wir erst mal schön zum BelastungsEKG. Hier um die Ecke vor die erste Tür rechts hinsetzen und warten, bis sie aufgerufen werden. Danach kommen Sie wieder zu mir zurück und dann gehen wir gleich zum Ultraschall. Wenn Sie dann wieder zu mir kommen, gehen wir zu Doktor Melitus. Das ist der Assistent vom Professor. Er wird Sie zu den Symptomen befragen und dann sind Sie auch schon beim Professor."
  Der Patient zieht einen dicken Umschlag mit den bisherigen, noch immer aktuellen Arztbriefen aus dem Sakko:
  "Alle Untersuchungen sind ja frisch gemacht worden. Da können wir uns doch Zeit sparen!"
  Sie überfliegt den Inhalt mit nervösem Fächern vor ihrer stattlichen Brust und ist dann leicht empört:
  "Die Untersuchungen sind ja mehr als zwei Monate alt. Wir müssen da immer auf Nummer Sicher gehen."
  "Aber das waren ja aktuelle Ergebnisse, als ich angerufen hatte. Deshalb hatte ich ja die Frage!"
  "Nein. Der Herr Ordinarius will sich grundsätzlich selbst ein Bild machen! Bitte gehen Sie jetzt zum EKG."
  Unbändige Wut packt den Patienten, was dem Blutdruck und dem EKG samt dem Herz-Rhythmus natürlich erst recht nicht gut bekommt.
Ein älterer Herr, der den Dialog durchs Bullauge verfolgt hat, weil er in der Untersuchungstretmühle schon eine Station weiter war und seinen Laufzettel artig abliefern wollte, bemerkt den sich deutlich verschlechternden Zustand des Patienten und versucht ihn zu trösten:
  "Kennen Sie Watten, - das Kartenspiel?"
  "Das ist sehr lieb von Ihnen gemeint, aber ich hätte jetzt wirklich keinen Nerv zum Kartenspielen", der Patient erinnert sich an glückliche Tage mit endlosem Karten klopfen auf Wettkampfreisen, mit "Gstraften", dem "gspannt" Sein, an die drei "Kritischen", die Eichel-Sieben und an den "Belle" und an den "Maxe".
  "Wissen's, hier ist es in jeder Abteilung wie beim Watten. Die Herz-Buben sind nix wert. Am Ende sticht der Herz-König, der "Maxe",  der macht den Reibach. Von 12 Uhr bis 12 Uhr 30 empfängt er die Vormittagsrunde der ambulanten Patienten, lässt sich kurz vom Herz-Buben eine Zusammenfassung geben, murmelt eine Diagnose und eine Medikation - und der nächste bitte! Maximal zwei Minuten pro Patient im Schnitt, bei Privatpatienten etwas länger, bei denen von der Kasse etwas kürzer. Bis dahin den Maschinenpark schön ausnützen und in einer halben Stunde 1000 Euro an Sonderhonoraren einstreichen. Bei welchem Professor sind's denn?"
  "Ich hatte eigentlich nur eine Frage an Professor Thäter...", seufzt der Patient.
  "Ah! Der Herz-K.-Thäter! So nennen's den, weil das früher sein Spezialgebiet war. Jetzt spielt er Golf. Heut ist schönes Wetter, dann geht's schnell. Da will er um Eins am Abschlag stehen..."
  Aus Versehen bleibt der Patient nach dem Gespräch mit dem netten Herrn vor dem Ultraschall sitzen. Alleine, weil er wohl tatsächlich der Letzte im Patienten-Treiben ist.
  "Kommen Sie bitte!", sagt eine sehr hübsche junge Frau im Arztkittel, als sich die Tür zu dem stockfinsteren Raum das nächste Mal öffnet.
Der Patient tritt ein und sieht sich zwei weiteren grünlich bläulich  bestrahlten und erwartungsfroh auf ihn gerichteten Gesichtern gegenüber. Das eine ebenfalls blutjung, das andere - eindeutig der Chef - etwas älter und autoritärer.
  Der Patient nennt artig seinen Namen und reicht im Dunkeln das Klemmbrett weiter. Dann wird hektisch mit Raumton telefoniert:
  "Frau Meixner! Wieso habe ich den Patienten nicht auf dem Bildschirm?"
  "Weil der Patient ja noch gar nicht bei Ihnen sein darf. Er war ja noch nicht bei mir und hat seinen Laufzettel abgegeben. Der muss erst zu mir!"
  Der Patient wirft resigniert ein:
  "Ich hatte doch sowieso nur eine Frage an den Herrn Professor."
  "Ich bin auch Professor, also machen Sie schon mal die Brust frei und legen Sie sich mit dem Gesicht zur Wand. - Frau Meixner! Ich habe jetzt sofort den Patienten auf dem Bildschirm. Der Mann ist ja offenbar der Letzte. Desto schneller kommt doch Kollege Thäter zum Golf oder."
  Räuspern im Telefon:
  "Professor Thäter ist noch nicht in der Ambulanz..."
  Der Chef macht sich ans Werk. Einschmieren, und die kalte Kugel wandert langsam unter der Achselhöhle vom Rücken zur Brust und wieder zurück. Die zwei Facharzt-Aspiranten oder was sie sonst sind, hängen über ihm mit grünen Gesichtern wie Vampire vor dem Zubiss. Sie sind spürbar gespannt, als lauschten sie  dem Rapport beim Entschärfen eine Bombe.
  "Donnerwetter! Das nenne ich mal eine Vorhof-Erweiterung. Da mache ich gleich einen Screenshot. Das sind ja mindestens sechs Zentimeter!
Was für ein prachtvolles Chaos! Schaut nur, wie sich der Muskel bei jedem Wort, das ich sage, unter den Nervenimpulsen in Vibration versetzt. Das ist das schönste Vorhofflimmern, das ich je gesehen habe. Da lasse ich doch mal die Aufzeichnung für die kommende Vorlesung mitlaufen. - Sie können sich jetzt wieder anziehen!"
  Der Patient ist nur noch ein verschrecktes und eingeschüchtertes Nervenbündel, aber setzt sich dennoch zur Wehr, als ihm zum hundertsten Mal hoher Blutdruck, Übergewicht und Raubbau mit seiner Gesundheit vorgeworfen wird:
  "Ich habe eine Krankenhaus- und Arztpraxen-Phobie. So bald ich hier raus bin, ist der Blutdruck wieder normal, das müssen Sie mir glauben. Und außerdem bin ich noch im Muskelabbau-Prozess meiner schwerathletischen Vergangenheit."
  "Ich kann nur das beurteilen, was ich sehe, und da tanzen Sie dem Sensenmann auf der Sichel."
  Punkt 12 Uhr 29 wird der Patient endlich dem Professor Dr. Thäter vorgeführt: ein charmanter, charismatischer Mann. Der Patient richtet die Grüße seines Internisten Dr. Peiler aus.
  "Ah. Guter Mann, der Kollege Peiler. Exzellent im kurzen Spiel. Hat mir - glaube ich - in Nassau 80 Dollar auf den Greens abgezockt. Ja, mein lieber Herr! Mit sechseinhalb Zentimeter Vorhof-Durchmesser geht operativ gar nichts mehr. Da geht Schadensbegrenzung nur noch medikamentös: Blutverdünner und Betablocker schlucken. Aber das hätte ich Ihnen bei Ihrer Vorgeschichte auch am Telefon sagen können. Alles Gute!"
  Da der Professor gleich nach dem Handschlag aus seinem Kittel schlüpft, offenbart er dem Patienten ein Golf-Outfit in gewöhnungsbedürftigem Kanarienvogel-Gelb. Erst jetzt bemerkt der, dass der Professor auch schon bei der Konsultation  Golfschuhe in gleicher Farbe getragen hat.
  Als er am Aquarium vorbeikommt, um sein Klemmbrett abzugeben, ist die Karpfin ausgeschwommen. Vermutlich zum Mittagessen in die Kantine, und der Patient hofft inständig, dort möge sie jemand in die Pfanne hauen. Auf Müllerinnen Art.
  Kaum schließen sich die automatischen Glastüren hinter dem Patienten und er glaubt vor dem DKZ die herrliche Frühlingsluft entspannt einatmen zu können, fällt in seinem Kopf Professor Altuus über Frau Dr. Jungfreud her.
  Wie sie denn den Patienten in dieser für ihn so dramatischen psychologischen Situation so ganz allein habe lassen können... Er solle doch nun mal ganz still sein, kontert die Analytikerin. Wenn der Herr Ordinarius doch nur noch ein Quäntchen seiner alten Autorität eingesetzt hätte, wären sie ja wohl alle drei nach zehn Minuten wieder draußen gewesen...
  Eine Woche später liegt der Arztbrief des DKZ auf dem FAX des Patienten. Er entspricht von der Diagnose und der Medikation her vier anderen Schreiben mit ähnlichen, gewichtigen Briefköpfen und professoralen Unterschriften anderer Institute.
  Der Patient setzt sich an seinen Computer und tippt ein Kapitel mit der Überschrift: "Genesen vom Gesundheitswesen"