Montag, 25. November 2013

Wie es hier weiter geht

Liebe Leser!

Im Januar werde ich hier mit dem portionsweisen  Posten meines dritten Romans beginnen. Die am Bildschirm zu lesenden "Riemen" werden nicht mehr ganz so lang sein wie bei den Passionen, weil diese Erzählung nicht so arg durch Kapitel strukturiert ist.
"Strohfeuer" - so der Titel - behandelt die Liebesbeziehung zwischen einem außergewöhnlich rüstigen 75jährigen und einer genialen, aber etwas blaustrümpfigen Studentin, die fünfzig Jahre jünger ist. Das vor dem Hintergrund einer Familien-Historie, die  sich posthum in Spekulationen verliert. Dabei geht es weniger um menschliche Abgründe als vielmehr um die Verformungen von Charakteren in seelischen Ausnahmezuständen.
Mitten drin als Chronist im vielschichtigen Ränkespiel  wieder einmal der Euch nun hinlänglich bekannte Johannes Goerz...

In der Vorweihnachtszeit werde ich dem Wunsch einer leider sehr früh verstorbenen Mitarbeiterin von mir nachkommen, die mich vor nunmehr drei Jahrzehnten aufgefordert hatte, meinem Reporter-Realismus einmal Poesie und Lyrik entgegen zu stellen.
Also werde ich einen textlichen Adventskalender versuchen, bei dem ich täglich probiere ein Fenster zu Euren Herzen zu öffnen. Dadurch nehme ich zwar in kauf, grandios zu scheitern, aber ich hab es nach all der Zeit wenigstens versucht.

Am 1. Dezember geht es los.

Sonntag, 17. November 2013

Hintergründe zu "Passionen des Johannes"

Jetzt kommen wieder die Fragen "bist du das?", "sind das echte Erlebnisse?", "warst du da überall?"...

Deshalb hier jetzt ein paar erläuternde Informationen:

Ziel war es einen Entwicklungsroman über eine Figur zu verfassen, die die 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland aus verschiedensten persönlichen Blickwinkeln zum Teil sehr hautnah mit erlebt. Immerhin ist das eine historisch einmalige Zeitspanne ohne Krieg auf eigenem Boden gewesen.
Ein literarischer Versuch war es, das Buch aus abgeschlossenen Einzelgeschichten so zusammen zu stellen, dass sie in beliebiger Reihenfolge zu lesen wären. Dass sie sich dennoch so verzahnt haben, liegt wohl daran, dass ich den Reporter bei dieser Art zu Schreiben nicht ganz aus mir herausbekommen habe.

Der Held trägt den Namen meines Großvaters mütterlicherseits als Hommage an einen Mann, der meine Kindheit sehr geprägt hat. Ich habe Johannes mit 90 Prozent meiner Erlebnisse und 10 Prozent meiner Phantasie ausgestattet. Was die Weibergeschichten angeht, war er jedoch deutlich aktiver. Auch bin ich nicht von meiner sehr toleranten Frau, die mir mein wildes Reporter-Leben erst ermöglichte, geschieden. Und um nichts in der Welt hätte ich meine beiden Kinder je im Stich gelassen - wie das viele meiner Kollegen geglaubt haben, ihrem Job schuldig zu sein..

Die Personen der diversen Handlungen sind verfälschte wahre Existenzen. Da ich Namedropping und Angebereien, wen man alles kennt, zutiefst verabscheue, habe ich mit Ausnahme des Bürgermeisters von Shanghai alle Namen geändert. Um ein Beispiel zu geben und doch noch ein wenig anzugeben: Johannes hat nur Richard von Weizsäcker getroffen, während ich auch mit dem Bundespräsidenten Scheel, Carstens und Herzog zu tun hatte. Aus der Hand des Letzteren erhielt ich in der Villa Hammerschmidt sogar eine Auszeichnung...

Jojo existierte tatsächlich unter seinem wahren Namen - dem eines spanischen Granden (wie bei vielen aus der philippinischen Oberschicht) -  und er begleitete mich auch auf meiner zweiten Reise während des letzten "Wahlkampfes" der Ära Ferdinand Marcos. Aber er war weder Transgender, noch schwul. Das ist eine kleine Rache an ihm, weil er mich vor Einheimischen in der Landessprache Tagalog süß lächelnd gerne mit Schatzi ansprach... Dadurch hat er mich überhaupt erst auf die Idee für diese Figur gebracht. Das nicht ungefährliche  Gespräch mit dem Innenminister über das straußsche Pistolen-Geschenk an Marcos hat übrigens tatsächlich so stattgefunden.

Thora hat unter ihrem Allerwelts-Familiennamen und natürlich einem anderen Vornamen zu den Weltklasse-Fotografinnen der  1970er gehört. Der Schmerz, dass ich ihr letztlich nicht helfen konnte, sitzt immer noch tief. Damit sie nicht in Vergessenheit gerät, habe ich unsere tatsächliche Geschichte hier Johannes aufgebürdet.

Die Klassenkameraden und ihre Lebensumstände haben als Typen - wie beschrieben - existiert. Nur habe ich ihre späteren Lebensläufe dramatisch verändert. Gaby hat mir allerdings tatsächlich  die Erkenntnis vermittelt, dass das sanfte Streicheln ihrer Unterarme mit den Fingerkuppen  bei fast allen Frauen später ein wirklicher Ankommer war.

Schuster Sanders war - wie Johannes zugeschrieben - eine prägende Figur meiner Kindheit in Hamburg.

Dr. Mausele hat mir zwar  das Leben gerettet, aber mir natürlich in Wirklichkeit nichts hinterlassen. - Und ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob ich seinem Andenken mit den erfundenen Verstrickungen in die "Dienste" in irgend einer Art gerecht werde...

Ronny ist das Konglomerat aus diversen, existiert habenden DDR-Kollegen. Einem davon hatte ich es wohl zu verdanken, dass ich nie in die DDR einreisen durfte. Seine begleitende Rolle in dieser Geschichte ist komplett erfunden. Auch das Handball-Turnier in Kolin habe ich mir ausgedacht, nicht aber die halbnackte Begegnung mit den Handballerinnen im Schlafraum des Eisstadions. Sie fand aber deutlich vor dem Prager Frühling statt.

Tobi hat mir die Geschichte von der Bestattungs-Zeremonie seines Bruders an einem Lagerfeuer in der Nähe des JimJim-Billabongs im Kakadu-Nationalpark erzählt. Zu der Feier hätte der tatsächliche Clan-Chef allerdings einen Weißen niemals eingeladen.

Jack ist eigentlich eine legendäre Figur des australischen Dichters Jack Davis und wird in  dessen "The Black Poems" besungen. Während meines Aufenthaltes auf Kangaroo Island arbeitete dort ein weißer Park-Ranger mit Vornamen Jack, der das Spurenlesen  (blacktracking) bei den Aboriginals erlernt hatte und deshalb von allen Insulanern so genannt wurde. Den Plot habe ich aus drei Kriminal-Fällen, von denen er mir erzählt hat, zusammengebastelt. Lobster-Monster Alf Ramsey - wenn er denn noch lebt - würde sich sicher freuen, ein Held dieser Erzählung zu sein.

Ed ist unter einem anderen bürgerlichen Namen  der wahre Partner des legendären Serpico beim NYPD gewesen. Allerdings habe ich  mit ihm nicht die Nacht  auf Streife  in der Lower Eastside  verbracht, sondern das war ein amerikanischer Fotograf in meinem Auftrag. Ich lernte Ed erst danach auf einer "Party" in seiner Zweit-Heimat Oberbayern kennen. Der Carnival auf Trinidad war unsere einzige gemeinsame Reportage deren Begleitumstände von Johannes eins zu eins nacherlebt wurden. Ed (jetzt in den 80ern) bombardiert mich bis heute mindestens einmal pro Woche aus dem Internet mit  seinem very strange sence of humor.

Den Hanegg-Schuss durfte ich unter Aufsicht bei Renn-Bedingungen tatsächlich für meine beinahe weltweit erschienene Playboy-Story "Zum Teufel mit dem Tod" befahren. Allerdings zehn Jahre bevor Bill Johnson das Lauberhorn-Rennen gewann. Die angegebene Spitzengeschwindigkeit von Johannes habe ich allerdings selbst noch nicht einmal auf dem untersten Teil  der Mess-Strecke vom Kilometro Lanciato oberhalb von Cervinia erreicht (nachzulesen in meinem Buch "Abenteuer Skilauf - von Nansen bis Thöni").

Die Dramen der desperaten Damen werden, wenn mir die Zeit noch bleibt, in einem anderen Roman erörtert werden. Andeutungsweise werden sie sich hier schon - so sie den Blog besuchen - trotz der enorm verfälschten Charaktere erkannt haben.

Asta hat als Passion von Johannes in der Erzählung nur einen anderen Namen. In Wirklichkeit gehört sie wohl immer noch zu den intelligentesten Frauen auf diesem Planeten.

Sorry Daffi und Sefi, dass ich Euch so ein Mossad-Appeal verliehen habe. Ihr habt doch nur Euren Job gut machen wollen.

Die Masters Of The Universe Pete und Greg sind angelehnt an Spitzenmanager, die ich zwar beruflich traf, die aber so einem kleinen Licht wie mir nie ein Job-Angebot gemacht hätten. Solche Leute hassen Journalisten. Die Begebenheiten waren aber so ähnlich.

Egidius trägt die Züge des Pastors, der mich konfirmiert hat und später eine wichtige Persönlichkeit in der EKD war. Entschuldigung, dass ich beim Abendmal damals so gelacht habe! Der "Marabu" hat aber tatsächlich so geknirscht und gegurgelt. Allerdings habe ich ihn nach  der Konfirmation auch nie mehr wieder gesehen.

Ob Boris - Onkel Boris - so oder anders hieß, ist letztlich egal, denn in Operationen hießen Leute seines Schlages, die ja zum Teil tatsächlich direkte  Nachbarn in meiner Jugend waren, sowieso so, wie es der Anlass verlangte. Die Vorlage für Boris war allerdings wirklich derart schillernd, dass er eine Ausnahme darstellte. Ansonsten war die "dienstliche" Nachbarschaft aber vorsätzlich und unauffällig spießig. Nix 007 oder so...

Samstag, 16. November 2013

Das Legat

  Johannes redete auch später nicht gerne über die Zeit, bis er mit "L'Ultima" auf das vom Vollmond beschienene Meer hinaus gefahren war. Er hatte sie verdrängt. Nur eines gestand er sich ein. Er hätte sie weniger exzessiv verbracht, wenn er geahnt hätte, dass sein Leben danach noch weiter gehen würde...

  Natürlich war von vornherein klar gewesen, dass der bis in die Planung seines Freitodes romantisierende Johannes auch daran scheitern würde, diese Welt ein für alle Mal von seiner Gegenwart zu befreien. Traurig, wenn es nicht so saukomisch rüber gekommen wäre!
   Das Boot „L’Ultima“ war mit seinem betäubt beduselten und mäßig diabetischen Skipper  trotz Langsamfahrt schon im ersten Morgengrauen in die größte Finnwal-Population des zentralen Mittelmeers geraten. Die an Whalewatch-Boote gewöhnten Tiere umkreisten das kleine Boot in Erwartung der üblichen Leckereien, und als nichts kam, stupsten sie es so, dass der im Nirwana duselnde Johannes seitlich in die Ablaufrinne der Selbstlenzung rutschte.
  Sergio Anselmi, der begnadete Bootsbauer, der diesen Prototypen einer sehr erfolgreichen Serie von Fischerbooten gebaut hatte, war auf die Idee gekommen, ihn mit einigen Fähigkeiten für Alleinfahrer auszustatten. Nicht nur, dass L'Ultima über von der Guardia Costiera kaum auszumachende,  nicht registrierte PS-Kapazitäten verfügte. Um sie bei einer Spitzengeschwindigkeit von 20 Knoten stabil im Gleiten zu halten, hatte das Boot am Heck kaum sichtbare Flabs in den Rumpf eingebaut. Diese Flabs erfüllten noch eine zweite Funktion. Der Fischer konnte, um die Hände für den Fang frei zu haben, das Boot in Fangfahrt durch leichtes Verlagern des Gewichtes minuziös steuern. Genau das tat der ohnmächtige Johannes. Indem er mit seinen 120 Kilo der Länge nach steuerbords in der Ducht lag, lenkte er die Barca in eine geräumige Kreisfahrt nach Backbord.
  Das wiederum löste eine denkwürdige Abfolge aus, die zu Johannes' "Errettung" führte. Immer mehr neugierige Finnwale und Delphine folgten diesem Kreisverkehr, und da wir in modernen Zeiten leben, hatten nicht wenige der Weibchen Transponder oder Microchips für die Satellitenüberwachung ihrer Wanderungen an ihren Schwanzflossen. Drei Stunden, nachdem das vom Ozeanografischen Institut organisierte Whalewatching auf ihren Monitoren dieses recht seltsam anmutende Massenkreisen entdeckt hatte, ging der große weißblaue Katamaran mit den Moby Dick Karrikaturen am Rumpf bei L'Ultima längsseits. Einer der Studenten sprang an Bord, rüttelte an Johannes, fand ihn lebend, weckte ihn mit eher unangemessen kräftigen Ohrfeigen auf und ließ sich dann die Sache von einem Johannes in Trance mit einem diabetischen Koma erklären.
  Das war übrigens der Grund, weshalb die Angelegenheit nur sehr lapidar im Logbuch des Whalewatchers auftauchte und Johannes auch nicht vom Circolo Nautico getadelt wurde.
 
  Als er am Vormittag des 1. Juli mit seiner "L’Ultima" doch wieder in den kleinen Fischer-Hafen von San Lorenzo einlief, hatte seine Geschichte wegen des intensiven morgendlichen Funkverkehrs schon die Runde gemacht, und er hatte sich nach dem Festmachen auf dem Weg rund um den Kai manch spöttischen Zuruf von seinen "Socii" gefallen lassen müssen. Beim Vorbeigehen sah er, dass die kleine Barockkirche unweit des Hafenbeckens offen stand, um für eine Hochzeit üppig mit Blumen dekoriert zu werden.
  Er schlüpfte hinein und tat, was Esther immer zu tun pflegte. Er zündete für jedes Familien-Mitglied eine Kerze an.  Und dann - das hatte er noch nie gemacht - kniete er sich vor einem Seitenaltar auf die Bank. Was erwartete er? Er war auf dem Wege, durch die Ereignisse ein sentimentaler Trottel zu werden. Das erwartete er! Aber nein! - Wenn schon nicht die Erleuchtung - so kam doch ein Frieden zu ihm, den er lange nicht  mehr, wenn überhaupt jemals, verspürt hatte. Es würde weitergehen...
 
  Er würde weiter gehen müssen! Aber wie? Und da war er gleich wieder: Der agnostische Zyniker. Die Versicherung hatte nur einen Restwert für seinen zertöpperten Volvo angewiesen, der trotz zuzüglicher Leihwagenpauschale bei seinen momentanen Wirtschaftsverhältnissen angesichts des ja nicht geplanten "dritten Lebens" für einen neuen Wagen nicht ausreichen würde. "Wegen der ungeklärten Schuldverhältnisse" wurden Schmerzensgeld-Forderungen obendrein auch noch pauschal abgelehnt...
  Was? Fing er da schon wieder an, sich zu ärgern? Nein, sein neues Leben müsste zumindest von einem Leiden befreit sein - dem Leiden an seiner eigenen Unzulänglichkeit. Er würde sich in Form eines autogenen Trainings, immer wenn er Gefahr lief, vom Wege abzukommen, jenen Frieden zu spüren geben, den er in der Kirche von  San Lorenzo hatte erleben dürfen.
  Sich Frieden zu schaffen, ist harte Arbeit, die schmerzt. Johannes musste vor allem, was den Frieden mit seiner Familie anging, durch eine schonungslose Läuterungsphase. Er lernte etwas, was er bislang nur beruflich gekonnt hatte, nämlich auch im Privaten zu zuhören. Er zog nach sehr sachlich vorgebrachten und manifestierten Voraussetzungen für ein weiteres Zusammenleben wieder zu Esther ins Haus. Er hörte auf, seine Kinder zu behandeln, als seien sie noch Kinder. Und  er zwang sich, sich selbst gegenüber einzugestehen, dass es mit seiner "Wichtigkeit" nun absolut vorbei, dass dies aber kein wirklicher Verlust sei.
 

  Dazu gehörte, dass er lediglich noch zur Kenntnis nahm, was aus dem ihn einst so beherrschendem Szenario des zweiten Lebens nach seinem Austritt und  den Wiedereintritt ins dritte geworden war. Dass Peter Kühn sich nie mehr gemeldet hatte, wertete er zusätzlich als Indiz dafür, dass er, Johannes, vielleicht wirklich nicht mehr ganz bei sich selbst gewesen war.
  Nichts hatte sich wirklich verändert. Als erstes war Hartmut Geyer mit allen Ehren in den Ruhestand verabschiedet worden und bekam sogar eine sehr gute Presse für sein Lebenswerk. Dem Vernehmen nach ist er ohne Frau Grau, aber auch ohne Frau Geyer in ein Schlösschen an einen österreichischen See gezogen.
  Im Oktober war Heeremann einstimmig in seine zweite Amtszeit als Präsident der "Latefundis" gewählt worden. Danach gab es eine nur für Intimkenner möglicherweise als verhängnisvoll zusammenhängend auszumachende plötzliche Folge von Todesfällen.
  So wurde beispielsweise Boris Barylli ertrunken in einem seiner Koy-Bassins aufgefunden. Bei der Obduktion fand sich Marmorkleber in seiner Lunge. Was einen investigativen Run auf die Mutmaßlichen CD-roms und DVDs mit potenziellem Erpressungsmaterial in seinem Nachlass auslöste und in der Presse zu eilfertigen Spekulationen Anlass gab.
  Wer dachte, da würde dann Ex-Senator Stefan Berger-Steingräber wenigstens endlich aus Untersuchungshaft freikommen, sah sich zunächst aber getäuscht. Was aber irgendwie auch verständlich war. Infinitesimal davon ausgehend, dass Barylli tatsächlich große Teile der Hamburger Oberschicht in der Hand gehabt hatte, konnte von der Staatsanwaltschaft ja wohl keiner erwarten, dass sie nur partiell zugeben würde, sie habe solches Material  bereits vorab gesichert.
  Nach all den mutmaßlichen Ränkespielen im Vorfeld verlief der Börsengang des Hamburger Hafens hanseatisch souverän und unspektakulär. Die Renditeaussichten ordneten die Analysten als seriös ein, und so pendelte sich die Aktie nach der Ausgabe stabil etwas über ihrem Ausgabewert ein. Heuschrecken hatten wohl schon den Appetit verloren, als der Senat Fischmarkt- und  Speicherstadt-Liegenschaften nicht in den Wert mit einbezogen. Spekulanten auf schnelle, außergewöhnliche Kursgewinne bekamen zudem kalte Füße, als die neuen Unternehmensziele der AG umrissen wurden. Es sollte mit dem neuen Kapital weltweit in den Ankauf weiterer viel versprechender Hafenlogistik investiert werden. Shareholder mit langem Atem waren gefragt. Und dann zog am Horizont ökologisch verantwortlich für das Wattenmeer der Wunsch nach einem Status als Weltkultur-Erbe wie Schönwetter-Nebel über die Elbmündung. Und Konkurrenz gab es auf einmal auch noch im eingenen Land: Durch die Planung des Jade-Weser-Tiefwasser-Seehafens…
  Tragisch und irgendwie - wegen der darin verborgenen Logik - dann doch wieder nicht kam Johannes das gewaltsame Ableben von Gregory Rafferson vor. Immerhin im Gegensatz zu den anderen Verstorbenen war der "Raffzahn" ja noch jung gewesen und konnte den Marathon unter drei Stunden laufen.
  Aber vor einem der zahlreich und täglich operierenden Selbstmord-Attentäter in Bagdad hatte ihn das eben nicht bewahrt. War er wirklich - wie es hieß - ein Kollateral-Opfer gewesen? Ein Autobomber war in die so genannte "Gesicherte Zone" gerast. In diesem Zusammenhang war von ausländischen Zivilpersonen einer Delegation die Rede gewesen, die sich mit der Finanzierung des Wiederaufbaus befasst habe.
  Der alte Johannes hätte versucht, heraus zu finden, ob daran vielleicht auch eine Bank aus Riad beteiligt war. Der Johannes von früher hätte auch überlegt, wieso die kleine Baufirma von "Il Mulos" Cousin spurlos verschwunden war, als er sie nach einer Runde Golf (dafür reichte das Geld nun bald auch nicht mehr) in Garlenda für einen Höflichkeitsbesuch aufsuchen wollte.
  Der restliche Johannes wollte keinerlei Kalvarien-Stationen mehr. Er wollte sich ganz egoistisch auf ein gemeinsames Weihnachtsfest mit seiner Familie in Ligurien freuen und sonst nichts. Das hätte der Anfang für eine weitere "Weihnachtsgeschichte" werden können. Aber um ganz präzise zu sein - es wurde wegen ihres amerikanisch-jüdischen Hintergrundes eine "Chanukka-Geschichte"  - ganz im Geiste der Lichter und der endgültigen Erleuchtung:

  Ein Telefonat am 3. Dezember 2007:
  "Anwaltskanzlei Padlowski. Spreche ich mit Herrn Johannes Goerz?"
  "Ja, der bin ich."
  "Moment bitte, ich verbinde."
  "Padlowski!"
  "Charly???"
  "Nein, David. Sein Sohn. Vater ist letztes Jahr gestorben."
  "Oh, das tut mir leid. Wir waren uns einmal eine kurze Zeit als Gymnasiasten sehr nahe. Dann haben wir uns aber komplett aus den Augen verloren..."
  "Ja ich kenne die Geschichte gut. Vater hat uns während beinahe unserer ganzen Kindheit bei Tisch immer wieder mit dem Shylock-Monolog genervt. Heute fange ich an zu weinen, wenn ich daran denken muss. Er hat es uns als Beispiel besonderer Zivil-Courage dargestellt, dass ausgerechnet ein Deutscher Knabe, der ausgesehen habe wie ein Hitler-Junge, ihn zu dieser Aufführung überredet hatte. Ich nehme an, der Hitler-Junge waren Sie?"
  "Wieso ist Charly so früh gestorben? Die Geisel Krebs?"
  "Die Ärzte konnten uns das auch nicht so genau sagen. Tatsache war, dass er seit Mitte der 80er unter erheblichen psychischen Problemen litt. Am Ende waren es aber irgendwie alle inneren Organe. Die Ärzte nannten es das Metabolische Syndrom."
  Johannes atmete am anderen Ende der Leitung tief ein und aus.
  "Der Grund meines Anrufs, Herr Goerz, ist, dass unsere Kanzlei ein jüdisches Legat für Sie bewahrt, das an Chanukka 2007, also übermorgen quasi beim Entzünden der ersten Kerze ausgehändigt werden soll."
  "Ein Legat? Ein Vermächtnis? Eines Juden?"
  "Vater hat uns - mein Bruder Samuel und ich führen heute die Kanzlei - noch auf dem Sterbebett in die Pflicht genommen, diese Aufgabe mit besonderer Sorgfalt zu versehen. So merkwürdig sich die begleitenden Anweisungen auch ausmachen würden. Wir sollen Ihnen das Legat im Beisein eines Vertreters der Israelischen Regierung übergeben, der den Übergabepunkt festlegt. Er wollte nicht in die Kanzlei kommen, sondern möchte, dass wir uns am 5. Dezember um 11 Uhr vor der neuen Synagoge am Jakobsplatz treffen. Wäre das in Ordnung für Sie?"
  "Ja, kein Problem. Mehr wollen Sie mir dazu offenbar nicht sagen?"
  "Mehr darf ich Ihnen, meinen  Anweisungen zu Folge, nicht sagen. Ich könnte es aber auch nicht. Die Angelegenheit ist auch für mich - verzeihen Sie den Ausdruck - ein wenig kryptisch."
  Zwei Tage später hatte Johannes trotz der vielen Menschen auf dem Jakobsplatz kein Problem, die beiden Männer ausfindig zu machen. David Padlowski sah wie die Twen-Variante von Charly, und sein Begleiter wie ein typischer Schattenmann aus. Er eilte mit ausgestreckten Armen auf David zu und schämte sich seiner feuchten Augen nicht, als er beide Männer begrüßte:
  "Verzeihen Sie David, aber Sie sehen ihm so ähnlich. Ich hoffe doch sehr, er war mächtig stolz auf Sie!"
  "Charon Hanegby", stellte sich der andere Mann- im Alter von David - etwas schroff vor. Er war wohl indigniert, weil ihn Johannes nicht gleich in seine herzliche Begrüßung eingeschlossen hatte.
  "Vielleicht gehen wir ein wenig um den Komplex herum", forderte Hanegby mit einer ausladenden Armbewegung auf, als sei er der Kurator von Synagoge und Museum.
  "Ich habe das Treffen an diesem Ort gewählt, weil er für uns ein Symbol ist, wie weit wir es wieder zu einem Miteinander gebracht haben. Gleich werde ich Ihnen einiges aus einer anderen Gegenwart und einer anderen Vergangenheit erzählen, das deutlich macht, wie fragil das alles aber auch in Wirklichkeit immer sein wird."
  Hanegby machte eine Pause, in der er ganz nah an Johannes heranrückte und ihm obwohl deutlich kleiner, fest die Hand unter die linke Achsel schob. Weniger freundschaftlich, als offenbar um ihn symbolisch am Weglaufen zu hindern. Dann fuhr er fast bedrohlich flüsternd fort:
  "Ich bin der dienstliche Bruder von einem Mann, den Sie vor zwei Jahren fast enttarnt hätten. So wie ich der Bruder von drei Dutzend Männern und Frauen bin, mit denen ich aufwuchs, damit wir auf diversen Lebenslinien ähnliche Aufgaben erfüllen. Die zwei deutschen Taliban-Kämpfer aus dem Dunstkreis der Neuulmer „Akademie des Islam“ – ADI – hätten ohne meine Geschwister nicht aufgespürt werden können. Ihr Freund Peter Kühn war so eifrig dabei, heraus zu finden, wer ‚Ihr Karim' war, dass wir ihm nur durch Berufung in ein internationales Gremium und die damit verbundene Beförderung eine Art Kontaktsperre zu Ihnen verordnen konnten. Er ist ganz versessen drauf, Sie bald wieder sprechen zu dürfen. Vor allem möchte er gerne wissen, was Sie als Skin-Head verkleidet vergangenen Mai in Kaiserslautern gewollt haben. - Überhaupt wird das Interesse an Ihrer Person in gewissen Kreisen nicht wesentlich nachlassen, wenn Sie sich entschließen, von dem Legat Gebrauch zu machen."
  Johannes hatte das Gehörte in den Sinnen derart sensibilisiert, dass sich ihm im Unterbewusstsein während der ersten Umrundung von Synagoge und Museum, erstmals die architektonische Meisterleistung dieses im Vorfeld so gescholtenen Ensembles erschloss. Johannes hatte zuvor immer gedacht, der historische Jakobsplatz brauche eine harmonische Lösung. Vielleicht hatte das unterschwellig Bedrohliche von Hanegbys Eröffnung auch zu der Erkenntnis geführt, dass diese grandiose Störung der Perspektive die Aufgabe des ewigen Mahnens am besten erfülle. Er drehte sich - David quasi ausschließend - so in den Mann hinein, dass er fest in dessen Augen hinunter schauen konnte.
  "Sie könne mir keine Angst mehr machen. Charon! Ich war schon halb über den Styx und seit dem trage ich die beiden Goldstücke für Ihren Obulus immer bei mir. Bis jetzt weiß ich noch gar nichts über dieses ominöse Legat, aber ich ahne, dass wir uns schon einmal begenet sind, als Sie noch ein Knabe waren."
  "Ja, deshalb sind wir hier", brachte sich David Padlowski, dem die Spannung zwischen den beiden Männer sichtliches Unbehagen bereitete, wieder ins Spiel.
  "Erinnern Sie sich an Moss Mausele?", herrschte ihn Hangeby an.
  "So eine Frage! Der Mann hat mir das Leben gerettet. Er war nicht nur unser Hausarzt, sondern in meiner Jugend der vielleicht einzige wahre Freund, den ich hatte. Als moralische und pädagogische Instanz wirkt er aber auch bis heute auf mich ein. Er hat mich in dieser schweren Zeit vermutlich mehr geprägt als mein eigener Vater. Ohne ihn hätte ich mich mit dem erwachsen Werden noch schwerer getan. Meinen beiden einzigen großen Lieben hatte er sogar noch die Pille verschrieben, ehe er nach Israel in den Ruhestand ging... Ich  e r i n n e r e mich nicht bloß an ihn - er ist Teil meines Denkens."
  "Es ist sehr, sehr erfreulich, das zu hören. Versuchen Sie das eben Gesagte noch einen Moment festzuhalten. Moses Mausele war von Geburt ein deutscher Jude, aus politischen Gründen ein amerikanischer Arzt und aus Überzeugung einer der wichtigsten Nachrichtendienstler, den Israel in Deutschland während des kalten Krieges hatte. Seine Positionierung als Hausarzt in der Nachbarschaft eines derart nachrichtenträchtigen Gemeinwesens und noch dazu im Zentrum des Bogenhausener Geldadels, war so perfekt, dass selbst die Amerikaner erst nach seinem Tod durch dieses ominöse Legat von der wahren Bedeutung Mauseles erfuhren. Da der kinderlose Dr. Mausele auch noch in Israel seine amerikanische Staatsbürgerschaft nicht aufgegeben hatte, hätte dessen Nachlass im Prinzip den Vereinigten Staaten zugestanden. Auch Israel gedachte in Anbetracht seiner unschätzbaren Tätigkeit das Erbe von Dr. Mausele anzutreten. Beide Seiten waren daher sehr überrascht, von der Kanzlei Ihres ehemaligen Schulkameraden Padlowski informiert zu werden, dass das Legat erst nach genau dreißig Jahren und nach Deutschem Recht ausgerechnet einem Deutschen zugänglich gemacht werden sollte. Maßnahmen bei plötzlichem natürlichem oder gar gewaltsamem Tod des Empfängers seien ergriffen worden, hieß es in der Benachrichtigung. Bis heute rätseln die besten Dienste der Welt also, wieso Dr. Mausele ausgerechnet Sie bedacht hatte. Es wäre schön, wenn Sie uns - ich spreche hier auch für unsere amerikanischen Freunde - Klarheit verschaffen könnten, nachdem Sie gelesen haben, was er Ihnen geschrieben hat. Ich darf Ihnen versichern, dass es hier nicht um Geld geht, das Ihnen möglicher Weise auch hinterlassen wurde, sondern um die persönlichen Aufzeichnungen, Tagebücher, Mikrofilme und dergleichen, die in seiner Hinterlassenschaft nicht aufzufinden waren. - Bitte David!..."
  "…Was, hier? Mitten auf dem Platz, wo alle zusehen können? Lassen Sie uns doch wenigstens in den Coffee-Shop in der Schrannenhalle gehen, da ist es jetzt noch leer und man ist nicht derart auf dem Präsentierteller."

  Die Schrannenhalle war an jenem Vormittag wirklich nicht sonderlich frequentiert. Sie fanden  mühelos ein ruhiges Plätzchen, und nach dem jeder eine kleine Bestellung aufgegeben und das Bestellte erhalten hatte, holte David Padlowski vorbereitete Schreiben und einen wattierten Umschlag heraus:
  "Johannes, Walter Goerz, geboren am  5. April 1947 ich bin mit Urkunde vom 22. November.1977 als Vertreter der Anwaltskanzlei Padlowski beauftragt, ihnen das Legat des amerikanischen Staatsbürgers Moses, Jehuda Mausele, geboren am 12. Februar 1906 in München, verstorben am 5. Dezember 1977 in Jaffa, auszuhändigen. - Bitte weisen Sie sich aus.
  Nachdem Sie sich mir gegenüber im Beisein des Israelischen Regierungsbeauftragten Charon Hanegby, der sich ebenfalls durch Vorlage seines Dienstausweises legitimiert hat, ausgewiesen haben, übergebe ich Ihnen das Legat in einem zweifach versiegelten Umschlag. Bitte quittieren Sie hier, nachdem Sie sich von der Unversehrtheit beider Siegel überzeugt haben."
  Johannes spürte wieder einmal eine Panik in sich aufsteigen. Der Umschlag mit handschriftlichen Daten und deutlich unversehrten Siegelbändern sah gar nicht nach dreißig Jahren aus, aber er hatte die Zeit vermutlich sorgsam verwahrt in einem Banksafe verbracht.
  Er erbrach die Siegel und förderte einen ebenfalls versiegelten Brief und ein winziges, edel aussehendes Etui zu Tage. Das Etui ließ er aus einem Impuls heraus, sofort in seiner Westentasche verschwinden.
  "Würden die Herren mich vielleicht für einen Moment alleine lassen, damit ich den hier lesen kann?" Johannes wäre gar nicht auf die Idee gekommen, den Brief erst zu Hause zu lesen - so geschickt und suggestiv hatte ihn Hanegby bereits konditioniert.
  Die beiden marschierten zur Bar, wo Padlowski offenbar schon mal zahlte, denn er hatte den Bon dabei.
  Johannes öffnete den Umschlag, in dem sich nur ein handschriftliches  Blatt fand und begann zu lesen:

Lieber Johannes!

Du bist noch am Leben und ich bin seit dreißig Jahren tot. Das wird Dir alles schon wundersam genug vorkommen. Deshalb war mir bei meinen Überlegungen vor allem eines wichtig: Du musst begreifen, wie bedeutend unsere Gespräche auch für mich waren. Wenn ich einen Sohn gehabt hätte, wäre ich dankbar gewesen, er wäre so leidenschaftlich und leidensfähig gewesen wie Du - und so voller Talente...
Es war für mich sehr befriedigend, über die Kanäle, die mir auch in Israel noch zur Verfügung standen, Deine ersten Erfolge als Autor mit zu erleben. Die Schilderung Deiner Gefühle zum Attentat in dem Olympia-Buch von 1972 - das war ergreifend.
Nun ist der Terror bitterer Alltag, und ich schäme mich nicht, dass ich zu seiner Bekämpfung Dinge ersonnen habe, die eines Arztes, der ja Leben bewaren und schützen sollte, vielleicht unwürdig sind. Ich habe in einem Containerdorf auf den Westbanks – also am westlichen Hochufer des Jordantales und nicht weit vom Negev ein Waisenhaus für Kinder verschiedenster Nationen und Rassen gegründet, die durch Kriege oder Terror alle Eltern und Verwandte verloren hatten. Wenn meine moralisch sicher fragwürdige Idee verwirklicht wurde, dann sind sie in dem Moment, da Du dies liest, zu den wohl wirkungsvollsten Waffen im Kampf gegen den Terrorismus heran gereift…
Mehr wirst Du erfahren, wenn Du das Schließfach zu dem Du den Schlüssel im beiliegenden Etui findest, durchgesehen hast. Ich empfehle, den Inhalt zu Deiner eigenen Sicherheit, nie aus dem Tresorraum mitzunehmen. Dein Identifizierungscode entspricht dem Rhesusfaktor Deiner sehr seltenen Blutgruppe in Kombination zu der Jahreszahl, in dem Du Deinem Ungeheuer erstmals begegnet bist.
Ich habe - damit Du frei von wirtschaftlicher Not - wie ein historischer Forscher ohne den Zwang "publish or perish" arbeiten kannst, 300 000 Schweizer Franken festverzinslich für Dich angelegt. Das Kredit-Institut findest Du in Zürich am Limmat-Kai unter der Nummer, die der Zahl der Yards entspricht, die ich bei meiner allerersten Prüfung in Harvard zu bewältigen hatte. Dreißig Jahre – wenn die Welt überhaupt noch halbwegs so ist, wie ich sie verlassen habe -  sind eine lange Zeit mit Personalwechsel, Umzügen und neuen technologische Errungenschaften. Was nach dem zweiten Weltkrieg teilweise mit jüdischem Vermögen in Schweizer Bankhäusern passierte, ist ja nicht nur Spekulation. Ich hoffe, es klappt alles.
Ansonsten: "Use your skills!" Weißt Du noch,  wie ich Dir diesen Spruch übersetzen sollte? Ich hoffe sehr, Du hast ihn immer befolgt.

Dein Arzt und Freund
Moses Mausele

Als er zu den beiden Männern an der Kaffee-Bar schaute, liefen ihm die Tränen herunter.
  "Ich muss hier raus. Ich bekomme keine Luft mehr."
  Die beiden flankierten ihn zum Ausgang. Draußen machte er sich schwer atmend los. Dann fiel sein Blick auf die Schlange, die sich auf der anderen Straßenseite vor dem Brotreste-Laden der Hofpfisterei gebildet hatte.

  "Ich muss aus dieser Geschichte raus!" rief er. Dann lief er - ohne rechts und links zu gucken - über die Straße. Um ein Haar wäre er auch noch überfahren worden. Hanegby und Padlowski schauten sich ratlos an, als er begann, auf einen Mann gleicher Statur nur ärmlicher aussehend, wild gestikulierend einzureden. Doch schon nach wenigen Augenblicken war von ihrem Standort aus in der unordentlichen Menschenschlange nicht mehr zu erkennen, welcher der eine oder der andere  war.



                                            E N D E

Mittwoch, 13. November 2013

Greg und Bella

  Es begann mit einer E-mail an den alten Strippenzieher von den Caimans, Peter McDougal. Jetzt würde er den Januskopf, der wohl nie zufällig immer wieder seinen Lebensweg gekreuzt hatte, einmal umgekehrt aktivieren. Er schickte ihm einen Exzerp all seiner bisherigen Erkenntnisse über die Schatten-Aktivitäten im Hintergrund zum Börsengang des Hamburger Hafens mit dem Bekenntnis, er verstehe die Zusammenhänge nicht mehr und habe sonst keinen Freund in der Finanzwelt, der ihm das verklickern könne. Und  vielleicht - meinte er in einem Nebensatz - sei das sogar ein Zielobjekt, das für den GCPEF in Frage käme...
  Die Antwort als Re-mail war wenige Stunden später auf seinem Bildschirm.
Er - Pete - sei zwar mittlerweile zu alt für solche Raids, aber Gregory Rafferson sei nun im Fund der M.O.T.U. und käme flugs geflogen.
  Der M.O.T.U. bereitete Johannes einige Minuten Kopfzerbrechen, mehr als die Tatsache, dass der Unsympath  "Greg Raffzahn" sein Gesprächspartner sein würde. Aber dann machte es Klick.
  Pete hatte nur ihre Literatur-Rätselspielchen von einst weiter gesponnen: M.O.T.U. - Master of The Universe, so bezeichnete sich der Anlageberater in Tom Wolfes Roman "Bonfire of Vanities" in Strafe provozierender Selbstüberhöhung. War das als dem Schicksal ergebene Ironie gemeint oder als versteckte Warnung? Das "Universe" konnte auch ein Hinweis darauf sein, dass der Konzern-Riese möglicherweise nun auch bei diesem Trust das Sagen hatte?

   "Ui, der Tod", durchzuckte es Johannes schreckensspaßig zwei Tage später. Er war mit Greg im Frankfurter Flughafenclub einer deutschen Großbank verabredet. Der wartete zum Mittagessen in einem  kleinen mit Nussbaumholz getäfelten Separée. Es war ein Büfett für zwei aufgetischt, dass in seiner Üppigkeit im krassen Gegensatz zu der Haut-und-Knochen-Klapprigkeit des Managers stand, der in seinem schwarzen Threepiece-Needlepin" schlotterte, als habe er gerade eine Hungersnot überlebt.
  "Sag nichts - Greg! Du hast die drei Stunden geknackt", sagte Johannes als er den Mann - den er jetzt einfach beim Vornahmen nannte - in einer falschbrüderlichen Umarmung fast in der Mitte entzwei brach.
  "Noch nicht ganz, aber du hast mir mit deiner E-mail so einen Freifahrtschein verschafft - Johannes, dass ich es am 29. April beim Marathon in Hamburg vielleicht schaffe. Die Strecke ist sehr angenehm, und ich kann nebenbei beim Training schauen, was an deiner Sache dran ist."
  Während Johannes an seine erhöhten Zuckerwerte denkend, homöopathische Dosen der Leckereien zu sich nahm, briefte er Greg, der seinerseits, nach einem Salat mit marinierten Putenstreifen, die volle Platte Tri-di-Paste und fast einen ganzen Frischkäsekuchen in sich hinein schaufelte. Zum Nachtisch gab es sogar so etwas wie eine menschliche Regung von dem Asketen:
  "Wir wurden darüber informiert, wie man dir mitgespielt hat. Vielleicht wärst du damals doch besser zu uns gekommen. Aber du solltest Rachegedanken wirklich aus dieser Sache komplett heraus lassen. Wenn Geschäftliches persönlich wird, geht das meist nach hinten los. Und wer weiß? Wenn wir einen Fuß in die Tür bekommen, könnte ja am Ende eine alles heilende Provision für dich drin sein."

  Als ob Geld seelische Wunden heilen könnte. Johannes hatte gehofft, ein wenig Wind zu säen, die Orkan-Ernte wurde jedoch absolut eine Nummer zu groß für ihn.
  Am gleichen Ort traf er am 2. Mai auf einen völlig veränderten Greg. Nicht nur dass er Jeans und indianisch anmutende Slipper (barfuß!) zu einem Blazer trug - er hatte auch die Krawatte zum weißen Hemd weg gelassen. Johannes hatte natürlich längst im Internet nachgelesen, dass Rafferson mit 2:58,31 unter die besten Zehn seiner Altersgruppe gerannt war. Aber er wollte seinem Gesprächspartner natürlich nicht den stolzen Moment nehmen, davon selbst zu berichten, um dann erst zu gratulieren. Zu Johannes Überraschung schien der Amerikaner jedoch nicht deswegen so ausgewechselt und entspannt. Erst langsam begriff er, dass Greg die Mokassins angezogen hatte, weil er sich bereits auf dem Kriegspfad befand. Der sportliche Erfolg war nur Nebensache, die Bestätigung für das Ego.
  "Dein Pike-and-Carp-Theorem muss umgeschrieben werden! Ich glaube Sharks und Piranhas in verschiedenen Becken, die nur darauf warten, dass die Schleusen geöffnet werden, träfen es besser."
  Er zog Johannes neben sich auf einen Stuhl und aktivierte das große Display seines Powerbooks, wo er eine Grafik vorbereitet hatte. Um einen großen Kreis, der den Hamburger Hafen und dessen Liegenschaften am Fischmarkt und der Speicherstadt sowie die übrigen Geschäftsfelder symbolisierte, waren in unmittelbarer Nähe drei verschieden große Zirkel platziert, die mit Großbuchstaben gekennzeichnet waren. Ein wenig weiter außen in deren Peripherie gab es noch zwei Bombensymbole:
  "Fangen wir mit dem kleinsten und ältesten Pool an. Pool A. Da schwimmt dein 'Onkel Barylli' drin, die Leiche von Wolfgang Lindau und noch lebend, aber bereits mit dem Bauch nach oben dein Schulfreund Berger-Steingräber."
  Johannes bemerkte hinter den Namen Lindau und Barylli je ein Sterbekreuz und hinter dem Ex-Senator ein Blitzsymbol. Außerdem führte ein gebogener und geschweifter Pfeil ein Geldsack-Symbol mit einem Dollarzeichen drauf zum Zirkel mit dem Buchstaben B.
  "Wieso hast du hinter Barylli schon ein Kreuz gemacht. Als ich bei ihm war, machte er den Eindruck auf mich, als wäre bei dem selbst mit 100 noch nicht Schluss."
  "Lass mich nur in Ruhe erklären. Der Pool A ist vielleicht wirtschaftlich nicht der stärkste, zumal durch den Tod von Lindau-Grau dessen Vermögen jetzt von Pool B  mit Marita Grau und Hartmut Geyer verwaltet wird, der ja obendrein auch Hausbankier des Heeremannschen Konzerns ist. Was das Knowhow und das Insider-Wissen über den Hafen angeht, hat Pool A - auch wegen der bereits ausgearbeiteten konzeptionellen Ansätze - einen beachtlichen Vorsprung. Barylli hat - das muss ich dir leider schonungslos sagen - zwei Gesichter und ist für viele wichtige Leute in Hamburg durch seine Intim-Kenntnisse eine latente Gefahr. Merk dir eines! Wenn du nach Schwachstellen suchst, findest du sie immer bei Sex und Geld und der unstillbaren Gier nach beidem. Das ist das Trio infernale."
  "Genau das hat mir vor einiger Zeit mit den gleichen Worten ein Berufskiller erläutert. Was ist das denn für eine Welt, in der ihr operiert? Das klingt ja fast, als hättet ihr eine gemeinsame Philosophie."
  "In was für einer Welt lebst du denn - Goofy? Glaubst du denn, du kannst überall mit deiner grenzenlosen Naivität hineinstolpern, und wenn dann die Minen losgehen, einfach nur Augen und Ohren schließen. Du fragst, warum ich hinter Barylli schon ein Kreuzzeichen gemacht habe? Weil der, der das Eliminieren angefangen hat, da weitermachen muss. Barylli muss jetzt eines unnatürlichen Todes sterben, damit bei den dann zwangsweise folgenden Ermittlungen all das belastende Material gefunden wird, das die Sponsoren von Pool A lahm legt. In den Senator ist der Blitz doch schon eingeschlagen. Damit wäre die für die Investition und Hamburg interessanteste - da Hamburger - Gruppe aus dem Rennen."
  "Du scheinst mir ja der gefährlichste aller Raubfische zu sein. Wie kannst du dich auf einen Marathon vorbereiten, so eine Fabelzeit laufen und gleichzeitig derartige Erkenntnisse gewinnen?"
  "Du bist doch früher selber auf Ski lange Strecken gelaufen. Dann kennst du ja den Effekt, wenn sich nach einiger Zeit der Geist vom Körper löst. Aber hellsehen kann ich natürlich auch nicht. Vergiss nicht, es geht um viel, sehr viel Geld, und das 'Universum" ist voller williger Helfer oder Leuten, die sich mit ihm gut stellen wollen. Ich musste beim Laufen ja nur noch eins und eins zusammenzählen... Aber lass mich weiter erklären."
  Und Greg erläuterte die haarsträubendsten Zusammenhänge wirklich so, als sei er ein Professor für das Fach Schatten-Maktwirtschaft.
  Er wusste, dass Hartmut Geyer (hinter dem schon das Blitzzeichen stand) an seiner Geliebten, Marita Grau, allein durch Kickback-Prämien in der Vergangenheit bei Neuanlagen per anno noch einmal sein Manager-Gehalt in seine eigene Tasche gewirtschaftet hatte, was ihr nach neuester Rechtsprechung hätte aber offen gelegt und teilweise auch rückerstattet werden müssen. Außerdem hatte Geyer das Vertrauen seiner geliebten Mandantin des Öfteren zu Anlagen in Fonds missbraucht, an deren Entwicklung er durch eigenes risikobereites Engagement ein ureigenstes Interesse hatte. Wäre etwas schief gegangen, hätte die Witwe Grau heftiger geblutet als er. Das ganze war aber noch nicht strafbar, sondern gegenüber seiner Ehefrau und Marita Grau nur menschlich und moralisch absolut verwerflich. Deshalb seien auch schon Boten unterwegs, meinte Raffzahn, die Geyer, dem Spurenlosen, ein paar deutliche Flecken in diverse Liebes-Laken machen würden.
   Wenn er erst einmal zwischen die Fronten zweier betrogener, Rechenschaft heischender Frauen geraten sei, würden wie von selbst all die strafrechtlich relevanten Details zu Tage treten. Damit war auch Pool B aus dem Rennen. Bei Pool C, in dem es tatsächlich im großen Stil um Insider-Absprachen in Immobilien-Fonds, Herbeiführen feindlicher Übernahmen angeschlagener Baukonzerne oder um Untreue und nicht  den Statuten konformes Verhalten ging, wäre in Folge eine vernichtende Kettenreaktion zu erwarten. Die BaFIN, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, war zwar kürzlich noch von der Süddeutschen Zeitung als zahnlose Raubkatze bezeichnet worden, aber hier reichte vermutlich nun doch ein leichter Prankenschlag von ihr...
  Das einzige was Greg Sorgen bereitete, war die Verfilzung der von Johannes einst beratenen "Latefundis" mit der Elite der Nation - und der Name Heeremann, der zwar immer wieder auftauchte, aber in strittigen Aktionen nicht operativ in Erscheinung trat. Sowohl in Pool B und C als auch in der Bombe auf der unter einem Fragezeichen "Caisse Réparation" stand, erschien in mattem Rot der Name des Baustoff-Multis:
  "Der springt von Pool zu Pool, wirbelt herum, heizt die Stimmung an und ist schon wieder weg", rätselte Rafferson kopfschüttelnd bei seinem Vortrag.
  "Du meinst wie so ein Balletttänzer?" Hakte Johannes nach.
  "Ja, das dürfte ein treffendes Bild sein."
  "Wieso hast du den GCPEF", in die andere Bombe gezeichnet.
  "Na ja, in aller Bescheidenheit, ich bin in der internationalen Finanzwelt auch kein Unbekannter mehr und habe - hahaha - in Hamburg laufend Spuren hinterlassen... Zunächst muss man wissen, dass das alles trotz seiner dramatischen Dimensionen hinter den Kulissen immer noch der Tanz um ein zwar goldenes aber keineswegs ausgebrütetes Ei ist. Wir stehen vor einer Immobilienkrise mit globalen Ausmaßen. Die Hafenbetreiber und selbst die Politiker wissen doch noch gar nicht wirklich, wann und in welchem Umfang beziehungsweise Volumen der Hafen zur AG werden soll. Aber wenn es keinen oder nur einen teilweisen Börsengang gäbe, wäre das für den Grand Caiman Private Equity Fund mit seinen mächtigen östlichen Investoren schon ein - hahaha - Bombengeschäft."
  Was für Vorahnungen!
  Das, was sich in den folgenden drei Wochen abspielte, bekam Johannes nur in einer Art Trance mit, weil ihm wenige Stunden, nachdem er Rafferson ans Gate zum Nachtflieger nach Riad begleitet hatte, ein weiteres traumatisches Ereignis widerfuhr.

  Es war kurz nach Mitternacht am 3. Mai, als Johannes auf der Autobahn bei der Heimfahrt nach München hinter der Ausfahrt Pfaffenhofen/Ilm auf der Standspur kurz die Reflexion von Katzenaugen eines ohne Warndreieck abgestellten Fahrzeuges  sah. Es nieselte leicht, die Fahrbahn war feucht und weder vor ihm noch im Rückspiegel  waren Rücklichter oder Scheinwerfer zu sehen. Es gab daher keine Veranlassung vom Gas zu gehen. Er wechselte mit seinem Volvo-Cabrio lediglich auf die Überholspur, als er wahrnahm, dass sich der aufgemotzte, schwarze Toyota Pick Up mit breiten Reifen wieder in Bewegung setzte und rasch hohes Tempo aufnahm.
  'Na der hat aber vergessen, sein Licht anzuschalten', durchzuckte es Johannes als er warnend die Lichthupe betätigte, weil der Vorausfahrende in die Mitte der Fahrbahn schlingerte...
  Es ist immer wieder erstaunlich, wie das Gehirn in solchen besonderen Situationen funktioniert:
  Als der unbeleuchtete Toyota urplötzlich das Gas wegnahm, durchschoss Johannes die Erinnerung an Michael Schumacher, der im Regen einmal in David Coulthard reingerasselt war und danach alle Hoffnungen auf den sicheren Sieg und die Titelverteidigung begraben musste. Auch die breiten Reifen des Toyotas sorgten für eine Wasserschleppe, aber Johannes hatte nun aufgeblendet. Er sah also was passierte.
  Waren es Hundertstel oder nur Tausendstel einer Sekunde, die ihm an Zeit zum Überlegen und Überleben blieben? Links würde er nicht mehr vorbeikommen, und rechts war die Böschung zu den angrenzenden Feldern zu hoch. Sein Auto verfügte zwar über das viel gerühmte ROPS, das Rollover Protection System, aber das wollte er  nicht gerade jetzt ausprobieren. Die Summe der Gedankenblitze ergab: Bring dich in den Windschatten und vertraue auf Airbags und ABS!
  Wie ein Hammer kam die Rückfront des Pick Ups auf ihn zugeschlagen, und obwohl sich der Volvo so verlangsamte, dass er die Fliehkraft in seinem Körper schon vorher spürte, war der Aufprall von seiner Wucht her ein physikalischer Ausnahmezustand, der ihn erstaunt ausrufen ließ:
  "Das war's dann wohl!"
  Der Pick Up, der sich immer noch im Lenkvorgang auf die Überholspur befunden hatte, erhielt dadurch einen Twist, der ihn in die linken Leitplanken krachen ließ, während der Wagen von Johannes, nachdem der mit dem Kinn auf das Lenkrad geschlagen war und die riesige Knautschzone nicht gereicht hatte, um den Motor zu schützen, wie ordentlich geparkt auf der Überholspur blockierte.
  'Ralph Nader sei Dank!' war der nächste absurde Gedanke in seinem deutlich erschütterten Hirn. Dem unermüdlichen amerikanischen Verbraucher-Anwalt waren fast alle Sicherheitsstandards moderner Autos zu verdanken. Dass das in einem Moment nicht ganz passend gedacht war, da aus irgendeinem Grund weder Airbag noch Dreipunkt-Gurt funktioniert hatten, sollte Johannes erst Tage später bewusst werden. Jetzt reagierte er erst einmal nach einem offenbar vom Adrenalin gesteuerten Verhaltensmuster. Er sprang aus den Trümmern und rannte nach vorne, um zu sehen, ob er etwas für den Toyota-Fahrer tun konnte. Doch auf halbem Weg war der hinkend aus seinem Cockpit gesprungen und schickte sich an, in Fahrtrichtung davon zu laufen. Ja, ja der Schock!
  Um ihm hinterher zu laufen, fehlte Johannes auf einmal die Stabilität in den Bewegungen. Also drehte er sich zu seinem Auto um, und aktivierte noch einmal eine volle Ladung des körpereigenen Reaktionsbeschleunigers. Das einzige Licht, das diese Horrorszene auf der finsteren Autobahn beleuchtete, war die Innenbeleuchtung des Toyotas, weil dessen Fahrer bei seiner Flucht die Tür offen gelassen hatte. Beim Volvo waren alle Lichter aus.
  Himmel, das Warndreieck! Jetzt tat auf einmal jede Bewegung weh. Gut dass es einen Öffnungsknopf in der Fahrertür gibt. Das Dreieck raus und es vor der Brust öffnend und tragend lief Johannes auf plötzlich aus der Dunkelheit auftauchende Scheinwerfer zu. Ja, sah der ihn denn nicht? Er schwenkte das Dreieck, aber da war der Wagen schon heran und Johannes hechtete schmerzhaft auf die Leitplanke.
  Schleudernd gelang es dem Fahrer im letzten Augenblick die Kollision mit den beiden liegen gebliebenen Fahrzeugen zu verhindern. Aber er bremste nicht wirklich, sondern beschleunigte dann wieder, um einige hundert Meter weiter eine Vollbremsung zu vollführen. Schemenhaft glaubte Johannes wahrgenommen zu haben, wie der Mann aus dem Toyota in dieses Fahrzeug stieg und mit ihm davon raste.
  Schöne neue Handy-Zeit! Die nächsten Fahrzeuge hatten schon Blinklichter auf dem Dach: Zwei Streifenwagen der Autobahnpolizei und eine Ambulanz. Ein Brummi-Fahrer von der Gegenfahrbahn hatte den Crash im Rückspiegel gesehen, weil er sich über das unbeleuchtete Fahrzeug am Rande seines Gesichtsfeldes gewundert hatte, aber er war schon zu weit vorbei gefahren, um selbst in der Dunkelheit gefahrlos helfend eingreifen zu können. Nach seiner Meldung wies ihn die Polizei an, sich bei der nächsten Ausfahrt als Zeuge bereit zu halten.
  Der eine Streifenwagen hielt direkt vor Johannes, der das Dreieck immer noch halb aufgeklappt und einfältig vor seiner Brust hielt. Der Sanka parkte zwischen den beiden Unfallfahrzeugen und der andere Streifenwagen sicherte mit Warnblinklichtern und Kellen vom Seitenstreifen aus.
  Johannes packte sein Dreieck ordentlich wieder ein, als sei das im Moment das Wichtigste. Dann langte er hinter den Fahrersitz. Seine Umhängetasche mit dem Laptop schien unversehrt.
  Ein Polizist und zwei Sanitäter kamen auf ihn zu.
  "Wo ist der Fahrer des Toyota?", fragte der Polizist.
  "Per Anhalter weiter gefahren - vielleicht um Hilfe zu holen", antwortete Johannes und glaubte sich selber nicht.
  "Sie müssen sofort ins Krankenhaus! Sie verlieren ja Unmengen von Blut." Sagte einer der Sanitäter und raunte seinem Kollegen etwas von inneren Verletzungen zu.
  Da sah Johannes, dass sein schönes indigofarbenes Sigma-Hemd nicht vom Regen so nass war, sondern vom Blut, das aus seinem Mund sickerte... Zunächst hatte wohl der Schock die Blutungen verhindert.

  Später sollte Johannes die Stunden, nachdem die Notärzte vom Kreiskrankenhaus in Pfaffenhofen an der Ilm ihn mit acht Stichen den Durchbiss zwischen Unterlippe und Kinn genäht hatten, als mit die einsamsten seines Lebens beschreiben. Die jungen Notärzte, die ihn, den nur lokal Narkotisierten, während der Flickarbeit nach besten Kräften durch Scherzen aufmuntern wollten, konnten daran auch nichts ändern. Selbst als sie ihm bei Kontrollen im Laufe der restlichen Nacht das Wunder seines Überlebens und die übrige Unversehrtheit beschrieben. Sie sprachen ihn natürlich auch auf die vom Bart kaschierte lange Narbe in der Oberlippe an. Und er nuschelte ihnen bereits seditiert etwas von einem Dr. Fick vor, der sich ein N in seinen Namen habe operieren lassen. Und dass das alles schon so schrecklich lange her sei. Und dann heulte Johannes wie ein Schlosshund, weil ihm sein Alter so bewusst wurde, und weil - was er den "wundergläubigen" Doktores natürlich nicht sagen konnte -  er dieser einmaligen Gelegenheit nachtrauerte, die es ihm erspart hätte, sein Leben wie geplant selbst zu beenden.
  Ob sie denn jemanden benachrichtigen sollten?
  Und Johannes log, indem er vorgab, da gäbe es niemanden. In Wirklichkeit beherrschte ihn die fixe Idee, seine Kinder und seine Frau würden es ihm nur als Mitleid heischenden Versuch des wieder Anbiederns auslegen, wenn er sie mitten in der Nacht anrufen ließe.

  Dann war er mit dem Schlafmittel, das sie ihm gegeben hatten doch endlich eingeschlafen. Als er erwachte, war sein erster Gedanke: 'Nichts wie raus'. Aber offenbar waren seine Sachen unter Verschluss.
  Dann kam zuerst der Chefarzt mit einem Schweif junger Ärzte von der Tagschicht im Schlepp:
  "Sie haben ja noch mal Glück gehabt, aber Sie müssen mindesten noch zwei Tage zur Beobachtung bleiben."
  "Vergessen Sie es! Ich habe eine Krankenhausphobie und muss hier raus. Wenn's sein sollte auf eigene Verantwortung!"
  "Nun, draußen stehen schon die Herren von der Polizei. Vielleicht bringen  die Sie ja noch zur Vernunft. Es kann tödlich sein, in so einem Falle den unartigen Patienten zu spielen..."
  Er ahnte gar nicht wie!
  Dann kamen zwei übernächtigt aussehende Grüne mit staunender Besorgnis. Sie hatten wohl wegen der vergossenen Blutmenge auch an eine schwerere Verletzung geglaubt.
Sie zückten Klemmbretter mit Vordruck-Formularen und ließen Johannes wiederholt minuziös den Unfallhergang schildern und hakten hie und da etwas gründlicher nach, so dass Johannes zu glauben begann, sie hielten ihn für den Unfall-Verursacher.
  Schließlich sagte der wohl Dienstältere:
  "Das deckt sich alles hundertprozentig mit der Aussage des Fernfahrers, der uns von Ihrem Unfall berichtet hat. Wir wollten nur noch einmal sicher gehen. Draußen warten zwei Herren von einem anderen Dezernat, die sich dringend mit Ihnen unterhalten müssen."
  Johannes bat sie noch, seine Versicherungsagentur anzurufen, die sich um alles weitere kümmern würde. Sein Wagen sei Vollkasko versichert und alle Unterlagen dazu lägen im Handschuhfach. Bereits in diesem Moment hatte Johannes sich bereits - ohne weitere Erkenntnisse abzuwarten - vorgenommen, bis zu seinem Tod auf hoher See schon vorher „unterzutauchen“.
  Die beiden folgenden Herren trugen zu lockerer Freizeitkleidung verspannte Minen und wiesen sich als Kripo-Beamte aus. Kein 'wie geht's' oder 'da haben Sie ja noch einmal Glück gehabt', sondern sofort dienstliche Strenge:
  "Herr Goerz! Was sagt Ihnen der Name Ali Asen Agdar - wohnhaft in Amsterdam?"
  "Nichts!"
  "Das ist der Halter des Toyotas, den Sie heute Nacht gerammt haben."
  "Das klingt ja, als sei ich der Verursacher?"
  "Wir stellen hier nur Fakten fest", mischte sich der andere Zivilbeamte ein.
  "Zu den Fakten gehört", führte der Tonangebende weiter aus, "dass im Fußraum des Toyotas vor dem Beifahrersitz ein komplettes Dossier über Sie und Ihre vergangenen Tagesabläufe gefunden wurde. Der Wagen ist ordnungsgemäß registriert und nicht als gestohlen gemeldet."
  "Na ja, dann können Sie ja Herrn Ali fragen, wieso er Fahrerflucht begangen hat."
  "Können Sie uns den flüchtigen Fahrer beschreiben?", fragte der andere.
  Johannes schloss für einen Moment die Augen und öffnete sie gleich wieder - überrascht von der Präzision dieses Augenblicks in seiner Erinnerung.
  "Der Mann war um die dreißig, etwas über 170 cm groß. Als er heraus humpelte, war er mit dem Scheitel etwa auf Dachhöhe des Picups. Figur austrainiert und drahtig - eher nicht muskulös. Lange schwarze gegelte Dürerlocken und einen schmalen Moustache unter einer gebogenen Nase. Er trug eine Lederweste, Designerjeans von Yves Saint Laurent, Slipper von Aldo Bruee und Socken von Calvin Klein... - Entschuldigung, der letzte Satz war ein Witz", warf Johannes ein, als er sah wie die zwei Bauklötze staunten.
  "Das mit der Lederweste hatte schon seine Richtigkeit. Das mit dem Scherz liegt wohl an meiner anhaltenden Überreizung. Ich denke, der Mann war Amerikaner, aber ich kann im Moment noch nicht sagen, wieso ich das glaube."
  "Wieso konnten Sie überhaupt etwas sehen, Ihre gesamte Elektrik war doch ausgefallen?" Rätselte der Nachhaker.
  "Ich habe mich auch schon gewundert. Ich glaube im Cockpit des Toyota brannte eine besonders helle Innenbeleuchtung - vielleicht auch eine extra Leselampe als der Mann ausstieg."
   "Herr Goerz, uns ist leider gar nicht nach Scherzen zumute. Und Ihnen sollte das auch langsam vergehen. Wir haben den Mann,  der exakt Ihrer Beschreibung entsprach, heute Morgen beim Kloster Altomünster tot aufgefunden. Er war also der Wagenhalter, und was Sie absolut nicht wissen konnten - bei dem Aussehen - wir haben Papiere bei ihm gefunden, die ihn als amerikanischen Staatsbürger ausweisen."
  "Also Herr Goerz, Sie sind Journalist. Arbeiten Sie an  einer Sache, die mit diesen merkwürdigen Vorkommnissen zu tun haben könnte? Und wenn ja. Warum kooperieren Sie nicht?" Insistierte der Zweite.
  "Ich habe wirklich keine Ahnung. Mein Alibi hier im Krankenhaus ist wohl kaum zu erschüttern. Und Sie wissen ja auch, wenn ich - und ich betone das Wenn - an so einer Sache arbeitete, dass mir das Gesetz in so einem Fall auch noch Quellenschutz zusichert. Ich bin aber - wenn man das als Ex-Unternehmer überhaupt sagen darf - zurzeit arbeitslos. Im wahrsten Sinne des Wortes und zwar absolut! Aber Sie könnten mal Ihren Kollegen, Hauptkommissar Peter Kühn vom LKA anrufen und sich über mich erkundigen. Er hält mich nämlich für einen paranoiden Spinner, der immer wieder, ohne es zu merken, in so etwas hineinstolpert."

  Sie hatten sich gegenseitig mit Visitenkarten beziehungsweise im Falle von Johannes – der ja keine gültigen mehr hatte - mit Handgeschriebenem ausgestattet. Sogar seinen Mail-Account verriet er ihnen. Sie kamen daher gar nicht auf die Idee, dass er bei seinem vermuteten Trauma im Verlauf des Tages gar nicht mehr im Krankenhaus anzutreffen sein könnte. Sonst hätten sie vielleicht versucht, ihm Auflagen zu machen...
  Als die Stationsschwester ihm zögerlich seine Sachen aushändigte und das Revers unterschreiben ließ, dass er das Krankenhaus auf eigenen Wunsch und Verantwortung gegen den ausdrücklichen Rat der Ärzte verlasse, sah er als erstes das Kleidungsdilemma auf sich zukommen. Die Jacke - ein Blazer-, Slacks und Hemd waren rostschwarz vom getrockneten Blut verkrustet. Die Slipper waren vom Schlamm neben der Fahrspur total verschmiert. Er sah sein Spiegelbild mit der frisch vernähten und verpflasterten Wunde im Foyer während er auf das Taxi wartete und rätselte, wie weit er kommen würde, ehe man ihn als Gewaltverbrecher festnähme.
  Der türkische Taxifahrer ließ jedoch noch nicht einmal durch ein Wimpernzucken erkennen, ob er seinen Fahrgast überraschend fand. Er hörte nur, dass es nach Augsburg gehen sollte, und das war für ihn eine Fuhre, die ein ganzes Tagesgeschäft bedeutete.
  In Augsburg ließ Johannes sich am Plärrer absetzen und machte sich - deutlich Spuren hinterlassend - auf den Weg zur Wertachbrücke.
  Da er wusste, wie schwer es mit seiner Figur sein würde, passende Kleidung zu finden, suchte er nach nur kurzem Spießrutenlaufen zwischen den Passanten einen Laden für Biker- und Outdoor-Kleidung auf. Bomberjacken und Cargo-Hosen passten wie angegossen. Dazu je ein Fünfer-Pack Army-T-Shirts und Unterhosen in schwarz und weiß sowie halbhohe Nike-Sneekers. Als er die Sachen gleich anließ, fiel ihm auch wieder ein, wieso er geahnt hatte, der Fahrerflüchtige sei ein Ami gewesen. Kein Angehöriger einer anderen Nation hätte unter einem Designer-Polohemd samt Weste ein weißes eng am Hals anliegendes Army-T-Shirt getragen. Ali Asen Agdar hatte sich diese Marotte offenbar in den Staaten abgeguckt...
  Der Verkäufer im Laden, ein ausgemachter Skin, hätte zu gerne etwas von der Riesenschlägerei erfahren, in die sein großzügiger Kunde offensichtlich verwickelt gewesen war. Johannes aber  musste im neuen Outfit nur einmal seinen Gefrierfach-Blick abschicken und sein verletztes Kinn samt Unterbiss vorschieben, um das Heischen zu unterbinden.
  In einer benachbarten Reinigung gab er seine verbluteten Sachen ab, zahlte gleich und kündigte an, es könne ein paar Wochen dauern, bis er sie abholte. Dann ging er zu einem Friseur, der es kaum glauben wollte, dass ein Mann in seinem Alter die prachtvoll weiße einsteinsche Mähne gegen eine komplette Schädelrasur eintauschen wollte. Als er dann aber auch den Rest des Vollbartes, den die Ärzte beim Versorgen des Durchbisses hatten stehen lassen, ums Kinn herum noch entfernen sollte, begriff er:
  In seinem Spiegel war auf einmal ein komplett anderer Mann zu sehen...
  Dieser andere Mann hob bei fünf verschiedenen Sparkassen und Banken mit drei Kreditkarten und zwei EC-Karten insgesamt 2.500 Euro ab. Er hatte nun mit dem stattlichen Rest in seiner Brieftasche ausreichend Bargeld, seinen Laptop und ein Aussehen, das ihn über die letzten  Wochen seines Lebens hinweghelfen würde. Sein Handy hatte er "aus Versehen" in der Tasche vom Blazer gelassen. Nun würde er mit einem "Promotional prepaid" auf Speicherkarten telefonieren.
  - Und er hatte dazu noch den Überraschungseffekt auf seiner Seite, dass so oder so keiner mehr mit ihm rechnete, denn in der Pension Adriana in Schwabing, die er den Polizisten als Adresse aufgeschrieben hatte, meldete er sich zu einer überraschend notwendig gewordenen Reise in die Vereinigten Emirate ab.
  Auf dem Weg zum Bahnhof und im ICE nach Frankfurt war Johannes überrascht, wie die Leute plötzlich auf sein neues Erscheinungsbild reagierten. Auf dem Bürgersteig machten sie einen deutlichen Bogen, um ihm ja nicht in die Quere zu kommen, und das Zweiertischchen im Großraum-Abteil hatte er - obwohl noch Leute auf dem Gang standen, für sich alleine. Er stöpselte seinen Laptop ein und begann auf der Alb bereits seinen letzten Feldzug:

 Die "Chronik seines selbst gewählten Todes" sollte in der Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli, in der kürzesten Vollmond-Nacht des Jahres zu Ende gehen. So hatte sich Johannes das zurechtgelegt. Die letzten drei Wochen vor diesem Datum wollte er aber auch noch einmal ordentliche die Sau rauslassen. Er hatte sich zwar von den Gewaltphantasien vollkommen befreien können und sich bei der Wahl der Waffen auf Trevor Tights Spruch "use your skills!" zurückbesonnen. Er wollte es aber auch ein letztes Mal wissen. War er noch in der Lage, allein durch das gezielte Streuen von Informationen eine Kampagne auszulösen, die unter Wahrung aller standesethischen und moralischen Vorgaben die Netzwerker in Verlegenheit brächte?
  Nach altbewährter Methode hatte er die Empfänger der Informationen in Sach- und Fachgruppen unterteilt und auf einem separaten USB-Memorystick gespeichert. Jedem Einzelnen ordnete er nun ein Schlagwort zu, unter dem der jeweilige "Core", der Kern der Wahrheit verlinkt war. Diese Methode zwang die Rezipienten, sich ebenfalls auf ihre Fähigkeiten als Rechercheure oder Netzwerker zu konzentrieren. Der Input kam also zwar von Johannes, das Ergebnis der journalistischen Arbeit würde jedoch allein und teilthematisch exklusiv vom Verfasser stammen. Er hatte, während andere Kollegen noch Rundmails oder gute alte, gedruckte Informationen weit streuten, längst herausgefunden, dass eine individuell aktualisierte Namensliste von etwa 60 Kollegen (darunter 20, die er selbst ausgebildet hatte), die man direkt angehen konnte, alles andere an Effektivität in den Schatten stellte. Die wichtigste Bedingung: Der Empfänger durfte noch nicht einmal in die Nähe einer Ahnung kommen, er werde manipuliert. Die fauleren Kollegen - und das waren 90 Prozent - würden die ersten Veröffentlichungen lesen, sehen oder hören und dann noch in der Peripherie mit einem eigenen, möglicher Weise auch konstruierten Recherche-Ansatz zur Berichterstattung auf den bereits abgefahrenen Zug aufspringen wollen. Das ging im übertragenen Sinne nicht ohne Risiko - soll heißen - Spekulationen und Unterstellungen wurden als Würze dann für solche Beiträge herangezogen und verursachten die eigentliche Hype, mit der die nicht mehr einzugrenzenden Folgen ausgelöst wurden...
  Seit jeder alles ins Netz stellte, was auch immer er veröffentlichte, wurde es dem Manipulator auch leicht gemacht, einen Ansatzpunkt bei der Eitelkeit des Ansprechpartners zu finden. Johannes begann mit einigen exponierten Wirtschaftsjournalisten. Einer von ihnen hatte gerade einen verdeckten Test über die Qualität von Banken bei der Kundenberatung durchgezogen. Er wurde wegen der sofortigen Re-mail-Option gerne auf elektronischem Weg informiert.
  Das lief beispielsweise so:
E-mail Johannes: Grüß Dich! Habe gerade Deine tolle Serie über die Kundenberatung gelesen. Was passiert eigentlich bei den Großanlegern mit den Ausgabegebühren und den Kickbacks? War gerade in Hamburg. Ich verstehe ja nichts davon, aber wenn die jetzt alle die Provisionen zurück haben wollen. Da wird es im Gebälk ganz schön ächzen.
Lass mal von dir hören!
J.G.
Re-mail: Ebenfalls grüß Dich! Hörst Du wieder die Flöhe husten oder gibt's was Konkreteres?
W. v. R.
Re-Re-mail: Wenn Flöhe husten, dann sitzen sie im alten Pelz des grauen Wolfes. Aber von mir hast Du das nicht. Ist nämlich nur Hörensagen. Bis bald mal ...
J.G.

  Die Hedgefunds- und Heuschrecken-Schreiber bekamen ähnlich kryptische, "fachliche" Hinweise.
  Trotz des G8-Gipfels und der Doping-Geständnisse im Radsport, die in jenen Tagen die Schlagzeilen beherrschten (letztere übrigens eine Meisterleistung des Kollegen aus dem Verlag, der die Memoiren eines Radsport-Masseurs verlegt hatte...), konnte Johannes nur 24 Stunden später stolz auf erste Erfolge sein.
  Die Öffentlichkeitsarbeit der Hamburger Hafenbetreiber, war offenbar wegen sich auf einmal häufender Anrufe und Anfragen selbst in die Offensive gegangen. In den Wirtschaftsteilen aller großen Tageszeitungen war über die mögliche Entscheidung zur Wandlung in eine AG für den kommenden Herbst "aus erster Hand " zu lesen.
  Einen seiner ehemaligen Volontäre, der Ressortleiter bei einer krachgelben Wochen-Illustrierten geworden war, rief er einfach mal so an. Wie er das von Zeit zu Zeit aus alter Fürsorge sowieso immer wieder mal tat. Der Junge war ein krasser Zyniker geworden. Er gab unumwunden zu, dass das permanente "unter der Gürtellinie Schreiben" nun so gar nicht das sei, was er sich immer vom Journalismus erträumt habe, aber die Bezahlung sei nun mal so affenartig gut, dass er seiner Familie doch schon ein ganz beachtliches Leben bieten könne. - Was denn nun sein alter Chef so täte, nachdem man ihn geschlachtet habe. Johannes berichtete resigniert von den Recherchen für sein Buch aus Hamburger Kindheitstagen und sinnierte dabei, wie klein die Welt letztendlich doch sei. Dass die Witwe des Boxweltmeisters, seines Schulfreundes, nun ausgerechnet mit dem Mann rummache, der seinen Arschtritt vorbereitet habe. Und dass ein anderer Schulfreund im Gefängnis säße, und dass er doch keine "Denver-Clan"- oder "Dallas"-Geschichte habe schreiben wollen...
  Innerhalb einer Woche waren alle Initial-Zünder für die journalistischen Zeitbomben in dieser oder ähnlicher Weise an den Mann gebracht. Als letztes hatte er seiner Lieblingsschülerin Sylla Streit eine CD-Rom gebrannt, auf der alle ihre Inputs drauf waren, aber auch die Erkenntnisse und Mutmaßungen von Gregory Rafferson. Er schickte sie an ihre Privatadresse. Nur für alle Fälle. Sie konnte ja in dem Frauen-Titel, für den sie arbeitete, mit dem Material ohnehin nichts anfangen. Aber es war irgendwie gut zu wissen, dass jemand Verlässliches nach seinem Tod den "Zugriffscode" zu möglichen Hintergrundstorys in der Hand hielt.
  Bei allem Tun, war sich Johannes auch seiner Unauffindbarkeit sicher. Vom Frankfurter Hauptbahnhof war Johannes zu Fuß auf dem Eisernen Steg über den Main nach Sachsenhausen gewandert. Dort am Affentorplatz mitten im Ebbelwoi-Eldorado hatte er eine verlässliche Verbündete.
  Annabella Bartók war die Sekretärin von Ron Farmer beim EFA gewesen. Keine drei Monate nach dessen Tod hatte ein im Machtrausch vollkommen veränderter früherer Mitarbeiter sie an den Rand zu einer Einweisung in die Psychatrie gemobbt und dann, als sie sich mittels der Frankfurter Frauenbeauftragten zu Wehr gesetzt hatte, wegen Vertrauensbruch fristlos gekündigt. Bevor Johannes selbst aus den Verträgen gekickt wurde, hatte er ihr noch beigestanden, so gut es ging, aber doch nicht ihren dramatischen Substanzverlust aufhalten können. Zumal das arbeitsrechtliche Verfahren noch nicht abgeschlossen war, und die EFA die gerichtlich angeordnete Lohnfortzahlungen in zynischster Weise nur auf den letzten Drücker leistete.
  Deshalb war Bella Bartók - wie sie in Anlehnung an den Komponisten früher liebevoll von den Kollegen genannt wurde - einerseits dankbar für die Gesellschaft. Andererseits kam ihr aber auch das Geld gelegen, welches Johannes ihr dafür versprochen hatte, dass er für vierzehn Tage bei ihr Unterschlupf suchte und sich auch ihren VW-Golf ausleihen wollte. Nur wäre es zu dem Deal fast nicht gekommen.
  Als sich Johannes an der Haussprechanlage gemeldet hatte, betätigte sie den Türöffner und machte bloß die Tür im ersten Stock auf, um weiter in der Küche zu werkeln. Als der Skin plötzlich in ihrer Diele stand, schrie sie lautlos auf und setzte sich auf den Hintern; so erschrocken war sie und einem Infarkt nahe.
  "Was ist denn nur mit dir passiert", japste sie nach Luft, als sie Johannes endlich erkannt und sich wieder halbwegs gefasst hatte.
  "Das ist wirklich eine lange Geschichte. Bist du auch sicher - bei allem, was du schon hast mitmachen müssen - dass du sie hören möchtest?"
  Die quirlige echt Rothaarige mit niedlichen Sommersprossen, war, obwohl gerade mal vierzig, in dem halben Jahr, in dem sie sich nicht gesehen hatten, deutlich ergraut. Ihre einst wuchtigen Locken waren irgendwie glanzlose und dünne Kringel geworden. Hinter ihrer altmodisch katzenäugig geformten Brille war der Glanz ihrer graublauen Augen verschwunden.
  Eine Schönheit war sie indessen nie gewesen, aber das hatte sie mit ihrem verwegenen Charme immer wettgemacht. Johannes konnte sich daran erinnern, dass er ihr bei einer Dienstreise zu den vermeintlich blühenden Landschaften in Neufünfland im Scherz einmal versprochen hatte - sollte sie jemals mit ihm schlafen mögen - er aus Dankbarkeit  all ihre Sommersprossen zählen wolle.
  Das wollte er sich jetzt nicht mehr vorstellen. Als er ihr aufhalf, stieg zudem der süßlich unangenehme Dunst in seine Nase, den Alkoholikerinnen verströmen...
  Sie setzten sich an einen kleinen Bistro-Tisch in die Küche, die noch von der Nachmittagssonne beschienen wurde und begannen wechselseitig zu erzählen. Es war der Dialog zweier gebrochener Persönlichkeiten, in dem die Hoffnung keimte, man könne die Verliererstraße durch gemeinsamen Richtungswechsel verlassen. Johannes kam sich dabei wie ein Betrüger vor, weil er ihr nicht eingestehen konnte, dass zumindest sein Leben in ein paar Wochen vorüber sein würde.
  Es war längst dunkel als sie nicht mehr weiter reden konnten. Aus den benachbarten Ebbelwoi-Kneipen drang die Heiterkeit von Zechern, die mit Frühlingsgefühlen die Lokale verließen, während bei ihnen in der Küche schon Herbst war.
  "Du musst ja nicht auf der Couch schlafen!"
Für einen Augenblick glomm die "Mata Hari", die sie mal gewesen sein mochte, durch ihre Verzweiflung.
  "Ehrlich, ich bin echt zu müde, um jetzt noch deine Millionen Sommersprossen zu zählen", scherzte Johannes matt, sich der Ausweglosigkeit der Situation bewusst werdend, in die er sich mit ihr begeben hatte.

  Annabella war ein Computer-Ass, und ihr machte in den folgenden Tagen das Zuarbeiten beim Ränkespiel von Johannes einen derartigen Spass, dass das Fiasko des versuchten Aktes (von was auch immer) schnell vergessen war. Auf der vorübergehenden Heiterkeit, die beide befiel, lag jedenfalls kein Schatten mehr. Es war Johannes, dem Talente-Erkenner klar, sie würde zu alter beruflicher Brillanz zurückfinden, so bald ihr jemand noch einmal die Chance dazu bot. Es durfte nur nicht mehr allzu lange dauern.
  Am darauf folgenden Wochenende machten sie wie tausend anderer Paare einen gemeinsamen Ausflug nach Kaiserslautern und in den Pfälzer Wald. Johannes wollte aber ein Hühnchen der Vergangenheit noch persönlich rupfen und deshalb musste er sich schon einmal einen gewissen Überblick verschaffen.
  Sie fuhren zur Zentrale von Heeremanns Baustoff-Imperium und schauten sich dann auch die in Hanglage zum Pfälzer Wald erbaute Designer-Villa an, die mit Heeremann auf beinahe jedem Foto in nahezu allen einschlägigen Zeitschriften gerühmt worden war. Der Mann hatte in seiner grenzenlosen Eitelkeit offenbar keinerlei Sicherheitsbedenken...
  Aber die Amerikaner! Wegen der verschärften Terror-Warnstufe im Vorfeld des G8-Gipfels standen die US-Einrichtungen und -Bürger bereits seit einigen Wochen unter verstärkter Beobachtung. Johannes wurde - ohne es zu ahnen - wegen seines neuen Aussehens aus einer Video-Aufzeichnung selektiert, die automatisch in der Innenstadt aufgenommen worden war. Da sie nirgends kongruente Merkmale aufwies, wurde sie auf die Computer einer Sonderabteilung in Bonn überspielt, deren Datenbank-Abgleich entsprechend größer war. Als auch dort kein positiver Abgleich stattfand, erhielt auch die CIA Zugriff.
  Nach Ansicht von Insidern wurden auf diese Weise im Vorfeld von Heiligendamm ohne nähere Prüfung etwa 800 Individuen (Individuals) dem Generalverdacht des mittlerweile überwiegend im europäischen Jenseits der Legalität operierenden US-Geheimdienstes ausgesetzt. Internationale Sicherheitsexperten stritten sich indes, ob die generelle Video-Überwachung zur Prävention überhaupt tauge. Dass sie ein hervorragendes Mittel zur späteren Täter-Ermittlung war, steht hingegen seit London und Köln außer Frage.
  Johannes jedenfalls konnte vierzehn Tage im VW-Golf hausend, seine Ausspähungen vornehmen. Hätte sein Auftritt als unfreiwilliger Video-Held Sicherheitsrelevanz gehabt, wäre aufgefallen, dass er jede Nacht in einem kleinen Ort im Pfälzer Wald auf dem Parkplatz vor dem Erlebnisbad kampierte, jeden Morgen seine Bahnen schwamm und dann im Anschluss seine Körperpflege dort verrichtete. Pünktlich um Viertel vor Zehn stand er in Sichtweite des Firmen-Portals und wartete auf das Eintreffen seines Zielobjektes. Nach dessen Tagesablauf richtete sich dann sein eigener.
  Man konnte gegen Heeremann alles Mögliche vorbringen. Doch einer wie er wird nicht so reich und mächtig ohne Präsenz. Er reiste nicht - zum Glück von Johannes -, sondern ließ kommen. Und wer da alles antanzte. Die halbe "Latefundis"-Führungsebene kam mehrmals pro Woche über den Rhein. Scheichs in Stretch-Limousinen und mancher aus den Nachrichten bekannter Politiker der so genannten zweiten Reihe. Als dann am Freitag der ersten Woche ein braun gebrannter Gregory Rafferson die Stufen zu dem gläsernen Eingangspavillon hinauf federte, verkrampfte sich der Pylorus von Johannes als untrüglicher Panik-Anzeiger.
  Geld und Sex sowie die Gier danach!
  Johannes hatte seinen Plan an einer infinitesimalen Größe fest gemacht. Als die Jungs, die er dem ersten Vorsitzenden einst zur Seite gestellt hatte, noch seine Jungs waren, hatten die sich in einer Sitzung darüber lustig gemacht, dass die Libido des Multi-Managers offenbar auch genau nach Zeitplan bedient werden müsse. Und, dass Heeremann  (nix G'wisses woaß ma net) dreimal wöchentlich direkt vom Mittagessen mit der Familie in seiner Designer-Villa (zum Aufhupferl) in einen grünen Vorort auf der anderen Seite der Stadt aufbrach.
  Tatsächlich war das so. Heeremann fuhr mit seinem 300PS-Lexus - so er im Lande war - montags, mittwochs und freitags neunzig Prozent der Verkehrsregeln missachtend zu einem einfachen 60erjahre- Spießerhäuschen im Südwesten. Es stand unisono mit Häusern ähnlicher Bauweise und gleich dimensionierten Gärten in einer Häuslebauergegend mit penibel gefegten Bürgersteigen, in der noch Bataillone unterschiedlichster Gartenzwerge das Regiment führten.
  Aber Heeremann wurde nicht von einer prallen top geschminkten Sex-Göttin under cover erwartet, sondern traf dort ein junge arabische Frau und zwei hellhäutige, leicht arabisch aussehende Knaben im Vorschul-Alter, mit denen er dann ausgelassen im Garten Fußball oder anderes spielte. Wenn es zu einem "Aufhupferl" kam, dann höchstens als Quicky bei Regen. Denn so oft Johannes diese Vorstadt-Idylle beobachtete, vergaß der Manager über das Spielen mit den Kindern seine Zeit und startete mit quietschenden Reifen, um pünktlich um vier wieder im Büro zu sein.
  Johannes war schlagartig  und wegen der Idylle auch wehmütig klar, da gab es nichts zu diskreditieren. Ein Mann von der lokalen Bekanntheit Heeremanns konnte in einem derartigen Spießer-Ambiente kein Doppelleben incognito führen. Da kam er für alle sichtbar offenbar einer sozialen Verpflichtung nach. Johannes war in eine Sackgasse geraten, aber nicht wirklich unglücklich darüber. Schon bei den journalistischen Tretminen, war er ja aus seinem Moralkodex geschlüpft. Aber die Wut auf diese Janus-Köpfigkeit von Heeremann hatte sich gerade deshalb noch gesteigert.
  Nach zwei Tagen Ringen mit dem inneren Teufel blieb der Vorsatz zur lässlichen Sünde; dem Aalglatten wollte er zumindest einen Denkzettel verpassen. Er hatte an ein Arrangement im Stile von „Il Mulo“ gedacht…
  Um die Spießer-Gartenstadt verkehrstechnisch zu befrieden, waren die Straßen, die sie im Süden und Westen begrenzten, zu einer umgehenden Vorfahrtsstraße verknüpft worden. die gerade Straße, in der Heeremanns "arabische Familie" wohnte, verband diesen Bogen wie das Blatt einer Laubsäge, hatte aber an beiden Einmündungen – entgegen der gefühlten und optischen Präferenz - ein "Vorfahrt-beachten-Schild". Bei seinem Le Mans-Start und dem PS-Geprotze ignorierte Heeremann diese Regelung jedes Mal.
  Am letzten Freitag in Deutschland lauerte Johannes Heeremann regelrecht auf. Wenn man kurz vor der Einmündung in die Vorfahrtstraße stand, konnte man den Lexus vor dem Haus hinten in der Querstraße gut stehen sehen. Kurz vor vier eilte Heeremann wie üblich im Laufschritt heraus, sprang in den Wagen und startete durch. Johannes musste mit dem Golf von Annabella nur gemütlich mit dreißig auf die Einmündung zu rollen. Als er sich anschickte,  gemächlich links abzubiegen, rauschte der Lexus immer noch beschleunigend heran. Wo immer Heereman in diesem Moment seinen Kopf hatte - beim Autofahren jedenfalls nicht. Er trat zwar in die Bremsen und verfehlte mittels einer Lenkradkorrektur den bereits eingeschwenkten Golf. Aber trotz ABS reichte die Distanz nicht mehr, um seinerseits die Linkskurve ganz zu bekommen. Er preschte in den makellos weiß gestrichenen Gartenzaun auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Der Knall des Airbags hallte durch die nachmittägliche Garten-Idylle.
  Johannes stieg gelassen aus dem Golf, eilte nicht übermäßig zur Fahrertür des Lexus, öffnete sie - und sah die Angst in den Augen des Fahrers, als der seinerseits Begriff, dass der Skin kein anderer war als sein ehemaliger Presseberater:
  "Na ja, aus der Sache kommen Sie vermutlich auch wieder unbeschadet heraus", meinte Johannes als er sich den Schaden am Zaun ansah, der größer war als die Stauchung am Stoßfänger der Luxus-Limousine.
  Im Nu waren aus allen anliegenden Gärten der Kreuzung Freizeitgärtner und -Gärtnerinnen im Rentenalter zur Unfallstelle geeilt. Johannes rätselte noch, wer auf der Welt all diese unsäglich geblümten Kittelschürzen  und leuchtfarbenen Trainingsanzüge herstellt, als das Geschnatter auch schon losging:
  "Ich mach den Zeugen. Ganz klar die Vorfahrt missachtet!"
  "Das hab' ich ja lang schon kommen sehen, wie der immer nausjagt!"
  Offenbar der Besitzer des Gartenzauns:
  "Ja, schau, de Hä Häremann. De eigebaude Vofaht funktioniat hald au bei Ihnä net immä."
  Johannes fragte vor all den Zeugen, die an seinem Skin-Habitus offenbar keinerlei Anstoß nahmen:
  "Sollen wir die Polizei rufen? Ihnen ist ja nichts passiert, und mir doch auch nicht, - aber wenn Sie meinen..."
  Heeremann, der noch immer nichts gesagt und keine Anstalten gemacht hatte, hinter dem Airbag hervor zu kommen, schüttelte deutlich resigniert den Kopf.
  "Gut dann schau ich, dass ich weiter komme. Auf Wiedersehen die Herrschaften. Adieu Herr Heeremann!"
  Bei dem Adieu - das konnte sich Johannes nicht verkneifen - zeigte er auf seine nun durch das Schwimmen im Chlorwasser feuerrot gefärbte Narbe, in der noch immer die  sich angeblich selbst auflösenden Fäden zu sehen waren. Dann. durch einfache Drehung des Handgelenks, zeigte er mit gespreiztem Zeige und Ringfinger direkt auch auf die Augen von Heeremann. Die Umstehenden mögen das als Aufforderung empfunden haben, das nächste Mal besser aufzupassen. Aber da Johannes diese Geste von "Il Mulo" hatte, bedeutete sie eher - Aufpassen nützt dir bald auch nichts mehr.
  Johannes fuhr dann schnurstracks auf die Autobahn nach Frankfurt. Er hatte Annabella versprochen, das Auto vor dem Wochenende zurück zu bringen. Morgen würde er für 55 Euro nach Nizza fliegen. Seit er das Haus in Ligurien gekauft hatte, war selbst die Oneway-Strecke um 75 Prozent billiger geworden... Da konnten Auto und Schiene einfach nicht mehr mithalten.

  Bei der ersten Parkbucht musste er jedoch erst einmal raus. Ein Schüttelfrost und eine heftige Übelkeit hatten ihn derart gepackt, dass er im ersten Moment an eine massive Unterzuckerung dachte. Als er sich aber unter konvulsivischen Krämpfen übergeben hatte, bis nur noch Galle kam, war ihm schlagartig besser und leider auch klar, dass ihm nur unendlich schlecht vom eigenen Handeln geworden war...