17.
Kapitel
René
war nie anders gerufen worden als bei seinem Vornamen. Selbst seine Enkel
sagten niemals Opa zu ihm, und in seiner Zeit als Boss hätte er sich jegliche
Spitznamen verbeten. Nun entdeckte er, dass es ihm irgendwie schmeichelte, von Peggy
Papù genannt zu werden. Aber wenn man ihm, dem Werbeprofi, schon eine „Marke“
zu seinem Image verpasste, wollte er herausfinden, wie das Bild entstanden sein
könnte.
Im Internet-Versand-Handel hatte er sich
noch kurz vor der Abreise eine DVD von dem Film „Gandhi“ mit Sir Ben Kingsley
besorgt. An einem Regentag besah er sich das Epos von mehr als drei Stunden
Länge dreimal hintereinander. Zunächst im Original auf Englisch. Da entgingen
ihm zwar die Feinheiten der Dialoge, aber die Arroganz der britischen Besatzer
kam besser rüber. Die französische Synchronisation lieferte ihm zwar das
Verständnis für die Fakten, aber eine Ahnung, was Peggy so beeindruckt haben
könnte, in ihm, René, ihren Papù zu
entdecken, gab ihm die deutsche Version des Films.
Er war schon mit hohem Tempo im Tunnel
unter dem Ärmelkanal unterwegs, als ihm klar wurde, dass Peggys Identifikation
nicht allein ihm, sondern auch ihr selbst galt. Es ging um eine Sichtweise auf
mögliche Arten des Miteinanders zwischen Mann und Frau, die über Begierde und
Verlangen rangierte, bei der es vielleicht um das Teilen von Aura ging. Sex und
Erotik – so schrieb er es jedenfalls in einer Mail an Johannes – spielten dabei
eine weitaus kleinere Rolle als die geistige Hingabe im Bewusstsein die Seelen
in Gleichklang zu bringen. Indem Peggy ihn Papù nannte, wollte sie nicht auf
eine äußerliche Ähnlichkeit Renés anspielen, sondern auf ihre Rolle in dieser amour fou.
Die von Geraldine James im Film so
hervorragend dargestellte Gandhi-Jüngerin Mirabehn
wäre demnach so etwas wie Peggys Rollenverständnis in ihrer noch im
Anfangsstadium befindlichen Beziehung zu René…
Nur, dass Peggy nicht wie Mirabehn neunzig Jahre alt geworden ist,
sondern nur 26, dachte Johannes grimmig beim Weiterschreiben. Und noch ein
Aspekt war in der verschlüsselten Botschaft als Fundament dieses Zusammenseins
versteckt, das der Chronist erst nach Abschluss seiner Erzählung vollends begreifen
sollte: Askese.
Sehr
erwachsen hatten die beiden Liebenden sich darauf geeinigt, es langsam angehen
zu lassen; nicht übereilt danach zu suchen, ob das, was sie in LaGrange zu
einander geführt hatte, in welcher Form auch immer, noch vorhanden sei.
Deshalb war René an einem Freitagnachmittag angereist. Wohl wissend,
dass Peggy da schon mit dem Zug von Victoria Station die zwei Stunden zu ihren
Eltern nach Hastings unterwegs sein würde. Ihm blieb also das gesamte
Wochenende, um sich zu akklimatisieren und den Schock zu verdauen, wie absurd
teuer London seit seinem letzten beruflichen Aufenthalt geworden war.
Eine Idee vom Preisgefüge in der späteren Welthauptstadt der Finanzkrise
hatte er ja schon bekommen, als er sein ehemaliges Stammhotel in der Nähe der
Fleetstreet im Internet aufgerufen hatte. Selbst in Euro hatte sich dort der
Preis für ein Standard-Single mit Kingsize-Bed mehr als verdoppelt. Und er
konnte ja auch keine Spesen mehr abrechnen. Schließlich hatte er sich über ein
Portal im „Belle Cour“ eingebucht. Nicht, weil der französische Name ihm
Vertrauen einflößte. Es lag am Rande des Universitätsviertels und entsprach
preislich der neuen Sparsamkeit Renés – gerade unter dem Gesichtspunkt einer
längeren Verweildauer.
Sowohl, dass er viel zu Fuß zu erkunden konnte, als auch die Nähe zur
U-Bahn-Station Russel Square bestätigte die Richtigkeit seiner Wahl bereits am
ersten Wochenende. Dem Großstadt-Leben war René ja seit mehr als anderthalb
Jahrzehnten entwöhnt. Umso mehr überraschte es ihn, dass der Trubel ihn sofort
euphorisch mitwirbelte.
Weil er nur Kingsway Richtung Themse
hinunter zu gehen brauchte, verbrachte er Samstag und Sonntag in verschiedenen
Museen, obwohl er eigentlich kulturell bislang nicht zu den derart Wissbegierigen
gezählt hatte. Er wurde mit einer sehr persönlichen Entdeckung belohnt:
In einem vom Tageslicht ausgeschlossenen Raum der Tate waren selten zu
sehende Aquarelle von William Turner aus dem immensen Bestand der Gallery ausgestellt:
Malerische Notizen von schlichter Figuration, die ihn willkürlich an die Poems
von Derek Walcott erinnerten. Unter ihnen eine quasi im Sonnenlicht verbrennende
Silhouette des Heidelberger Schlosses. Spontan kam ihm die Idee, Peggy an
diesem Mysterium teilhaben zu lassen. Er wandte sich umgehend an den
Bilderdruck-Service der Tate, um heraus zu finden, ob es von dem Blatt einen
Druck in Originalgröße gäbe.
Schöne digitale Welt. Er erfuhr von der jungen Dame am Schalter, dass er
nahezu von jedem Exponat „on demand“ einen Druck in variablen Techniken haben
könne. Mit den Angaben von René rief sie im Computer das entsprechende Tableau
auf und teilte ihm mit, dass sich für Turner-Aquarelle ein Druckverfahren
anböte, dessen Resultat einem erschiene, als sei es das Original – nur mit dem
Unterschied, dass so ein Druck nahezu 500 Jahre der UV-Strahlung ausgesetzt
werden könne, ohne die Farbintensität zu verlieren. Das Verfahren sei nicht nur
das teuerste, sondern er müsse leider auch eine Woche warten…
Er zahlte den wirklich stolzen Preis, ohne lange zu überlegen und gab
das Hotel als Lieferadresse an. Bei dem, was Heidelberg Peggy bedeutete, war
dies ein durchaus passendes Geschenk für sie. Vor allen, wenn er ihr beschrieb,
wie sich ihm beim Anblick des Aquarells die malerische Assoziation zu Derek
Walcott ergeben hätte.
Sie hatten sich für Montag um 16Uhr30
im Cafe Russel Square zum ersten Rendezvous verabredet. Eine milchig
getrübte, tiefe Sonne ließ die letzten Blätter an den Bäumen und das frisch
gefallene Laub auf den Wegen noch einmal magisch aufleuchten. Zum draußen Sitzen
war es schon zu ungemütlich, deshalb entstand drinnen der Eindruck, als seien
alle Tische doppelt besetzt. Das überwiegend junge Publikum konnte gemischter
nicht sein:
Dandys im Threepiece-Suit schäkerten mit mordsmäßig aufgestylten
It-Girls, Bärtige und Dreadlocks-Trägerinnen rangen lautstark wie überall auf
der Welt in gleichem Habitus und Outfit
mit langen Schals wedelnd um irgendeine politische Meinung. Nur vor
einem der Fenster zum Park schien sich an einem Zweier-Tisch deutlich wahrnehmbar
eine Aura von Ruhe – um nicht zu sagen eine Art Quarantäne – gebildet zu haben.
Und da saß sie, derart konzentriert in ein Buch vertieft, dass sie ihn
glücklicher Weise nicht hatte eintreten sehen. Am liebsten hätte René nämlich
zackig auf dem Absatz kehrt gemacht. Das dort sitzende Wesen hatte mehr mit dem
unseligen Mädchen, dass er vor einem halben Jahr in Bordeaux vom Flieger
abgeholt hatte zu tun, als mit der jungen Dame, die er ein Vierteljahr später
zum Heimflug geleitet hatte:
Peggy hatte seither ihre feuerroten Haare nicht nur wachsen lassen,
sondern wohl auch ihr unglückseliges Gel wieder entdeckt. Immerhin war das
Gekleister nur teilweise zu sehen, denn sie hatte die Kapuze eines neonfarbenen
Hoodys halb über den Hinterkopf gezogen. Die Hosenbeine einer orientalischen
Pluderhose mit arabeskem Muster, die sie unten herum trug, verschwanden in den
Schäften von rosa Gummistiefeln. Aber der stylishe Overkill war eine Art
Gasmasken-Zylinder aus Militärbeständen des Ersten Weltkrieges, der ihr
offenbar als Bücher- und Handtasche diente…
Widerwillig drückte ihr René einen Kuss auf die Kapuze als er neben ihr
ankam. Sie sprang verschreckt auf und
hätte ihrem betagten Lover dadurch fast einen Kopfstoß verpasst.
„Papù, du lieber! Dass du mich in diesem Tumult sofort entdeckt hast?“
rief sie mit heller Stimme derart laut, dass der Lärm der anderen für Sekunden
zu verstummen schien.
„Komm, setzt dich! Wie hast du dich arrangiert? Kommst du zurecht?“ Wenn
sie seine Irritation wahrgenommen hatte, ließ sie sich das zumindest nicht
anmerken.
Er setzte sich ihr direkt gegenüber, und dann passiert es. Gleichzeitig
nahmen sie nichts anderes mehr wahr als sich. Sie schlüpften gegenseitig durch
die Pupillen ihrer Augen und glitten hinab in die Seele des jeweils anderen. Dort
angelangt gerieten sie in einen Zustand, der keine Zeitmessung mehr kannte. Wie
hypnotisiert konnte René nicht länger das Unbehagen verstehen, das ihn kurz
zuvor noch befallen hatte. Er ließ es willenlos mit sich geschehen, dass Peggy
ihren Po leicht lupfte, um sich mit ihrem elend langen Oberkörper zu ihm hinüber
zu beugen. Wie beim Abflug in Bordeaux packte sie ihn am Nacken und verpasste
ihm einen leidenschaftlich langen Zungenkuss. Dann glitten ihre Lippen an der
glatt rasierten Wange entlang zu seinem
Ohr und sie flüsterte:
„Prüfung bestanden Papù! Ich wollte nur sehen, ob du mich oder doch nur
das Geschöpf deines Geschmacks und deiner Wünsche liebst. Ich bin so
glücklich!“
Dann quatschten sie Händchen haltend mal beide auf einmal, mal in
längeren Monologen, mal schwiegen sie und ließen nur ihre Augen sprechen, wobei
René sich innerlich gestehen musste, dass der Schock, den Peggys Kleidungsstil
ihm verpasst hatte, selbst ohne die beabsichtigte Provokation mit der Zeit
verflogen wäre, weil man ihn durchaus expressionistisch nennen konnte. Wären
die beiden Liebenden zwei Jahre später noch unter den Lebenden gewesen, hätten
sie erlebt, dass ein großer Teil der globalen, goldenen Jugend, sich darin
gefiel, Kleidungsstücke miteinander zu kombinieren, die absolut nicht
zueinander passen durften.
Mitten aus dem Zusammenhang gerissen, sagte Peggy auf einmal:
„Nächsten Sonntag ist Guy Fawkes Day!“
„Remember, remember
the fifth of November!” antwortete René reflexartig. „Was oder wen wollen wir
anzünden?”
“Geburtstagskerzen. Ich habe nämlich am 5. November Geburtstag. Ich
werde 24. Ich würde das gerne mit dir und meinen Eltern wie jedes Jahr in
Hastings feiern. Da gibt es die tollsten Feuer am Strand. Bist du noch so lange
hier?“
„Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt? Ich werde so lange bei dir
sein, um ein Teil deines Lebens zu werden, bis du mir frank und frei erklärst,
dass du mich nicht länger dabei haben willst…“
Es
würde genau umgekehrt kommen, dachte Johannes traurig, als er den Computer
ausschaltete, um über die Begegnung mit Peggys Eltern nachzudenken, die er
anhand von Renés Mails im nächsten Kapitel haarklein beschreiben konnte.