Donnerstag, 24. April 2014

Strohfeuer

17. Kapitel
   René war nie anders gerufen worden als bei seinem Vornamen. Selbst seine Enkel sagten niemals Opa zu ihm, und in seiner Zeit als Boss hätte er sich jegliche Spitznamen verbeten. Nun entdeckte er, dass es ihm irgendwie schmeichelte, von Peggy Papù genannt zu werden. Aber wenn man ihm, dem Werbeprofi, schon eine „Marke“ zu seinem Image verpasste, wollte er herausfinden, wie das Bild entstanden sein könnte.
     Im Internet-Versand-Handel hatte er sich noch kurz vor der Abreise eine DVD von dem Film „Gandhi“ mit Sir Ben Kingsley besorgt. An einem Regentag besah er sich das Epos von mehr als drei Stunden Länge dreimal hintereinander. Zunächst im Original auf Englisch. Da entgingen ihm zwar die Feinheiten der Dialoge, aber die Arroganz der britischen Besatzer kam besser rüber. Die französische Synchronisation lieferte ihm zwar das Verständnis für die Fakten, aber eine Ahnung, was Peggy so beeindruckt haben könnte, in ihm, René,  ihren Papù zu entdecken, gab ihm die deutsche Version des Films.
    Er war schon mit hohem Tempo im Tunnel unter dem Ärmelkanal unterwegs, als ihm klar wurde, dass Peggys Identifikation nicht allein ihm, sondern auch ihr selbst galt. Es ging um eine Sichtweise auf mögliche Arten des Miteinanders zwischen Mann und Frau, die über Begierde und Verlangen rangierte, bei der es vielleicht um das Teilen von Aura ging. Sex und Erotik – so schrieb er es jedenfalls in einer Mail an Johannes – spielten dabei eine weitaus kleinere Rolle als die geistige Hingabe im Bewusstsein die Seelen in Gleichklang zu bringen. Indem Peggy ihn Papù nannte, wollte sie nicht auf eine äußerliche Ähnlichkeit Renés anspielen, sondern auf ihre Rolle in dieser amour fou.
   Die von Geraldine James im Film so hervorragend dargestellte Gandhi-Jüngerin Mirabehn wäre demnach so etwas wie Peggys Rollenverständnis in ihrer noch im Anfangsstadium befindlichen Beziehung zu René…
    Nur, dass Peggy nicht wie Mirabehn neunzig Jahre alt geworden ist, sondern nur 26, dachte Johannes grimmig beim Weiterschreiben. Und noch ein Aspekt war in der verschlüsselten Botschaft als Fundament dieses Zusammenseins versteckt, das der Chronist erst nach Abschluss seiner Erzählung vollends begreifen sollte: Askese.
   Sehr erwachsen hatten die beiden Liebenden sich darauf geeinigt, es langsam angehen zu lassen; nicht übereilt danach zu suchen, ob das, was sie in LaGrange zu einander geführt hatte, in welcher Form auch immer, noch vorhanden sei.
    Deshalb war René an einem Freitagnachmittag angereist. Wohl wissend, dass Peggy da schon mit dem Zug von Victoria Station die zwei Stunden zu ihren Eltern nach Hastings unterwegs sein würde. Ihm blieb also das gesamte Wochenende, um sich zu akklimatisieren und den Schock zu verdauen, wie absurd teuer London seit seinem letzten beruflichen Aufenthalt geworden war.
    Eine Idee vom Preisgefüge in der späteren Welthauptstadt der Finanzkrise hatte er ja schon bekommen, als er sein ehemaliges Stammhotel in der Nähe der Fleetstreet im Internet aufgerufen hatte. Selbst in Euro hatte sich dort der Preis für ein Standard-Single mit Kingsize-Bed mehr als verdoppelt. Und er konnte ja auch keine Spesen mehr abrechnen. Schließlich hatte er sich über ein Portal im „Belle Cour“ eingebucht. Nicht, weil der französische Name ihm Vertrauen einflößte. Es lag am Rande des Universitätsviertels und entsprach preislich der neuen Sparsamkeit Renés – gerade unter dem Gesichtspunkt einer längeren Verweildauer.
    Sowohl, dass er viel zu Fuß zu erkunden konnte, als auch die Nähe zur U-Bahn-Station Russel Square bestätigte die Richtigkeit seiner Wahl bereits am ersten Wochenende. Dem Großstadt-Leben war René ja seit mehr als anderthalb Jahrzehnten entwöhnt. Umso mehr überraschte es ihn, dass der Trubel ihn sofort euphorisch mitwirbelte.
    Weil er nur Kingsway Richtung  Themse hinunter zu gehen brauchte, verbrachte er Samstag und Sonntag in verschiedenen Museen, obwohl er eigentlich kulturell bislang nicht zu den derart Wissbegierigen gezählt hatte. Er wurde mit einer sehr persönlichen Entdeckung belohnt:
    In einem vom Tageslicht ausgeschlossenen Raum der Tate waren selten zu sehende Aquarelle von William Turner aus dem immensen Bestand  der Gallery  ausgestellt: Malerische Notizen von schlichter Figuration, die ihn willkürlich an die Poems von Derek Walcott erinnerten. Unter ihnen eine quasi im Sonnenlicht verbrennende Silhouette des Heidelberger Schlosses. Spontan kam ihm die Idee, Peggy an diesem Mysterium teilhaben zu lassen. Er wandte sich umgehend an den Bilderdruck-Service der Tate, um heraus zu finden, ob es von dem Blatt einen Druck in Originalgröße gäbe.
    Schöne digitale Welt. Er erfuhr von der jungen Dame am Schalter, dass er nahezu von jedem Exponat „on demand“ einen Druck in variablen Techniken haben könne. Mit den Angaben von René rief sie im Computer das entsprechende Tableau auf und teilte ihm mit, dass sich für Turner-Aquarelle ein Druckverfahren anböte, dessen Resultat einem erschiene, als sei es das Original – nur mit dem Unterschied, dass so ein Druck nahezu 500 Jahre der UV-Strahlung ausgesetzt werden könne, ohne die Farbintensität zu verlieren. Das Verfahren sei nicht nur das teuerste, sondern er müsse leider auch eine Woche warten…
    Er zahlte den wirklich stolzen Preis, ohne lange zu überlegen und gab das Hotel als Lieferadresse an. Bei dem, was Heidelberg Peggy bedeutete, war dies ein durchaus passendes Geschenk für sie. Vor allen, wenn er ihr beschrieb, wie sich ihm beim Anblick des Aquarells die malerische Assoziation zu Derek Walcott ergeben hätte.
    Sie hatten sich für Montag um 16Uhr30  im Cafe Russel Square zum ersten Rendezvous verabredet. Eine milchig getrübte, tiefe Sonne ließ die letzten Blätter an den Bäumen und das frisch gefallene Laub auf den Wegen noch einmal magisch aufleuchten. Zum draußen Sitzen war es schon zu ungemütlich, deshalb entstand drinnen der Eindruck, als seien alle Tische doppelt besetzt. Das überwiegend junge Publikum konnte gemischter nicht sein:
   Dandys im Threepiece-Suit schäkerten mit mordsmäßig aufgestylten It-Girls, Bärtige und Dreadlocks-Trägerinnen rangen lautstark wie überall auf der Welt in gleichem Habitus und Outfit  mit langen Schals wedelnd um irgendeine politische Meinung. Nur vor einem der Fenster zum Park schien sich an einem Zweier-Tisch deutlich wahrnehmbar eine Aura von Ruhe – um nicht zu sagen eine Art Quarantäne – gebildet zu haben. Und da saß sie, derart konzentriert in ein Buch vertieft, dass sie ihn glücklicher Weise nicht hatte eintreten sehen. Am liebsten hätte René nämlich zackig auf dem Absatz kehrt gemacht. Das dort sitzende Wesen hatte mehr mit dem unseligen Mädchen, dass er vor einem halben Jahr in Bordeaux vom Flieger abgeholt hatte zu tun, als mit der jungen Dame, die er ein Vierteljahr später zum Heimflug geleitet hatte:
    Peggy hatte seither ihre feuerroten Haare nicht nur wachsen lassen, sondern wohl auch ihr unglückseliges Gel wieder entdeckt. Immerhin war das Gekleister nur teilweise zu sehen, denn sie hatte die Kapuze eines neonfarbenen Hoodys halb über den Hinterkopf gezogen. Die Hosenbeine einer orientalischen Pluderhose mit arabeskem Muster, die sie unten herum trug, verschwanden in den Schäften von rosa Gummistiefeln. Aber der stylishe Overkill war eine Art Gasmasken-Zylinder aus Militärbeständen des Ersten Weltkrieges, der ihr offenbar als Bücher- und Handtasche diente…
   Widerwillig drückte ihr René einen Kuss auf die Kapuze als er neben ihr ankam. Sie sprang verschreckt  auf und hätte ihrem betagten Lover dadurch fast einen Kopfstoß verpasst.
   „Papù, du lieber! Dass du mich in diesem Tumult sofort entdeckt hast?“ rief sie mit heller Stimme derart laut, dass der Lärm der anderen für Sekunden zu verstummen schien.
    „Komm, setzt dich! Wie hast du dich arrangiert? Kommst du zurecht?“ Wenn sie seine Irritation wahrgenommen hatte, ließ sie sich das zumindest nicht anmerken.
    Er setzte sich ihr direkt gegenüber, und dann passiert es. Gleichzeitig nahmen sie nichts anderes mehr wahr als sich. Sie schlüpften gegenseitig durch die Pupillen ihrer Augen und glitten hinab in die Seele des jeweils anderen. Dort angelangt gerieten sie in einen Zustand, der keine Zeitmessung mehr kannte. Wie hypnotisiert konnte René nicht länger das Unbehagen verstehen, das ihn kurz zuvor noch befallen hatte. Er ließ es willenlos mit sich geschehen, dass Peggy ihren Po leicht lupfte, um sich mit ihrem elend langen Oberkörper zu ihm hinüber zu beugen. Wie beim Abflug in Bordeaux packte sie ihn am Nacken und verpasste ihm einen leidenschaftlich langen Zungenkuss. Dann glitten ihre Lippen an der glatt rasierten Wange  entlang zu seinem Ohr und sie flüsterte:
    „Prüfung bestanden Papù! Ich wollte nur sehen, ob du mich oder doch nur das Geschöpf deines Geschmacks und deiner Wünsche liebst. Ich bin so glücklich!“
    Dann quatschten sie Händchen haltend mal beide auf einmal, mal in längeren Monologen, mal schwiegen sie und ließen nur ihre Augen sprechen, wobei René sich innerlich gestehen musste, dass der Schock, den Peggys Kleidungsstil ihm verpasst hatte, selbst ohne die beabsichtigte Provokation mit der Zeit verflogen wäre, weil man ihn durchaus expressionistisch nennen konnte. Wären die beiden Liebenden zwei Jahre später noch unter den Lebenden gewesen, hätten sie erlebt, dass ein großer Teil der globalen, goldenen Jugend, sich darin gefiel, Kleidungsstücke miteinander zu kombinieren, die absolut nicht zueinander passen durften.
   Mitten aus dem Zusammenhang gerissen, sagte Peggy auf einmal:
    „Nächsten Sonntag ist Guy Fawkes Day!“
    „Remember, remember the fifth of November!” antwortete René reflexartig. „Was oder wen wollen wir anzünden?”
   “Geburtstagskerzen. Ich habe nämlich am 5. November Geburtstag. Ich werde 24. Ich würde das gerne mit dir und meinen Eltern wie jedes Jahr in Hastings feiern. Da gibt es die tollsten Feuer am Strand. Bist du noch so lange hier?“
   „Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt? Ich werde so lange bei dir sein, um ein Teil deines Lebens zu werden, bis du mir frank und frei erklärst, dass du mich nicht länger dabei haben willst…“

Es würde genau umgekehrt kommen, dachte Johannes traurig, als er den Computer ausschaltete, um über die Begegnung mit Peggys Eltern nachzudenken, die er anhand von Renés Mails im nächsten Kapitel haarklein beschreiben konnte. 

Donnerstag, 17. April 2014

Strohfeuer

           16. Kapitel


    Alle Familien-Mitglieder, die  sich wie gewohnt auf die von René veranstalteten Weihnachtsferien in einem angemieteten Chalet bei Zermatt eingestellt hatten, mussten sich nun für ihre individuelle Gestaltung der Feiertage eigene Gedanken machen und auch eigenes Geld in die Hand nehmen.
   Wirklich traurig darüber war Maurice, und nicht etwa weil er um seinen Geldbeutel besorgt war. Vielmehr hatte er den Vater wegen einer EU-Mission im Baltikum vergangenen Sommer schon nicht die gewohnten acht Wochen in LaGrange gesehen. Nun käme es vielleicht erst wieder im kommenden Sommer zu einer Begegnung mit ihm. Während der ersten Krebsphase waren sich die beiden wieder näher gekommen und hatten zu einem Verhältnis gefunden, wie es zwischen einem Vater und seinem erwachsenen Sohn üblicher  Weise sein sollte. Maurice schmerzte es aufrichtig, dass sie diesen aufgenommen Faden nicht so bald weiterspinnen sollten, aber er verstand, dass sein Vater „etwas auskosten wollte“ – wie jener sich ausgedrückt hatte. Von Peggy wusste Maurice ja nichts, und erfuhr auch die Beweggründe nicht von René.
    Ganz anders Natalie, deren Instinkt sofort, als sie und ihre Sippe ausgeladen wurde, für Alarmbereitschaft und investigative Neugier sorgte. Weil René sich nicht in die Karten blicken lassen wollte, wurden Johannes und Urmel mit wütenden Anrufen aus Übersee zur Unzeit aus dem Bett geklingelt. Während Urmel wegen der Funkstille zwischen ihm und seinem Godfather ja wirklich keine Ahnung hatte, machte sich Johannes ein Vergnügen draus, die eine oder andere Nebelkerze abzufeuern.
    Wäre Natalie im letzten Sommer präsenter gewesen, hätte sie eigentlich von selbst ihre Schlüsse ziehen können, aber so schluckte sie zunächst die Legende, ein Kunde von früher habe René mit einem stattlichen Honorar als Ratgeber für ein verzwicktes Projekt nach London gelockt. Was im Übrigen auch die wage  Andeutung gewesen war, die René gegenüber Papa O’Neill mit schlechtem Gewissen als Begründung für einen möglichen Besuch in England heran gezogen hatte. René log selten und äußerst ungern. Schon deshalb nicht, weil er überhaupt noch nicht wusste, wie das Objekt seiner Begierde auf seine Pläne reagieren würde. An ein derartig bizarres Verhältnis angesichts von Sonne, Sand, Strand und entspanntem Wohlergehen könnte ja eventuell im Studien-Alltag des Londoner Winters doch nicht so leicht angeknüpft werden. Schon nach dem ersten Wiedersehen wäre ja auch eine beiderseitige Ernüchterung angesichts des enormen Altersunterschiedes denkbar. Vielleicht müsste er gleich wieder abreisen. Oder man risse sich zusammen und merkte erst nach zähen, verklemmten Wochen, dass alles ein Irrtum war. Oder aber René stünde ein Winter bevor, der wie ein Sommer vor dem Frühling enden würde…
    Das erste Telefonat war nicht gerade sehr viel versprechend gewesen, weil ja auch Peggy nicht wusste, in welchen Dimensionen sich René so seine Gedanken machte. Das mit dem Projekt in London hatte sie sofort als Notlüge ihrem Vater gegenüber entlarvt, und das war gleichzeitig aber auch Hinweis darauf, dass René ganz andere Absichten verfolgen könnte.
     Sie rief vom Handy aufs Festnetz an und betonte das,  - was ein Hinweis auf nüchterne Kürze wegen ihr entstehender Kosten sein sollte. Die ersten, vorher einstudierten Sätze kamen Peggy deshalb auch komplett emotionslos über die Lippen: Natürlich freute sie sich, wenn René sie auf seiner Geschäftsreise kurz besuchen käme. Aber leider sei sie nicht so unbegrenzt verfügbar. Sie stünde in den letzten beiden unglaublich anspruchsvollen Semestern. Während der Woche wäre ihre Flexibilität zudem durch die strengen Regeln im Boardinghouse eingeschränkt. Da sei es ja sogar unkomplizierter, sich an einem Wochenende in Hastings bei ihren Eltern zu treffen…
   Johannes hatte keine Ahnung wie das verbale Schach zwischen den beiden dann tatsächlich abgelaufen war, weil auch René später in seinen Mails darüber nichts verlauten ließ: Aber der König hatte sich dabei wohl in eine Position gebracht, in der der Dame nichts blieb als das „sweet surrender“.
   „There must have been love“, summte er als er weiter schrieb und sich vorstellte, wie das zweite Telefonat wohl abgelaufen sein könnte:
   René hatte sich Peggys Handynummer samt nüchterner Anweisungen für deren Gebrauch geben lassen. Wegen des Handy-Verbots in den Hörsälen und der strikten Regeln im Boardinghouse, musste er bis zu einem schmalen Zeit-Korridor am nächsten Nachmittag warten. Das ließ ihn einerseits im eigenen Saft schmoren, aber gab ihm andererseits auch Zeit für Analyse und Strategie. Denn eines war ihm – sich selbst ein wenig überraschend -  klar geworden: Es gab für den Rest seines Lebens nichts Wichtigeres als ein Zusammensein mit Peggy. Allein ihre Stimme wieder zu hören, hatte seinen Puls beschleunigt,. als ginge es um sein erstes Date.
   Und dann war sie doch glatt „temporary not avaiable“, weil er  die Stunde Zeitunterschied vergessen hatte. Aber in der ersten Minute der ausgemachten Zeit nach Greenwich war sie gleich dran und klang ganz anders als am Tag zuvor. Doch René wollte keinen Dialog. Er wollte das loswerden, was er sich in der schlaflosen Nacht zurrecht gelegt hatte: Denn es war ihm klar geworden, dass Peggy ja nicht nein gesagt, sondern lediglich Hemmnisse aufgezählt und auf ihre Situation aufmerksam gemacht hatte. Dass sie zudem ihre Eltern erwähnt hatte, signalisierte, dass sie keinesfalls bereit war, was immer da ablaufen sollte, vor ihnen geheim zu halten:
   „Peggy – ich bin derjenige, der sein Leben noch einmal verändern will. Das wird nicht heißen, dass du bei deinem irgendwelche Änderungen hinnehmen musst. Allein schon deine Stimme zu hören,  macht mir klar, dass ich in deiner Nähe sein muss. Ich weiß, was der Altersunterschied von 50 Jahren bedeutet, aber ich spüre ihn nicht, wenn ich nur an dich denke. Und was andere denken ist mir dabei sowieso egal. Egal ist auch, wie viel Zeit uns eventuell nur bleibt. Obwohl Geduld bislang nicht unbedingt meine Stärke war, werde ich dich nicht bedrängen. Ich habe nur das Gefühl, dass wir gemeinsam einer großen Sache auf die Spur kommen könnten, die unser beider Leben bereichert.“
    Peggy gab nur eine kurze Antwort, aber die zog René fast die Beine weg:
   „Na dann komm – geliebter Papù!“





Freitag, 11. April 2014

Strohfeuer

15. Kapitel
   Sieben Monate sollten sich Johannes, René und Peggy danach nicht sehen. Und dennoch kam es Johannes nun beim Schreiben so vor, als habe er all das persönlich miterlebt, als sei er hautnaher Chronist und Zaungast bei jenen Vorgängen gewesen, die er sich nun eigentlich gar nicht zusammen reimen musste.
   Der Grund war, dass René, der chronisch faule Brief-Schreiber aber exzessive Telefonierer, trotz seiner langjährigen Computer-Kenntnisse in jenem Spätherbst erst die E-mail für sich entdeckt hatte. Das führte dazu, dass er beinahe täglich Johannes mit kurzen Zusammenfassungen seiner Erlebnisse in England auf dem Laufenden hielt.
   Kurios: Die Mails waren auf Deutsch verfasst, weil Peggy  einen Laptop mit deutscher Tastatur von ihren Semestern  in Heidelberg übrig hatte. Den hatte sie René für die Stunden ohne sie quasi als Beschäftigungstherapie überlassen.
   Und René hatte auf einmal offenbar wieder längerfristige Vorstellungen von seiner Zukunft. Zu seiner generell gelebten Großzügigkeit schien es, als käme jene Knauserigkeit wieder hervor, die man ihm während seiner internierten Jugend auf der Kadettenschule von Fontainebleau eingebläut hatte; Weshalb sollte er telefonieren, wenn er kostenlos mailen konnte? Und die Roamingkosten seines Handys schraubte er mittels Skypen gegen Null. Er wurde, dort, wo es etwas brachte, wieder zum Gratisgänger wie einst. Auf der „École d’application  de l’artillerie et du génie“ galt es in den  ersten Nachkriegsjahren nämlich  als besonders erstrebenswert, sein reiches Elternhaus durch extremen Verzicht und exzessive Sparsamkeit mittels optimierter Ressourcen-Nutzung zu kompensieren.
    In den letzten beiden Jahren mit dem Damokles-Schwert der Krebsdiagnose über sich hatte er es  wegen der vermeintlichen Endlichkeit ganz schön krachen lassen. Nun verschaffte ihm diese mögliche  amour fou offenbar die Idee von einer Art neuer Unsterblichkeit, in der sich ausschließlich die beiden Liebenden gezielt etwas gönnen wollten.
  Einem stillen Beobachter wie Johannes offenbarte sich Einblick in eine schrullige, aber auch liebenswerte Zwiespältigkeit:
    Johannes begann mit einem verschmitzten Grinsen an seinem Manuskript weiter zu schreiben:

   „Dass René überhaupt auf den Floh hörte, den ihn Johannes mit seinem Vorschlag einer Reise zu Peggy ins Ohr gesetzt hatte, verdankte er dem Ableben seines fetten Katers. Niemals hätte er den Kater der Obhut anderer überlassen. Ihn in seinem Reise-Körbchen ins Vereinigte Königreich mitzuschleppen, verbot sich ja wegen der Quarantäne und den ungewissen Unterkunftsverhältnissen. Also fiel die Entscheidung Peggy nach zu reisen oder wegen Guillaume in LaGrange zu bleiben, klar zu Gunsten des maunzenden Monsters aus.
    - Bis zu jenem unglücklichen Tag, an dem René die abgeschnittenen Fächer seiner für den Winter gestutzten und in Plastikplanen gehüllten Livingston-Palmen zum Abtransport vor das südliche Gartentor gelegt hatte. Die dienten einem Fuchs nächtens quasi als Trampolin, um in den Park einzudringen, in dem der Kater eine normalerweise ungefährdete Regentschaft pflegte. In jungen Jahren hätte Guillaume bei seiner Größe so ein Füchslein einfach weg gewatscht. Aber der Verfressene war einfach zu unbeweglich geworden, um Gefahren rechtzeitig zu erkennen. Der Fuchs erwischte ihn im Licht der Bewegungsmelder von hinten an der Kehle, konnte sich aber nicht lange an seinem Blutrausch erfreuen. Das Gekreische des Todeskampfes hatte einen zwar nackten aber mit Schrotflinte bewehrten René auf die Wallstatt gerufen. Der Fuchs konnte nicht mehr zurück, weil innen am Zaun ja keine Sprunghilfe lagerte. Er versuchte den Sprung dennoch, wurde aber bereits beim Abheben von einer Doppel-Salve Rehposten in rötlich schimmernde Fetzen zerlegt. Wegen der direkten Treffer aus nächster Distanz klafften aber auch im Zaun zwei runde Löcher wie für ein Torwandschießen. Die Wut über den Schaden, den er nun ausbessern musste, milderte bei René ein wenig die Trauer über das Ableben seines Weggefährten.
   Ohne lange über „funerale“ Pietät bei der Bestattung von Tieren nachzudenken, vergrub René die schlaffe Pelzhülle des Katers gemeinsam mit den Fetzen von Meister Reineke tief unten im Komposthaufen. 
  Dann rief er ziemlich zeitnah die Nummer an, die Peggy ihm hinterlassen hatte. Noch während er die Nummer wählte, schoss es ihm durch den Kopf, wie wenig er eigentlich über Peggys Leben in England wusste. Sie waren ganz darauf konzentriert gewesen, sich im Hier und Jetzt näher zu kommen. Peggys Lebensumstände und vor allem die sehr intellektuelle Ausrichtung ihres Studiums hatte René von sich aus nicht thematisiert, um sich gegebenen Falles nicht zu blamieren. Und Peggy – das wohl ahnend – konzentrierte sich auf Themen, über die ihre neue Liebe gerne sprach:
    „Hallooo?“, meldete sich eine joviale männliche Stimme, die der Werbeprofi  sofort  in einer Rundfunk-Werbung für eine Whisky-Marke hätte hören wollen. Mit einem Mann am Ende der Leitung hatte René nicht gerechnet, und er war auch nicht sofort parat, auf das von ihm ungeliebte Englisch umzuschalten:
    „Kann ich bitte Peggy sprechen?“
    „Wer spricht da?“
    „Ein Freund aus Frankreich.“
    „Hat man denn in Frankreich keine Namen?“
    „Sie haben Ihren ja auch nicht genannt. Ich hatte Peggy am Hörer erwartet.“
    „Ich bin Peggys Vater!“
    Blöder hätte das Telefonat nicht laufen können. René konnte sich ja nicht als liebestrunkener Großvater von Enkeln offenbaren, die die Tochter des Teilnehmers jenseits des Kanals im vergangenen Sommer betreut hatte. René der großartige Rhetoriker stammelte herum wie ein Volltrottel, als er seinen Anruf als harmlose Erkundigung nach dem Wohlergehen des Au Pairs kaschieren wollte.
    „Ich bin René LeRoy.“
   Die verzögerte Nennung seines Namens löste bei Peggys Vater einen derartigen Schwall von Herzlichkeit aus, dass René sich bald wieder im Griff hatte, aber umso mehr der Unvernunft seines Begehrs gewahr wurde…
   „Ah, Papú! Wissen Sie? Sie redet stets so von Ihnen, als seien Sie Gandhi. Sie müssen wohl so eine Art Guru für Sie gewesen sein. Jedenfalls habe ich meine große, blaustrümpfige Emanze noch nie so von einem männlichen Wesen schwärmen hören…“
   Das Eis – wenn es überhaupt eines gegeben hätte, war da zwischen den beiden Männern schon gebrochen. René erfuhr in überraschtem Tonfall, dass Peggy ja nur an Wochenenden bei ihren Eltern wohnte und ansonsten beim Studium in London sei. Von dem Stolz erfüllten Vortrag des Vaters bekam René nur so viel mit, dass Peggy ein Stipendium für „advanced Studies“ in der Fakultät „Germanic and Romance“ an der University of London ergattert hatte und dieses Privileg kostenloses Wohnen in einem „Young Ladies’ Boarding House“ einschloss. Was Pappa O’Neill süffisant anhängte, war etwas, dessen Sinn René nicht verstanden hatte und deshalb in seiner Mail weiterreichte. Johannes hatte es damals wohl überlesen, aber beim Rekapitulieren war ihm sofort klar, was gemeint war:
   „They expect her to tare down this Kraut-Macho-Philosopher Frederic by his huge moustache…”
   Während René damals rätselte, er könne es mit einem deutschen Rivalen zu tun haben, der den Sinn seiner Reise infrage stellte, war Johannes mit nun aktuellem Wissensstand klar:
   Der schüchterne Twen Peggy – kaum fähig einem Mann in die Augen zu schauen - hatte sich tatsächlich daran gewagt, das Frauen-Bild von Friedrich Nietzsche  nicht nur entschlüsseln zu wollen, sondern das Ergebnis ihrer Untersuchung selbstbewusst auch zum Gegenstand von Examensarbeit und Promotion zu machen…




Donnerstag, 3. April 2014

Strohfeuer

14. Kapitel
 
  Johannes nahm seinen Erzählfaden wieder auf:
Urmel löste Johannes kurzerhand aus den Eiswürfeln, in die sich das „Royaume“ dank Natalies Talent innerhalb kürzester Zeit verwandelt hatte, indem er ihm für die beiden letzen Nächte Unterschlupf in Jocelines behaglichem Heim gewährte. Die Hausherrin war ohnehin schon dringender Geschäfte wegen nach Paris gereist, ohne die Bleibe winterfest machen zu müssen. Urmel hatte sich erboten, dort zu überwintern und alles – einschließlich der Bettlaken – auf Betriebstemperatur zu halten.
  Die drei Freunde ließen es sich aber nicht nehmen, Peggy als Eskorte zum Flieger nach London zu bringen. Natalie schmollte ohnehin und war nicht mitgekommen. So ersparte sie sich einen weiteren Schock, denn René war mit Peggy in Bordeaux zuvor noch zum Shopping gegangen. Behutsam, fast ein wenig schüchtern, führte er sein „Werk“ - als einziges äußeres Zeichen der Zuneigung - leicht Händchen haltend zum Gate. Und die Freunde Renés, die schon viel seiner gestalterischen Brillanz hatten erleben dürfen, genossen ein neues Meisterwerk:
  Peggy trug einen dunkelblauen Hosenanzug aus einem fließenden Material, das sündteuer aussah. Irgendwie hatte sie ihre großen Zehen in schwarze Ballerinas bugsiert, mit denen sie selbstsicher einher schritt wie ein Topmodel. Aus einer indigofarbenen Bluse mit Stehkragen schlängelte sich ihr Hals nicht länger wie beim hässlichen Entlein, sondern er reckte sich stolz mit einem Hauch von Athletik bis zu dem dadurch nicht mehr so fliehend wirkenden Kinn. Ein Hair-Designer hatte ihre Natur-Farbe zwar belassen, aber ihrem Vogelkopf einen nur Streichholz langen Herrenschnitt verpasst. Es war wie bei einer Vorher-Nachher-Schau. Nur mit dem Unterschied, dass die Passanten auf dem Flughafen, die sie ja vorher nie gesehen hatten – gleichgültig ob Männlein oder Weiblein – ihre Blicke nicht von ihr lösen konnten.
   Wie Kleider auch auf die Persönlichkeit wirken können – zumal bei dem assimilierenden Talent von Peggy – verdeutlichte nun ihr dezent zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein. Sie heischte nicht, sie wollte René nicht als Ergebnis seiner Schöpfung  gefallen, sondern aus erwiderter Liebe. Derart griff sie sich den Mann vor der Sicherheitskontrolle, legte den einen Arm um seine Schultern, griff mit der anderen Hand sein Kinn und küsste ihn verlangend und bestimmend auf Augenhöhe wie ein Mann. So lange und intensiv, dass auch der blauäugigste Beobachter die Vorstellung verlor, hier brächte ein Vater seine Tochter zum Flieger…
   Danach gönnten sie sich keine Sentimentalitäten mehr. Sie drehten sich von einander fort und schufen mit raschen Schritten Distanz. Ein jeder in die Richtung, die ihm nun vorgegeben war. Allerdings sah Johannes, dass die allwissenden Augen Renés in sehr viel Tränenflüssigkeit schwammen.
   Urmel, der ja nicht wie Johannes einen tiefen Blick in die ungeschützte Schönheit von Peggys Seele hatte werfen können, reagierte wieder mal mit seinem genetisch bedingten Zynismus. Der machte ihn blind für die Emotionen anderer, und so zerstörte er mit seinem Kommentar den Augenblick:
   „Hat da gerade der Frosch den Prinzen geküsst? Was war das denn?“
   René reagierte so barsch und unbeherrscht wie damals bei seinem vermeintlichen Eagle auf dem Golfplatz. Urmels Worte hatten ihm einen glorreichen Moment genommen, und das bekam der Art-Director jetzt zu spüren:
   „Genau da offenbarst du mal wieder deine Defizite an Größe und Gespür. Ein über die Maßen liebesuntüchtiger Mensch wie du, wird das Mysterium mancher Augenblicke nie begreifen. Du brauchst ja quasi immer einen, der sie dir erklärt, weil dein Herz taub und blind ist. Was glaubst du, wäre aus all deinen Kampagnen geworden, hätte ich denen nicht kurz vor ihrem Erfrierungstod noch Seele eingehaucht.“

   So lange Johannes noch in LaGrange war, sprachen die beiden besten Freunde kein Wort mehr miteinander. René und Johannes indes gingen nur noch  zu zweit zum Golfen und machten noch einmal mit dem Auto einen Ausflug auf ihrer alten Dordogne-Route, Da René das Thema  Peggy nicht anschnitt, sprach auch Johannes nicht mehr über sie. Das gab letzterem die schweigende Muße, seinen bald zwanzig Jahre älteren Freund, unter einem neuen Blickwinkel zu beobachten. Denn in den mehr als drei Jahrzehnten, die sie sich nun kannten, hatte er René ja noch nie verliebt gesehen. Und seit der Offenbarung auf der Treppe an der Dordogne war dem Deutschen ja auch nicht klar gewesen, dass sein französisches Alterego ein im Rokokostil Liebesleidender war.
   In diesen Tagen trank René zwar viel, aber der Gourmet aß kaum von den Köstlichkeiten, die sie sich bestellten oder selbst zubereiteten. Die Mimik wechselte zwischen leise lächelnd entseelt und bisweilen geradezu schwermütig. Schließlich wagte Johannes sich mit einem Rat vor, was ja in ihrer Beziehung kaum jemals notwendig gewesen war.
    „Reise ihr nach und finde heraus, was daraus werden könnte! Ob du im Regen von LaGrange überwinterst oder durch den Londoner Nebel stapfst, ist doch egal. Ergründe deine Gefühle und lebe sie aus, dann hast du auf alle Fälle die Chance auf  neuen Sonnenschein in deinem Herzen.“