13. Kapitel
Wann
also hatte René begonnen, sein Haltung gegenüber Peggy zu verändern? Johannes’
Blick löste sich wieder einmal für eine Weile unbewusst und ohne Fokus vom Bildschirm seines Computers,
um Bilder der Vergangenheit abzurufen. Gegen Ende von Peggys erstem, dreimonatigem
Engagement war er in jenem Spätsommer noch einmal für ein paar Wochen nach
LaGrange gekommen, um mit seinen Kumpels Golf zu spielen. Natalie war mit den
Kindern aber ohne deren Nanny wegen des unbeständigen Wetters für ein paar Tage
zu Bekannten ans andere Gironde-Ufer gefahren. Die Kinder sollten mit Gleichaltrigen
spielen und wieder mehr Französisch sprechen. Schließlich wartete ja die
Einschulung auf Lucky, und Isa kam in den Vorschul-Kindergarten. So lautete
zumindest Nathalies Begründung. Es darf aber auch angenommen werden, dass ihr
die wachsende Vertraulichkeit zwischen ihrem Vater und der Britin zunehmend
missfiel. Jedenfalls hatte Johannes aufgrund ihrer Abwesenheit einen der fünf
Glaswürfel beziehen können, aus denen Renés Bungalow zusammengesetzt war.
Peggy, René, Urmel und er saßen also quasi im Glashaus, und schon allein
deshalb war es angeraten, nicht mit Steinen zu schmeißen. Es waren Tage voller
Frieden und Harmonie gewesen. Selbst Urmel und Johannes verzichteten auf ihr
pseudointellektuelles Geplänkel. Die "Verkehrssprache“ war natürlich Deutsch.
Peggy hätte nichts dagegen gehabt, sich auch
mal ohne weitere Pflichten in ihre Bücher sowie in Derek Walcott zu vertiefen,
dessen gesammelte Werke in Renés umfangreicher Bibliothek standen. Doch der
alte Hyperaktivist René hatte sich wohl gelangweilt. Vor allem an den regnerischen
Vormittagen, weil dann ja alle seine Freunde gerne lange schliefen und schließlich
die meisten Kinderlosen der Strandbande wegen des Wetters schon vor dem „rentrée
des classes“ heimgereist waren. Vermutlich
war ihm Peggys Unsportlichkeit von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen, und so
war er bereits als Natalie noch da war aber immer häufiger auf exklusive
Dreisamkeit mit ihren Kindern machte, auf die Idee gekommen, dem „langen Reff“
in diversen Sportarten Unterweisungen zu geben. Natürlich war sie zu schüchtern
gewesen , um abzulehnen. Schließlich wurde sie ja auch für die Zeit, die sie im
„Royaume“ verbrachte, recht gut bezahlt…
Lag es nun an ihren riesigen Zehen oder waren
die im Verhältnis zum Rumpf zu langen und staksigen Beine daran schuld, dass
Peggy bei jeglicher sportlicher Aktivität ein derart unglückliches Bild abgab?
Wenn sie auf einen Tennisball zulief, hatte man stets Angst, sie würde sich auf
die Nase legen. Beim Golf drehte sich entweder der Körper zu früh oder der
Schläger hatte schon seinen ganzen Schwung verloren, bevor er den Ball dann sowieso
nicht traf. Selbst simples Joggen wurde zu einem spastischen Spektakel, bei dem
schon nach zehn Metern der totale körperliche Zusammenbruch des Klappergestells
drohte. Eigentlich die Höchststrafe für den ungeduldigen Lehrmeister René.
Aber dann war es doch noch zu einer sportiven
Initial-Zündung gekommen. Stundenlang hatte der schwere Atlantik-Regen Ende
August auf das graudunkle LaGrange eingedroschen, als René Peggy erstmals in
sein Fitness-Center mitnahm: Diese planmäßige Anzahl von Übungen an einer
festgelegten Abfolge von Geräten und Stationen, das sich konzentrieren Können
auf gezielte Beanspruchung einzelner Körperzonen kam dem systematischen Denken
Peggys – von dem da wohl noch keiner ahnte – auf wundersame Weise entgegen. Und, was nicht mehr
zu erwarten gewesen war: Sie fand zunehmend Spaß daran, sich physisch zu
verausgaben, weil sie bei diesem stumpfen Tun entdeckte, dass sich ihr Geist
auf erfrischende Weise vom ungeliebten Körper in höhere Sphären verabschieden
konnte. Und sie musste ja auch keine Angst haben, über ihre großen Zehen zu
stolpern, denn das Laufband ließ sie aus und machte stattdessen Spinning und
Rudertraining, bei denen die Füße praktischer Weise auf den Pedalen oder Rasten festgezurrt wurden…
Und dann waren Natalie und die Kinder heim
gekommen. Natalies Instinkt war das neuerlich veränderte Verhältnis zwischen
ihrem Vater und der Nanny natürlich nicht verborgen geblieben. Johannes erinnerte
sich jetzt daran, dass er erst durch Natalies Reaktion überhaupt erstmals auf
die Idee kam, zwischen René und Peggy könnte sich etwas angebahnt haben. Er
schrieb:
„Was
für eine großartige Beobachtungsgabe und ein Feingefühl für den kleinsten Hauch
menschlicher Regungen Natalie doch hatte! Ihr Instinkt für kaum wahrnehmbare Veränderungen
im Wesen ihrer Mitmenschen hätte zur Rolle einer totalitären Herrscherin
gepasst. Ein Blick auf die Körperhaltung Peggys und die für andere noch
unsichtbar veränderte Aura ihres Vaters ließen sie erkennen, dass ihre
Machtposition im „Royaume“ nicht nur verrückt, sondern auch deutlich geschwächt
war. Als hätte es noch eines weiteren Hinweises bedurft, flogen Lucky und Isa
in vorauseilender Formation auf Peggys ausgebreitet Arme zu. Sie waren doch nur
eine knappe Woche fort gewesen! Natalie konnte sich nicht daran erinnern, dass
ihre Kinder nach einer ihrer häufigen und meist viel längeren Abwesenheiten
jemals so überschwänglich reagiert hätten.
Wieder gelandet ergab sich somit eine Gruppierung, in der René, Peggy
und die beiden Kinder ein etwas distanziert wirkendes Empfangskomitee für die
eigentliche Hausherrin bildeten. Das war nicht nur ungewohnt für Natalie,
sondern erschütterte ihr Selbstbewusstsein derart, dass sie in der Folge
überreagierte.
Wie selbstverständlich hatte Peggy zur Begrüßung einen einfachen aber
sehr gelungenen „Lancôme“-Champagner auf die Terrasse getragen. Der war im
Supermarkt im Angebot gewesen, und Peggy, die unter Renés Anleitung schnell
seine Vorlieben und das Genießen adaptiert hatte, wusste dass sie ihm damit
eine Freude bereiten würde… Auch der Sonderpreis hatte für Peggys
schwindsüchtigen Geldbeutel noch allerhand Gewicht gehabt, aber sie empfand ja
da wohl bereits mehr als bloße Dankbarkeit für die Aufmerksamkeiten, die der
Vater ihrer Arbeitgeberin ihr widmete.
Natalie sah den Champagner, die runden Kanapees mit der Leberterrine
nebst den goldenen Aspikstückchen und die Selbstverständlichkeit mit der alles
aufgetragen wurde:
„Na,
hier scheint man ja in meiner Abwesenheit einen recht luxuriösen Lebensstil zu pflegen.
Klar, dass da die Freeloader (sie schaute dabei Urmel und Johannes scharf an)
auch nicht weit sind…“
Urmel und Johannes reagierten nicht sonderlich überrascht. Sie kannten
Natalie, wenn ihr eine Reblaus über die Leber gelaufen war. Sie prosteten nur
übertrieben prollig. Wohl wissend, dass sie auf den Konten der
Gefälligkeitsbank ihrer Freundschaft mit René die äquivalenten Einzahlungen zur
genüge geleistet hatten.
Aber diesmal lag der Fall ja sowieso anders. Interessant war daher
jedoch Peggys Reaktion. Noch vor ein paar Tagen wäre sie mit hochrot fleckigem
Hals Entschuldigungen stammelnd aufgesprungen, hätte die Kinder eingesammelt
und sich irgendwo ins Haus oder in den Garten zurück gezogen. Nun ließ sie sich
selbstbewusst in dem Sessel neben René nieder, erhob ihr Glas ebenfalls und
sprach in die Runde:
„Nachdem meine Zeit ja hier in ein paar Tagen zu Ende geht, habe ich die
Heimkehr von Madame Natalie und den Kindern für eine gute Gelegenheit
gehalten, mich mit diesem Imbiss für die tolle Aufnahme hier zu bedanken. Isa
und Lucky! Es war so schön mit euch, dass ich mich fast schäme, dass ich für
dieses Vergnügen auch noch bezahlt wurde. Monsieur René ich bedanke mich für
Ihre Freundlichkeit. Und auch Urmel und Johannes! Dir Urmel danke ich, dass Du
mich beim Skat hast gewinnen und. Johannes dafür, dass er mich hat spielen
lassen.“
Es war wohl das erste Mal, dass jemand Natalie mit schamrotem Kopf zu
sehen bekam. Sie gab vor, sich am Champagner verschluckt zu haben und flüchtete
sich in einen diskreten Hustenanfall. Aber sie sollte bald noch mehr zu
schlucken bekommen…
Bei den drei Freunden drohte der Champagner aus ganz anderen Gründen in
die falsche Kehle zu geraten. Peggy hatte nämlich ihre kleine Ansprache in zwar
langsamen aber durchaus korrektem Französisch gehalten. Das war durchaus
verblüffend, denn niemand hatte sie zuvor beim Büffeln beobachtet.
Mit seinem neuen
Wissen über Peggy O’Neill drängte sich eine Theorie in die Erinnerungen von
Johannes. Sie stammte von einem Altphilologen, der seinen Doktor noch im Weimar
der DDR gemacht hatte. Jener war durch die Wellen der Wende mit seiner leck
geschlagenen Familie an den Strand von Johannes’ Menschenzoo gespült worden und
konnte dank dessen Hilfe als einziger etwas von dem verheißungsvollen Gold des
Westens erhaschen. Seine Frau, eine verdiente DDR-Soziologin, war mit den neuen
Verhältnissen nicht zurechtgekommen und in eine dramatische seelische Erkrankung
abgetaucht. Dem gemeinsamen Sohn ging das mit dem Gold nicht schnell genug.
Deshalb wählte er die kurze und tödliche Karriere eines Drogen konsumierenden
und dealenden Kleinkriminellen. Die da noch minderjährige Tochter war beinahe
gleichzeitig nach Ägypten durchgebrannt, von wo sie sich erst wieder meldete,
als sie zu einer übergewichtigen, fanatischen muslimischen Ehefrau mit zwei
Kindern mutiert war.
Dieser also vom Schicksal dermaßen
abgestrafte Mann entwickelte seine verblüffenden Theorien und Sprachessays aus
einem wahrlich nicht nietzscheschem Sinn für das Menschliche Allzumenschliche,
sondern aus einer tatsächlich titanisch unerschütterlichen Liebe zu den
Menschen. Und diese hatte dem eher misanthropischen Johannes ein ums andere Mal
fürchterlich angst gemacht:
Dr. Albert Brühne ging nämlich davon aus,
dass der wahrhaft kreativ schaffende Mensch in den goethischen und
schillerschen Typus zu gliedern sei, was auch mit dem jeweiligen
Selbstbewusstsein des Schaffenden zu tun habe. Demnach sei der goethische Typus
bereits in jungen Jahren von seiner Unsterblichkeit oder zumindest von seinem
langen Leben und Wirken überzeugt; könne sich also Zeit lassen und seine
gottgegebenen Gaben in voller Breite ausleben. Der schillersche Mensch sei
hingegen ab dem Moment seines eigenständigen Denkens vom baldigen Ableben
überzeugt und versuche daher, sein überwiegend auf nur ein Talent
konzentriertes Schaffen auch noch in großer Eile und ohne Rast und Rücksicht
auf Körper und Seele zu Ende zu bringen. Brühne führte zur Untermauerung dieser
These nicht nur die beiden deutschen Dichterfürsten selbst auf, sondern verwies
unter vielen anderen historischen Beispielen auch auf durchaus konträre
zeitgenössische Typen wie den Kritiker Marcel Reich-Ranicki oder den Grunge-Musiker
Curt Cobain.
Johannes rätselte, ob in dieser
eigentümlichen Liebesaffäre zwischen René und Peggy vielleicht auch das
Goethische auf das Schillersche getroffen sei…