Samstag, 29. März 2014

Strohfeuer

                   13. Kapitel
 
  Wann also hatte René begonnen, sein Haltung gegenüber Peggy zu verändern? Johannes’ Blick löste sich wieder einmal für eine Weile unbewusst  und ohne Fokus vom Bildschirm seines Computers, um Bilder der Vergangenheit abzurufen. Gegen Ende von Peggys erstem, dreimonatigem Engagement war er in jenem Spätsommer noch einmal für ein paar Wochen nach LaGrange gekommen, um mit seinen Kumpels Golf zu spielen. Natalie war mit den Kindern aber ohne deren Nanny wegen des unbeständigen Wetters für ein paar Tage zu Bekannten ans andere Gironde-Ufer gefahren. Die Kinder sollten mit Gleichaltrigen spielen und wieder mehr Französisch sprechen. Schließlich wartete ja die Einschulung auf Lucky, und Isa kam in den Vorschul-Kindergarten. So lautete zumindest Nathalies Begründung. Es darf aber auch angenommen werden, dass ihr die wachsende Vertraulichkeit zwischen ihrem Vater und der Britin zunehmend missfiel. Jedenfalls hatte Johannes aufgrund ihrer Abwesenheit einen der fünf Glaswürfel beziehen können, aus denen Renés Bungalow zusammengesetzt war. Peggy, René, Urmel und er saßen also quasi im Glashaus, und schon allein deshalb war es angeraten, nicht mit Steinen zu schmeißen. Es waren Tage voller Frieden und Harmonie gewesen. Selbst Urmel und Johannes verzichteten auf ihr pseudointellektuelles Geplänkel. Die "Verkehrssprache“ war natürlich Deutsch.
  Peggy hätte nichts dagegen gehabt, sich auch mal ohne weitere Pflichten in ihre Bücher sowie in Derek Walcott zu vertiefen, dessen gesammelte Werke in Renés umfangreicher Bibliothek standen. Doch der alte Hyperaktivist René hatte sich wohl gelangweilt. Vor allem an den regnerischen Vormittagen, weil dann ja alle seine Freunde gerne lange schliefen und schließlich die meisten Kinderlosen der Strandbande wegen des Wetters schon vor dem „rentrée des classes“ heimgereist waren.    Vermutlich war ihm Peggys Unsportlichkeit von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen, und so war er bereits als Natalie noch da war aber immer häufiger auf exklusive Dreisamkeit mit ihren Kindern machte, auf die Idee gekommen, dem „langen Reff“ in diversen Sportarten Unterweisungen zu geben. Natürlich war sie zu schüchtern gewesen , um abzulehnen. Schließlich wurde sie ja auch für die Zeit, die sie im „Royaume“ verbrachte, recht gut bezahlt…
  Lag es nun an ihren riesigen Zehen oder waren die im Verhältnis zum Rumpf zu langen und staksigen Beine daran schuld, dass Peggy bei jeglicher sportlicher Aktivität ein derart unglückliches Bild abgab? Wenn sie auf einen Tennisball zulief, hatte man stets Angst, sie würde sich auf die Nase legen. Beim Golf drehte sich entweder der Körper zu früh oder der Schläger hatte schon seinen ganzen Schwung verloren, bevor er den Ball dann sowieso nicht traf. Selbst simples Joggen wurde zu einem spastischen Spektakel, bei dem schon nach zehn Metern der totale körperliche Zusammenbruch des Klappergestells drohte. Eigentlich die Höchststrafe für den ungeduldigen Lehrmeister René.
  Aber dann war es doch noch zu einer sportiven Initial-Zündung gekommen. Stundenlang hatte der schwere Atlantik-Regen Ende August auf das graudunkle LaGrange eingedroschen, als René Peggy erstmals in sein Fitness-Center mitnahm: Diese planmäßige Anzahl von Übungen an einer festgelegten Abfolge von Geräten und Stationen, das sich konzentrieren Können auf gezielte Beanspruchung einzelner Körperzonen kam dem systematischen Denken Peggys – von dem da wohl noch keiner ahnte –  auf wundersame Weise entgegen. Und, was nicht mehr zu erwarten gewesen war: Sie fand zunehmend Spaß daran, sich physisch zu verausgaben, weil sie bei diesem stumpfen Tun entdeckte, dass sich ihr Geist auf erfrischende Weise vom ungeliebten Körper in höhere Sphären verabschieden konnte. Und sie musste ja auch keine Angst haben, über ihre großen Zehen zu stolpern, denn das Laufband ließ sie aus und machte stattdessen Spinning und Rudertraining, bei denen die Füße praktischer Weise auf den  Pedalen oder Rasten festgezurrt wurden…
  Und dann waren Natalie und die Kinder heim gekommen. Natalies Instinkt war das neuerlich veränderte Verhältnis zwischen ihrem Vater und der Nanny natürlich nicht verborgen geblieben. Johannes erinnerte sich jetzt daran, dass er erst durch Natalies Reaktion überhaupt erstmals auf die Idee kam, zwischen René und Peggy könnte sich etwas angebahnt haben. Er schrieb:
  „Was für eine großartige Beobachtungsgabe und ein Feingefühl für den kleinsten Hauch menschlicher Regungen Natalie doch hatte! Ihr Instinkt für kaum wahrnehmbare Veränderungen im Wesen ihrer Mitmenschen hätte zur Rolle einer totalitären Herrscherin gepasst. Ein Blick auf die Körperhaltung Peggys und die für andere noch unsichtbar veränderte Aura ihres Vaters ließen sie erkennen, dass ihre Machtposition im „Royaume“ nicht nur verrückt, sondern auch deutlich geschwächt war. Als hätte es noch eines weiteren Hinweises bedurft, flogen Lucky und Isa in vorauseilender Formation auf Peggys ausgebreitet Arme zu. Sie waren doch nur eine knappe Woche fort gewesen! Natalie konnte sich nicht daran erinnern, dass ihre Kinder nach einer ihrer häufigen und meist viel längeren Abwesenheiten jemals so überschwänglich reagiert hätten.
  Wieder gelandet ergab sich somit eine Gruppierung, in der René, Peggy und die beiden Kinder ein etwas distanziert wirkendes Empfangskomitee für die eigentliche Hausherrin bildeten. Das war nicht nur ungewohnt für Natalie, sondern erschütterte ihr Selbstbewusstsein derart, dass sie in der Folge überreagierte.
  Wie selbstverständlich hatte Peggy zur Begrüßung einen einfachen aber sehr gelungenen „Lancôme“-Champagner auf die Terrasse getragen. Der war im Supermarkt im Angebot gewesen, und Peggy, die unter Renés Anleitung schnell seine Vorlieben und das Genießen adaptiert hatte, wusste dass sie ihm damit eine Freude bereiten würde… Auch der Sonderpreis hatte für Peggys schwindsüchtigen Geldbeutel noch allerhand Gewicht gehabt, aber sie empfand ja da wohl bereits mehr als bloße Dankbarkeit für die Aufmerksamkeiten, die der Vater ihrer Arbeitgeberin ihr widmete.
  Natalie sah den Champagner, die runden Kanapees mit der Leberterrine nebst den goldenen Aspikstückchen und die Selbstverständlichkeit mit der alles aufgetragen wurde:
  „Na, hier scheint man ja in meiner Abwesenheit einen recht luxuriösen Lebensstil zu pflegen. Klar, dass da die Freeloader (sie schaute dabei Urmel und Johannes scharf an) auch nicht weit sind…“
  Urmel und Johannes reagierten nicht sonderlich überrascht. Sie kannten Natalie, wenn ihr eine Reblaus über die Leber gelaufen war. Sie prosteten nur übertrieben prollig. Wohl wissend, dass sie auf den Konten der Gefälligkeitsbank ihrer Freundschaft mit René die äquivalenten Einzahlungen zur genüge geleistet hatten.
  Aber diesmal lag der Fall ja sowieso anders. Interessant war daher jedoch Peggys Reaktion. Noch vor ein paar Tagen wäre sie mit hochrot fleckigem Hals Entschuldigungen stammelnd aufgesprungen, hätte die Kinder eingesammelt und sich irgendwo ins Haus oder in den Garten zurück gezogen. Nun ließ sie sich selbstbewusst in dem Sessel neben René nieder, erhob ihr Glas ebenfalls und sprach in die Runde:
  „Nachdem meine Zeit ja hier in ein paar Tagen zu Ende geht, habe ich die Heimkehr von Madame Natalie und den Kindern für eine gute Gelegenheit gehalten, mich mit diesem Imbiss für die tolle Aufnahme hier zu bedanken. Isa und Lucky! Es war so schön mit euch, dass ich mich fast schäme, dass ich für dieses Vergnügen auch noch bezahlt wurde. Monsieur René ich bedanke mich für Ihre Freundlichkeit. Und auch Urmel und Johannes! Dir Urmel danke ich, dass Du mich beim Skat hast gewinnen und. Johannes dafür, dass er mich hat spielen lassen.“
  Es war wohl das erste Mal, dass jemand Natalie mit schamrotem Kopf zu sehen bekam. Sie gab vor, sich am Champagner verschluckt zu haben und flüchtete sich in einen diskreten Hustenanfall. Aber sie sollte bald noch mehr zu schlucken bekommen…
  Bei den drei Freunden drohte der Champagner aus ganz anderen Gründen in die falsche Kehle zu geraten. Peggy hatte nämlich ihre kleine Ansprache in zwar langsamen aber durchaus korrektem Französisch gehalten. Das war durchaus verblüffend, denn niemand hatte sie zuvor beim Büffeln beobachtet.
  Mit seinem neuen Wissen über Peggy O’Neill drängte sich eine Theorie in die Erinnerungen von Johannes. Sie stammte von einem Altphilologen, der seinen Doktor noch im Weimar der DDR gemacht hatte. Jener war durch die Wellen der Wende mit seiner leck geschlagenen Familie an den Strand von Johannes’ Menschenzoo gespült worden und konnte dank dessen Hilfe als einziger etwas von dem verheißungsvollen Gold des Westens erhaschen. Seine Frau, eine verdiente DDR-Soziologin, war mit den neuen Verhältnissen nicht zurechtgekommen und in eine dramatische seelische Erkrankung abgetaucht. Dem gemeinsamen Sohn ging das mit dem Gold nicht schnell genug. Deshalb wählte er die kurze und tödliche Karriere eines Drogen konsumierenden und dealenden Kleinkriminellen. Die da noch minderjährige Tochter war beinahe gleichzeitig nach Ägypten durchgebrannt, von wo sie sich erst wieder meldete, als sie zu einer übergewichtigen, fanatischen muslimischen Ehefrau mit zwei Kindern mutiert war.
  Dieser also vom Schicksal dermaßen abgestrafte Mann entwickelte seine verblüffenden Theorien und Sprachessays aus einem wahrlich nicht nietzscheschem Sinn für das Menschliche Allzumenschliche, sondern aus einer tatsächlich titanisch unerschütterlichen Liebe zu den Menschen. Und diese hatte dem eher misanthropischen Johannes ein ums andere Mal fürchterlich angst gemacht:
  Dr. Albert Brühne ging nämlich davon aus, dass der wahrhaft kreativ schaffende Mensch in den goethischen und schillerschen Typus zu gliedern sei, was auch mit dem jeweiligen Selbstbewusstsein des Schaffenden zu tun habe. Demnach sei der goethische Typus bereits in jungen Jahren von seiner Unsterblichkeit oder zumindest von seinem langen Leben und Wirken überzeugt; könne sich also Zeit lassen und seine gottgegebenen Gaben in voller Breite ausleben. Der schillersche Mensch sei hingegen ab dem Moment seines eigenständigen Denkens vom baldigen Ableben überzeugt und versuche daher, sein überwiegend auf nur ein Talent konzentriertes Schaffen auch noch in großer Eile und ohne Rast und Rücksicht auf Körper und Seele zu Ende zu bringen. Brühne führte zur Untermauerung dieser These nicht nur die beiden deutschen Dichterfürsten selbst auf, sondern verwies unter vielen anderen historischen Beispielen auch auf durchaus konträre zeitgenössische Typen wie den Kritiker Marcel Reich-Ranicki oder den Grunge-Musiker Curt Cobain.
  Johannes rätselte, ob in dieser eigentümlichen Liebesaffäre zwischen René und Peggy vielleicht auch das Goethische auf das Schillersche getroffen sei…






Sonntag, 23. März 2014

Strohfeuer

Teil 2:
DICHTUNG ZUR WAHRHEIT

   12. Kapitel

  „Der vernünftige Autor schreibt für keine andere Nachwelt als für seine eigene. Das heißt, für sein Alter, um auch dann noch an sich Freude haben zu können.“
                  (Nietzsche „Menschliches-Allzumenschliches“ II,1,167)
Für Johannes in Herzlichkeit Peggy O’Neill
  Johannes hatte das kindlich gestickte und kalligrafisch verzierte Lesezeichen aus Pergament, das Peggy ihm zum Abschied geschenkt hatte noch immer. Gleich bei seiner Heimkehr nach Castellinaria zog er es aus einer nicht beendeten Lektüre. Diese eher unbeholfene Bastelarbeit, die er stets als ein schlicht sentimentales Souvenir betrachtet hatte, war vielleicht schon immer eine Art Botschaft an ihn gewesen. Mit der neuen Erkenntnis vollzog sie  in seinen zitternden Händen jedenfalls den Wandel zu einem Menetekel.
  Er sollte unverzüglich mit dem Schreiben beginnen. Eigentlich hatte er die Absicht gehabt, auf der Heimreise von LaGrange noch ein, zwei Tage das einzigartige Herbstlicht der Camargue zu tanken. Doch dann war er an der Autobahn-Abfahrt nach Saintes-Maries-de-la-Mer einfach gleich weiter nach Ligurien gefahren. Unter stetig wachsendem, selbst erzeugten Druck, hatte er sich unterwegs schon Gedanken gemacht, wieso er über diesen deutlichen Hinweis hinter ihrer irreführenden Fassade nicht schon viel früher auf die wahre Peggy aufmerksam geworden war: Nietzsche also!
  Jetzt holte er das nach, indem er in seiner Phantasie erst zögerlich, dann immer eiliger die Fragmente aus Renés und Peggys Schilderungen über ihre erste Begegnung und die spätere Beziehung als textliche Skizzen in den Entwurf-Ordner seines Computers tippte. Sein Hauptproblem bestand dabei jedoch darin, dass er schon seit über einem Jahr gar nicht mehr selber schrieb, sondern das Zusammentragen und Ausformulieren seiner ungeordnet abgesonderten schriftlichen oder gesprochenen Gedanken gegen Bezahlung seit einigen Monaten einem ehemaligen Kollegen überließ, den er vor der Gosse bewahrt zu haben glaubte. Er war auch zum Faktotum und Haushüter geworden, hatte sich aber aktuell derart stabilisiert, dass er sich zurzeit zwecks wieder Annäherung bei seiner Familie in Deutschland aufhielt. Längst war Johannes aber gewissermaßen von sich selbst in die moralische Pflicht genommen worden, persönlich von René und Peggy zu schreiben. Es war ein mühseliger handwerklicher Neubeginn, der in dieser schon  recht angewöhnten Weise zunächst nur bruchstückhaft ging:

  Eine Philosophin war das offensichtlich nicht gewesen, die da verloren im Arrivée der Flughafens von Bordeaux auf Ihre Abholerin wartete: Peggys eigentlich schönen,  kupferroten Haaren war anscheinend eigenhändig mit einem kreisrunden Kochtopf-Schnitt Gewalt angetan worden. Eher eine Spachtelmasse denn ein Gel hatte sie dann  an ihrem Kinderschädel fest geklatscht. Das sah nicht nur seltsam aus, sondern betonte unschön ihr zu kurz geratenes Kinn, das beinahe ansatzlos in einen Gänsehals überging. Sie trug eine Jeansjacke, die ihr offenkundig mehrere Nummern zu weit war. Darunter sah man erst beim zweiten Hinsehen ein Fähnchen in einem fleischfarbenen Blumenmuster, das unsäglich an die Kittelschürzen von Hausmeisterinnen erinnerte. Aber der Gipfel aller Stillosigkeit waren Plastik-Badesandaletten in Neongrün, aus denen ihre unproportioniert großen Zehen ragten. Vielleicht wäre das alles weniger aufgefallen, wenn Peggy O’Neill zu allem Überfluss nicht ihr Umfeld um durchschnittlich eine Haupteslänge überragt und somit allein schon auf ihre Erscheinung aufmerksam gemacht hätte. Sie maß beinahe 1,90  und wirkte irgendwie befremdlich…
  Ein über siebzigjähriger Krebspatient war das aber auch nicht, der da mit weit ausholenden, federnden Schritten auf das Aupair-Mädchen zusteuerte. Natürlich hatte die egozentrische Nathalie irgendeinen viel wichtigeren Termin gehabt, der sie daran gehindert hatte, die O’Neill pünktlich vom Flughafen abzuholen. In letzter Minute war dann - wie immer – René eingesprungen und wäre dennoch pünktlich gewesen, hätte er sich nicht mit seinen alten Kumpels von der Flugwetter-Warte verquatscht. Seit er selbst nicht mehr flog, war René zu einer Art Wetterbericht-Junky geworden, der Internet-Lesezeichen zu allen möglichen Satelliten  und Vorhersage-Stationen gesetzt hatte und in Foren mit Experten über die Einschätzung von globalen Wetterlagen stritt. Wieso, war keinem klar. Für seinen persönlichen Bedarf diente die Datensammlerei sicherlich nicht, denn er ging unerschrocken bei jedem Wetter und Wellengang an den Strand und spielte hartnäckig auch so lange im peitschenden Regen Golf, bis ihn die Course-Marshalls wegen Unbespielbarkeit der Fairways vom Platz zerrten…
  Als Stil-Ikone war René im Moment ihrer ersten Begegnung natürlich das krasse Gegenteil von Peggy. Sein faltenlos kahler, dunkelbraun gebrannter Cäsaren-Schädel saß auf einem centertrainierten Hals-Schulter-Trapez, das von einem quer gestreiften Tiger-Woods-Twinset in Aubergine und Ocker kontrastiert wurde. Die edel knitternde Hose aus irischem Leinen ließ erkennen, dass sich der Rest des Körpers im gleichen Trainingszustand befand. Dieser Opa mit vermeintlichen achtzig Kilo Kampfgewicht erzeugte trotz seines geschwinden Ganges keinerlei Geräusch. Was Peggy, die ja eine Frau erwartet hatte, jäh zusammenschrecken ließ, als sich Renés missbilligender Blick überraschend auf Augenhöhe in sie bohrte...
  Während er einen Augenblick mit dem Weiterschreiben zögerte, schob sich bei Johannes mit gänzlich neuer Bedeutung, die Erinnerung an seine erste, eigentliche Begegnung mit Peggy über diese von ihm nacherzählten Eindrücke. Peggy hatte da bereits einige Wochen ihre Rolle als Faktotum der Royaumes adaptiert. Joceline hatte zwar schon ihre spitzzüngige Spinnweben-Assoziation bezüglich Peggys Vulva kundgetan, aber weiter reichende Gedanken hatte Johannes deshalb in der Folge an dieses verschrobene Wesen dennoch nicht verschwendet.
  Wenn Nathalie sich selbst vor Bekannten mit den Kindern mal wieder als tolle Mutter inszenieren wollte, wurde die ‚hässliche Gans’ kurzerhand in die Freizeit geschickt, damit nur nichts die Harmonie dieses familiären ‚Werbespots’ beeinträchtigen konnte. So das Wetter mitspielte, verzog sich die Britin dann artig mit ihren Büchern unter den Sonnenschutz auf die Bar-Terrasse des Cajun, wo sie sich ihre eigens mitgebrachte Tee-Mischung auf einem Rechaud selbst zubereitete. Dass Jean-Jaques’ Crew da ohne mit den Wimpern zu zucken mitspielte, war natürlich nur Renés Regie hinter den Kulissen zu verdanken gewesen.
  Eines Nachmittags also beobachte Johannes die junge Frau, wie sie beim Aufstieg vom Strand mitten auf der langen Freitreppe wie Lots Weib erstarrte und sich für Minuten nicht mehr bewegte. Ihre Bücher hielt sie dabei wie ein Tablett voller Devotionalien mit einigem Abstand vor der Brust. Das sah so unnatürlich und grotesk aus, dass andere Gäste, denen sie im Weg stand, mit befremdeten Mienen einen großen Bogen um sie herum machten. Als sie nach gefühlten drei Minuten immer noch so da stand und keine Anstalten unternahm, sich jemals wieder zu bewegen, war Johannes aufgestanden und die Stufen zu ihr hinunter geeilt:
  „Miss Peggy! Ist Ihnen nicht gut? Was haben Sie? Kommen Sie bloß mit Ihrem empfindlichen Teint aus der Sonne Heraus! Sie sind ja schon ganz rot.“ Er hatte sie auf Englisch angesprochen und war sich nicht ganz sicher, ob sie ihn wahrgenommen hatte oder überhaupt wusste, wer er eigentlich war. Aber dann entdeckte er etwas Merkwürdiges. Während alles an ihr erstarrt schien, bewegten sich ihre Augen in einer Art spöttischen Erkenntnis - wie die Scanner-Augen eines Roboters den Strand und das Meer abtastend - hin und her. Augenblicklich gelangte Johannes da bereits zu der Auffassung, er habe niemals schönere, lebhaftere und ausdrucksvollere Augen bei einem Lebewesen gesehen.
  Es vergingen wohl weitere zwei Minuten, ehe sie sich mit einer mechanischen Drehung an ihn wandte und ohne erkennbaren Zusammenhang zu ihm sprach, als sei er ein vertrauter Bekannter:
„Hier saß ich wartend, wartend – doch auf nichts. Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts. Genießend bald des Schattens – ganz nur Spiel. Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel… Ist das nicht verblüffend Johannes? Man liest einen Text, versucht ihn mühsam zu interpretieren, und dann wird seine Bedeutung durch die Wahrhaftigkeit des Augenblicks offenkundig.“
   Johannes war damals in der Tat verblüfft gewesen, denn sie hatte das alles in einem absolut makellosem Deutsch zu ihm gesagt. Erst jetzt mit dem neuen Wissen um Peggy glaubte er, sich auch daran erinnern zu können, dass sie ihm wohl im weiteren Verlauf des Gespräches einen Zitathinweis auf diese Stelle im „Zarathustra“ gegeben hatte. Aber da hatten ihn schon längst weitere Eindrücke fürs erste schwerhörig gemacht. Johannes hatte Mutmaßungen zur inneren Schönheit eines hässlichen Menschen immer für kitschige Überhöhungen gehalten. Aber Peggy belehrte ihn im Verlauf ihrer immer freundschaftlicher werdenden Beziehung eines Besseren. Wenn sie sich für etwas begeisterte, wurden ihre äußeren Makel überstrahlt. Ihre Gedanken und die Leidenschaft ihrer Erläuterungen machten sie  zu einer Erscheinung. Aber das war nicht als Glanz einer außergewöhnlichen Eloquenz erkennbar, sondern wirkte eher wie die strahlende Naivität eines staunend träumenden Kindes. Das musste bei  einer oberflächlichen Begegnung zunächst einfach dazu führen, dass diese ‚arme’ junge Frau jedem den Eindruck vermittelte, sie sei nicht nur hässlich, sondern obendrein komplett aus der Spur geraten. Johannes – selbst unter vorschnellen Einschätzungen leidend – hatte sich wie alle anderen auch erst in diese Sackgasse falscher Wahrnehmung leiten lassen. Oder war er in sie geflüchtet? Langsam begann er nun zu ahnen, dass dies in jenem ersten Sommer allein aus unterschwelliger Furcht vor Peggys Genie geschehen sein könnte.  Wäre er bei der Abholung am Flughafen selbst dabei und nicht in Jocelines Haus einquartiert gewesen, hätten ihn auch Peggys Deutschkenntnisse  nicht derart überrascht. - Kopfschüttelnd tippte er weiter:
  René und Peggy hatten schon kurz nachdem sie auf dem Flughafen-Parkplatz ins Auto gestiegen waren, Deutsch als ihre Umgangssprache festgelegt. Denn Nathalie hatte aus merkwürdigen erzieherischen Grundsätzen nach einem Aupair verlangt, das noch absolut keine Kenntnisse der französischen Sprache hatte. Die Nanny sollte ja strikt nur Englisch mit den Kindern sprechen. René indessen hatte Peggy gleich beim Starten des Wagens klar gemacht, er habe keine Lust, sich mit ihr weiter auf Englisch abzumühen. Hoffte er doch, damit den Kontakt zu ihr aufs nötigste zu reduzieren. Das hätte Peggy vielleicht verblüfft, wenn sie von Renés fliegerischer Vergangenheit und seinem Lieblingsdichter Dennis Walcott gewusst hätte. Aber so weit waren sie da ja noch nicht. Aufs Geratewohl fragte sie – nur, um ihn als Franzosen zu provozieren – wie es denn um sein Deutsch stünde…
  War dieser unverhoffte, sprachliche Behelfssteg, den sie in der Folge begingen, vielleicht schon der Anfang zu einem Brückenschlag zwischen ihren Herzen gewesen? Tatsächlich war René über das anglophone Kauderwelsch, dessen sich weltweit die Aviatoren bedienten, nie hinausgekommen. Seit er nicht mehr flog, hatte er Englisch zu sprechen sogar regelrecht vermieden, um nicht schmerzlich an jene Tage vermeintlich grenzenloser Freiheit über den Wolken erinnert zu werden. Seinen Walcott bekam er so hinreißend von seinem Sohn übersetzt, dass er die Originale in einer Sinnlichkeit erfassen konnte, wie sie ihm der limitierte Fliegerjargon sowieso nie ermöglicht hätte.
  Im folgenden Sommer schon sollte es wegen des karibischen Dichters zu denkwürdigen Aushebelungen der babylonischen Sprachverwirrung kommen, denn Peggy, René und die deutschen Freunde Urmel und Johannes versuchten im Beisein von Maurice dessen französische Übersetzung der Originaltexte Walcotts paradoxer Weise wegen der Britin auf Deutsch zu interpretieren…
  Aber bis es so weit war, musste erst eine Art Wandel im Umgang durch Annäherung an Peggy erfolgen. Zunächst  gelang es Peggy, die anfängliche Ablehnung, die ihr überall entgegen schlug, weil sie nun mal nicht in diese Strandwelt der schönen, nackten Menschen passen wollte, durch eine natürliche Begabung im Umgang mit Nathalies Kindern recht zügig in Akzeptanz umzuwandeln. Oder war es so, dass alles deshalb so gut lief, weil Lucky und Isa mit untrüglichem, kindlichem Instinkt Peggys Infantilität sofort erkannt und anerkannt hatten? Sie sahen zwar auch die Aufpasserin in ihr, gleichwohl überwog vermutlich doch ihr geistesverwandter Status als tolle Spielgefährtin.
  Vom ersten Tag im Royaume waren die drei eine unzertrennliche, verschworene Gemeinschaft und einander bald mehr als herzlich zugetan. Nathalie war zunächst von neuen Freiräumen in ihrer Mutterschaft derart beglückt, dass sie für Eifersuchtsanfälle gar keine Zeit gehabt hätte. Zu denen kam es erst, als sie endlich und viel zu spät begreifen musste, dass sie die Vorherrschaft im Herzen ihres Vaters nun zumindest mit Peggy zu teilen hatte.
  Peggy erfand aus dem Stegreif für die Kinder immer neue, herrlich skurrile Welten und Spiele. Sie bot sie Lucky und Isa in unterschiedlichen Stimm- und Lautfärbungen dar und animierte sie dadurch, diese auch durch eigene sprachliche Phantasien  zu bereichern. Bei dem so immer schneller wieder wachsenden, englischen Wortschatz achtete sie dabei jedoch beharrlich auf korrekt angewandte Grammatik und gewählte Ausdrucksweise. So wurden beispielsweise die beiden grellbunten Kinderfahrräder, mit denen zum Strand geradelt wurde, auf einmal zu edel geschmückten Ritterrössern. Sie wurden demnach von zwei verzauberten Königskindern bestiegen, die sich beim Ausreiten nur noch mit adlig untadligem Tonfall ansprachen und dies auch bei Tisch mit formvollendet zur Schau gestellten höfischen Manieren beibehielten. Peggy brachte sie auch dazu, ihre Schüchternheit vor Fremden abzulegen. Zum Nachtisch überraschten sie einmal eine Abendgesellschaft mit Szenen aus Shakespeares Sommernachtstraum, zu denen sie sich verkleidet mit Kerzen in den Park geschlichen hatten.
  Am Strand mutierten die Kinder zu nackten ‚Fremen’, jenen mystischen Wüstenwesen aus Frank Herberts ‚Dune Trilogy’. Das Science-Fiction-Märchen war Peggys Lieblingslektüre als sie noch ein Teenager war. Sie wurde deshalb nicht müde, den beiden aus saphirblauen Augen staunenden Kids die Welt der ‚Atreides’ näher zu bringen und von den gruseligen Sandwürmern zu fabulieren. Worauf Lucky und Isa tagelang auf dem Bauch den feinen Sand der Côte d’Argent durchpflügten und auf Peggys Klopfzeichen hörten.
  So herrlich unbefangen Peggy in allen Dingen war, die spöttischen Bemerkungen der Strandbande und die Scharen nackter Menschen jeglichen Alters um sie herum, konnten sie immer noch nicht dazu bewegen, sich der unsäglichen Häkelbikinis zu entledigen…
  Aber stattdessen erregte die Britin die Aufmerksamkeit der Männer, indem sie Skat lernte; das Kartenspiel, das René und Urmel, seit gemeinsamer Agenturtage, mit ultimativer Leidenschaft spielten. Weil fast immer ein geeigneter Dritter fehlte (Johannes spielte nämlich mörderisch schlecht, da er sich einfach die gefallenen Stiche nicht merken wollte oder taktisch schlampig bediente), befand René eines Abends, nachdem sie die Kinder zu Bett gebracht hatte, wer so gut Deutsch spräche wie Peggy, müsse auch Skat spielen können.

  Weder Urmel noch René waren gut im Verlieren. Urmel akzeptierte dabei eigentlich nur, seinem großen Idol René gelegentlich Tribut zu zollen. Ansonsten fragte er sich unbescheiden, wieso er nicht schon längst bei einer Skat-Weltmeisterschaft teilgenommen hätte. Nun jedoch mussten sich beide daran gewöhnen, dass dieses menschliche Vogelwesen, das eben noch gar nicht  gewusst hatte, wie man richtig reizt, ihnen immer häufiger nach allen Regeln der Kartenkunst „die Hosen auszog“. Peggy war wohl deshalb  so gut, weil sie keinerlei Leidenschaft für dieses Kartenspiel empfand. Ihr Erfolg war Mittel zum Zweck. Wollte sie doch nur endlich akzeptiert und nicht länger von der Erwachsenenwelt  ausgeschlossen werden. Sie hatte diese besondere Begabung, auf einen Blick die Möglichkeiten ihres jeweiligen Blattes einzuschätzen. Und weil sie auch vier Runden später noch auf spontane Nachfrage minuziös die Abfolge aller Stiche hätte herunterbeten können, nahm ihr fotografisches Gedächtnis dazu noch die Eigenheiten der Spielercharaktere zur Kenntnis. René liebte es, nicht nur jedes Blatt auszureizen, oft trieb ihn sein Ehrgeiz auch dazu, mit einem vermeintlich schwachen Blatt die Gegner düpieren zu wollen. Urmel hingegen, war ein über die Länge des Skatabends am Endergebnis orientierter Taktiker, der Ramschrunden und Risiken provozierte, indem er bei einem eigenen starken Blatt, die anderen spielen und reinrasseln ließ. Er konnte nicht begreifen, wieso Peggy so schnell reüssierte. Und weil das so war, machte er überraschend viele Fehler, die von einer allgemeinen Verunsicherung herrührten. Bei der Karten spielenden Peggy liefen nicht wie sonst vor lauter Unsicherheit während Begegnungen mit neuen Menschen Hals und Kinnpartie hektisch und rotfleckig an, sondern provozierte eine unerschütterliche Gelassenheit. Am Kartentisch konnte man sie einfach nicht „hochschießen“. Was Urmel ein ums andere Mal dazu verleitete, sie beim Nachkarten als Hexe zu beschimpfen. Das bereitete wiederum René eine klammheimliche Freude …

Freitag, 14. März 2014

Strohfeuer

11. Kapitel

   Als Johannes Maurice auf der Kiss-and-Fly-Spur vor dem Abflug-Terminal absetze, heulten beide Hünen und schämten sich bei der innigen Umarmung zum Abschied ihrer Tränen nicht. Nachdem er dann – ohne sich noch einmal umzudrehen – weiterfuhr, kam es Johannes erst zu Bewusstsein, dass diese Art der Umarmung eigentlich längst mal wieder seinem Sohn hätte zugekommen sollen. Nach viel zu langer Zeit – wie er sich nun eingestand -  verspürte Johannes urplötzlich eine starke Sehnsucht nach Cornelius. Klar hätte ihm auch ein Prachtkerl wie Maurice als Sohn gut gestanden, aber seit er selbst in Italien lebte und sein Sohn in München studierte, war ihm ein ums andere Mal erst klar geworden, wie groß eigentlich die Liebe zu seinem kleinen unsportlichen Dickerchen war. Cornelius war zunächst auch Journalist geworden. Aber wohl nur dem Vater zuliebe. Erst spät, genau an seinem 26. Geburtstag, hatte er sich dazu entschlossen, ein Studium zu beginnen:
  „Hör zu Väterchen! Für das, was ich eigentlich schreiben möchte, weiß ich nicht genug. Ich gehe ab dem Wintersemester auf die Uni.“
  Wie konnte Johannes, der sein gesamtes Berufsleben darunter gelitten hatte, unter dem eigentlich angestrebten Niveau zu schreiben, seinem Sohn dabei die Unterstützung versagen. Am Anfang machte ihm die zusätzliche finanzielle Belastung schon zu schaffen, gerade weil sein Vermögen in der Finanzkrise derart geschrumpft schien und neuerdings auch noch Studiengebühren erhoben wurden. Cornelius hatte sich zudem mit Verve auf das für einen sorgenfreien Lebensunterhalt  wenig zukunftsträchtige Analysieren skurriler US-Literaten der Postmoderne gestürzt. Nun referierte er bereits über diese mit einer Leidenschaft, die bisweilen an Besessenheit grenzte. Als absolutes Kontrastprogramm moderierte er für die Gilden eines weltweit im Netz betriebenen Computerspiels ein Internet-TV-Format und zog – wenn ihm das Geld dennoch knapp wurde - mit seinem herrlichen Bassbariton und einer Laute als mittelalterlicher Bänkelsänger durch die Szenekneipen seines Viertels.
  Johannes fuhr bei der nächsten, sich bietenden Gelegenheit rechts ran und kramte sein Handy samt Bluetooth Ohrempfänger aus der Tiefe seiner Computer-Tasche. Seit er sein altes, auf Feuerzeugformat geschrumpftes kaum noch ohne Brille lesen, geschweige denn mit seinen dicken Fingern bedienen konnte, hatte er sich von einem Vermittler ein wieder lesbares Handy empfehlen lassen. Dieses lieferte zudem fast jede Standardeinstellung automatisch per Tastendruck auf ein Display mit Vergrößerungsfunktion. Und wenn man den drahtlosen Knopf im Ohr aktivierte, tat es so als sei es eine beflissene Sekretärin, die Posteingang und Anrufe in Abwesenheit abarbeitete:
  Er hatte drei neue Nachrichten, seit Maurice in sein Auto gestiegen war. Alle drei waren innerhalb einer Stunde von Cornelius abgesetzt worden, was wohl irgendetwas mit Telepathie zu tun haben musste. Johannes verzichtete darauf, sie sich anzuhören und drückte bevor er auf die Autobahn zurück lenkte, direkt den Kontakt zu seinem Sohn:
  „Väterchen! Wo steckst du denn nur? Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Bist du noch in LaGrange?“
  „Du wirst es nicht glauben, aber ich rufe nicht wegen deiner hinterlassenen Nachrichten an. Ich habe gerade Maurice am Flughafen abgesetzt und bei der Umarmung mit ihm festgestellt, wie sehr du mir fehlst. Dass ich dich auch gerne mal wieder so drücken möchte und so…“
  „Na diese Anwandlung passt ja nun super zu den Merkwürdigkeiten der letzten beiden Tage. Da möchte man doch fast wieder an die Existenz von PSI-Phänomenen glauben“, sandte Cornelius seinen Sarkasmus zum Selbstschutz durch den Äther. Er mochte es nicht und schätzte es doch insgeheim sehr, wenn sein Vater so unverhohlen seine Gefühle zu ihm ansprach. Deshalb wechselte er schnell in den Duktus eines nüchternen Berichterstatters, obwohl seine Spannung über mehr als tausend Kilometer fast materiell zu spüren war:
  „Ich habe am Freitag mit dem Dozenten über das Thema meiner Semester-Arbeit gesprochen. Ein irres und brillantes Buch von einem Ami namens Lance Olsen, das den Titel ‚Nietzsche’s Kisses’ trägt. Und als mein Dozent hilfreiche Sekundär-Literatur ansprach, fiel der Name Dr. Peggy O’Neill. Er schwärmte von ihr als dem neuen Fixstern der Nietzsche-Interpretation. Fast alle hätten sich ihrer Entschlüsselung des Frauenbildes unseres Philosophen mittlerweile angeschlossen, was umso erstaunlicher wäre, weil sie noch so jung sei und außer ihrer mit magna cum laude bewerteten Doktorarbeit weiter nichts als Comments auf ihrem Blog zu diesem Thema veröffentlicht habe. Zuerst hatte ich überhaupt nicht daran gedacht, dass sie das Aupair-Mädchen sein könnte. Erst im Google stieß ich auf eine neuere Biographie, in der sie selbst damit zitiert wird, dass sie große Teile ihrer Dissertation in LaGrange Océan verfasst habe.“
  Johannes reagierte zwiespältig auf die Wortkaskade die sein Sohn in sein unbehaglich zu gestöpseltes Ohr abließ. Innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde wurde ihm als Autor klar, dass seine geplante Erzählung dabei war, mit jeder weiteren Erkenntnis quietschend unter der Last gänzlich anderer Fakten platt gemacht zu werden. Als Mensch fühlte er jedoch gleichzeitig so etwas wie eine heilige Erleuchtung, als sei er der Wirkung eines Wunders ausgesetzt gewesen… Sein einziger Zwischenkommentar war ein Räuspern, mit dem er signalisierte, dass er weiter gespannt zuhörte.
  „Wir hatten ja im Sommer 2007 in LaGrange nicht allzu viel miteinander geredet, weil wir da – obwohl ja gleich alt - noch auf gänzlich anderen Trips waren, aber am Freitag habe ich mich dann doch gleich hingesetzt und in ihren Blog geschrieben, dass wir uns mal begegnet sind, dass du mein Vater bist und gerade in LaGrange wärest, um René die letzte Ehre zu erweisen…“
  „Ach du Himmel!“, entfuhr es Johannes, und er wäre vor Schreck fast auf die Bremse gestiegen. „Es war doch Renés Wunsch gewesen, dass sie auf keinen Fall etwas von seinem Tod und schon gar nicht von seinem merkwürdigen Requiem erführe.“
  „Wieso sollte denn das Aupair-Mädchen von Nathalies Kindern nichts von Renés Tod erfahren dürfen? Das wird ja alles immer merkwürdiger.“
  „Weil René und Peggy für drei Sommer ein Paar waren. Er hatte – um sie zu schützen - ganz brutal mit ihr Schluss gemacht, als die Onkologen nach seinen ersten beiden sehr erfolgreichen Krebs-Behandlungen vorletztes Jahr erneut Metastasen - diesmal in Leber und Bauchspeicheldrüse gefunden hatten.“
  „Dann habe ich sie mit meinem Blog-Eintrag vielleicht umgebracht“, stockte Cornelius. „Das habe ich doch alles nicht gewusst. Als ich die Seite heute wieder aufrief, quoll sie nämlich über vor Beileidsbekundungen und fassungslosen Kommentaren. Sie ist - Freunden zufolge - gestern Mittag beim Kochen einfach tot umgefallen. Mit 28 Jahren!“
  „Du Cornelius, ich rufe dich in ein paar Tagen aus Italien noch einmal an. Ich muss das erst einmal verdauen und zu aller erst ganz schnell versuchen, Maurice noch zu erwischen, bevor er in den Flieger steigt.“
  Maurice scherzte, weil er vor dem Annehmen des Telefonats Johannes als Anrufer auf dem Display identifiziert hatte:
  „Na, du kannst ja wohl gar nicht von mir lassen?“
  „Peggy O’Neill ist tot. Wenn ich das mit der Greenwich-Meantime richtig rechne, starb sie etwa in dem Moment, in dem du gestern Renés Asche in die Luft geschleudert hast. - Um drei Uhr am Bunker… Jetzt will ich diese Geschichte erst recht schreiben. Es gibt mehr als nur einen Grund, auch ihr ein Denkmal zu setzen, aber davon später. Jetzt da beide tot sind, muss ich keine Personen erfinden. Ich darf also Chronist einer einzigartigen, vielleicht sogar wahren Liebe sein!...“


Samstag, 8. März 2014

Strohfeuer

              10. Kapitel

  Für eine Weile war Johannes verstummt, da er sich in der Banlieue von Bordeaux auf eine veränderte Straßenführung bei seinem alten Schleichweg zum Flughafen konzentrieren musste. Als er wieder die richtige Orientierung hatte, schwang viel mehr Wehmut in seiner Erzählung mit als noch Augenblicke zuvor.
  „Die junge Ärztin hatte gemeint, ich solle schleunigst nach Deutschland zurück, um mich von einem Spezialisten ordentlich einstellen zu lassen. Hier könne sie nach dem stabilisierenden Insulin in der Kürze nicht allzu viel für mich tun. Wenn ich mich aber an ihre Anweisungen hielte, bestünde auch keine akute Gefahr mehr. Statt Medikamenten drückte sie mir – nachdem die Laborwerte vorlagen - zwei Päckchen Haferflocken in die Hand, die sie – wegen des fortgeschrittenen Samstagabends - aus der Krankenhausküche stibitzt hatte. Jede Stunde sollte ich vier Esslöffel davon trocken hinunterwürgen. Keine kalorienhaltigen Getränke, keine anderen Nahrungsmittel für mindestens 48 Stunden. Dann sollten die Azetonwerte nach ihrem Dafürhalten wieder normal sein; kein Stress und vorerst keine weiteren Anstrengungen.
  Als wir ins Hotel zurückkamen war die besagte Hochzeitsfeier schon im vollen Gange. Vom Eingang bis in den Festsaal hinein erstreckten sich Tische, auf denen alles stand, was das Perigord an Leckereien zu bieten hatte. Wie sich herausstellte, war der bereits mächtig angetörnte Wirt in Personalunion auch der Brautvater, der seine einzigen Hotel-Gäste an diesem Abend herzlich einlud, sich von den Tischen freimütig zu bedienen. Ich schaute nur gequält auf die beiden Päckchen Haferflocken in meinen Händen und zog mich diskret auf unser Zimmer zurück. Allerdings nachdem ich René aufgemuntert hatte, nur ja auf mich keine Rücksicht zu nehmen. Was er wohl auch nicht wirklich vorhatte, denn er wirbelte bereits mit einer drallen Dame zur Musette über die Tanzfläche und tat so, als gehöre er dazu.
  An Schlaf war nicht zu denken, zumal der Balkon von unserem Zimmer über der Hotel-Terrasse lag, auf der ebenfalls ausgelassen herumgetollt und gelacht wurde. Das letzte Mal hatte ich mich in meinem Leben derart ausgeschlossen gefühlt, als ich als Knabe bei einer Geburtstagsparty meiner Schwester Stubenarrest hatte.

  Es war schon nach Mitternacht, da hielt ich es im Zimmer nicht mehr aus. Das Mineralwasser und die Haferflocken hatten sich in meinem Bauch zu einer schwerfällig schwappenden Grütze verbunden. Ich schlich mich am angeschlagenen Rest vom Fest vorbei und stieg die breite Treppe zur Dordogne hinunter, wo ich meine Waden in der Strömung kühlte. Es war ein herrliches Gefühl, dass ich nach den Nackenschlägen des vergangenen Tages noch verstärken wollte. Ich zog mich ohne lange zu überlegen nackt aus und ließ mich in den vom Mondlicht silbern gefärbten Fluss gleiten. Die Strömung trug mich davon, noch ehe ich mir bewusst machte, dass ich ja irgendwie zurückkommen musste. Ich sollte mich ja mit dem azetonhaltigen Blut auf keinen Fall noch einmal so anstrengen. Einige fünfzig Meter flussab ragte ein kleiner Steg ins Wasser. Auf den ließ ich mich zutreiben und zog mich hoch. Erst als ich da so in voller Blöße vom Mond beschienen wurde, sah ich, dass auf ihm am Ufer ein älteres Paar beim Angeln saß.
  ‚Bon Soir! Was für eine herrliche Nacht’, sagte ich mit einer formvollendeten Verbeugung und wollte mich – als sei nichts weiter – an ihnen vorbei stehlen…
  ‚Möchten Sie vielleicht noch einen Aal, Monsieur?’ fragte der Mann ungerührt und hielt ein ansehnliches Exemplar hoch, das sich um sein Handgelenk wand.
  ‚Oh, nein danke’, antwortete ich – ohne seine Anspielung gleich zu begreifen – ‚ich muss leider Diät halten!’…
  Als ich schon auf dem Uferweg war, hörte ich wie sie zu ihm meinte:
  ‚Wünschte, wir würden so einen fangen. Der war ganz schön dick für das kalte Wasser’… Und dann kicherten beide wie zwei freche Flussgeister.
  Irgendwie war meine Trübsal durch diese geistige und körperliche Erfrischung wie fort gewaschen. Deshalb reagierte ich auch so unbekümmert, als ich René in Tränen aufgelöst über meinem Kleiderhaufen stehen sah:
‚Was heulst du denn hier herum wie ein Wolf im Mondlicht?’
  Dein Vater hatte ganz schön Schlagseite. Wenn ich mich recht entsinne, hatte ich ihn noch nie zuvor derart betrunken gesehen. Als er sich abrupt zu mir umdrehte, wäre er fast rückwärts in die Dordogne geplumpst.
‚Mein Gott, da bist du ja! Ich dachte schon, du hättest dich umgebracht. Erst fand ich das Zimmer leer und dann deine Kleider hier. Was rennst du denn so splitternackt hier im Mondschein herum?’
  ‚Aber deshalb musst du doch nicht weinen. Und, wenn’s so gewesen wäre – was für ein wunderschöner Moment zum Sterben.’
  ‚Nein, geweint habe ich wegen Roseanne. Als ich das ausgelassene Brautpaar gesehen habe, das alles noch vor sich hat. Die guten wie die schlechten Tage. Da wurde mir mein ganzer Verlust auf einmal noch schmerzlicher bewusst. Ich weiß, in der heutigen Zeit klingt das alles unwirklich, aber in unserer Generation gab es sie noch - die einzige und wahre Liebe. Für mich ist das allein Roseanne. Glaubt ihr, ich hätte nicht bemerkt, wie mich jeder verkuppeln will. Die beiden Winzerinnen. Das Spiel habe ich doch nur wegen meines Freundes mitgemacht, und weil es lustig war, mal wieder zu flirten. Aber wieso hat sich Roseanne ausgerechnet diesen welschschweizerischen Spießer Eduard genommen?’
  Weißt du Maurice – ich hätte ihm in diesem Moment gerne gesagt, dass er so ichbezogen all die Signale übersehen und nicht gehört hatte, die Roseanne wegen ihrer ungeliebten Rolle stets ausgesandt hatte. Aber stattdessen habe ich ihm eine vermeintlich tröstliche psychologische Erklärung aufgetischt. Ich war aber im Gegensatz zu ihm nüchtern, hatte also keine Entschuldigung für den Unsinn, den ich ihm verzapfte:
   Heute in den Diskussionen um diverse Gesundheitsreformen hätte ich sogar eine offizielle Rückendeckung für meine These erhalten. Weißt du, dass in Deutschland kaum noch Massagen auf Krankenkasse verschrieben werden? Mein Hausarzt hat mir neulich das ganze Gezerre um die Behandlung meiner rechten Schulter  so erklärt: Frauen im fortgeschrittenen Alter hätten ein verstärktes Bedürfnis angefasst oder gar gestreichelt zu werden.  Ein Bedürfnis, dass sie zunehmend nicht durch ihre Partner, sondern wohl unter Missbrauch von verschriebenen Therapien befriedigen wollen. Seither würden generell alle Verschreibungen doppelt und dreifach in Frage gestellt. Als ich dem ansonsten sanftmütigen Doktor schon Chauvinismus unterstellen wollte, zeigte er mir  tatsächlich den Exzerp einer aktuellen Studie samt Anweisungen einer Kasse an ihre Vertragsärzte.
  Jedenfalls in jener Nacht wusste ich von derartigen Erkenntnissen nichts. Ich wollte René nur beruhigen, als ich sagte:
  ‚Denk dran! Er ist Chiropraktiker. Roseanne ist zu ihm gegangen, weil sie von der ganzen Hausmeisterarbeit, die du ihr über Jahre zugemutet hattest,  komplett verspannt und obendrein wegen der Zurücksetzung frustriert war. Er hat sie angefasst, und sie ist vermutlich dabei ins Reden gekommen. Wann hattest du denn das zum letzten Mal getan? – Sie gestreichelt und zugehört. Es geht dabei ja noch nicht einmal um Sex. Es geht darum, den anderen zu spüren. Um Nähe und Vertrauen. Das hat sie gesucht und gebraucht – denke ich. Das hat dann wohl wie von selbst    bei Eduard und ihr zu mehr geführt.’
   Während seiner letzten Worte hatte Johannes trotz der Konzentration aufs Fahren eine Veränderung bei Maurice wahrgenommen. Als er ihm kurz den Kopf zuwandte, sah er wie dem Kerl dicke Tränen durch die Bartstoppeln kullerten, er aber gleichzeitig grinsen musste. Er versuchte gar nicht dieses offenbare Wechselbad seiner Gefühle zu unterdrücken, sondern sagte schniefend und glucksend:
  „Das war ja dann wohl eine Predigt mit Langzeitwirkung. Denn in den letzten Wochen bevor gar nichts mehr ging, konnte er nicht genug davon bekommen, Roseanne zu streicheln. Und sie genoss es wohl mehr oder weniger. Einmal kam sie in die Küche, nachdem er wieder weggedämmert war und verschaffte sich bei mir in ihrer üblichen, gespielten Empörung Luft:
  „Mein ganzes Leben mit ihm, habe ich darauf gewartet, dass er mich mal so streichelt, und jetzt da es mit ihm zu Ende geht, hört er nicht mehr auf damit – der verdammte Scheißkerl!“