Samstag, 28. September 2013

Johannes

  Alle klassischen Redewendungen haben eine Wahrheit in ihrer Kernaussage: Es geht einem an die Nieren, wenn etwas Dramatisches passiert. Die Galle kommt jenem hoch, der sich schwarz ärgert und wer einen Stein ins Rollen bringt, verändert sein Leben nachhaltig…
  Warum vergessen Eltern, was ihnen als Kindern von ihren Eltern widerfahren ist? Wieso sind sie nicht in der Lage, das einschlägig Erlebte zu memorieren, um die Wiederholung von kindlichem Leid zu vermeiden?
  "Ich wünsch' Dir Kinder, wie Du eines bist", pflegte seine Mutter - als wolle sie ihn  mit einem Fluch belasten - voller Empörung hinter ihm her zu rufen, wenn er wieder einmal etwas ausgefressen hatte. Ihre Verwünschungen sind später in vollem Umfang in Erfüllung gegangen, und Johannes war dankbar dafür. Seine Kinder sind ihm wirklich sehr ähnlich geworden, mit ihrem Hang zur Individualität, mit ihrer aus musischer Begabung entspringenden Kreativität, aber auch mit ihren Urängsten und gelegentlichen Antriebsschwächen. Und dennoch, er hat - trotz bester Vorsätze - alle für ihn so schmerzlichen erzieherischen Fehler seiner Eltern bei seinen Kindern erneut gemacht. Zuerst wollte er sich damit trösten, dass dies Projektionen einer überbordenden Liebe und Fürsorge gewesen seien, aber heute, da beide Erwachsene sind, liest sich sein Versagen in einem Brief an sie so:
  Es ist die vorrangige Pflicht eines Vaters, seinen Kindern den Umgang mit der Angst beizubringen - und nicht, sie nur vor Unbill schützen zu wollen. Fast gleichrangig ist die Aufgabe, ihnen das Glück zu erklären, was eben nicht ohne Strenge, Härte und die Vorbereitung auf Verlust geht. Eltern können sich als oberstes Ziel ihrer Erziehung wünschen, dass ihre Kinder lebenstüchtig und glücklich werden, aber sie haben später mit beidem nichts mehr zu tun.
  Esther hat sich mit solchen Überlegungen nie aufgehalten. Sie hat Martha und Cornelius einfach bekommen und ihren Part der Erziehung geschehen lassen. Gelegentlich war das der einzige Anfall von Eifersucht, den Johannes zu erleiden hatte: Dass die Drei eine Einheit der gegenseitigen Zuneigung bildeten, bei der er als Mahner, Antreiber und Kritiker ausgeschlossen blieb.
  Oft überlegte er sich, welche Entwicklung seine Psyche genommen hätte, wäre seine Mutter wie Esther gewesen. Johannes stand allein gegen alle in seiner Familie. Seine Mutter wäre nie auf die Idee gekommen, zu seinen Gunsten Partei gegen ihren Mann zu ergreifen. Vielleicht war sie auch zu beschäftigt, ihren Zipfel vom Wirtschaftswunder zu erhaschen. Wenn die beiden pubertierenden Mädchen ihre gelegentlich hysterischen Anfälle hatten, wurden sie samt Klamotten einfach unter die eiskalte Dusche gestellt. Das war drastisch, abschreckend, aber eben nicht nachhaltig die Seele verletzend.
  Mit Johannes wurden erzieherische Spielchen gespielt: Bei der weihnachtlichen Bescherung beispielsweise lag einmal für ihn zunächst nichts unter dem  Gabentisch als ein Miniatur-Teppichklopfer an dem eine Zuckerstange in der Form eines Spazierstockes hing. Über diesen Anklang an eine Erziehung mit "Zuckerbrot und Peitsche" konnte vielleicht ein erwachsener Humor schmunzeln. Ein Achtjähriger empfand nur Scham und Demütigung. Johannes tat seiner Familie nicht den Gefallen, in Tränen auszubrechen, und wenn dann später hinter einem Sessel in der Wohnzimmer-Ecke doch noch Geschenke für ihn auftauchten, spielte er den Entzückten nur noch. Was nützte ein von der Mutter mit viel Eifer selbst gebasteltes Indianer-Zelt, wenn aus Häuptling "Grosses Adlerauge" vorher schon  der Stammesdepp "Klein Schniefnase" geworden war...
  In dieser Zeit unterdrückter Emotionen strickte seine Mutter daher an der Legende seiner Schmerz-Unempfindlichkeit. Mehrmals zog er sich während dieser verstockten Phase im Kopfbereich Platz- und Risswunden zu, die der Hausarzt - ein Lazarett-Veteran zweier Kriege - wegen der  damals immer  noch unsicheren lokalen Anästhesie lieber ohne Narkose nähen wollte. Die Tatsache, dass Johannes nicht schrie - nie mehr bei Schmerzen schrie - bedeutete aber nicht, dass er keine Schmerzen hatte. Er konnte die physischen nur nicht mehr von den psychischen unterscheiden, und letztere hatte er zu verdrängen gelernt. Es gab einfach niemanden, dem er sie hätte offenbaren können.
  Als sein Vater nicht mehr mit ihm reden wollte, wurde ein Teil von Johannes verstockt, während der andere in eine permanente hyperaktive Stress-Situation des Geliebt-werden-Wollens geriet. Er mutierte zur Nervensäge. Ein Kind, das aus dem Weg gehen will und dabei Omas teure, antike Vase umwirft. Ein Niemand, der - um zu helfen und um wahrgenommen zu werden - eine Schüssel angeben will und nicht wartet, ob der andere auch zufasst. Ein Horror-Balg, das binnen weniger Wochen zweimal vor ein Auto läuft und einmal von einem Motorradfahrer über den Haufen gefahren wird.
  Der erwachsene Teil der Familie würde gerne mal etwas ohne ihn unternehmen, aber die Nachbarn und Freunde, die ihn früher gerne geholt hatten, sagen hinter verschlossenen Türen, aber laut genug ,dass er es hören kann, es sei mit ihm schlimmer, "als einen Sack Flöhe zu hüten".
 
  Weil er den Schwestern auf den Geist ging, und sie auch begonnen hatten 14- und 17jährig, eigene Wege zu gehen, kam es immer häufiger bei den verhassten Wochenend-Wanderungen  zu der Dreier-Konstellation Vater, Mutter, Sohn. Und dabei passierte etwas, dass Johannes sein ganzes Leben nicht verkraften sollte.
  Merkwürdiger Weise hatte seine Mutter ausgerechnet bei diesem Ausflug auf dem Elbwanderweg viele Fotos von ihm gemacht, so dass er noch als Erwachsener beim Durchblättern des Familien-Albums auf drastische Weise an dieses Ereignis erinnert wurde. Eines der ersten Bilder zeigt Johannes an der Verspannung eines Telegrafen-Mastes. Es ist so angeschnitten, dass es einen Schiffsjungen am Stag zeigen könnte: Lange blonde Haare vom Wind verweht, der Blick ernst in die Ferne gerichtet.
  Die weiteren Fotos zeigen einen Trotzkopf, der keine Lust mehr hat, zu laufen, der einen Flunsch zieht, der greint. Etwa da beschließen die Eltern eine Pause zu machen. Eine Bank ist mit einer Bucht in den Hang eingelassen, Ein Eichhörnchen lässt sich mit einem Stück Nuss-Schokolade füttern, und unten auf der Elbe manövrieren majestätisch Ozean-Dampfer.
  Johannes klettert den Hang hinauf und ist bald in seiner Indianer-Zufluchtswelt verschwunden. Er steigt auf einen großen runden Stein und späht hinaus über den Strom. Ein kleiner Findling, den die Gartenarchitekten dort wohl zu Dekorationszwecken platziert haben, doch er ist nicht genügend fixiert. Als Johannes herunter springt, wackelt er und bekommt einen achtlosen Tritt. Der Stein, viel zu groß, um eigentlich von einem kleinen Jungen durch Achtlosigkeit destabilisiert zu werden, setzt sich in Bewegung, rollt erst langsam dann immer schneller den Hang hinunter. Dann beginnt er in immer größeren Sätzen zu springen. Genau auf die Bankbucht zu, die nur durch die sie überragenden Köpfe der Eltern zu erahnen ist. Der Stein springt auf sie zu. Johannes will schreien, aber er kann nicht. Der Stein springt genau zwischen den Köpfen seiner Eltern hindurch und kracht in den hölzernen Begrenzungszaun des Höhenweges. Die Welt steht für einen Moment still. Dann springen die Eltern auf, und es erhebt sich ein erschütterndes Gebrüll, wie er es von seinem eher in sich gekehrten, ruhigen Vater nur vier Mal im Leben hören sollte:
  "Dir ham'se wohl ins Gehirn geschissen und vergessen, umzurühr’n! Wieso nehme ich Dich in die Berge mit und erzähl dir alles über die Gefährlichkeit von Steinschlägen, damit du uns hier an der Elbe umbringst?"
  Seine Mutter hatte an diesem Tag nur noch eine weitere Aufnahme von Johannes gemacht. Sie zeigt zweifelsfrei den gleichen Jungen wie auf den zuvor geschossenen Fotos – allerdings scheint er nun  um Jahre gealtert. Die Augen zwar vom Entsetzen erstarrt, aber mit einem ebenso erschreckenden grimmigen Trotz um die Kinnpartie.
 
  Sein weiteres Leben sollte Johannes von dieser Szene im Traum heimgesucht werden. Bisweilen in Varianten und einer Heftigkeit, die ihn mitunter glauben ließen, er habe das womöglich aus Absicht getan - gewissermaßen ein Attentat auf die eigenen Eltern verübt...



Freitag, 20. September 2013

Sarajevo

 Zu den unergründlichen Verhaltensweisen von Johannes gehörte, dass er immer wieder Dinge tat, von denen er genau wusste, dass sie ihm nicht bekämen. Aber was  er sich in seinem seelischen Zustand mit der Reise nach Sarajevo angetan hatte, zeigte rückblickend doch, dass die selbstmörderische Tendenz in dem Hanegg-Erlebnis Ergebnis einer ernsthaften psychischen Veränderung war. Er hätte vierzehn Tage Zeit gehabt, Kontakt mit dem Institut aufzunehmen, aber er verzichtete darauf, weil er die ärztlichen Konsequenzen fürchtete. Stattdessen griff er wieder zum Diazepam, was er gleichzeitig nach den Triumphen als "Seher" und "Feuilletonist" als bittere Niederlage empfand.
  Die Sportjournalisten - zu denen er ja organisatorisch nicht gehörte - hatten einen eigenen Liegewagen für die Fahrt von München nach Sarajevo als Kurswagen organisiert und ihn eingeladen, mit an Bord zu kommen. Eine Ablehnung hätte seinen suspekten Status nur weiter verschlechtert, also sagte er zu, obwohl er Zug-Reisen in voll besetzten Abteilen und das bekleidete Schlafen mit Fremden verabscheute. Er wäre eindeutig lieber geflogen, obwohl der innerjugoslawische Flugverkehr damals nicht als sonderlich zuverlässig galt und die Lufthansa nur bis Belgrad flog. Zum bereits gebuchten Rückflug gab es wegen diverser Redaktionsschluss-Termine keine Alternative. Hinwärts würde er das schon verkraften - dachte er. Es sollte einer langen Nacht Reise in den Tag werden...
  Wegen befürchteter klaustrophobischer Zustände hatte er kurz vor dem Einsteigen gleich zehn Milligramm genommen und sich vorgemacht, mit ein zwei Flaschen Bier, den Liegewagen-Part halbwegs überstehen zu können. Nur, es wurde Mitternacht und ein Uhr früh, und die Liegen wurden immer noch nicht herunter geklappt, und dann lohnte es sich auch nicht mehr, vor der jugoslawischen Grenzkontrolle einzuschlafen. Die sich ja langsam aufbauende Wirkung des Diazepams traf zu diesem Zeitpunkt auf die  zunehmend  euphorisierende Wirkung des dritten oder vierten Bieres. Johannes konnte in diesem Zustand eine echte Stimmungskanone sein, was die langwierige Inspektion der Zöllner zwar erträglicher machte, aber den kritischen Moment hinauszögerte, in dem er sich bereits besser in 'Morphens' Arme begeben hätte.
   Er schlief und schlief weit in den nächsten Tag hinein. Immer wieder versuchten die Kollegen ihn aufzuwecken, damit er endlich seine Liege wieder hochstellen würde. Als er sich endlich gegen Mittag in die Senkrechte gewuchtet hatte, kamen der Kater vom Beruhigungsmittel und der des ungewohnten Bier-Konsums zusammen. Er kannte diese absolute innere Leere von früheren Abstürzen. Sie erzeugte eine absurde Verletzlichkeit, die er nur im völligen Alleinsein meistern konnte. Aber daran war nun gar nicht mehr zu denken, weil in Belgrad ein Barwagen der jugoslawischen Staatsbahnen so angekoppelt wurde, dass der Menschen-Pulk sich bis in den Gang  des Abteils ihres Sonderwagens  staute. Zu Essen gab es überwiegend Essiggurken und Pickles. Dazu eine knallrote Räucher-Wurst, die so scharf war, dass man sie nur Häppchen um Häppchen mit einem Slivoviz im Mundraum löschen konnte. Alles in allem hatte eine derart verheerende Wirkung auf die Darmtätigkeit aller - auch der an diese einseitige Ernährung anscheinend gewohnten Serben, Bosnier und Kroaten, dass darunter selbst die für die deutschen Journalisten reservierte Toilette schwer litt. Hinzu kam das "Runden-Schmeißen". Minütlich wurden zwei bis drei Schnapsflaschen konsumiert, weil sich weder die Deutschen noch die Vertreter des damaligen Vielvölkerstaates lumpen lassen wollten.
  Als sie sich am späten Nachmittag in die Akkreditierungsschlange des OK in Sarajevo einreihten, schien jeder Nerv von Johannes zu vibrieren. Seine Wahrnehmungsfähigkeit war keineswegs eingeschränkt, sondern speicherte selbst minimale Impulse mit einer Wichtigkeit ab, als hinge davon das weitere Funktionieren seines Verstandes ab. Er war zuvor schon zwei Mal in der Hauptstadt von Bosnien-Herzegovina gewesen. Einmal als Neunjähriger, und  im Rahmen der Olympia-Bewerbung war er mit Offiziellen in den Wäldern der Jahorina-Berge und auf der Bjelasnica herumgestreift, um einen Eindruck von den künftigen alpinen Ski-Rennstrecken zu bekommen.
  Die Multikulti-Altstadt auf dem Rechten Ufer des Flusses Miljacka, die Sarajevo den Beinamen "Jerusalem des Balkans" eingebracht hatte, war zwar genauso herausgeputzt worden wie die alte Pracht-Meile, in der einst das Attentat auf Österreichs Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand verübt wurde, aber der Weg zum Journalisten-Dorf in der Neubausiedlung am südlichen Stadtrand führte eben durch die Beton-Silos des noch real existierenden Sozialismus und verstärkte in den grauen Schneeresten Johannes Trübsal. In Kombination mit dem Trancen-Mix aus Slivo und Valium verursachte das eine Depression mit vollem Programm.
  Und dann kam der Schnee. Er fiel vier Tage lang in dichten Flocken. Der ganze Zeitplan der ersten Olympia-Woche geriet bei den Outdoor-Disziplinen durcheinander. Für die Agentur- und Tageszeitungs-Schreiber die Höchststrafe, denn sie mussten dann ja jeden Tag irgendwelche Geschichten für die Vorberichterstattung aufdecken oder im Zweifelsfall erfinden.
  Johannes jedoch rettete dieser Umstand  den Verstand - oder beinahe auch nicht. Er ließ sich von der Woge der olympischen Atmosphäre packen, die die altehrwürdige Stadt nun im Schnee-Zauber durchflutete und machte ausgedehnte Spaziergänge, die ihm Lunge und Kopf reinigten. Über Nacht hatte sich der altislamische Teil der Stadt in ein orientalisches Wintermärchen verwandelt. Johannes, der diesmal ja nicht zu fotografieren brauchte, hatte nur eine damals neuartige vollautomatische Pocket-Kamera dabei, die mit einem überraschend vielseitigen Objektiv ausgestattet war. Sie ließ gerade bei Dunkelheit manche Perspektive zu, die große Kameras nicht schafften, weil sie mit dem Selbstauslöser ohne Blitz mit langen Belichtungszeiten in versteckte Winkel positioniert werden konnte. Als er spät abends vom Bascarsija die verschneite Moschee samt Minarett als Spiegelung in einer orientalischen Butzenscheibe aufnehmen wollte, rasten auf einmal zwei Milizionäre mit Maschinenpistolen im Anschlag auf ihn zu und verhafteten ihn. Er wurde auf die nicht weit entfernte Kommandantur geschleppt, und selbst die allzeit bereit um den Hals hängende Akkreditierung bewahrte ihn nicht davor, dass er in einen stinkenden Verschlag eingesperrt wurde, der als Lichtquelle nur einen verdreckten Glasstreifen über der Tür zum Flur hatte. Eine perfekte Lokalität, um einen Klaustrophobiker zum Sprechen zu bringen, der gerade einen Anschlag auf die Moschee hatte verüben wollen.
  Nach einer halben Stunde, wurde er unsanft in ein Büro gestoßen und sah sich mit einem gepflegten, sensibel wirkenden Mann etwa seines Alters konfrontiert. Er trug einen teuer aussehenden  Anzug und einen mit dem Mikrometer kontrolliert gestutzten Lenin-Bart. Die Akkreditierung von Johannes und seine Kamera lagen vor ihm auf dem Schreibtisch. Wie sich herausstellte, war es der Sicherheitschef höchst persönlich, und er überraschte Johannes mit fließendem Deutsch in leicht kölscher Einfärbung.
  Es wurde eine lange Nacht. Ivo Mladic war Sohn eines Gastarbeiter-Paares der ersten Stunde. Die Eltern hatten bald so viel Geld zusammen gehabt, dass sie in Porz ein Balkan-Restaurant eröffnen und ihren einzigen Sohn nachkommen und in Bonn Volks- sowie Verwaltungswirtschaft studieren lassen konnten.
  Im Zuge der Liberalisierung der Nach-Tito-Ära und vor allem wegen der erstmals in ein kommunistisches Land vergebenen Winterspiele hatte man Ivo einen überaus lukrativen Zeitvertrag mit Dienstvilla und Dienstwagen angeboten, wenn er seiner Heimatstadt zur Seite stünde.
  In den Atempausen des eloquenten Mannes war die andere Angelegenheit schnell geklärt. Die beiden Milizionäre  hatten das weithin sichtbar rot blinkende Licht des Selbstauslöser-Signals und den schwarzen kleinen Kasten, der es aus sandte, für eine Bombe und Johannes für deren Leger gehalten. Als sie sich peinlich berührt bei ihm entschuldigen wollte, wiegelte er ab und ließ Ivo übersetzen, wie er seiner Zeit bei seinen ersten Olympischen Spielen als Journalist in München empfunden hatte, als der Terror-Anschlag den "heiteren Spielen" in wenigen Stunden den Garaus gemacht hatte...
  Seither war ja das Verrammeln und Verbarrikadieren des Sports bei gleichzeitig massivem Auftritt der Sicherheitsorgane zum olympischen Standard geworden. So berichtete Johannes - nachdem bereits eine aus dem Schreibtisch hervor gezauberte Flasche Slivo geleert war, Mladic auch noch von einer weiteren olympischen Erfahrung. In Montreal 1976 hatten Johannes und sein Time-Life Kollege Tom Grant deswegen einmal sehr viel Geld verloren. Ein DDR-Journalist hatte Johannes über sehr winkelige Wege ein Exklusiv-Interview mit dem damals stärksten Mann der Welt, dem russischen Holzbau-Ingenieur Vassili Alexejew vermittelt, dass er sich mit Grant teilen wollte, weil dieser wiederum fließend Russisch sprach. Dass Time Life zudem, das Doppelte in Dollar zahlte wie das deutsche Männermagazin in Mark stand auf einem anderen Kontoblatt. Als sie pünktlich zum vereinbarten Treffpunkt wollten, wurden sie von einem dreifachen Sicherheitskordon der RCMP abgewiesen, weil Madame Margeret Sinclair Trudeau, die junge, wilde Gattin des Kanadischen Premiers Pierre Trudeau just im selben Moment, da sie interviewen wollten, Lust verspürt hatte, männlich russisches Muskelfleisch aus der Nähe zu betrachten. Doch die "Mounties", die Vertreter der Royal Canadian Mounted Police stellten sich ihnen nicht mit ihren oft karikierten roten Röcken und den Pfadfinder-Hüten entgegen. Und Pferde waren schon gar nicht in der Nähe. Sie hatten Helme auf, trugen zu schwarzen Kampfanzügen, Springerstiefel und Stoffmasken sowie entsicherte Heckler&Kochs im Anschlag. Alles Bitten und Betteln half nichts. Johannes gingen 9.000 Mark durch die Lappen, weil Alexejew sich durch den schicken Besuch natürlich geschmeichelt fühlte und später keine Zeit mehr für normale Journalisten fand.
  Mladic und Johannes sprachen dann auch noch über den sich abzeichnenden politischen Wandel in der Olympia-Stadt. Bei allem Optimismus für die künftige Eigenständigkeit der Bosnier und die Prosperität Sarajevos mischte sich in Ivos  Zukunftsprognosen auch Bedenken, ob die Serben und Belgrad ihren zentralistischen Einfluss so einfach lockern würden. Johannes wollte nicht auch noch Öl ins Feuer gießen, denn er selbst hatte in den letzten Monaten das Gefühl, dass der so lange von Egon Bahr behutsam begleitete "Wandel durch Annäherung" von einem zunehmend eisiger werdenden Wind gebremst worden war. Helmut Kohl war ja nach dem konstruktiven Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt und die in der Folge bedingten Neuwahlen im März 1983 Kanzler geworden und hatte den Nachrüstungsbeschluss für die NATO, an dem die sozialliberale Koalition unter anderem gescheitert war, gegen die Widerstände der Friedensbewegung durchgesetzt...
 
  Am nächsten Morgen zog Johannes eine deprimierende Bilanz. Obwohl ihm ja die Ärzte dringend zur Abstinenz geraten hatten, und ihm die Erlebnisse von Wengen mehr oder weniger noch in den Knochen steckten, hatte er mehrere Tage unter massivem Alkohol-Einfluss verbracht. - Und während der wenigen verbliebenen Stunden Schlaf waren die gefürchteten farbigen Träume wieder gekommen. Er hatte dabei in sie eingebettet tatsächlich eine komplette Erzählung geträumt, deren tiefenpsycholgische Bedeutung  sich ihm erst nach einigen Jahren freudscher Einzelanalyse erschließen sollte. Sie blieb erhalten, weil er sie - verkatert wie er war - im Pressezentrum herunter hackte, während die Kollegen verzweifelt versuchten die olympische Spannung zu erhalten.
  Es war die Geschichte einer großen blinden Braunbärin, die die Bergbauern der Jahorina in Atem hielt und die anscheinend so schlau war, dass sie keinem in die Falle ging. Erzählt wurde sie von dem K.u.K.- Musikprofessor Dr. Jure Djajic aus Sarajevo, der sie in den Tagen des Attentates auf Franz Ferdinand als Parabel dafür verwendete, dass er von seinen Schülern verlangte, das Klavier blind - also nur nach Gehör, Gedächtnis und  Konzentration auf den Tastsinn  aber vor allem ohne Notenblätter zu beherrschen.
  Die Bärin war durch eine Schrotladung erblindet, die ihr ein wütender Bauer auf dem Pelz gebrannt hatte, als sie gerade dabei gewesen war, eines von dessen Schafen zu reißen. Tagelang war sie danach durch die tiefen Wälder getaumelt, manchmal abgestürzt und schon dabei, dramatisch Gewicht zu verlieren, als sie auf einen jungen verletzten Wolf getroffen war, der seinerseits von seinem Rudel als Bremsklotz bei den Beutezügen ausgeschlossen worden war. Statt den Wolf mit Heißhunger zu verspeisen, ging in der braunen Riesin etwas Sonderbares vor. Die jaulende Hilflosigkeit, weckte offenbar ihre verschütteten Mutterinstinkte, denn sie begann das Jungtier trotz ihres eigenen erbärmlichen Zustandes zu hegen und zu pflegen. Sie leckte seine Verletzung, sie trug ihn - wie sie es mit ihren Jungen getan hätte - am Nackenfell in ihre Höhle und sie wärmte den kleinen Grauen. Der gemeinsam durchlittene Hunger trieb sie in eine Symbiose der Überlebenskunst, eine Vereinigung aus Kraft und Schläue, aus blind geschärften Sinnen und wieder gewonnener Beweglichkeit und Geschicklichkeit. Der kleine Wolf nahm quasi die Rolle eines Blindenhundes an und musste im Gegenzug keine Angst haben, wegen seiner Behinderung Opfer anderer Waldbewohner oder der auf sie gehetzten Bluthunde zu werden. Denn die zwei hatten eine fabelhafte Kampftechnik entwickelt. Kamen die Angreifer zu nahe, richtete sich die Bärin auf beinahe drei Meter Höhe auf und ließ den Wolf zwischen ihre Beine schlüpfen. Was die Bärin mit ihren eigenen geschärften Sinnen nicht selbst wahrnahm, vermittelte ihr der die Gefahren sehende Wolf durch Bellen, Knurren und Schnappen.
Auf diese Art ließen immer mehr Spürhunde ihr Leben und dienten den beiden praktischer Weise auch als Nahrung.
  Da Johannes in seinem Traum die Bilder wie durch eine subjektive Filmkamera mal aus der Perspektive und Sichtweise des Wolfes und Mal aus der der Bärin vermittelt bekam, erlebte er auch ihr gemeinsames Ende so drastisch, als wäre er selbst ums Leben gekommen. Die Jäger hatten sie - ihn, Johannes - endlich auf einem steilen Felsen umzingelt, bis ihnen nur noch der Abgrund blieb. An dieser Felswand stand in einiger Entfernung allerdings noch eine hohe sich in ihrer Krone stark verjüngende Tanne. Das war ein möglicher Fluchtpunkt - doch nur für die Bärin. Selbst wenn der Wolf so weit hätte springen können... Er wäre ja nicht in der Lage gewesen, sich fest zu klammern. Die beiden Tiere konnten kommunizieren als sprächen sie miteinander eine gutturale Sprache aus Brummen und Kläffen. Der Wolf gab seiner braunen Partnerin die Richtung an. Die Bärin bedeute dem Wolf sich in ihrem Fell fest zu beißen und dann sprangen sie derart vereint. Doch die Bärin verfehlte den Wipfel der Tanne. Sie stürzten ins Bodenlose. Johannes taumelte mit ihnen. Und während alle Drei noch in der Luft zappelten, war Johannes jäh aus diesem Traum erwacht.
  Als Johannes am nächsten Tag ausnahmsweise zu der Pressekonferenz des  NOK ins "Deutsche Haus" ging, stellte er fest, dass er diese weiße Villa auf dem linken Ufer der Miljacka, die das  Nationale Olympische Komitee für die Deutsche Delegation während der Spiele angemietet hatte, in seinem Traum von der blinden Bärin schon gesehen hatte. In ihr hatte Dr. Djajic gewohnt und seine Schüler in einem prächtigen Parkett-Saal im Obergeschoss empfangen. Johannes beruhigte sich damit, dass er vermutlich im Vorfeld irgendeine Präsentation des Anwesens gesehen hatte und dass die Erinnerung daran irgendwie in seinen Traum geraten war. Als das dann jedoch exakt auch der Musik-Saal  aus dem Traum war, in dem die Pressekonferenz stattfand und der Flügel genau an der Stelle vor der gerundeten Fensterfront zum Park stand, traf ihn das wie ein Keulenschlag. Die Würgehände seiner mit Panik gepaarten Depression drückten ihm die Luft zum Atmen weg. Er wäre in Ohnmacht gefallen, hätte er das Haus nicht augenblicklich verlassen.
  Natürlich stand kein Fahrzeug der Fahrbereitschaft in der Auffahrt. Die Pressekonferenz samt Fragestunde und traditionellem Imbiss war ja für mindestens zwei Stunden angesetzt gewesen. Er stapfte über einen kaum geräumten Gartenweg und setzte sich auf eine Bank mit Blick auf die Miljacka. Auf der Sitzfläche lagen mindestens zwanzig Zentimeter Schnee. Der kalte Hintern würde ihn vielleicht wieder zur Vernunft bringen.
  Er bombardierte sich mit Selbstvorwürfen. Wie hatte er sich durch seine zügellose Lebensweise nur derart um den Verstand bringen können? Hatte er nicht Verantwortung? Wie sollte er sich jetzt, da er ja schon zwischen Wirklichkeit und Traum-Geschehen nicht mehr unterscheiden konnte, noch befreien können? Er hatte nur unbewusst wahrgenommen, dass sich leise jemand neben ihn gesetzt hatte. Sein  niedergeschlagener,  von Tränen verschwommener  Blick nahm lediglich die altmodischen Stiefel mit geknöpften Gamaschen zur Kenntnis, als der Besucher anhob in einem leicht schmerzlich  und slawisch gefärbten (Robert Musil hätte ihn "kakanisch" genannt) Tonfall auf Deutsch mit ihm zu sprechen.
  Er kannte diese Stimme:
  "Siehst Du die Leichen die Mijacka hinunter schwimmen? All die Toten, die Kinder, die Frauen, die verirrten Waffenbrüder? Hat diese Stadt denn nicht schon genug Tragödien erlebt? In zehn Jahren wird statt des Olympischen Feuers hier jedes zweite Haus brennen. Die schwarze Wolke des Krieges wird über den weißen Gipfeln der Jahorina stehen. Und wieder wird es einige Jahre später niemand mehr verstehen, wie es dazu kommen konnte."
  Johannes hob seinen Blick und schaute in die klaren Augen des langhaarigen, ergrauten Mannes, der in seinen Gehrock mit Weste gekleidet, den starken Schneefall nicht zu bemerken schien.
  "Es gibt Sie nicht, Dr. Djajic! Sie sind die Ausgeburt meines umnebelten Hirnes. Ich habe Sie gerade erst  erfunden oder besser erträumt.  Also können Sie mir auch keine angst machen."
  Den Alten schien das nicht zu beeindrucken. Er fuhr mit seinem Lamento fort:
  "Jeder sechste Einwohner dieser Stadt, die immer auch ein Symbol war  für das friedliche Miteinander der Völker, wird eine Kriegsverletzung erleiden. Eine Bevölkerung in der Größenordnung einer Kleinstadt wird samt Tausender Kinder ausgerottet werden. Und wofür? Für den Wahn von Macht und Herrschen einerseits und den Traum von Selbstbestimmung in Freiheit andererseits. Und keiner von Euch wird schreiben oder nur versuchen wollen, zu erklären, wessen Schuld dies war.“
  Vor psychischer Erschöpfung, die sich bei Johannes von der physischen ja nicht mehr sonderlich unterschied, war er offenbar auf der Bank eingeschlafen. Als ein frisch von der feinköstigen Freikost gesättigter Kollege ihn rüttelte, hatte sich auf seinen Schultern und Schenkeln bereits eine richtige Schneedecke gebildet. Er blickte auf die Sitzfläche neben sich. Da war natürlich kein Abdruck eines Gesäßes mehr zu sehen, und im Bus zurück zum Pressedorf wurde getuschelt, was nun schon wieder in den sonderbaren Kollegen gefahren sei.
  Als endlich das schöne Wetter kam, gelang es Johannes, besorgten und spöttelnden Fragen dadurch zu entgehen, dass er den Sport und die gesonderte Berichterstattung wieder einmal als Kur nutzte.  Er hatte Langlauf und Alpin-Ski dabei und verschwand oft Tagelang im Gelände der abseits der "grauenvollen" Stadt gelegenen Ski-Disziplinen.
   Johannes erzählte für eines der zahlreichen Olympia-Bücher, wie dem deutschen Biathleten Peter Angerer die 13 zur Glückszahl wurde und er spann weiter an der Bill-Johnson-Mystery.  Er verspürte bei der Arbeit an der Olympia-Abfahrt sogar wieder so etwas wie Humor und - wenn auch verkrampft - etwas übermütige Lebensfreude. Sie äußerte sich darin, dass ein Schweizer Fotografen-Kollege - ein Ex-Rennläufer - und er jedes Mal unmittelbar nach dem Trainings-Start des letzten Abfahrtsäufers - einem Argentinier - in die wirklich leichte Abfahrtsstrecke sprangen, um zu versuchen, den "Exoten" einzuholen; der Fotograf mit seinem schweren Fotokoffer in der Hand, und Johannes die Tasche mit der Reise-Schreibmaschine über die Schulter gehängt.
  Leider kam es bei diesem eigentlich verbotenen Tun zu Nachahmern und einer Indiskretion. Eine deutsche Foto-Kollegin hielt den hinter dem armen Argentinier her rasenden Presse-Pulk mit einem Super-Tele fest, was zu einer verspottenden und überheblich verzerrenden Perspektive und auch einer offiziellen Rüge führte. Das Bild jedoch ging als preisgekrönter Schnappschuss um die Welt. Was es nicht zeigte: Der Schweizer Fotograf musste trotz Handicap bei der Einfahrt in den schütteren Bannwald regelrecht in Pflugstellung gehen, um dem Ski fahrenden Gaucho nicht zu nahe zu kommen...

  Bill Johnson wurde tatsächlich Olympiasieger, aber was für Johannes und seine fast verdrängten Alpträume beruhigender war: Als der für Jugoslawien startende Slowene Jure Franko am 14. Februar 1984 die Silbermedaille im Riesenslalom gewann - die erste Medaille überhaupt für den Vielvölkerstaat bei Olympischen Winterspielen. Da zogen alle - Kroaten, Bosnier, Slowenen, Serben, Kosovaren und Mazedonier zu Zigtausenden im lautstarken Jubel miteinander vereint, durch die geschichtsträchtigen Straßen Sarajevos...

Isolde und Hella

(Die Dramen der desperaten Damen)

 Sie hatten wirklich alle erdenklichen Tests mit Johannes durchgeführt. Sein Blut war zu anderen Instituten geschickt worden. Die Befunde waren alle gleich: Leicht übersäuert und mitunter grenzwertig, was das Azeton anging, aber ansonsten, kein bekannter Erreger, kein Virus, kein Bazillus Bavaricus oder dergleichen. Als er im April den nächsten Fieberanfall hatte, nahmen sie direkt  Blut ab, aber auch dabei fanden die Spezialisten des Tropeninstitutes nichts, und auch der Virologie-Professor, der sie einst ermutigt hatte, die Tochter trotz der negativen Prognosen zu bekommen, war ratlos. Als er nach kleineren mit immer größeren Abständen auftretenden im darauf folgenden Winter den letzten Anfall dieser Art mit einer Temperatur von 41,3 hatte, musste er sich sogar von dem herbeigeeilten Notarzt beschimpfen lassen. Ob er denn noch nie eine Grippe gehabt hätte. Kein Wunder, dass die Kosten für das Gesundheitssystem so aus den Fugen gerieten, wenn jeder schon bei einem normalen Fieber mitten in der Nacht den Notarzt riefe.
  Es war jedoch nicht das Fieber gewesen, das Johannes angst gemacht hatte, sondern es waren die Fantasien im Dämmerzustand und die horrösen Träume der Tiefschlafphase, die ihn physisch so mitnahmen, als hätte er sie tatsächlich körperlich erlebt. Am schlimmsten waren dabei die Déjàvus. Immer häufiger glaubte er Dinge und Geschehnisse im Traum bereits gesehen zu haben, die einige Zeit später in den Fernseh-Nachrichten über den Bildschirm flimmerten oder in einem Film auf der Leinwand in Szene gesetzt worden waren. Völlig verunsichert, ob er überhaupt noch zurechnungsfähig sei, traute er sich noch nicht einmal mit Esther über diese Dinge zu reden. Er zog sich zunehmend in sich selbst zurück, was bei seinem bislang eher extrovertierten Leben vom Umfeld mit zunehmender Irritation und Verständnislosigkeit aufgenommen wurde. Zwei, drei Mal war es zu merkwürdigen spirituellen Verbindungen mit seiner kleinen Tochter gekommen. Wenn er im Traum in tödliche Bedrängnis geraten war, hatte die ansonsten wie ein Murmeltier schlafende  Martha gleichzeitig aufgekreischt und hatte schweißgebadet in ihrem Bettchen gelegen.
  Johannes begann über Déjàvus zu lesen und wissenschaftliche Abhandlungen zu studieren, denn in seinem prosaischen Wachdenken gab es keinen Platz für Spökenkiekereien. Ein populärwissenschaftlicher Erklärungsansatz beschrieb den Wahrnehmungsraster des menschlichen Gehirns als etwa halb so groß wie ein Schachbrett. Wären bei reizüberfluteten Menschen beispielsweise nur die Hälfte der Felder eines sechs mal sechs großen Memory-Rasters durch aktuelle Wahrnehmungen deckungsgleich belegt, würden die darunter liegenden Erinnerungsfelder bereits aktiviert.
  Johannes zweifelte nicht daran, dass sein Leben bislang vermutlich reicher an Reizen gewesen war als das manch anderer, aber er bezweifelte diesen sich bei ihm immer häufiger einstellenden reziproken Ablauf: Erst kamen die Erinnerungen, dann passierte etwas sehr ähnliches oder genau das. Er trauerte dem Arzt-Patientenverhältnis nach, wie er es mit dem verstorbenen Dr. Mausele gehabt hatte. Er befürchtete, wenn er das schwer Beschreibbare jemandem erzählte, würde er sofort in eine geschlossene Einrichtung eingewiesen. Schon deshalb legte er bei seinen beruflichen Aktivitäten noch ein paar Schaufeln Kohle nach, um ja nicht in Verdacht zu geraten. Rückbetrachtet schrieb er in keiner Phase seines Schaffens besser, fotografierte Aufsehen erregender  und malte spannendere Bilder. Wäre er nicht von einer beginnenden Schizophrenie überzeugt gewesen, er hätte den Wegweiser noch einmal in die richtige Richtung einer eher künstlerischen Existenz drehen können. Aber er beging den Fehler der Selbsttherapie.
  Der Wirkstoff Diazepam wurde damals als Valium gerne und ohne Hinterfragen verschrieben - so wie ab Ende der 1980er auch das in den Staaten immer noch populäre Prozac. Das Valium tat ihm gut, denn es nahm die Spitzen seiner Erregbarkeit. Aber das weiche Dahingleiten - vergleichbar einem schwappenden Stück Treibholz auf einem langsam fließenden Fluss - bremste seine Schaffenskraft so spürbar, dass sein kontrollierendes Über-Ich die Einnahme jeder Pille als Niederlage anprangerte. Er bekam sich so weit unter Kontrolle, dass er  - wenn sich Depressionen oder Angstattacken aufbauten - mit zweieinhalb Milligramm anfing und die Dosierung nur bei dramatischer Zuspitzung bis zur 10er-Einheit steigerte. In schonungsloser Selbstanalyse begriff er bald, dass die Angst vor der Angst und die Angst, von irgend etwas abhängig zu sein, dass er nicht mehr kontrollieren konnte, viel größer war als der jeweilige Anfall selbst. Das nicht entspannen Können wurde also nach und nach zum Hauptproblem. Der Dauerstress wiederum verstärkte die Auslöser für die Attacken. Die kamen so überfallartig wie vorher das Fieber.
  Er saß beispielsweise - um sich abzulenken oder zu beruhigen - vor seiner Staffelei und versuchte die Farbigkeit seiner Träume auf die Leinwand zu bannen, und nur ein Geruch einer Farbe oder ein Mischton sorgten dafür, dass er in seinem Umfeld zu schrumpfen begann. Sein Hals-Nasen-Ohren-Bereich wurde von einer staubigen Trockenheit erfasst und das Innere seines Schädels war schlagartig schwarz und hohl. Sein ganzer Körper fühlte sich an wie morsches Holz. Diese Wahrnehmungen in ihrer Gesamtheit dauerten vielleicht noch nicht einmal eine halbe Minute. Die reichte aber aus, um völlig unkontrolliert Adrenalin in seine Adern zu pumpen, seinen Atem in einen hyperventilierenden Rhythmus zu steigern und unabhängig von der jeweiligen Temperatur abartige Schweißausbrüche auszulösen. Waren diese Vorboten abgeklungen, legte sich eine virtuelle Garotte, eine unsichtbare Würgehand mit zunehmendem Druck um seinen Hals bis er scheinbar zu ersticken drohte. Übermannte ihn so ein Anfall zu Hause oder im Büro konnte er ihn mit einem in der einschlägigen Notfall-Literatur vorgeschlagenen Programm halbwegs abwenden. Er hatte eine Plastiktüte, in die er ein und ausatmen, ein Geduldsspiel, mit dem er sich ablenken und Magnesium, das er als Placebo verwenden konnte in Reichweite. Verheerend waren die Folgen unterwegs. Er konnte beispielsweise fünfmal unbehelligt und ohne darüber nachzudenken, durch einen Tunnel fahren. Beim sechsten Mal erdrückte ihn die tonnenschwere Last, die auf der Röhre lag, und er erreichte das Licht am anderen Ende im Zustand der absoluten Unzurechnungsfähigkeit. Beim achten Mal  konnte es genau umgekehrt sein. Er wollte nicht mehr ins Licht zurück, weil er wusste  oder auch nur ahnte, dass der Licht-Dunkelheit-Kontrast jenseits des "Geburtskanals" einen nächsten unkontrollierbaren Anfall auslösen würde.
  Von all dem durfte seine Umwelt natürlich nichts erfahren. Aber wie sollte das gelingen? Er musste in Flugzeuge steigen, er musste lange Autofahrten überstehen, er musste in oder vor großen Menschenansammlungen sprechen. Je mehr er sich zurückzog, um die Frequenz solcher Herausforderungen zu verringern, desto interessanter erschien er potenziellen Auftraggebern. Jene unterlagen wohl dem Trugschluss, dass einer, der sich zunehmend rar machte, sich das aufgrund seiner Fähigkeiten leisten könne. Mit einem Satz: Der halbseitig völlig außer Kontrolle geratene Johannes konnte sich vor hochwertigen Aufträgen nicht retten. Zögerte er bei der Annahme, so hatte das nicht etwa zur Folge, dass er diesen und weitere Aufträge verlor, wie das bei den meisten anderen Freelancern üblich war. Nein, man erhöhte stets das Angebot, bis die klar denkenden Überreste von Johannes' Matschhirn den sich zunehmend leerenden  Schädel doch noch zu einem müden Abnicken veranlassten. Eine Katastrophe war quasi programmiert.
  In den klaren Momenten, die zum Glück noch stets überwogen, gelang es Johannes, sich ein subjektives Krisenmanagement von neutraler Position aus angedeihen zu lassen, wie es ja auch Kunden von ihm als selbstverständlichen Service in Anspruch nehmen durften. Und darin gerade lag für ihn der Beweis, dass seine Schizophrenie nicht mehr abzuwenden war. Es sei denn, er versichere sich professioneller Hilfe, die ihn daran hinderte, dass sich der funktionierende endgültig vom gestörten Teil seiner Persönlichkeit abspaltete.
  Wieder einmal kam Johannes der Zufall zur Hilfe. Johannes verschlang in dieser Zeit  völlig unkritisch jedwede fachmedizinische oder populärwissenschaftliche Veröffentlichung über Krankheiten, obwohl er sehr wohl wusste, dass er meist eine viertel Stunde später, den schon reichlich vorhandenen alten Symptomen sämtliche der neu entdeckten Krankheit hinzugefügt haben würde. In der Süddeutschen Zeitung las er nun von einem renommierten Münchner Institut, das Versuchsgruppen zur Bekämpfung des so genannten "Panik-Syndroms" zusammenstellte und Probanden aus allen Berufsgruppen und Bevölkerungsschichten suchte.
  Wie nicht anders zu erwarten, war Johannes ein Wunschkandidat. Die Wissenschaftler unterzogen ihn EEGs, EKGs, Tomographien (damals der neueste Schrei) sowie mannigfaltigen Blut- und Sekrettests bevor sie ihn in eine Encounter-Gruppe mit Menschen ähnliche Symptomatik steckten.
  Es waren dies: Eine sexkranke Taxifahrerin in den Wechseljahren mit einem kombinierten Alkohol- und Drogenproblem. Ein U-Bahn-Führer, der nachdem ihm eine Selbstmörderin vor den Zug gesprungen war, in keinen Bahnhof mehr einfahren konnte. Eine junge Verkäuferin, die es geschafft hatte,  aus Angst vor ihrer Umwelt, besonders aber vor ihrem Vater eine Schwangerschaft bis kurz vor der Niederkunft zu verbergen. Insbesondere weil der Vater nicht nur auch der Vater des Ungeborenen, sondern schon seit dem neunten Lebensjahr ihr unfreiwilliger Bettgenosse war. Ein verkrachter Medizinstudent, der während seiner Zeit als Ziwi ausschließlich Leichen in die Pathologie zu chauffieren hatte und nun das dritte Mal nicht zum zweiten Staatsexamen gegangen war. Sowie ein Polizei-Beamter, dem die eigenen Psychologen nach der Abgabe eines tödlichen Schusses im Einsatz nicht mehr helfen konnten, und der in dieser Versuchsgruppe die letzte Chance sah, im Beruf zu bleiben.
  Johannes reagierte in für seinen Charakter typischer Weise. Er hatte das absurd karitative Bedürfnis, die Last aller in der Gruppe auf sich zu nehmen, weil er ihnen gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte, das sich gedanklich folgendermaßen manifestierte:
  "Diese Menschen haben so viel realitätsbezogenen seelischen Schmerz zu erleiden, und dann komme ich, bei dem nichts dergleichen solche Ängste auslöst, und stehle allen die Zeit."
  Je mehr die anderen von ihren schrecklichen Qualen preisgaben, desto schweigsamer und in sich gekehrter wurde Johannes. Mit jeder Offenbarung der anderen wuchs dieses - sein ureigenes - Schuldgefühl. Immer häufiger glaubte er, ersticken zu müssen, so dass er ein ums andere Mal aufsprang und den Therapie-Raum verließ. Die Therapeuten waren begeistert von dieser Entwicklung und sie sprachen sich entsprechend mit den übrigen Mitgliedern der Gruppe ab, um Johannes bei einem der letzten Treffen in besonderer Weise  zu fordern:
  Sie saßen alle bereits da, als Johannes pünktlich den Raum betrat. Es gab keine Begrüßung, und es fiel auch sonst kein Wort. Fünf Minuten verstrichen so, und Johannes fühlte sich zunehmend unbehaglich. Nach zehn Minuten brach sein Temperament  - wie es die Psychologen erwartet hatten - das nun für ihn unerträglich gewordene Schweigen mit einem aggressiven, gegen sich gerichteten Monolog, der die Qualen der Anderen in ein Unverhältnis zur  eigenen Angst setzte. Er nahm sich jeden einzeln vor und ließ dabei auch die beiden Therapeuten nicht aus, die er in den Stunden stummer Teilnahme ausführlich charakterisiert hatte. Den einen beschrieb er als sadistischen Wärter eines Kuriositäten-Kabinetts dem anderen unterstellte er - ausgerechnet er - einen unverhohlenen Hang zum Seelen-Voyeurismus. Von allen Genossinnen und Genossen schälte er das traumatische Kernerlebnis heraus und stellte dagegen eine seiner eigenen unwägbaren Ängste, um den Beweis zu führen, dass sie gar nicht in derselben Angst-Liga agierten. Dass er deshalb gar nicht hierher gehöre, quasi ein Panik-Scharlatan sei...
  Als die übliche Dreiviertelstunde vorüber war, erkannte Johannes, dass sein ganzer Vortrag ein Akt unfassbarer Arroganz gewesen war und er entschuldigte sich bei allen. Sein Herz klopfte allerdings nicht mehr so hart und das hohle Gefühl in seinem Schädel war einer nun deutlich spürbaren Trauer gewichen. Isolde, die Taxifahrerin machte - nachdem alle schweigend aufgestanden waren - den Anfang. Sie umarmte ihn, drückte ihren Körper fest an den seinen und meinte: "Ist es nicht völlig wurscht, was einem angst macht?" Der junge Kommissar Peter (bei einer viel späteren Begegnung mit dem völlig gesundeten und brillanten Hauptkommissar sollte er dessen Nachnamen - Kühn - und Dienststelle - LKA Bayern - erfahren) wartete bis alle gegangen waren, als er sich mit einem Blick der Erkenntnis an Johannes wandte:
  "Der Mann, den ich erschossen habe, der war real existierend. Er hat eine Kollegin bedroht und dann seine Waffe auf mich gerichtet. In der Erinnerung existiert ein genauer Film von diesem Vorgang. Er oder ich und vielleicht noch die Kollegin - das war der Entscheidungsspielraum, in dem ich reagieren konnte. Du hast nichts dergleichen. Deine Ängste lauern ja überall, ohne dass du sie konkret greifen könntest. Nein, von uns allen bist du wirklich die ärmste Sau!"
 In der Folge verschlimmerten sich Johannes Zustände. Die euphorisch enthusiastischen Therapeuten beruhigten ihn damit, dass sie damit gerechnet hätten und verabreichten ihm ein auch in den USA noch im Erprobungsstadium befindliches Medikament, dass er nach einem bestimmten Zeitplan dosiert an- und abschwellend (und in Intervallen auch absetzend) nehmen musste. Und sie schlugen ihm eine Fortführung der "Behandlung" in Einzelgesprächen vor, denn Isolde hatte sich bei Johannes' Monolog in ihn verliebt. In einer sehr aggressiven, vordergründig sexuellen  Form zwar, aber dennoch in einer desperaten Hilflosigkeit, der Johannes selbst nichts entgegen setzen konnte, weil er ja "schuld war". Sie reihte sich damit ein in diese Kette zum Teil abstruser Begegnungen, die Johannes in dem Tagebuch-Manuskript "Die Dramen der desperaten Damen" verarbeiten sollte.
 Hier nur eine kurze Leseprobe:

  Sie haben mich aus dieser Encounter-Gruppe herausgenommen, weil meine Präsenz angeblich den Kreis dominiere. In Wirklichkeit konnte keinem in der Runde entgangen sein, dass Isolde ihre Angst-Neurose mit einer starken sexuellen Komponente an mir festmacht. Sie hat in ihrer Art, sich zu kleiden, zu schminken, aber auch sich zu bewegen, diesen hinfälligen Reiz, den die Amerikaner "mature" nennen. Ich hätte in der Phase, in der ich Mitleid mit ihr gehabt hatte, nicht nachgeben dürfen. Jetzt kommt sie mir bisweilen vor wie ein Heuschreckenweibchen, dass ihre Partner nach der Paarung verspeist. Sie saugt meine "Ganglien" leer und beherrscht mich mit ihrem Spreizen und Flügelschlagen - vor allem wenn sie ihr Hinterteil aufstellt.
  Sie haben mich wegen ihr aus Personalmangel einer Lern-Analytikierin zugeteilt, die offenbar die Aufgabe gestellt bekommen hat, die Hintergründe dieser obsessiv zerstörerischen Beziehung zu ergründen. Nur, sie ist eine denkbar ungeeignete Gesprächspartnerin. Kleinwüchsig, unförmig, mit einer dicken Brille gegen ihre enorme Sehschwäche ausgestattet, wirkt die Endzwanzigerin blaustrümpfig wie eine menonitische Betschwester. Sie will mit unerschütterlicher Hartnäckigkeit mein Denken beim Eindringen und Verströmen in Isolde erforschen. Sie schluckt jedes Mal und läuft rot an, wenn ich ihr ohne Vorbehalt antworte. Ich befürchte, ich hatte an jedem Nachmittag meines Daseins mehr Vorkommnisse in Lebenserfahrung zu verarbeiten als dieses bedauernswerte Geschöpf in ihrem bisherigen Leben.
  Als ich heute die Therapiestunde verlasse, lauert mir Isolde auf dem Treppenabsatz dieses Altbaus auf… Ich bin erleichtert, weil sie einen ihrer überfallartigen Annäherungsversuche in derart exponierter Lage nicht wagen wird. Also bin ich relativ entspannt. Sie trägt einen leichten Fuchspelz, der zusammen mit ihrem im selben Ton gefärbten Haar und den hochhackigen Pumps aus Krokodilleder wie eine Werbung für Sexual-Neurotiker wirkt. Drunter trägt sie ein Wickelkostüm aus mauvefarbener Seide, das vorne klafft, wenn sie so dasteht. Sie fährt in so einem Aufzug tatsächlich nachts Taxi...
  Ganz drunter trägt sie gar nichts, wie ich nach einem judoartigen Klammergriff merke, mit dem sie meine Hand blitzartig an ihre rasierte Scham führt. Sie bringt ihr vom starken Schminken schon grobporig gewordenes Gesicht ganz nah an meines. Ich rieche die mir mittlerweile vertrauten Ausdünstungen einer Schwerstalkoholikerin, die sich mit ihrem schwülen Parfüm und dem Geruch ihrer sekündlich wachsenden sexuellen Bereitschaft mischen. Statt abgestoßen zu sein, merke ich, wie sie wieder Macht über mich gewinnt. Denn eines wird mir schlagartig klar, die einzigen Momente, in denen ich in letzter Zeit spüre, dass ich am Leben bin, sind diese exzessiv eruptiven Paarungsvorgänge an wechselnden, mitunter äußerst unpassenden Orten...
 
  Der Beginn des Jahres 1983 ist derart von Angst und Ungewissheit geprägt, dass Johannes auch wachsende Anfälle von Paranoia an sich registrierte. Zwei der Medikamente, die sie an ihm erprobt hatten, wurden zwischenzeitlich wieder abgesetzt. Das erste führte zu einer absurd schnellen Gewichtszunahme bei gleichzeitiger Erlahmung aller Antriebskräfte. Immerhin wurde er so Isolde auf relativ schmerzlose Weise los. Das zweite wurde ohne Kommentar durch ein neues Medikament in pinkfarbener Darreichungsform ersetzt. Das alte - stellte die Medical Tribune ein halbes Jahr später lakonisch fest - habe zu schweren Leberschäden und fast völligem Potenzverlust (!?) geführt. Das neue hilft ihm zumindest dabei, das Gewicht wieder zu verlieren. Erstmals nach Jamaika geht es Johannes wieder richtig gut. Zu Testzwecken begibt er sich auf eine ausgedehnte Reportagen-Reise durch die herbstlichen Neuengland-Staaten. Nicht nur die Reise selbst durchlebt er in entspannter Stimmung, auch die Ergebnisse seiner textlichen und  fotografischen Arbeit stellen ihn auch wieder selbst zufrieden. Er verspürt keine unterschwellige Abpufferung der Vitalität mehr wie beim Valium aber auch keine Berg- und Talfahrt wie bei der "Leber-Bombe".
  Er hatte also das Gefühl,  endlich einmal wieder der alte Johannes zu sein, als er sich - eine sehr laut warnende innere Stimme ignorierend - für die Olympischen Winterspiele 1984 in Sarajevo akkreditierte.
  Für zwei Monate fuhr Johannes in diesem Herbst wieder sein volles Programm. Die Arbeit machte ihm Spaß, zu Hause lief alles bestens, er liebte seine Familie und aalte sich in dem, was er von ihr an Zuneigung und Wärme zurück bekam: Life couldn't possibly better be - wie es in einem holperigen Refrain jener Tage hieß. Mit dem neuen Kräftezuwachs begann er auch wieder konsequenter zu planen, und da Gewicht und Fitness stimmten, setzte er auch seine sportlich athletischen Fähigkeiten in gewohnter Weise ein.
  Ende Dezember wurde turnusmäßig eine zweimonatige Einnahmepause des neuen Medikamentes verordnet. Die neue Darreichung sollte in anderer Dosierung samt Therapiegesprächen in der ersten Märzwoche wieder aufgenommen werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Johannes seit mehreren Monaten - auch bei dem Aufeinanderprallen mit der alkoholisierten Isolde nicht (!) - keinen Alkohol mehr zu sich genommen. Deshalb traf das mehrfach dringlich von den Ärzten ausgesprochene Alkoholverbot auch auf keine besondere Aufmerksamkeit. Seinen Freunden gegenüber bekundete er zum Spaß, er könne nun geradezu Bäume ausreißen und mache deshalb schon vorsichtshalber einen Bogen um jede Baumschule...
  Rückbetrachtet kamen ihm die ersten beiden Januar-Wochen wie Galgenhumor  bei einer verdrängten tödliche Gefahr vor, aber die chemisch gefärbte Wahrnehmung der Gegenwart suggerierte, er erlebe die beste Zeit seines Lebens. Sonst hätte er sich für das Lauberhorn-Rennen im Schweizerischen Wengen vermutlich nicht eine seiner Hals-und-Beinbruch-Reportagen im alten Stil vorgenommen.
  Der Weltcup-Klassiker der Abfahrt gilt durch seine außergewöhnliche Länge von über vier Kilometern vielleicht nicht als schwerster Abfahrtslauf wohl aber als größte Herausforderung. Zu jener Zeit vor zwei Jahrzehnten, gab es am Start noch die alte Abfolge der besten fünfzehn nach dem Weltcup-Ranking und Minutenabstände, also konzentrierten sich die TV-Kameras der Live-Übertragung auf die spektakulärsten Abschnitte: den Start, den Sprung über den Hundschopf samt Fahrt über die Minsch-Kante, den Hanegg-Schuss und das mörderischen Ziel-S mit dem letzten Sprung in diesen extremen Steilhang. Auch die Kamerafahrten von Ex-Rennläufern vor dem Start, die heute zum Übertragungsstandard gehören, gab es noch nicht. Mit zunehmender Materialverbesserung, Athletik der Starter sowie  ausgefeilterer Fahrtechnik wurde das Rennen jedoch zunehmend in Passagen gewonnen, die die Kamera meist nicht zeigte.
  Johannes hatte sich nun vorgenommen, seinen Lesern diese Passagen mit ihrer tückischen, nicht sichtbaren Problematik als Rahmenhandlung einer Reportage beschreibend nahe zu bringen. Mit einer satyrisch literarischen Anleihe bei Marcel Proust nannte er sie: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - im Schatten verblichener Siegesträume...
  Offiziell galt es zwar als unfein, aber jeder wusste, dass die Schweizer Abfahrer ein paar Tage früher als die Konkurrenz die Gelegenheit  nutzten, um eine paar zusätzliche Trainingskilometer auf ihrer kultigen Heimstrecke zu sammeln. Johannes konnte also seine persönlichen Recherchen unter Rennbedingungen anstellen, weil ein paar einheimische Streckenverantwortliche seine Reportage-Idee auch ganz lustig fanden. Johannes war ein guter Skifahrer, aber seine fehlende Tempohärte und die zwar gehobene, aber  doch nur amateursportliche Ausrichtung seiner Riesenslalom-Ski, und letztlich die Kondition  ließen eben nur die schnelle Befahrung der - isoliert betrachtet - leichten Passagen zu: also die flache Startpassage bis zum Hundschopf und dann nach der Misch-Kante die elendige, eisige Schrägfahrt entlang der Wengernalpbahn, durch deren Unterführung hindurch auf das Flachstück bis zur Einfahrt in den Hanegg-Schuss. Insgesamt also etwa zwei Kilometer, die der Fernseh-Zuschauer damals live nicht zu sehen bekam. Um "Vergnügungssüchtige" abzuschrecken, waren die Ein- und Ausfahrten der Schlüsselstellen ohnehin mit gekreuzten Slalomstangen und Plastikzäunen blockiert. Zwei, drei Mal war er die Passagen zum kennen Lernen wie ein Normal-Skifahrer entlang geschwungen. Für den späten Nachmittag am Tag vor dem offiziellen Trainingsbeginn war dann - aus Sicherheitsgründen nach Liftschluss - die  grenzwertige Tempofahrt vereinbart.
  Bis dahin schwebte Johannes auf einem Glücksteppich, als habe man ihm das Bewusstsein erweiternde Drogen (?) verpasst. Die Nachmittagssonne ließ  Eiger, Mönch, Jungfrau und Silberhorn wie die Kulisse aus einem Heidi-Film erscheinen. Die frostige Januarluft wirkte zudem wie ein Zoom. Das auf der gegenüberliegenden Talschulter wie ein Spielzeugdorf unter dem Schilthorn liegende Mürren schien nur einen Schneeball-Weitwurf entfernt. Dieser natürliche Kitsch ließ unter seiner Rennbrille wider Willen Tränen der Rührung fließen, so dass er ein ums andere Mal quasi blind vor larmoyanter Nostalgie abschwingen musste. Auf die Stöcke gestützt empfand er auf einmal eine überwältigende Dankbarkeit für dieses Leben, in die er den altehrwürdigen autofreien Ort mit einschloss. Er sah die livrierten Burschen, die mit Hotelnamen beschrifteten Mützen trugen und auf ihren Elektrokarren unermüdlich Gepäck oder Menschen hin und her transportierten. Er nahm wahr, dass die Wengernalpbahn, um den Ansturm der Besucher zu schaffen, nun auch neben den modernen Triebwagen die alten Züge einsetzte und stellte sich dabei vor, dass es so viel anders zu Zeiten von Sir Arnold Lunn fünfzig Jahre zuvor auch nicht ausgesehen haben mag. Die anhaltende Euphorie lenkte ihn in die Eiger-Bar, nachdem er auf der von den Hotelbauten umgebenen Schneefläche im Zentrum seine Ski abgeschnallt hatte. Die Happy Hour war nicht nur wegen des  Alkoholverbotes normaler Weise nicht so seine Sache, aber Johannes hoffte, ein paar Service-Leute und Trainer zu treffen, mit denen er seine Theorien diskutieren konnte, ohne sich selbst allzu tief in die Karten gucken zu lassen.
Als er die Bar betrat, schlug ihm dieser typische feuchtdumpfe Skihütten-Mief entgegen, der von schweißfeuchten Daunenjacken und mehrmals getragenen Pullovern ausging. Dass ganze erhielt dadurch noch eine profunde Note, dass, die Berufsskifahrer, die den ganzen Tag in ihren harten Renn-Schlalenstiefeln gearbeitet hatten und noch nicht im Quartier waren, ihre Stiefel im Windfang ausgezogen hatten. Über der Bar hing quasi zur Strafverschärfung eine dicke Wolke aus den Virginia-Stumpen, die Dank eines Sponsors beim "fahrenden Personal" dieser Winter sehr populär waren. Hella, die zierliche Barfrau, die eigentlich Österreicherin war aber  Schwyzerdütsch schwätzte, bändigte jeden Abend diese wilde Horde mit Bravour, weil sie bei jedem Männerthema sach- und fachkundig mitreden konnte.  Obwohl sie  in diesem Nebel kaum auszumachen war, stellte sie Johannes in diesem Chaos ohne Order und Sichtkontakt seinen gespritzten Apfelsaft hin. Zwei der eingeweihten Streckenposten standen am Eck und riefen so laut, dass alle es hören konnten:
  "Hämma die verluschtige Ziet uffgschtöbert?"
  "Ja, es sind mindestens zwei Sekunden!" Gab Johannes zurück - was eigentlich als Scherz gemeint war. Aber Heri, ein grantelnder, kleiner Oberbayer im Dienst eines französischen Skiherstellers, der als Hexenmeister schon die Ski mehrerer Olympiasieger präpariert hatte und Johannes allein wegen des Hochdeutsches, das er sprach, nicht leiden konnte, hakte humorlos sofort nach:
  "Wirst wieda an rechtn Schmarrn schreim, du Saupreiß!"
  Da wollte Johannes natürlich ordentlich zurückgeben und wandte sich - den Bayern ignorierend - an den neben Heri stehenden Lois Lammthaler, einen  den Rübezahl gebenden Salzburger, der die Rennski eines österreichischen Herstellers herrichtete:
  "Der Heri kann sich jetzt gleich und noch zwei Nächte in den Wachskeller stellen. Er wird nicht verhindern, dass dein Ami am Samstag gewinnt!"
  Der Ami, war ein Ski fahrender Freak, wie ihn die Amerikaner in schöner Regelmäßigkeit schon immer ausgerechnet in Olympia-Wintern präsentierten. Dieser hieß Bill Johnson und stand auf dem Ski von Lois' Arbeitgeber  wie eine Spinne, der man vier Beine - zwei auf jeder Seite - ausgerissen hatte. Was Außenstehenden den Eindruck vermittelte, dass er eher von seinen Ski gefahren wurde, als sie tatsächlich selbst zu beherrschen. Arroganter Weise, bezeichneten die Österreicher, die ein paar Wochen später das schlechteste Abschneiden ihrer Olympia-Geschichte zu verkraften haben würden, diesen Mann als "Nasenbohrer".
  In Wahrheit verfügte Johannes über keinerlei Erkenntnisse, die diese kühne Prognose hätte fundiert rechtfertigen können. Es war irgend etwas wie Instinkt gepaart mit unterbewussten Wahrnehmungen, die ihn nun nicht nachgeben ließen, als ihn alle unter Gelächter in eine Wette treiben wollten. Dabei hatte er sich doch geschworen, nie wieder vabanque zu spielen:
  "Hella mach die Bank! Ich zahl jedem zehn, der mit fünf Franken gegen mich  und Bill Johnson wettet!"
  Fast jeder in der Bar wettete gegen ihn, so dass er am Ende fast dreihundert Franken eigenes Geld in den Deckelkrug stecken musste, den Hella dann wegschloss. Den eigentlichen Fehler machte er jedoch, als der Lois ihm gegen die Aufregung einen Enzian aufnötigte. Der Hochprozentige haute die Spannung aus seinem verkrampften Körper und verlangte gleich nach einem Nachfolger. Hella bot ihm die erste Zigarette seit Monaten an, und er nahm sie, weil er tatsächlich Lust auf sie hatte. Schließlich mussten die durch den Alkohol erweiterten Gefäße durch die verengende Wirkung des Nikotins wieder auf normale Strömungsgeschwindigkeit gebracht werden...
  Nein, er war wirklich noch nicht betrunken, als er zum Abendessen im Hotel eine halbe Flasche eines hervorragenden Saint Emilion Montaguer aus dem Jahre 1978 bestellte - nur beseelt, weil es ihm so unendlich gut ging. Er war auch im Nu entspannt  eingeschlafen...
  Wohl zur halben Nacht baute sich in seinem Traum dann ein weit ausladender Baum auf, der ihm die Sicht auf das übrige Traumgeschehen nahm. Es war ein schöner Baum, eine majestätische Buche vielleicht oder gar eine Eiche. Strotzend vor Kraft und Schönheit konnte Johannes ihn jedoch nach einer Zeit des sich wiederholenden Auswucherns nicht mehr als Ruhepol empfinden. Die das Sichtfeld völlig beherrschende Größe wuchs sich zu einer Panik machenden Bedrohung aus. Ein ums andere Mal ließ ihn die hyperventilierende Atemfrequenz aus dem tiefen Schlafbereich auftauchen in einen halb wachen Zustand des dahin Dämmerns. Er nahm dann sein Hotelzimmer wahr und registrierte den Nachtschweiß, der sein Kissen in eine eisige Masse verwandelte, weil er trotz der herrschenden Minusgrade bei weit offenem Fenster und zurück gezogenen Gardinen schlief. Einsamkeit und Trauer bemächtigte sich seiner und drückte ihn schwer in die Tiefschlafphase zurück, in der sich unverzüglich wieder der Riesenbaum in den Weg stellte. Er begann ihm auszuweichen, wollte ihn umgehen, aber der Baumriese ließ ihn nicht vorbei. Dann nahm er alle Kraft zusammen löste sich vom Boden in der Hoffnung, er könne ihn überfliegen. Doch je höher er stieg, desto mächtiger reckte sich die Krone dieses grünen Monsters. Bei einem erneuten Angriff begann er den borkigen Stamm hochzuklettern und gelangte damit in das Labyrinth des Geästes. Durch Laub und Zweige erkannte er jenseitig das Blau des Himmels und das warme Licht der Sonne. Dort wollte er hin, doch die Kletterei von Ast zu Ast schien einfach nicht zu enden. So bald er sich jedoch nur für einen Augenblick zum Ausruhen auf einem Ast niederließ, stieg er wieder zur Oberfläche des Traumes auf, nahm wahr, dass die Verdunstungskälte seine frei liegende Schultermuskulatur zunehmend zu einem Eispanzer erstarren ließ. Unterbewusst griff er nach dem zweiten Kissen im Bett und drehte seine Bettdecke. Der kurze Kälteschock des trockenen Bezuges, der sich rasch erwärmte, sorgte für ein wenig Entspannung. Beim erneuten Abtauchen gelang ihm der Durchbruch. Er ließ den grünen Baumriesen endlich hinter sich und blickte auf der anderen Seite in einer winterliche Traumlandschaft und Hänge die unschwer als die des Lauberhorns zu erkennen waren. Er begann sie in weiten, fliegenden Schwüngen zu befahren, aber dieses Glücksgefühl war nur von kurzer Dauer, denn Bill Johnson raste als Spider-Man an ihn heran und griff nach ihm. Durch das ohrenbetäubende Rauschen der Fahrt schrie der in seinem grausigen Los-Angeles-Slang:
  "Beware of my secret! This is floating!"
  Dazu schlugen die Glocken aus dem Tal und Alarm drang schrill in sein Ohr. Johannes brauchte eine Zeit bis er realisierte, dass die wahre Sonne im Geviert seines Fensters über die Kante des Lauberhorns fingerte, es neun schlug und er gleichzeitig seinen Weckruf bekam. Er hatte keinen Kater, das war mehr. Das musste so etwas wie ein "Cold Turkey" sein, ein Zustand, von dem er gelesen hatte, dass er bei Drogensüchtigen auf Entzug vorkam. Im Bad trank er - so schien es ihm - die halbe Wasserleitung leer und war immer noch durstig. Er klatschte sich das eiskalte Wasser ins Gesicht und sah dann sein Spiegelbild, das ihn jäh zurückschrecken ließ. Die Skifahrer-Bräune der letzten Tage samt der entspannten Erholung war aus ihm gewichen. Unter seinen Augen warfen dicke Tränensäcke tiefe schwarze Schatten. Seine geweiteten Pupillen drängten seine gestern noch strahlend blaugrüne Iris als schmale Farbringe an das rotgelb marmorierte Weiß seiner Augäpfel, die sich tief in die Höhlen zurückgezogen hatten.
  "Did you ever see a picture of Pope Paul - his eyes are sunken and his cheeks are hollow", stimmte Johannes leise den Song von Donovan an. Dann  packte ihn mit einem Schüttelfrost, der ihn zu Boden zwang, die jähe Erkenntnis, dass ihn das unheimliche Syndrom wieder zurück in seinen Bann gezogen hatte.
  Entsprechend gespenstisch verlief der Vormittag an der Schreibmaschine. Das reale Ich tippte zwanzig, dreißig Minuten mit dem Tempo einer Flucht vor  tödlicher Bedrohung einen hektischen Text aufs Papier. Die Syntax passte jedoch erstaunlich gut zum Thema, so dass die Dämonen der Nacht, die auf Johannes Schultern saßen, sich zunächst ruhig verhielten wie ein rastender Krähenschwarm auf einer Überlandleitung. Als sich  jedoch der Text einem Stadium näherte, in dem die geplante Live-Schilderung der Streckenpassagen eingepasst werden sollte,  begann der Schwarm zu flattern, brach der Konflikt los. Der Teil seiner selbst mit gesunder Vernunft riet Johannes, in dieser psychischen und physischen Verfassung von dem Vorhaben Abstand zu nehmen, die Geschichte hätte auch so Hand und Fuß. Die abgedriftete Hälfte verlangte jedoch, dass im Traum erlebte "Floating" zumindest mal auszuprobieren. Was schon verrückt genug war, weil das nun im beinahe halbstündlichen Gang vom Schreibtisch zur Toilette  erforderliche (da mengenmäßig drängende) Wasserlassen allein schon die Kraftreserven verschlang. Gegen Mittag war Johannes auf die Tastengröße seiner Reiseschreibmaschine geschrumpft und tippte quasi, indem er von Buchstaben zu Buchstaben hüpfte, als sei er jetzt selbst eine der traumatischen Krähen.
  In der sachlichen Erkenntnis, dass der Wahnsinn ihn nun übermannt habe, warf er sich vom Schreibtisch mit einem verzweifelten Satz auf das Bett und war eine Sekunde nach der Landung in einen tiefen traumlosen Schlaf gesunken.
  Als er erwachte, hatte der klare Verstand wieder das Regiment übernommen. Er registrierte, dass er bis zum Abstellen der Lifts und seiner Verabredung nur noch eine Stunde hatte. Die Antriebsschwäche hatte ihn mit beiden Händen an der Gurgel gepackt und drückte gleichmäßig fest zu. Die Willensstärke, die ihn in seinen elastischen Overall zwang, das Anziehen der extrem harten Lange-Boots zuließ und das Zusammensuchen aller übrigen Utensilien koordiniert ermöglichte, überraschte ihn. Allerdings war er bereits am Ende seiner Kräfte als er in der Gondel der Männlichen-Bahn stand, die ja die erste wirkliche Prüfung darstellte. Bei dem herrlichen Wetter war sie gerammelt voll, jeder schien noch in der Nachmittagssonne eine letzte Runde ums Lauberhorn machen zu wollen. Er hatte sich gleich beim Gondel-Führer neben das herunter geschobene Fenster in den frischen Luftzug gestellt, dennoch packten ihn Einengungs- und Höhenängste gleichermaßen. Die einsetzende Hyperventilation - noch dazu in dieser Höhe - drohte, noch vor Erreichen der Bergstation, in einem Kollaps zu enden. Oben angekommen stürzte er ins Freie und lag gleich darauf mit dem Kopf nach unten in einer  ungewalzten Schneefläche. Dort verharrte er so lange, dass sich schon die ersten erkundigten, ob es ihm auch gut ginge. Also rappelte er sich beschwichtigend auf, stieg in seine frisch präparierten 210 Zentimeter langen Super-G-Ski und machte sich über die Lifts und Abfahrten auf der Grindelwalder Seite  auf den Weg zur kleinen Scheidegg und zum Start.
  Er hatte die Veränderungen mit dem Lois diskutiert.  Ein Ski für den 1982 neu eingeführten Super-Riesenslalom - eben eine Mischung aus Abfahrt und Riesenslalom - erforderte beide Eigenschaften. Das vordere Drittel war weicher und gut gedämpft, die zunehmende Härte begann etwa eine Fußlänge vor der Bindung und endete in einer harmonischen Biegelinie im letzten Fünftel der Skilänge, die wieder weicher war. Johannes hatte den Servicemann gebeten, seine Ski in den weichen Bereichen fast alle Kantenschärfe zu nehmen.
  Die Rückmeldung, die er beim Einfahren von seinen Ski bekam - vielleicht aber auch der Fahrtwind - schaltete seinen Verstand auf reguläre Kraftversorgung und volle Konzentration. Er war urplötzlich bereit für das Wagnis. Im Starthaus reichte ihm einer seiner Bekannten einen Sturzhelm. Ohne dürfe er nicht auf die Piste. Johannes hatte ja noch nicht einmal vor, in die Hocke zu gehen, aber er akzeptierte, denn es war ihm auch klar, was für ein Privileg ihm eingeräumt worden war.
  Die Pistenpräparierung für das erste offizielle Training am kommenden Vormittag sollte erst in der Nacht erfolgen, deshalb waren noch die Spuren der Schweizer  Abfahrer-Truppe als Orientierungshilfe zu sehen. Schon auf dem ersten Teilstück, dem Startschuss auf dem Weg zum großen S war klar, dass er mit den flach gestellten Ski nicht aufrecht bleiben konnte, wenn er halbwegs in der Nähe der anderen Spuren bleiben wollte. Er hatte sich das viel zu einfach vorgestellt. Die Beschleunigung, die schon das halbherzige Beugen der Knie auslöste, war verblüffend. Das Tempo berauschte ihn derart, dass er nicht die Spur von Angst verspürte, und nun riskierte er auch das "Floating". Natürlich erreichte er nicht annähernd  die  Renngeschwindigkeit, aber auch so war schon festzustellen, dass die schwimmenden Skispitzen mit wenig Kraftaufwand bei neutral verteiltem Gewicht in den flachen Kurven zwar einen anderen Radius verlangten, aber dafür kein Kanteneinsatz die Geschwindigkeit beeinträchtigte.
  "So macht's der Johnson also", stellte Johannes befriedigt fest, als er wenig später mit Schneepflug und Seitrutschen Hundschopf und Minsch-Kante hinter sich ließ.
  In der mitunter an eine Bobbahn erinnernden Schrägfahrt bis zur rechtwinkligen Einfahrt zur Bahnunterführung wurde seit jeher über die richtige Linie gestritten. Ein Bob ist dann am schnellsten, wenn er sich ohne hartes Steuern auf schnellen Kufen in der Physik der Bahn bewegt. Wieso sollte also ein Skirennläufer dieser Passage und ihren zwei annähernd rechtwinkligen Kurven mit viel Kraft seinen Willen aufzwingen, um hoch mit den Kanten an die linke, obere Wange gekrallte auf dem kürzesten Weg zu bleiben? Johannes überließ es seinen Ski, den "natürlichen" Weg durch diesen Abschnitt zu finden. In seinen Dimensionen war er schnell und fuhr vollkommen ohne Kraft, indem er bei den Kurven die Überhöhungen als Linienvorgabe wählte. Er war jedoch überrascht, wie schnell die Streckenposten, die ja sein Kommen entlang der Strecke per Walkytalky weitergaben, doch an ihm vorbeihuschten. Sechs Jahre später musste Johannes beim Fernsehen schmunzeln, als der Deutsche Hans-Jörg Tauscher als einziger in der berüchtigten "Rattlesnake" von Vail mit diesem Trick als Außenseiter (wie Johnson einer war), den Weltmeistertitel holte.
  Wenn es vielleicht nicht schneller war, dann hatte das "Bobfahren" zumindest einen Vorzug, den auch Johannes spüren konnte. Es ging mit deutlich weniger Energie-Verbrauch aus dem "Brüggli-S" und der Bahnunterführung heraus in das gefürchtete flache Gleitstück bis zur Einfahrt in den Hanegg-Schuss.
  Auf Langentreien, in der Passage, in der selbst beim Rennen für ein paar Sekunden entspannt werden könnte, lauerte dort nicht für schlechte Gleiter der Zeitverlust, wurde Johannes urplötzlich von den Würgehänden seiner Psychose gepackt. Während er noch versuchte, die flach gestellten Ski nur mit leichtem Druck zu lenken, hatte er das Gefühl auf eine Körpergröße zu schrumpfen, die ihn gerade noch über die Ränder seiner Stiefel schauen ließ. Die Flache Alm dehnte sich zu einer unendlichen Schneewüste aus, die Richtungstore auf die er zufuhr, ragten in bedrohlicher Größe vor ihm auf und jagten ihm nackte Angst ein. Eine schreiende Angst - wie es ihm vorkam. In die Panik, die ihn packte, mischte sich gleichzeitig eine bisher nie gekannte selbstmörderische Todessehnsucht. Diese Hohlköpfigkeit schien ihm nur noch einen Gedanken übrig zu lassen: Mach Schluss!
  Dieser Befehl gewann in dem fatalen Bruchteil einer Sekunde die Oberhand, in der er längst vor der Einfahrt zum Hanegg-Schuss hätte abschwingen müssen. Aber er konnte das ja nicht. Er wäre viel zu klein gewesen, die riesigen Ski samt Stiefel so hart zu steuern. Und wäre das nicht die Erlösung, die Lösung für alles? Mach Schluss!
  Die Sperren und Zäune waren noch nicht wieder aufgestellt. Mach Schluss!
Jetzt, da er über die Kante in das steile, schattige Band kippte, kam ihm diese wache Besinnungslosigkeit wie ein Segen vor. Der River Of No Return.  Mach Schluss! Der Delinquent drückte mit dem Strick um den Hals gewissermaßen den Abzug der Pistole, die er sich an die Schläfe hielt. Mach Schluss! Johannes fixierte den Stelzenstadel links unten neben der Strecke. Mach Schluss! Er würde gar nicht so weit kommen. Zwar hatten sie am Ende vom Hanegg-Schuss, die Wellen genommen, die Karl Schranz in den 1960ern so meisterhaft wegdrücken konnte, dass man sie bei seinen Fahrten meist gar nicht bemerkte, doch würde ihn allein der Druck beim Übergang ins Flache erledigen.
  Das waren ja auf einmal ganz normale Überlegungen, die da Johannes - nun wieder in Normalgröße und tiefer Hocke - anstellte. Wo hatte sein Verstand ausgesetzt? Rette dich! Bleib am Leben, du Narr!!
  In diesen Bruchteilen einer Sekunde, stellte er auch fest, dass die unwägbare Angst ihn wider verlassen hatte, obwohl das Tempo nun wirklich beängstigend war. Ein grimmiges Lächeln erstarrte im eisigen Fahrtwind. Was für ein standesgemäßer, spektakulärer Tod. - Du Arschloch! Rette dich! Bleib am Leben, du Narr!
  Für die Pistenraupen war in den Sicherheitszäunen dort eine Lücke gelassen worden, wo ein Ziehweg durch den Bannwald links zu einem Schlepplift führte. Ein Ausweg? Würden seine fahrtechnischen Fähigkeiten ausreichen, noch jetzt im Steilen einen Kurvenradius einzuleiten, der ihn rettete. Bleib am Leben, du Narr! Wenn er doch nur die Kanten hätte... Aber da waren sie ja! Die Geschwindigkeit war so hoch, dass der Ski im Bindungsbereich ohne großen Kraftaufwand reagierte. Rette dich! Rette dich! Rette dich!
  Johannes streifte eine der Plastik-Slalomstangen an denen die leuchtend orangen Sperrzäune befestigt waren. Ein Schlag, der sein Schulter-Gelenk lähmte, ihn aber nicht aus der Bahn warf. Ausgerechnet in der Mitte des Ziehwegs, der zu schmal war, um groß Bremsversuche zu wagen, standen zwei Grüppchen Skifahrer zusammen. Johannes Schrie. Er schrie seinen Irrsinn heraus, aber er wagte es nicht, bei diesem Tempo seine stabile Position auf den Ski aufzugeben. So sahen die Leute im Ziehweg nur einen offenbar Wahnsinnigen auf sich zu rasen und brachten sich mit einem Sprung in den Wald in Sicherheit.
  Eine Katastrophe war abgewendet, aber der Ziehweg mündete wenige Meter über einer Skihütte waagerecht in einen Skihang ein. Was, wenn da noch welche in der Abfahrt wären? Ein weiteres spektakuläres Manöver: Durch den lichteren Waldrand glaubte Johannes zu sehen, dass er eine scharfe  Kurve bergauf wagen konnte. Da fuhr niemand. Noch auf dem eisharten und spiegelglatten Ziehweg, von dem es bei dem immer noch hohen Tempo seitlich kein Entrinnen gab, zog er einen imaginären Radius ansetzend, den Schwung. Und wieder reagierten die Ski wie ein treues Reittier auf Flankendruck.
  Für die Leute, die  auf der Terrasse der  Hütte in den letzten Sonnenstrahlen ihren Dämmerschoppen nahmen, muss es wie ein Kunststück ausgesehen haben: Ein Irrer fuhr im hohen Tempo den halben Hang hoch, stieg von einem Längsbuckel mit einem enormen Sprung in die Abendsonne und vollzog in der Luft eine Kehrtwende, die ihn nach der Landung in einem langen, eleganten Schwung an ihnen vorbei in Richtung Innerwengen führte.
  Nur für einen Moment hatte Johannes wegen der Gefährdung von Mitmenschen ein schlechtes Gewissen, dann überwältigte ihn ein bisher nicht gekanntes Rauschgefühl. Glasklar speicherte er jedes Geräusch, jeden Geruch, ja die geringsten Details wie unter einem Mikroskop. Er war am Leben. Er war am Leben geblieben. War das wirklich ein Selbstmord-Versuch gewesen? Nein, nein, er war Opfer eines krankheitsbedingten Aussetzers gewesen. Er war am Leben!
  Noch im nicht abgeklungenen Adrenalin-Hoch schrieb er seine Geschichte fertig und gab sie telefonisch durch, damit sie am Samstag vor dem Rennen erscheinen konnte. Danach ging er direkt in die Eiger-Bar, um seinem Bekannten den Helm zurückzubringen...
  Er wurde nicht freundlich empfangen. Der Lois stieß ihn mit seinen Schaufelhänden vor die Brust und trieb ihn schubsend den Tresen entlang bis vor die Toiletten-Tür:
  "Ham's da an Einlauf im Oberstüberl g'macht? Is da untam Hoim zu hoaß g'woan. Host du net g'seng, dass mia do g'messn hom?" Du g'herst wiakli fortg'sperrt du Wahnsinniga!"
  "Es tut mir leid, Lois. Ich war für einen Augenblick unkonzentriert, hab das Abschwingen verpasst und dann nur noch reagiert."
  "Woansinn! Auf de Zwoazehna im Hanegg! Du host no am Weg in unsana Liachtschronkn Hundatdraiazwanzg Kaemha draufg'hobt. Mia bau'n schon woansinns Ski!"
  Johannes hatte nichts dazu gelernt - in der vergangenen Nacht nicht und nicht an diesem Tage. Er war am Leben, aber es war nicht klar ersichtlich, weshalb. Um die Szene nicht wieder und wieder durchzugehen, schluckte er wieder und wieder einen Enzian. Einen Schnaps, den er eigentlich verabscheute, aber den er - so lange er stand - in Unmengen vertrug.
  "I'm still standing!", sang er triumphierend als nur Hella und er noch in der Eiger-Bar übrig geblieben waren. Nachdem sie die Kasse gemacht hatte, streifte sie ihn beim Aufräumen mehrfach und unmissverständlich mit knallhart erigierten Brustwarzen unter ihrer Chiffonbluse.
  In dieser unermüdlichen Nacht vor dem ersten offiziellen Training, die Johannes jegliche Chance nahm, wieder Alpträume zu erleben, erhob Hella unbewusst Anspruch darauf, in das Tagebuch der Dramen mit desperaten Damen aufgenommen zu werden. Ihr Kapitel sollte das tragischste werden - aber das sah Johannes zum Glück ausnahmsweise nicht voraus.
  Als habe die erlebte Todesnähe bei ihm eine Gier nach Leben entfacht,  durchlebte er die Tage bis zum Rennen unwirklich wie im Carnival auf Trinidad. Am Samstag überreichte ihm ein missmutiger deutscher Kollege ein Exemplar der Wochen-Zeitschrift, aber er fand seinen Artikel nicht im Sportteil. Als er das Blatt enttäuscht zurückgeben wollte, meinte der Kollege mit einem resignierten Lächeln:
  "Du musst im Feuilleton nachschauen! – Hemingway!"

Bill Johnson gewann, die 47. Lauberhorn-Abfahrt, was jenen nicht glücklicher und Johannes zwar  um ein paarhundert Franken reicher, aber in der Szene keineswegs beliebter machte...

Dienstag, 17. September 2013

Gaby

  Johannes hatte drei Mütter: Vera sechs -, Ulla neun - und Rita, die die ihn wirklich unter fast zehnmonatigem Leiden während der Währungsreform geboren hatte, 31 Jahre älter als er selbst. Je nach Reifegrad waren die Erziehungsversuche der drei weniger abgeklärt und dafür dann mehr von dem Willen geprägt, Macht auszuüben. Es wäre nur zu verständlich gewesen, wenn der Volksschüler in der Phase seines Heranwachsens unter diesen Umständen ein Mädchen-Verächter geworden wäre. Wie die anderen sieben- bis zehnjährigen Buben, die die anscheinend immer kichernden, Grüppchen bildenden Dinger schlicht "oll" fanden.
  Johannes war rückblickend  fest davon überzeugt, dass die Orientierung zum späteren Frauen-Versteher bereits in der zweiten Klasse ihren Ursprung hatte, weil er Gaby Petersen auf dem Schulhof einmal unbeabsichtigt an der Innenseite ihres linken Unterarms berührt hatte.
  Die unvergessliche süße Wonne dieses elektrisierenden Kontaktes war unschuldige Erotik und pure Sinnlichkeit - ohne eben das Wissen um Sex oder gar den schwer greifbaren Begriff der Liebe. Gaby war eine ganz normale Siebenjährige. Sie war durchschnittlich groß, trug ihr brünettes Haar in dem damals offenbar obligaten Pferdeschwanz, und obwohl es schon die ersten Jeans gab, bestand sie auf adretten Faltenröckchen mit Schottenkaros, die über den pummeligen Knien endeten und von einer großen Messing-Sicherheitsnadel zusammengehalten wurden. Dazu die passenden Kniestrümpfe, Lack-Schnallenschuhe und nach englischem Vorbild einen Sweater mit Phantasie-Wappen, dessen Ärmel zu den Ellbogen geschoppt wurden. Das gab eben die besagten Unterarme frei, die Johannes immer wieder versuchte, im Spiel kurz zu umfassen. Selbst als erwachsener Mann bei erwachsenen Frauen, die ihn interessierten, war er manchmal noch auf der Suche, nach diesem besonderen Kick, der ihm stets mehr gegeben hatte, als Händchen zu halten: Es war diese samtige weiche Haut, die nicht direkt auf der Muskulatur liegt, sondern von einem Hauch Unterhautfettgewebe zart gepuffert wird. Sie verlangte nur ein Tasten und leichtes Streifen mit den Fingerkuppen - um für den kleinen Johannes schon unwissentlich zu einer Obsession zu werden.
  In der späteren Phase seines ausgestoßen Seins, empfand er neben der latenten Angst vor dem Terror seiner Mitschüler vor allem den Entzug von Gabys Unterarmen als schmerzlichsten Verlust. Dieser erzwungene Abstand verschaffte ihm aber  andererseits  auch die Möglichkeit zur Erkenntnis durch Beobachtung.
  Gaby definierte und kontrastierte sich nämlich ausschließlich über ein anderes Mädchen aus der behüteten Parkstadt: Sabine Meyer, das Nachbarskind. Das war eine sehnige, spitzzüngige Blondine, die etwas größer war als die puppenhafte Gaby und diese vollständig dominierte. Auch "Bine" (gesprochen Bü-nöö) hatte einen Pferdeschwanz, aber der war natürlich länger und sie achtete darauf, dass er kecker wippte oder dramatisch geschleudert wurde. Die Faltenröcke über ihren sportlich trainierten Beinen waren kürzer, und ebenso trug sie die damals schicklichen zusätzlichen Spielhöschen drunter - nur sorgte sie dafür, dass die Jungens sie ein paar Mal häufiger zu sehen bekamen. Wenn er Gaby zum Geburtstag einlud, kam sie nicht ohne Sabine, und die bestimmte was man machte. Wenn Gaby Johannes heimlich zum Spielen in Ihrer Straße aufforderte, bekam Sabine unweigerlich Wind davon und brachte beide auseinander.
  Als Johannes ganz unten war, kamen sie einmal über den Schulhof auf ihn in seiner Diaspora zu stolziert, und nur "Bine" sprach: "Früher haben wir Dich mal geliebt, aber jetzt finden wir Dich nur noch doof und ekelhaft!" Das war hart, und voller Trauer versenkte er seinen Blick ein letztes Mal - wie er glaubte - in Gabys Augen, die in Tränen schwammen...
  Dann aber kam die immer nackte Christiane vom FKK-Strand, die sich in seinem Beisein den Sand aus den Schamlippen spülte, ihn aufforderte beim Pippi Machen in den Dünen Wache zu stehen und ihn frech in den blanken Hintern zwickte, wenn ihr danach war. Mit einem Satz hatte sie sein Leben wieder auf Kurs gebracht. Im Rückblick sinnierte Johannes oft, ob die Mädchen wohl später als erwachsene Frauen diese signifikanten Typen geblieben sind: Christiane, die direkte auf natürliche Art Anpackende. Gaby, die stille Dulderin und Sabine, die berechnende Kokotte. Aber war denn Johannes zu dem signifikanten Männertypus geworden?
  Weil Sabine mit dem Johannes "verordneten" Freund Stefan gehen wollte, wurde Gaby am Ende der vierten Klasse wieder Johannes zugeführt. Die war sichtlich erleichtert und versuchte, Vergangenes vergessen zu machen. Nicht mit Worten, denn Reden war ja nicht ihre Stärke, aber durch Gesten, Blicke und auch Berührungen. Immer wieder tastete Johannes auch nach ihren Unterärmchen, die sich immer noch gut anfühlten...Aber diese den Atem stoppende Elektrizität war fort.
   Heute sprechen die Chronisten auch in puncto Sexualität gerne von der Goldenen Generation, und zunehmend mischen sich zynische oder gar sarkastische Erkenntnisse als eine Art Abrechnung in die Analyse. Aber wie setzt man eine Made im Speck, die nie ein anderes Umfeld kennen gelernt hat, in den Stand der Erleuchtung, dass Verzicht, Vorsorge, Bewahren und Sichern der Quellen zu einer sinnvollen Lebensplanung über die eigene Existenz hinaus gehören? Johannes und seine Spielgefährten wurden in eine Welt geboren, in der ihre Eltern zwischen Angst (Gefahr eines erneuten Weltkrieges mit Einsatz von Atomwaffen) und unerschütterlichen Zweckoptimismus (schaffe, schaffe Häusle baue!) hin und her gerissen wurden. Es schien, als wolle die Menschheit alles auf einmal hineinpacken in die letzten fünfzig Jahren des zweiten Jahrtausends christlicher (!) Zeitrechnung...
  Transport-, Kommunikations-, Computer- und Raumfahrttechnologie einerseits und der Eingriff in menschliche Lebenszyklen andererseits. Es darf bezweifelt werden, ob die Menschheit durch die Landung des ersten Mannes auf dem Mond tatsächlich jenen bedeutenden Schritt gemacht hat. Die Erfindung und Weiterentwicklung der Antibaby-Pille und die Entschlüsselung der DNA jedoch versetzte sie in die Lage, sich in Dinge einzumischen, die gemäß ihrer eigenen religiösen Lehren eigentlich dem "lieben Gott" vorbehalten waren.
  Indem diese Generation ihre Sexualität erfahren und ausleben konnte wie keine zuvor, hätte sie wirklich "golden" im Sinne von glücklich werden können. Aber die individuelle Neigung - der Schlüssel zur Befriedigung und gegebenenfalls auch zur Harmonisierung von Sex und Liebe - wurde durch vermasste Leitbilder kategorisiert.
  Die Diskussion über Sexualität - Jahrhunderte allenfalls von humanistischen Intellektuellen im Verborgenen geführt - wurde binnen eineinhalb Jahrzehnten zum Thema Nummer Eins.
  Sexuelle Moral beispielsweise im Zeitraffer des Mediums Kino: Willi Forsts Film "Die Sünderin", in dem Hilde Knefs Busen und Rückenpartie kurz unbekleidet  zu sehen waren, sorgten 1950 zusammen mit der ebenfalls nur wenig verhüllten Thematisierung von Freitod und Euthanasie für eine der letzten Feldschlachten der Amtskirche mit der Kunst. Der FSK - der freiwilligen Selbstkontrolle -  von der hier an anderer Stelle schon zu lesen war - wuchs in dieser Periode eine geradezu inquisitorische Macht zu. Gegen den im Volk erwachten Trieb kam sie auf Dauer jedoch nicht an
  1963 führte Ingmar Bergmanns "Das Schweigen" zu Aufführungsverboten in Bayerns Kinos, weil ein Pärchen in diesem Film im Kino Sex hat (nur huschig in schwarz weiß zu erahnen) und sich Ingrid Thulin mit der Hand im Höschen selbst befriedigt.  Die engagierte Botschaft des genialen Schweden geht in der bigotten Empörung über das, was jeder jeden Tag macht, unter: Dass Sex ohne Liebe ein zumindest anzuzweifelnder Weg zum Glück ist. Allerdings: Die Antibabypille war noch nicht frei verfügbar auf dem Markt. In beiden Deutschlands wurde sie  - 1961 von Schering eingeführt - bis zur Mitte der 1960er offiziell nur an "verheiratete Frauen" gegen "Menstruationsbeschwerden" verschrieben.
  In Michael Verhoevens "Paarungen" wird der Titel 1967 wörtlich genommen - openair und a tergo mit hoch geschobenem Rock und heruntergelassener Hose. Keinen interessierte es mehr wirklich, weil ja zwischenzeitlich in den aki-Kinos bumsfidel in der Lederhose gejodelt und damit die wohl spießigste, urdeutsche Variante der sexuellen Revolution eingeläutet wurde.
  Es wurde Zeit, dass die Nation vernünftig aufgeklärt wurde. Diesen Part übernahm Oswald Kolle. Wer rückblickend über seine Filme schmunzelt, verkennt ihre absolut kulturhistorische Bedeutung.

  Die aufgeklärten Intellektuellen zogen sich alsbald rauchend und Alkohol konsumierend in der Clubatmosphäre so genannter PAM-Kinos Hardcore made in US rein und Beate Uhse machte ein Vermögen mit denen, die das Gesehene nicht mit der sexuellen Realität daheim "deckungsgleich" bekamen. Dass auch die Sexuelle Revolution ihre Kinder fraß, in dem  sie Aids über die Welt brachte, rief schließlich wieder die Kirchen auf den Plan. Schnell war von einer Geißel Gottes die Rede, mit der die Trennung von Sex und Liebe (gemeint war natürlich die Liebe zu Gott) bestraft worden wäre. Die moralische Wirkung allerdings wurde dadurch extrem abgeschwächt, dass gerade die Katholische Kirche vor allem in den USA einen flächendeckenden Sex-Skandal zu verarbeiten hatte.