(Die Dramen der desperaten Damen)
Sie hatten wirklich alle erdenklichen Tests
mit Johannes durchgeführt. Sein Blut war zu anderen Instituten geschickt
worden. Die Befunde waren alle gleich: Leicht übersäuert und mitunter
grenzwertig, was das Azeton anging, aber ansonsten, kein bekannter Erreger,
kein Virus, kein Bazillus Bavaricus
oder dergleichen. Als er im April den nächsten Fieberanfall hatte, nahmen sie
direkt Blut ab, aber auch dabei fanden
die Spezialisten des Tropeninstitutes nichts, und auch der Virologie-Professor,
der sie einst ermutigt hatte, die Tochter trotz der negativen Prognosen zu
bekommen, war ratlos. Als er nach kleineren mit immer größeren Abständen
auftretenden im darauf folgenden Winter den letzten Anfall dieser Art mit einer
Temperatur von 41,3 hatte, musste er sich sogar von dem herbeigeeilten Notarzt
beschimpfen lassen. Ob er denn noch nie eine Grippe gehabt hätte. Kein Wunder,
dass die Kosten für das Gesundheitssystem so aus den Fugen gerieten, wenn jeder
schon bei einem normalen Fieber mitten in der Nacht den Notarzt riefe.
Es war jedoch nicht das Fieber gewesen, das
Johannes angst gemacht hatte, sondern es waren die Fantasien im Dämmerzustand
und die horrösen Träume der Tiefschlafphase, die ihn physisch so mitnahmen, als
hätte er sie tatsächlich körperlich erlebt. Am schlimmsten waren dabei die
Déjàvus. Immer häufiger glaubte er Dinge und Geschehnisse im Traum bereits
gesehen zu haben, die einige Zeit später in den Fernseh-Nachrichten über den
Bildschirm flimmerten oder in einem Film auf der Leinwand in Szene gesetzt
worden waren. Völlig verunsichert, ob er überhaupt noch zurechnungsfähig sei,
traute er sich noch nicht einmal mit Esther über diese Dinge zu reden. Er zog
sich zunehmend in sich selbst zurück, was bei seinem bislang eher
extrovertierten Leben vom Umfeld mit zunehmender Irritation und
Verständnislosigkeit aufgenommen wurde. Zwei, drei Mal war es zu merkwürdigen
spirituellen Verbindungen mit seiner kleinen Tochter gekommen. Wenn er im Traum
in tödliche Bedrängnis geraten war, hatte die ansonsten wie ein Murmeltier
schlafende Martha gleichzeitig
aufgekreischt und hatte schweißgebadet in ihrem Bettchen gelegen.
Johannes begann über Déjàvus zu lesen und wissenschaftliche
Abhandlungen zu studieren, denn in seinem prosaischen Wachdenken gab es keinen
Platz für Spökenkiekereien. Ein populärwissenschaftlicher Erklärungsansatz
beschrieb den Wahrnehmungsraster des menschlichen Gehirns als etwa halb so groß
wie ein Schachbrett. Wären bei reizüberfluteten Menschen beispielsweise nur die
Hälfte der Felder eines sechs mal sechs großen Memory-Rasters durch aktuelle
Wahrnehmungen deckungsgleich belegt, würden die darunter liegenden
Erinnerungsfelder bereits aktiviert.
Johannes zweifelte nicht daran, dass sein
Leben bislang vermutlich reicher an Reizen gewesen war als das manch anderer,
aber er bezweifelte diesen sich bei ihm immer häufiger einstellenden reziproken
Ablauf: Erst kamen die Erinnerungen, dann passierte etwas sehr ähnliches oder
genau das. Er trauerte dem Arzt-Patientenverhältnis nach, wie er es mit dem
verstorbenen Dr. Mausele gehabt hatte. Er befürchtete, wenn er das schwer
Beschreibbare jemandem erzählte, würde er sofort in eine geschlossene
Einrichtung eingewiesen. Schon deshalb legte er bei seinen beruflichen
Aktivitäten noch ein paar Schaufeln Kohle nach, um ja nicht in Verdacht zu
geraten. Rückbetrachtet schrieb er in keiner Phase seines Schaffens besser,
fotografierte Aufsehen erregender und
malte spannendere Bilder. Wäre er nicht von einer beginnenden Schizophrenie
überzeugt gewesen, er hätte den Wegweiser noch einmal in die richtige Richtung
einer eher künstlerischen Existenz drehen können. Aber er beging den Fehler der
Selbsttherapie.
Der Wirkstoff Diazepam wurde damals als
Valium gerne und ohne Hinterfragen verschrieben - so wie ab Ende der 1980er
auch das in den Staaten immer noch populäre Prozac. Das Valium tat ihm gut,
denn es nahm die Spitzen seiner Erregbarkeit. Aber das weiche Dahingleiten -
vergleichbar einem schwappenden Stück Treibholz auf einem langsam fließenden
Fluss - bremste seine Schaffenskraft so spürbar, dass sein kontrollierendes
Über-Ich die Einnahme jeder Pille als Niederlage anprangerte. Er bekam sich so
weit unter Kontrolle, dass er - wenn
sich Depressionen oder Angstattacken aufbauten - mit zweieinhalb Milligramm
anfing und die Dosierung nur bei dramatischer Zuspitzung bis zur 10er-Einheit
steigerte. In schonungsloser Selbstanalyse begriff er bald, dass die Angst vor
der Angst und die Angst, von irgend etwas abhängig zu sein, dass er nicht mehr
kontrollieren konnte, viel größer war als der jeweilige Anfall selbst. Das
nicht entspannen Können wurde also nach und nach zum Hauptproblem. Der
Dauerstress wiederum verstärkte die Auslöser für die Attacken. Die kamen so
überfallartig wie vorher das Fieber.
Er saß beispielsweise - um sich abzulenken
oder zu beruhigen - vor seiner Staffelei und versuchte die Farbigkeit seiner
Träume auf die Leinwand zu bannen, und nur ein Geruch einer Farbe oder ein
Mischton sorgten dafür, dass er in seinem Umfeld zu schrumpfen begann. Sein
Hals-Nasen-Ohren-Bereich wurde von einer staubigen Trockenheit erfasst und das
Innere seines Schädels war schlagartig schwarz und hohl. Sein ganzer Körper
fühlte sich an wie morsches Holz. Diese Wahrnehmungen in ihrer Gesamtheit
dauerten vielleicht noch nicht einmal eine halbe Minute. Die reichte aber aus,
um völlig unkontrolliert Adrenalin in seine Adern zu pumpen, seinen Atem in
einen hyperventilierenden Rhythmus zu steigern und unabhängig von der
jeweiligen Temperatur abartige Schweißausbrüche auszulösen. Waren diese
Vorboten abgeklungen, legte sich eine virtuelle Garotte, eine unsichtbare
Würgehand mit zunehmendem Druck um seinen Hals bis er scheinbar zu ersticken
drohte. Übermannte ihn so ein Anfall zu Hause oder im Büro konnte er ihn mit
einem in der einschlägigen Notfall-Literatur vorgeschlagenen Programm halbwegs
abwenden. Er hatte eine Plastiktüte, in die er ein und ausatmen, ein
Geduldsspiel, mit dem er sich ablenken und Magnesium, das er als Placebo
verwenden konnte in Reichweite. Verheerend waren die Folgen unterwegs. Er
konnte beispielsweise fünfmal unbehelligt und ohne darüber nachzudenken, durch
einen Tunnel fahren. Beim sechsten Mal erdrückte ihn die tonnenschwere Last,
die auf der Röhre lag, und er erreichte das Licht am anderen Ende im Zustand
der absoluten Unzurechnungsfähigkeit. Beim achten Mal konnte es genau umgekehrt sein. Er wollte
nicht mehr ins Licht zurück, weil er wusste
oder auch nur ahnte, dass der Licht-Dunkelheit-Kontrast jenseits des
"Geburtskanals" einen nächsten unkontrollierbaren Anfall auslösen
würde.
Von all dem durfte seine Umwelt natürlich
nichts erfahren. Aber wie sollte das gelingen? Er musste in Flugzeuge steigen,
er musste lange Autofahrten überstehen, er musste in oder vor großen
Menschenansammlungen sprechen. Je mehr er sich zurückzog, um die Frequenz
solcher Herausforderungen zu verringern, desto interessanter erschien er
potenziellen Auftraggebern. Jene unterlagen wohl dem Trugschluss, dass einer,
der sich zunehmend rar machte, sich das aufgrund seiner Fähigkeiten leisten
könne. Mit einem Satz: Der halbseitig völlig außer Kontrolle geratene Johannes
konnte sich vor hochwertigen Aufträgen nicht retten. Zögerte er bei der Annahme,
so hatte das nicht etwa zur Folge, dass er diesen und weitere Aufträge verlor,
wie das bei den meisten anderen Freelancern
üblich war. Nein, man erhöhte stets das Angebot, bis die klar denkenden
Überreste von Johannes' Matschhirn den sich zunehmend leerenden Schädel doch noch zu einem müden Abnicken
veranlassten. Eine Katastrophe war quasi programmiert.
In den klaren Momenten, die zum Glück noch
stets überwogen, gelang es Johannes, sich ein subjektives Krisenmanagement von
neutraler Position aus angedeihen zu lassen, wie es ja auch Kunden von ihm als
selbstverständlichen Service in Anspruch nehmen durften. Und darin gerade lag
für ihn der Beweis, dass seine Schizophrenie nicht mehr abzuwenden war. Es sei
denn, er versichere sich professioneller Hilfe, die ihn daran hinderte, dass
sich der funktionierende endgültig vom gestörten Teil seiner Persönlichkeit
abspaltete.
Wieder einmal kam Johannes der Zufall zur
Hilfe. Johannes verschlang in dieser Zeit
völlig unkritisch jedwede fachmedizinische oder populärwissenschaftliche
Veröffentlichung über Krankheiten, obwohl er sehr wohl wusste, dass er meist
eine viertel Stunde später, den schon reichlich vorhandenen alten Symptomen
sämtliche der neu entdeckten Krankheit hinzugefügt haben würde. In der Süddeutschen
Zeitung las er nun von einem renommierten Münchner Institut, das
Versuchsgruppen zur Bekämpfung des so genannten "Panik-Syndroms"
zusammenstellte und Probanden aus allen Berufsgruppen und Bevölkerungsschichten
suchte.
Wie nicht anders zu erwarten, war Johannes
ein Wunschkandidat. Die Wissenschaftler unterzogen ihn EEGs, EKGs, Tomographien
(damals der neueste Schrei) sowie mannigfaltigen Blut- und Sekrettests bevor
sie ihn in eine Encounter-Gruppe mit Menschen ähnliche Symptomatik steckten.
Es waren dies: Eine sexkranke Taxifahrerin in
den Wechseljahren mit einem kombinierten Alkohol- und Drogenproblem. Ein
U-Bahn-Führer, der nachdem ihm eine Selbstmörderin vor den Zug gesprungen war,
in keinen Bahnhof mehr einfahren konnte. Eine junge Verkäuferin, die es
geschafft hatte, aus Angst vor ihrer
Umwelt, besonders aber vor ihrem Vater eine Schwangerschaft bis kurz vor der
Niederkunft zu verbergen. Insbesondere weil der Vater nicht nur auch der Vater
des Ungeborenen, sondern schon seit dem neunten Lebensjahr ihr unfreiwilliger
Bettgenosse war. Ein verkrachter Medizinstudent, der während seiner Zeit als
Ziwi ausschließlich Leichen in die Pathologie zu chauffieren hatte und nun das
dritte Mal nicht zum zweiten Staatsexamen gegangen war. Sowie ein Polizei-Beamter,
dem die eigenen Psychologen nach der Abgabe eines tödlichen Schusses im Einsatz
nicht mehr helfen konnten, und der in dieser Versuchsgruppe die letzte Chance
sah, im Beruf zu bleiben.
Johannes reagierte in für seinen Charakter
typischer Weise. Er hatte das absurd karitative Bedürfnis, die Last aller in
der Gruppe auf sich zu nehmen, weil er ihnen gegenüber ein schlechtes Gewissen
hatte, das sich gedanklich folgendermaßen manifestierte:
"Diese Menschen haben so viel
realitätsbezogenen seelischen Schmerz zu erleiden, und dann komme ich, bei dem
nichts dergleichen solche Ängste auslöst, und stehle allen die Zeit."
Je mehr die anderen von ihren schrecklichen
Qualen preisgaben, desto schweigsamer und in sich gekehrter wurde Johannes. Mit
jeder Offenbarung der anderen wuchs dieses - sein ureigenes - Schuldgefühl.
Immer häufiger glaubte er, ersticken zu müssen, so dass er ein ums andere Mal
aufsprang und den Therapie-Raum verließ. Die Therapeuten waren begeistert von
dieser Entwicklung und sie sprachen sich entsprechend mit den übrigen
Mitgliedern der Gruppe ab, um Johannes bei einem der letzten Treffen in
besonderer Weise zu fordern:
Sie saßen alle bereits da, als Johannes
pünktlich den Raum betrat. Es gab keine Begrüßung, und es fiel auch sonst kein
Wort. Fünf Minuten verstrichen so, und Johannes fühlte sich zunehmend
unbehaglich. Nach zehn Minuten brach sein Temperament - wie es die Psychologen erwartet hatten -
das nun für ihn unerträglich gewordene Schweigen mit einem aggressiven, gegen
sich gerichteten Monolog, der die Qualen der Anderen in ein Unverhältnis
zur eigenen Angst setzte. Er nahm sich
jeden einzeln vor und ließ dabei auch die beiden Therapeuten nicht aus, die er
in den Stunden stummer Teilnahme ausführlich charakterisiert hatte. Den einen
beschrieb er als sadistischen Wärter eines Kuriositäten-Kabinetts dem anderen
unterstellte er - ausgerechnet er - einen unverhohlenen Hang zum Seelen-Voyeurismus.
Von allen Genossinnen und Genossen schälte er das traumatische Kernerlebnis
heraus und stellte dagegen eine seiner eigenen unwägbaren Ängste, um den Beweis
zu führen, dass sie gar nicht in derselben Angst-Liga agierten. Dass er deshalb
gar nicht hierher gehöre, quasi ein Panik-Scharlatan sei...
Als die übliche Dreiviertelstunde vorüber
war, erkannte Johannes, dass sein ganzer Vortrag ein Akt unfassbarer Arroganz
gewesen war und er entschuldigte sich bei allen. Sein Herz klopfte allerdings
nicht mehr so hart und das hohle Gefühl in seinem Schädel war einer nun
deutlich spürbaren Trauer gewichen. Isolde, die Taxifahrerin machte - nachdem
alle schweigend aufgestanden waren - den Anfang. Sie umarmte ihn, drückte ihren
Körper fest an den seinen und meinte: "Ist es nicht völlig wurscht, was
einem angst macht?" Der junge Kommissar Peter (bei einer viel späteren
Begegnung mit dem völlig gesundeten und brillanten Hauptkommissar sollte er
dessen Nachnamen - Kühn - und Dienststelle - LKA Bayern - erfahren) wartete bis
alle gegangen waren, als er sich mit einem Blick der Erkenntnis an Johannes wandte:
"Der Mann, den ich erschossen habe, der
war real existierend. Er hat eine Kollegin bedroht und dann seine Waffe auf
mich gerichtet. In der Erinnerung existiert ein genauer Film von diesem
Vorgang. Er oder ich und vielleicht noch die Kollegin - das war der
Entscheidungsspielraum, in dem ich reagieren konnte. Du hast nichts
dergleichen. Deine Ängste lauern ja überall, ohne dass du sie konkret greifen
könntest. Nein, von uns allen bist du wirklich die ärmste Sau!"
In der Folge verschlimmerten sich Johannes
Zustände. Die euphorisch enthusiastischen Therapeuten beruhigten ihn damit,
dass sie damit gerechnet hätten und verabreichten ihm ein auch in den USA noch
im Erprobungsstadium befindliches Medikament, dass er nach einem bestimmten
Zeitplan dosiert an- und abschwellend (und in Intervallen auch absetzend)
nehmen musste. Und sie schlugen ihm eine Fortführung der "Behandlung"
in Einzelgesprächen vor, denn Isolde hatte sich bei Johannes' Monolog in ihn
verliebt. In einer sehr aggressiven, vordergründig sexuellen Form zwar, aber dennoch in einer desperaten
Hilflosigkeit, der Johannes selbst nichts entgegen setzen konnte, weil er ja
"schuld war". Sie reihte sich damit ein in diese Kette zum Teil
abstruser Begegnungen, die Johannes in dem Tagebuch-Manuskript "Die Dramen
der desperaten Damen" verarbeiten sollte.
Hier nur eine kurze Leseprobe:
Sie haben mich aus dieser
Encounter-Gruppe herausgenommen, weil meine Präsenz angeblich den Kreis
dominiere. In Wirklichkeit konnte keinem in der Runde entgangen sein, dass
Isolde ihre Angst-Neurose mit einer starken sexuellen Komponente an mir
festmacht. Sie hat in ihrer Art, sich zu kleiden, zu schminken, aber auch sich
zu bewegen, diesen hinfälligen Reiz, den die Amerikaner "mature"
nennen. Ich hätte in der Phase, in der ich Mitleid mit ihr gehabt hatte, nicht
nachgeben dürfen. Jetzt kommt sie mir bisweilen vor wie ein
Heuschreckenweibchen, dass ihre Partner nach der Paarung verspeist. Sie saugt
meine "Ganglien" leer und beherrscht mich mit ihrem Spreizen und
Flügelschlagen - vor allem wenn sie ihr Hinterteil aufstellt.
Sie haben mich wegen ihr aus Personalmangel
einer Lern-Analytikierin zugeteilt, die offenbar die Aufgabe gestellt bekommen
hat, die Hintergründe dieser obsessiv zerstörerischen Beziehung zu ergründen.
Nur, sie ist eine denkbar ungeeignete Gesprächspartnerin. Kleinwüchsig,
unförmig, mit einer dicken Brille gegen ihre enorme Sehschwäche ausgestattet,
wirkt die Endzwanzigerin blaustrümpfig wie eine menonitische Betschwester. Sie
will mit unerschütterlicher Hartnäckigkeit mein Denken beim Eindringen und
Verströmen in Isolde erforschen. Sie schluckt jedes Mal und läuft rot an, wenn
ich ihr ohne Vorbehalt antworte. Ich befürchte, ich hatte an jedem Nachmittag
meines Daseins mehr Vorkommnisse in Lebenserfahrung zu verarbeiten als dieses
bedauernswerte Geschöpf in ihrem bisherigen Leben.
Als ich heute die Therapiestunde verlasse,
lauert mir Isolde auf dem Treppenabsatz dieses Altbaus auf… Ich bin
erleichtert, weil sie einen ihrer überfallartigen Annäherungsversuche in derart
exponierter Lage nicht wagen wird. Also bin ich relativ entspannt. Sie trägt
einen leichten Fuchspelz, der zusammen mit ihrem im selben Ton gefärbten Haar
und den hochhackigen Pumps aus Krokodilleder wie eine Werbung für
Sexual-Neurotiker wirkt. Drunter trägt sie ein Wickelkostüm aus mauvefarbener
Seide, das vorne klafft, wenn sie so dasteht. Sie fährt in so einem Aufzug
tatsächlich nachts Taxi...
Ganz drunter trägt sie gar nichts, wie ich
nach einem judoartigen Klammergriff merke, mit dem sie meine Hand blitzartig an
ihre rasierte Scham führt. Sie bringt ihr vom starken Schminken schon grobporig
gewordenes Gesicht ganz nah an meines. Ich rieche die mir mittlerweile
vertrauten Ausdünstungen einer Schwerstalkoholikerin, die sich mit ihrem schwülen
Parfüm und dem Geruch ihrer sekündlich wachsenden sexuellen Bereitschaft
mischen. Statt abgestoßen zu sein, merke ich, wie sie wieder Macht über mich
gewinnt. Denn eines wird mir schlagartig klar, die einzigen Momente, in denen
ich in letzter Zeit spüre, dass ich am Leben bin, sind diese exzessiv eruptiven
Paarungsvorgänge an wechselnden, mitunter äußerst unpassenden Orten...
Der Beginn des Jahres 1983 ist derart von Angst und Ungewissheit
geprägt, dass Johannes auch wachsende Anfälle von Paranoia an sich
registrierte. Zwei der Medikamente, die sie an ihm erprobt hatten, wurden
zwischenzeitlich wieder abgesetzt. Das erste führte zu einer absurd schnellen
Gewichtszunahme bei gleichzeitiger Erlahmung aller Antriebskräfte. Immerhin
wurde er so Isolde auf relativ schmerzlose Weise los. Das zweite wurde ohne
Kommentar durch ein neues Medikament in pinkfarbener Darreichungsform ersetzt.
Das alte - stellte die Medical Tribune ein halbes Jahr später lakonisch
fest - habe zu schweren Leberschäden und fast völligem Potenzverlust (!?)
geführt. Das neue hilft ihm zumindest dabei, das Gewicht wieder zu verlieren.
Erstmals nach Jamaika geht es Johannes wieder richtig gut. Zu Testzwecken
begibt er sich auf eine ausgedehnte Reportagen-Reise durch die herbstlichen Neuengland-Staaten.
Nicht nur die Reise selbst durchlebt er in entspannter Stimmung, auch die
Ergebnisse seiner textlichen und
fotografischen Arbeit stellen ihn auch wieder selbst zufrieden. Er
verspürt keine unterschwellige Abpufferung der Vitalität mehr wie beim Valium
aber auch keine Berg- und Talfahrt wie bei der "Leber-Bombe".
Er hatte also das
Gefühl, endlich einmal wieder der alte
Johannes zu sein, als er sich - eine sehr laut warnende innere Stimme
ignorierend - für die Olympischen Winterspiele 1984 in Sarajevo akkreditierte.
Für zwei Monate fuhr
Johannes in diesem Herbst wieder sein volles Programm. Die Arbeit machte ihm
Spaß, zu Hause lief alles bestens, er liebte seine Familie und aalte sich in
dem, was er von ihr an Zuneigung und Wärme zurück bekam: Life couldn't
possibly better be - wie es in einem holperigen Refrain jener Tage hieß.
Mit dem neuen Kräftezuwachs begann er auch wieder konsequenter zu planen, und
da Gewicht und Fitness stimmten, setzte er auch seine sportlich athletischen
Fähigkeiten in gewohnter Weise ein.
Ende Dezember wurde
turnusmäßig eine zweimonatige Einnahmepause des neuen Medikamentes verordnet.
Die neue Darreichung sollte in anderer Dosierung samt Therapiegesprächen in der
ersten Märzwoche wieder aufgenommen werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Johannes
seit mehreren Monaten - auch bei dem Aufeinanderprallen mit der alkoholisierten
Isolde nicht (!) - keinen Alkohol mehr zu sich genommen. Deshalb traf das
mehrfach dringlich von den Ärzten ausgesprochene Alkoholverbot auch auf keine
besondere Aufmerksamkeit. Seinen Freunden gegenüber bekundete er zum Spaß, er
könne nun geradezu Bäume ausreißen und mache deshalb schon vorsichtshalber
einen Bogen um jede Baumschule...
Rückbetrachtet kamen ihm
die ersten beiden Januar-Wochen wie Galgenhumor
bei einer verdrängten tödliche Gefahr vor, aber die chemisch gefärbte
Wahrnehmung der Gegenwart suggerierte, er erlebe die beste Zeit seines Lebens.
Sonst hätte er sich für das Lauberhorn-Rennen im Schweizerischen Wengen
vermutlich nicht eine seiner Hals-und-Beinbruch-Reportagen im alten Stil
vorgenommen.
Der Weltcup-Klassiker
der Abfahrt gilt durch seine außergewöhnliche Länge von über vier Kilometern
vielleicht nicht als schwerster Abfahrtslauf wohl aber als größte
Herausforderung. Zu jener Zeit vor zwei Jahrzehnten, gab es am Start noch die
alte Abfolge der besten fünfzehn nach dem Weltcup-Ranking und Minutenabstände,
also konzentrierten sich die TV-Kameras der Live-Übertragung auf die
spektakulärsten Abschnitte: den Start, den Sprung über den Hundschopf
samt Fahrt über die Minsch-Kante, den Hanegg-Schuss und das
mörderischen Ziel-S mit dem letzten Sprung in diesen extremen Steilhang. Auch
die Kamerafahrten von Ex-Rennläufern vor dem Start, die heute zum
Übertragungsstandard gehören, gab es noch nicht. Mit zunehmender
Materialverbesserung, Athletik der Starter sowie ausgefeilterer Fahrtechnik wurde das Rennen
jedoch zunehmend in Passagen gewonnen, die die Kamera meist nicht zeigte.
Johannes hatte sich nun
vorgenommen, seinen Lesern diese Passagen mit ihrer tückischen, nicht
sichtbaren Problematik als Rahmenhandlung einer Reportage beschreibend nahe zu
bringen. Mit einer satyrisch literarischen Anleihe bei Marcel Proust nannte er
sie: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - im Schatten verblichener
Siegesträume...
Offiziell galt es zwar
als unfein, aber jeder wusste, dass die Schweizer Abfahrer ein paar Tage früher
als die Konkurrenz die Gelegenheit
nutzten, um eine paar zusätzliche Trainingskilometer auf ihrer kultigen
Heimstrecke zu sammeln. Johannes konnte also seine persönlichen Recherchen
unter Rennbedingungen anstellen, weil ein paar einheimische
Streckenverantwortliche seine Reportage-Idee auch ganz lustig fanden. Johannes
war ein guter Skifahrer, aber seine fehlende Tempohärte und die zwar gehobene,
aber doch nur amateursportliche
Ausrichtung seiner Riesenslalom-Ski, und letztlich die Kondition ließen eben nur die schnelle Befahrung der -
isoliert betrachtet - leichten Passagen zu: also die flache Startpassage bis
zum Hundschopf und dann nach der Misch-Kante die elendige, eisige
Schrägfahrt entlang der Wengernalpbahn, durch deren Unterführung
hindurch auf das Flachstück bis zur Einfahrt in den Hanegg-Schuss.
Insgesamt also etwa zwei Kilometer, die der Fernseh-Zuschauer damals live nicht
zu sehen bekam. Um "Vergnügungssüchtige" abzuschrecken, waren die
Ein- und Ausfahrten der Schlüsselstellen ohnehin mit gekreuzten Slalomstangen
und Plastikzäunen blockiert. Zwei, drei Mal war er die Passagen zum kennen Lernen
wie ein Normal-Skifahrer entlang geschwungen. Für den späten Nachmittag am Tag
vor dem offiziellen Trainingsbeginn war dann - aus Sicherheitsgründen nach
Liftschluss - die grenzwertige
Tempofahrt vereinbart.
Bis dahin schwebte
Johannes auf einem Glücksteppich, als habe man ihm das Bewusstsein erweiternde
Drogen (?) verpasst. Die Nachmittagssonne ließ
Eiger, Mönch, Jungfrau und Silberhorn wie die Kulisse aus einem
Heidi-Film erscheinen. Die frostige Januarluft wirkte zudem wie ein Zoom. Das
auf der gegenüberliegenden Talschulter wie ein Spielzeugdorf unter dem Schilthorn
liegende Mürren schien nur einen Schneeball-Weitwurf entfernt. Dieser
natürliche Kitsch ließ unter seiner Rennbrille wider Willen Tränen der Rührung
fließen, so dass er ein ums andere Mal quasi blind vor larmoyanter Nostalgie
abschwingen musste. Auf die Stöcke gestützt empfand er auf einmal eine
überwältigende Dankbarkeit für dieses Leben, in die er den altehrwürdigen
autofreien Ort mit einschloss. Er sah die livrierten Burschen, die mit
Hotelnamen beschrifteten Mützen trugen und auf ihren Elektrokarren unermüdlich
Gepäck oder Menschen hin und her transportierten. Er nahm wahr, dass die Wengernalpbahn,
um den Ansturm der Besucher zu schaffen, nun auch neben den modernen Triebwagen
die alten Züge einsetzte und stellte sich dabei vor, dass es so viel anders zu
Zeiten von Sir Arnold Lunn fünfzig Jahre zuvor auch nicht ausgesehen haben mag.
Die anhaltende Euphorie lenkte ihn in die Eiger-Bar, nachdem er auf der von den
Hotelbauten umgebenen Schneefläche im Zentrum seine Ski abgeschnallt hatte. Die
Happy Hour war nicht nur wegen des
Alkoholverbotes normaler Weise nicht so seine Sache, aber Johannes
hoffte, ein paar Service-Leute und Trainer zu treffen, mit denen er seine
Theorien diskutieren konnte, ohne sich selbst allzu tief in die Karten gucken
zu lassen.
Als er die Bar betrat, schlug ihm dieser typische feuchtdumpfe
Skihütten-Mief entgegen, der von schweißfeuchten Daunenjacken und mehrmals
getragenen Pullovern ausging. Dass ganze erhielt dadurch noch eine profunde
Note, dass, die Berufsskifahrer, die den ganzen Tag in ihren harten
Renn-Schlalenstiefeln gearbeitet hatten und noch nicht im Quartier waren, ihre
Stiefel im Windfang ausgezogen hatten. Über der Bar hing quasi zur
Strafverschärfung eine dicke Wolke aus den Virginia-Stumpen, die Dank eines
Sponsors beim "fahrenden Personal" dieser Winter sehr populär waren.
Hella, die zierliche Barfrau, die eigentlich Österreicherin war aber Schwyzerdütsch schwätzte, bändigte jeden
Abend diese wilde Horde mit Bravour, weil sie bei jedem Männerthema sach- und
fachkundig mitreden konnte. Obwohl
sie in diesem Nebel kaum auszumachen
war, stellte sie Johannes in diesem Chaos ohne Order und Sichtkontakt seinen
gespritzten Apfelsaft hin. Zwei der eingeweihten Streckenposten standen am Eck
und riefen so laut, dass alle es hören konnten:
"Hämma die
verluschtige Ziet uffgschtöbert?"
"Ja, es sind
mindestens zwei Sekunden!" Gab Johannes zurück - was eigentlich als Scherz
gemeint war. Aber Heri, ein grantelnder, kleiner Oberbayer im Dienst
eines französischen Skiherstellers, der als Hexenmeister schon die Ski mehrerer
Olympiasieger präpariert hatte und Johannes allein wegen des Hochdeutsches, das
er sprach, nicht leiden konnte, hakte humorlos sofort nach:
"Wirst wieda an
rechtn Schmarrn schreim, du Saupreiß!"
Da wollte Johannes
natürlich ordentlich zurückgeben und wandte sich - den Bayern ignorierend - an
den neben Heri stehenden Lois Lammthaler, einen den Rübezahl gebenden Salzburger, der die
Rennski eines österreichischen Herstellers herrichtete:
"Der Heri
kann sich jetzt gleich und noch zwei Nächte in den Wachskeller stellen. Er wird
nicht verhindern, dass dein Ami am Samstag gewinnt!"
Der Ami, war ein Ski fahrender
Freak, wie ihn die Amerikaner in schöner Regelmäßigkeit schon immer
ausgerechnet in Olympia-Wintern präsentierten. Dieser hieß Bill Johnson und
stand auf dem Ski von Lois' Arbeitgeber
wie eine Spinne, der man vier Beine - zwei auf jeder Seite - ausgerissen
hatte. Was Außenstehenden den Eindruck vermittelte, dass er eher von seinen Ski
gefahren wurde, als sie tatsächlich selbst zu beherrschen. Arroganter Weise,
bezeichneten die Österreicher, die ein paar Wochen später das schlechteste
Abschneiden ihrer Olympia-Geschichte zu verkraften haben würden, diesen Mann
als "Nasenbohrer".
In Wahrheit verfügte
Johannes über keinerlei Erkenntnisse, die diese kühne Prognose hätte fundiert
rechtfertigen können. Es war irgend etwas wie Instinkt gepaart mit
unterbewussten Wahrnehmungen, die ihn nun nicht nachgeben ließen, als ihn alle
unter Gelächter in eine Wette treiben wollten. Dabei hatte er sich doch
geschworen, nie wieder vabanque zu spielen:
"Hella mach die
Bank! Ich zahl jedem zehn, der mit fünf Franken gegen mich und Bill Johnson wettet!"
Fast jeder in der Bar
wettete gegen ihn, so dass er am Ende fast dreihundert Franken eigenes Geld in
den Deckelkrug stecken musste, den Hella dann wegschloss. Den eigentlichen
Fehler machte er jedoch, als der Lois ihm gegen die Aufregung einen Enzian
aufnötigte. Der Hochprozentige haute die Spannung aus seinem verkrampften
Körper und verlangte gleich nach einem Nachfolger. Hella bot ihm die erste
Zigarette seit Monaten an, und er nahm sie, weil er tatsächlich Lust auf sie
hatte. Schließlich mussten die durch den Alkohol erweiterten Gefäße durch die
verengende Wirkung des Nikotins wieder auf normale Strömungsgeschwindigkeit
gebracht werden...
Nein, er war wirklich
noch nicht betrunken, als er zum Abendessen im Hotel eine halbe Flasche eines
hervorragenden Saint Emilion Montaguer aus dem Jahre 1978 bestellte -
nur beseelt, weil es ihm so unendlich gut ging. Er war auch im Nu entspannt eingeschlafen...
Wohl zur halben Nacht
baute sich in seinem Traum dann ein weit ausladender Baum auf, der ihm die
Sicht auf das übrige Traumgeschehen nahm. Es war ein schöner Baum, eine
majestätische Buche vielleicht oder gar eine Eiche. Strotzend vor Kraft und
Schönheit konnte Johannes ihn jedoch nach einer Zeit des sich wiederholenden
Auswucherns nicht mehr als Ruhepol empfinden. Die das Sichtfeld völlig
beherrschende Größe wuchs sich zu einer Panik machenden Bedrohung aus. Ein ums
andere Mal ließ ihn die hyperventilierende Atemfrequenz aus dem tiefen
Schlafbereich auftauchen in einen halb wachen Zustand des dahin Dämmerns. Er
nahm dann sein Hotelzimmer wahr und registrierte den Nachtschweiß, der sein
Kissen in eine eisige Masse verwandelte, weil er trotz der herrschenden
Minusgrade bei weit offenem Fenster und zurück gezogenen Gardinen schlief.
Einsamkeit und Trauer bemächtigte sich seiner und drückte ihn schwer in die
Tiefschlafphase zurück, in der sich unverzüglich wieder der Riesenbaum in den Weg
stellte. Er begann ihm auszuweichen, wollte ihn umgehen, aber der Baumriese
ließ ihn nicht vorbei. Dann nahm er alle Kraft zusammen löste sich vom Boden in
der Hoffnung, er könne ihn überfliegen. Doch je höher er stieg, desto mächtiger
reckte sich die Krone dieses grünen Monsters. Bei einem erneuten Angriff begann
er den borkigen Stamm hochzuklettern und gelangte damit in das Labyrinth des
Geästes. Durch Laub und Zweige erkannte er jenseitig das Blau des Himmels und
das warme Licht der Sonne. Dort wollte er hin, doch die Kletterei von Ast zu
Ast schien einfach nicht zu enden. So bald er sich jedoch nur für einen
Augenblick zum Ausruhen auf einem Ast niederließ, stieg er wieder zur
Oberfläche des Traumes auf, nahm wahr, dass die Verdunstungskälte seine frei
liegende Schultermuskulatur zunehmend zu einem Eispanzer erstarren ließ.
Unterbewusst griff er nach dem zweiten Kissen im Bett und drehte seine
Bettdecke. Der kurze Kälteschock des trockenen Bezuges, der sich rasch
erwärmte, sorgte für ein wenig Entspannung. Beim erneuten Abtauchen gelang ihm
der Durchbruch. Er ließ den grünen Baumriesen endlich hinter sich und blickte
auf der anderen Seite in einer winterliche Traumlandschaft und Hänge die
unschwer als die des Lauberhorns zu erkennen waren. Er begann sie in weiten,
fliegenden Schwüngen zu befahren, aber dieses Glücksgefühl war nur von kurzer
Dauer, denn Bill Johnson raste als Spider-Man an ihn heran und griff nach ihm.
Durch das ohrenbetäubende Rauschen der Fahrt schrie der in seinem grausigen
Los-Angeles-Slang:
"Beware
of my secret! This is floating!"
Dazu schlugen die Glocken aus dem Tal und Alarm drang schrill in
sein Ohr. Johannes brauchte eine Zeit bis er realisierte, dass die wahre Sonne
im Geviert seines Fensters über die Kante des Lauberhorns fingerte, es neun
schlug und er gleichzeitig seinen Weckruf bekam. Er hatte keinen Kater, das war
mehr. Das musste so etwas wie ein "Cold Turkey" sein, ein Zustand,
von dem er gelesen hatte, dass er bei Drogensüchtigen auf Entzug vorkam. Im Bad
trank er - so schien es ihm - die halbe Wasserleitung leer und war immer noch
durstig. Er klatschte sich das eiskalte Wasser ins Gesicht und sah dann sein
Spiegelbild, das ihn jäh zurückschrecken ließ. Die Skifahrer-Bräune der letzten
Tage samt der entspannten Erholung war aus ihm gewichen. Unter seinen Augen
warfen dicke Tränensäcke tiefe schwarze Schatten. Seine geweiteten Pupillen
drängten seine gestern noch strahlend blaugrüne Iris als schmale Farbringe an
das rotgelb marmorierte Weiß seiner Augäpfel, die sich tief in die Höhlen
zurückgezogen hatten.
"Did
you ever see a picture of Pope Paul - his eyes are sunken and his cheeks are
hollow", stimmte Johannes leise den Song von Donovan an. Dann packte ihn mit einem Schüttelfrost, der ihn
zu Boden zwang, die jähe Erkenntnis, dass ihn das unheimliche Syndrom wieder
zurück in seinen Bann gezogen hatte.
Entsprechend
gespenstisch verlief der Vormittag an der Schreibmaschine. Das reale Ich tippte
zwanzig, dreißig Minuten mit dem Tempo einer Flucht vor tödlicher Bedrohung einen hektischen Text
aufs Papier. Die Syntax passte jedoch erstaunlich gut zum Thema, so dass die
Dämonen der Nacht, die auf Johannes Schultern saßen, sich zunächst ruhig
verhielten wie ein rastender Krähenschwarm auf einer Überlandleitung. Als sich jedoch der Text einem Stadium näherte, in dem
die geplante Live-Schilderung der Streckenpassagen eingepasst werden
sollte, begann der Schwarm zu flattern,
brach der Konflikt los. Der Teil seiner selbst mit gesunder Vernunft riet
Johannes, in dieser psychischen und physischen Verfassung von dem Vorhaben
Abstand zu nehmen, die Geschichte hätte auch so Hand und Fuß. Die abgedriftete
Hälfte verlangte jedoch, dass im Traum erlebte "Floating" zumindest
mal auszuprobieren. Was schon verrückt genug war, weil das nun im beinahe
halbstündlichen Gang vom Schreibtisch zur Toilette erforderliche (da mengenmäßig drängende)
Wasserlassen allein schon die Kraftreserven verschlang. Gegen Mittag war
Johannes auf die Tastengröße seiner Reiseschreibmaschine geschrumpft und tippte
quasi, indem er von Buchstaben zu Buchstaben hüpfte, als sei er jetzt selbst
eine der traumatischen Krähen.
In der sachlichen
Erkenntnis, dass der Wahnsinn ihn nun übermannt habe, warf er sich vom
Schreibtisch mit einem verzweifelten Satz auf das Bett und war eine Sekunde
nach der Landung in einen tiefen traumlosen Schlaf gesunken.
Als er erwachte, hatte
der klare Verstand wieder das Regiment übernommen. Er registrierte, dass er bis
zum Abstellen der Lifts und seiner Verabredung nur noch eine Stunde hatte. Die
Antriebsschwäche hatte ihn mit beiden Händen an der Gurgel gepackt und drückte
gleichmäßig fest zu. Die Willensstärke, die ihn in seinen elastischen Overall
zwang, das Anziehen der extrem harten Lange-Boots zuließ und das Zusammensuchen
aller übrigen Utensilien koordiniert ermöglichte, überraschte ihn. Allerdings
war er bereits am Ende seiner Kräfte als er in der Gondel der Männlichen-Bahn
stand, die ja die erste wirkliche Prüfung darstellte. Bei dem herrlichen
Wetter war sie gerammelt voll, jeder schien noch in der Nachmittagssonne eine
letzte Runde ums Lauberhorn machen zu wollen. Er hatte sich gleich beim
Gondel-Führer neben das herunter geschobene Fenster in den frischen Luftzug
gestellt, dennoch packten ihn Einengungs- und Höhenängste gleichermaßen. Die
einsetzende Hyperventilation - noch dazu in dieser Höhe - drohte, noch vor
Erreichen der Bergstation, in einem Kollaps zu enden. Oben angekommen stürzte
er ins Freie und lag gleich darauf mit dem Kopf nach unten in einer ungewalzten Schneefläche. Dort verharrte er
so lange, dass sich schon die ersten erkundigten, ob es ihm auch gut ginge.
Also rappelte er sich beschwichtigend auf, stieg in seine frisch präparierten
210 Zentimeter langen Super-G-Ski und machte sich über die Lifts und Abfahrten
auf der Grindelwalder Seite auf den Weg
zur kleinen Scheidegg und zum Start.
Er hatte die
Veränderungen mit dem Lois diskutiert.
Ein Ski für den 1982 neu eingeführten Super-Riesenslalom - eben eine
Mischung aus Abfahrt und Riesenslalom - erforderte beide Eigenschaften. Das
vordere Drittel war weicher und gut gedämpft, die zunehmende Härte begann etwa
eine Fußlänge vor der Bindung und endete in einer harmonischen Biegelinie im
letzten Fünftel der Skilänge, die wieder weicher war. Johannes hatte den Servicemann
gebeten, seine Ski in den weichen Bereichen fast alle Kantenschärfe zu nehmen.
Die Rückmeldung, die er
beim Einfahren von seinen Ski bekam - vielleicht aber auch der Fahrtwind -
schaltete seinen Verstand auf reguläre Kraftversorgung und volle Konzentration.
Er war urplötzlich bereit für das Wagnis. Im Starthaus reichte ihm einer seiner
Bekannten einen Sturzhelm. Ohne dürfe er nicht auf die Piste. Johannes hatte ja
noch nicht einmal vor, in die Hocke zu gehen, aber er akzeptierte, denn es war
ihm auch klar, was für ein Privileg ihm eingeräumt worden war.
Die Pistenpräparierung
für das erste offizielle Training am kommenden Vormittag sollte erst in der
Nacht erfolgen, deshalb waren noch die Spuren der Schweizer Abfahrer-Truppe als Orientierungshilfe zu
sehen. Schon auf dem ersten Teilstück, dem Startschuss auf dem Weg zum großen S
war klar, dass er mit den flach gestellten Ski nicht aufrecht bleiben konnte,
wenn er halbwegs in der Nähe der anderen Spuren bleiben wollte. Er hatte sich
das viel zu einfach vorgestellt. Die Beschleunigung, die schon das halbherzige
Beugen der Knie auslöste, war verblüffend. Das Tempo berauschte ihn derart,
dass er nicht die Spur von Angst verspürte, und nun riskierte er auch das
"Floating". Natürlich erreichte er nicht annähernd die
Renngeschwindigkeit, aber auch so war schon festzustellen, dass die
schwimmenden Skispitzen mit wenig Kraftaufwand bei neutral verteiltem Gewicht
in den flachen Kurven zwar einen anderen Radius verlangten, aber dafür kein
Kanteneinsatz die Geschwindigkeit beeinträchtigte.
"So macht's der
Johnson also", stellte Johannes befriedigt fest, als er wenig später mit
Schneepflug und Seitrutschen Hundschopf und Minsch-Kante hinter
sich ließ.
In der mitunter an eine
Bobbahn erinnernden Schrägfahrt bis zur rechtwinkligen Einfahrt zur
Bahnunterführung wurde seit jeher über die richtige Linie gestritten. Ein Bob
ist dann am schnellsten, wenn er sich ohne hartes Steuern auf schnellen Kufen
in der Physik der Bahn bewegt. Wieso sollte also ein Skirennläufer dieser
Passage und ihren zwei annähernd rechtwinkligen Kurven mit viel Kraft seinen
Willen aufzwingen, um hoch mit den Kanten an die linke, obere Wange gekrallte
auf dem kürzesten Weg zu bleiben? Johannes überließ es seinen Ski, den
"natürlichen" Weg durch diesen Abschnitt zu finden. In seinen
Dimensionen war er schnell und fuhr vollkommen ohne Kraft, indem er bei den
Kurven die Überhöhungen als Linienvorgabe wählte. Er war jedoch überrascht, wie
schnell die Streckenposten, die ja sein Kommen entlang der Strecke per
Walkytalky weitergaben, doch an ihm vorbeihuschten. Sechs Jahre später musste
Johannes beim Fernsehen schmunzeln, als der Deutsche Hans-Jörg Tauscher als
einziger in der berüchtigten "Rattlesnake" von Vail mit diesem
Trick als Außenseiter (wie Johnson einer war), den Weltmeistertitel holte.
Wenn es vielleicht nicht
schneller war, dann hatte das "Bobfahren" zumindest einen Vorzug, den
auch Johannes spüren konnte. Es ging mit deutlich weniger Energie-Verbrauch aus
dem "Brüggli-S" und der Bahnunterführung heraus in das
gefürchtete flache Gleitstück bis zur Einfahrt in den Hanegg-Schuss.
Auf Langentreien,
in der Passage, in der selbst beim Rennen für ein paar Sekunden entspannt
werden könnte, lauerte dort nicht für schlechte Gleiter der Zeitverlust, wurde
Johannes urplötzlich von den Würgehänden seiner Psychose gepackt. Während er
noch versuchte, die flach gestellten Ski nur mit leichtem Druck zu lenken,
hatte er das Gefühl auf eine Körpergröße zu schrumpfen, die ihn gerade noch
über die Ränder seiner Stiefel schauen ließ. Die Flache Alm dehnte sich zu
einer unendlichen Schneewüste aus, die Richtungstore auf die er zufuhr, ragten
in bedrohlicher Größe vor ihm auf und jagten ihm nackte Angst ein. Eine
schreiende Angst - wie es ihm vorkam. In die Panik, die ihn packte, mischte
sich gleichzeitig eine bisher nie gekannte selbstmörderische Todessehnsucht.
Diese Hohlköpfigkeit schien ihm nur noch einen Gedanken übrig zu lassen: Mach
Schluss!
Dieser Befehl gewann in
dem fatalen Bruchteil einer Sekunde die Oberhand, in der er längst vor der
Einfahrt zum Hanegg-Schuss hätte abschwingen müssen. Aber er konnte das
ja nicht. Er wäre viel zu klein gewesen, die riesigen Ski samt Stiefel so hart
zu steuern. Und wäre das nicht die Erlösung, die Lösung für alles? Mach
Schluss!
Die Sperren und Zäune
waren noch nicht wieder aufgestellt. Mach Schluss!
Jetzt, da er über die Kante in das steile, schattige Band
kippte, kam ihm diese wache Besinnungslosigkeit wie ein Segen vor. Der River Of
No Return. Mach Schluss! Der Delinquent
drückte mit dem Strick um den Hals gewissermaßen den Abzug der Pistole, die er
sich an die Schläfe hielt. Mach Schluss! Johannes fixierte den Stelzenstadel
links unten neben der Strecke. Mach Schluss! Er würde gar nicht so weit kommen.
Zwar hatten sie am Ende vom Hanegg-Schuss, die Wellen genommen, die Karl
Schranz in den 1960ern so meisterhaft wegdrücken konnte, dass man sie bei
seinen Fahrten meist gar nicht bemerkte, doch würde ihn allein der Druck beim
Übergang ins Flache erledigen.
Das waren ja auf einmal
ganz normale Überlegungen, die da Johannes - nun wieder in Normalgröße und
tiefer Hocke - anstellte. Wo hatte sein Verstand ausgesetzt? Rette dich! Bleib
am Leben, du Narr!!
In diesen Bruchteilen
einer Sekunde, stellte er auch fest, dass die unwägbare Angst ihn wider
verlassen hatte, obwohl das Tempo nun wirklich beängstigend war. Ein grimmiges
Lächeln erstarrte im eisigen Fahrtwind. Was für ein standesgemäßer,
spektakulärer Tod. - Du Arschloch! Rette dich! Bleib am Leben, du Narr!
Für die Pistenraupen war
in den Sicherheitszäunen dort eine Lücke gelassen worden, wo ein Ziehweg durch
den Bannwald links zu einem Schlepplift führte. Ein Ausweg? Würden seine
fahrtechnischen Fähigkeiten ausreichen, noch jetzt im Steilen einen Kurvenradius
einzuleiten, der ihn rettete. Bleib am Leben, du Narr! Wenn er doch nur die
Kanten hätte... Aber da waren sie ja! Die Geschwindigkeit war so hoch, dass der
Ski im Bindungsbereich ohne großen Kraftaufwand reagierte. Rette dich! Rette dich!
Rette dich!
Johannes streifte eine
der Plastik-Slalomstangen an denen die leuchtend orangen Sperrzäune befestigt
waren. Ein Schlag, der sein Schulter-Gelenk lähmte, ihn aber nicht aus der Bahn
warf. Ausgerechnet in der Mitte des Ziehwegs, der zu schmal war, um groß
Bremsversuche zu wagen, standen zwei Grüppchen Skifahrer zusammen. Johannes
Schrie. Er schrie seinen Irrsinn heraus, aber er wagte es nicht, bei diesem
Tempo seine stabile Position auf den Ski aufzugeben. So sahen die Leute im
Ziehweg nur einen offenbar Wahnsinnigen auf sich zu rasen und brachten sich mit
einem Sprung in den Wald in Sicherheit.
Eine Katastrophe war
abgewendet, aber der Ziehweg mündete wenige Meter über einer Skihütte
waagerecht in einen Skihang ein. Was, wenn da noch welche in der Abfahrt wären?
Ein weiteres spektakuläres Manöver: Durch den lichteren Waldrand glaubte
Johannes zu sehen, dass er eine scharfe
Kurve bergauf wagen konnte. Da fuhr niemand. Noch auf dem eisharten und
spiegelglatten Ziehweg, von dem es bei dem immer noch hohen Tempo seitlich kein
Entrinnen gab, zog er einen imaginären Radius ansetzend, den Schwung. Und
wieder reagierten die Ski wie ein treues Reittier auf Flankendruck.
Für die Leute, die auf der Terrasse der Hütte in den letzten Sonnenstrahlen ihren Dämmerschoppen
nahmen, muss es wie ein Kunststück ausgesehen haben: Ein Irrer fuhr im hohen
Tempo den halben Hang hoch, stieg von einem Längsbuckel mit einem enormen
Sprung in die Abendsonne und vollzog in der Luft eine Kehrtwende, die ihn nach
der Landung in einem langen, eleganten Schwung an ihnen vorbei in Richtung Innerwengen
führte.
Nur für einen Moment
hatte Johannes wegen der Gefährdung von Mitmenschen ein schlechtes Gewissen,
dann überwältigte ihn ein bisher nicht gekanntes Rauschgefühl. Glasklar speicherte
er jedes Geräusch, jeden Geruch, ja die geringsten Details wie unter einem
Mikroskop. Er war am Leben. Er war am Leben geblieben. War das wirklich ein
Selbstmord-Versuch gewesen? Nein, nein, er war Opfer eines krankheitsbedingten
Aussetzers gewesen. Er war am Leben!
Noch im nicht
abgeklungenen Adrenalin-Hoch schrieb er seine Geschichte fertig und gab sie
telefonisch durch, damit sie am Samstag vor dem Rennen erscheinen konnte.
Danach ging er direkt in die Eiger-Bar, um seinem Bekannten den Helm zurückzubringen...
Er wurde nicht
freundlich empfangen. Der Lois stieß ihn mit seinen Schaufelhänden vor die
Brust und trieb ihn schubsend den Tresen entlang bis vor die Toiletten-Tür:
"Ham's da an
Einlauf im Oberstüberl g'macht? Is da untam Hoim zu hoaß g'woan. Host du net
g'seng, dass mia do g'messn hom?" Du g'herst wiakli fortg'sperrt du
Wahnsinniga!"
"Es tut mir leid,
Lois. Ich war für einen Augenblick unkonzentriert, hab das Abschwingen verpasst
und dann nur noch reagiert."
"Woansinn! Auf de
Zwoazehna im Hanegg! Du host no am Weg in unsana Liachtschronkn
Hundatdraiazwanzg Kaemha draufg'hobt. Mia bau'n schon woansinns Ski!"
Johannes hatte nichts
dazu gelernt - in der vergangenen Nacht nicht und nicht an diesem Tage. Er war
am Leben, aber es war nicht klar ersichtlich, weshalb. Um die Szene nicht
wieder und wieder durchzugehen, schluckte er wieder und wieder einen Enzian.
Einen Schnaps, den er eigentlich verabscheute, aber den er - so lange er stand
- in Unmengen vertrug.
"I'm
still standing!",
sang er triumphierend als nur Hella und er noch in der Eiger-Bar übrig
geblieben waren. Nachdem sie die Kasse gemacht hatte, streifte sie ihn beim
Aufräumen mehrfach und unmissverständlich mit knallhart erigierten Brustwarzen
unter ihrer Chiffonbluse.
In dieser unermüdlichen
Nacht vor dem ersten offiziellen Training, die Johannes jegliche Chance nahm,
wieder Alpträume zu erleben, erhob Hella unbewusst Anspruch darauf, in das
Tagebuch der Dramen mit desperaten Damen aufgenommen zu werden. Ihr Kapitel
sollte das tragischste werden - aber das sah Johannes zum Glück ausnahmsweise
nicht voraus.
Als habe die erlebte
Todesnähe bei ihm eine Gier nach Leben entfacht, durchlebte er die Tage bis zum Rennen
unwirklich wie im Carnival auf Trinidad. Am Samstag überreichte ihm ein
missmutiger deutscher Kollege ein Exemplar der Wochen-Zeitschrift, aber er fand
seinen Artikel nicht im Sportteil. Als er das Blatt enttäuscht zurückgeben
wollte, meinte der Kollege mit einem resignierten Lächeln:
"Du musst im
Feuilleton nachschauen! – Hemingway!"
Bill Johnson gewann, die 47. Lauberhorn-Abfahrt, was jenen nicht
glücklicher und Johannes zwar um ein
paarhundert Franken reicher, aber in der Szene keineswegs beliebter machte...