Montag, 6. Oktober 2014

Erinnerungen 2

Sadhu

Obwohl es in meinem Leben einige Begebenheiten gab, die nicht zu erklären waren, glaube ich weder an Hokuspokus, Weissagungen oder Übernatürliches. Meinen Déjàvu-Erlebnissen, von denen es auch einige gab, bin ich mit wissenschaftlich analytischer Hartnäckigkeit so lange auf den Grund gegangen, bis es eine nahe liegende Erklärung gab. Dennoch gibt es in meinen Erinnerungen auch ungeklärte Restposten. Einer davon ist die Begegnung mit einem Sadhu.

1979 hatte ich die Ehre mit Heinrich Harrer als Begleit-Fotograf der Inauguration eines Rimpotche im Kloster Phyang unweit der Ladakhischen Hauptstadt Leh beizuwohnen. Hinter dem Dalai Lama sollte der in den USA erzogene junge Mann der zweithöchste Würdenträger der Rotmützen-Buddhisten werden. Die festliche Zeremonie in etwa 4000 Meter Höhe zog sich bei trockener Gluthitze über mehrere Tage hin. Es war völlig ungewohnt, dass ich nicht texten musste, und weil ich deshalb bei den Interviews  nicht dabei zu sein brauchte, hatte ich Freiräume, in denen ich unseren Willys-Jeep M38 samt dem kleinen Kashmiri Karim als Fahrer zu kleinen Foto-Safaris nutzte.

Jemand hatte mir den Tipp gegeben, dass es in Richtung Chinesische Grenze ein Tal gäbe, in denen gigantische "Mani"-Steine lägen. Zur Erklärung: Die buddhistischen Pilger bauen auf ihren Wanderungen Mauern und Kegel aus schön glatt geschliffenen Steinen, die mit Gebeten in Sanskrit verziert sind.
Da mein Hauptcomputer hier in Italien
 einem Blitzschlag zum Opfer gefallen ist, habe ich mir
diesen Mani-Stein vorübergehend bei Wikipedia ausgeborgt.
Zurück in München werde ich diese Erinnerung
aus meinem Archiv ergänzen 

Als wir in das Tal abbogen, entpuppte sich das Ganze als nicht auf Anhieb zu verstehender Witz. Wir waren konfrontiert mit einem Bachbett aus einer Riesen-Welt. Vor uns tat sich ein Labyrinth aus einzeln im Sand liegenden, oval geschliffenen Felsen auf, die bis zu zehnmal größer waren als unser Jeep. Wir würden unserer eigenen Fahrspur folgen müssen, um wieder heraus zu finfen. Aber nach einigem Kurven wurde mir klar, wie ich der Perspektive beikommen konnte. Am Rand des "Bachbettes" stieg ich einige hundert Meter den Abhang hinauf, und tatsächlich sahen die Felsen von dort aus wie Mani-Steine und der Jeep wie ein Matchbox-Toy, das dazwischen geraten war.
Da ich den Aufstieg unüberlegt schnell bewältigt hatte, musste ich jetzt mit Zittern und Schnapp-Atmung büßen. Vermutlich waren wir nahe an der 5000er-Marke. Das 500er Tele wackelte jedenfalls ganz schön hin und her, so dass ich mich auf das Tausendstel Belichtungszeit und den Motor der Kamera verlassen musste. Als ich gerade aufhören wollte, tauchte im Sucher zwischen dern Riesen-Kieseln eine weiß gekleidete Gestalt auf, die sich - obwohl sie ihn gar nicht von dort sehen konnte - zielstrebig auf  unseren Jeep zu bewegte.

Wir kamen eine Viertelstunde später etwa gleichzeitig beim Fahrzeug an. Ich erkannte sofort, dass ich einen Sadhu vor mir hatte. Aber was machte ein Hindu eine gewaltige Fußmarsch-Distanz von gleich Gesonnenen in dieser Berg-Einsamkeit?

In gutem Englisch mit dem typisch indischen Singsang bat er mich, ihn zur Hauptstadt mitzunehmen. Ich hatte keine Bedenken, aber die Rechnung ohne meinen Fahrer gemacht, der als Kashmiri eben Moslem war und ja auf unserer abenteuerlichen Fahrt über den Zoji Lla und Kargil täglich seinen Teppich fürs Gebet ausgerollt hatte. Es entspann sich ein schier aussichtsloser Dialog über religiöse Toleranz, die mir wieder einmal die Unbeugsamkeit des Islam demonstrierte. Unter dem erinnernden Hinweis, wer ihn denn bezahlt habe, machte ich den Kompromiss-Vorschlag, mich mit dem Sadhu hinten auf die Ladefläche zu setzen, die mein Kollege in voraussehender Eingabe mit Matratzen aus dem Basar von Srinagar ausgepolstert hatte. Es hätte ja sein können, dass wir auf einem der Pässe hätten kampieren müssen.

Sobald wir uns gelagert hatten, raste der Jeep los, als sei Karim zu einer Rallye gestartet. Aber das Durchschütteln hinderte den Sadhu nicht, seine Magie an mir zu erproben. Ich nahm seine Frage-Technik gelassen hin, ohne das Geringste von mir preis zu geben. Aber dann erzählte er mir Dinge, von denen er einfach nichts wissen konnte: Dass meine Tochter - trotz aller Ängste und Probleme während der aktuellen Schwangerschaft - gesund zu Welt kommen und ihr bald ein Bruder folgen würde. Dass meine Lieblingsblüte die Magnolie sei. Dass die Schlüsselchen, die ich an einer geflochtenen Silberkette um den Hals trüge, gar nicht nötig seien, weil ich nie bestohlen werden würde.

Dann gab er auch ein wenig von sich preis. Er war auf dem Weg zum  Eis-Lingam in der Höhle von Amarnath im Kshmir, wo sich alljährlich im August die Sadhus zur Anbetung von Shivas eisigen Penis träfen. Vieles geriet über die weiteren Ereignisse in Vergessenheit, kam aber dann wieder in Erinnerung , als es im weiteren Verlauf meines Lebens tatsächlich so (oder so ähnlich?) eintraf.

Beim Abschied schenkte er mir nämlich noch einen in Silber gefassten Hodensack aus Elfenbein oder Knochen, den ich neben die Schlüssel hängen sollte. Wo immer ich auch sei, würden die Sadhus, die dieses Symbol trügen, mich weltweit beschützen. Aber selbst wenn ich ihn eines Tages in einem weit entfernten Meer verlöre, bedeute das kein Unglück, denn meine Fruchtbarkeit sei da ja schon erwiesen. Und es werde ein anderes Symbol der Stärke an seiner Stelle für meinen Schutz sorgen...

Tatsächlich verlor ich den Talisman des Sadhus bei geradezu grotesk untalentierten Surf-Versuchen vor Guadeloupe, weil die geflochtene Silberkette aus Indien bei einem Überschlag riss. Tatsächlich trage ich als Obelix heute ein silbernes Wildschwein an einer venezianischen Kette um den Hals. Ein gemeinsames Geschenk - quasi "als Wegzehr" - von Mutter und Schwiegermutter.

Glaube ich deshalb an die Wirkung von Talismanen? Klar. Mal helfen sie oder auch nicht.

Samstag, 19. Juli 2014

Erinnerungen 1

Vorbemerkung:
Alle stellen sich immer vor, das Leben eines Reporters ist so wie im Kino. Tatsächlich stehen 10 Prozent Aufregung gefühlten 90 Prozent Banalität gegenüber. Mord und Totschlag kamen bei mir und den meisten meiner Kollegen im Gegensatz zu unserem täglichen Fernsehprogramm in etwa 1000 zu 1 vor. Ich gebe zu, dass in der heutigen Zeit die Wahrscheinlichkeit, dass "früher  die Tage mit einem Bauchschuss begannen" (Wolf Wondratschek) ungleich höher ist. Aber wer will denn Gedrucktes heute noch lesen?
Meine Erinnerungen dienen deshalb  nur dem einzigen Selbstzweck, dass meine Kinder (Enkel wird es ja leider nicht geben) später einmal erkennen, dass ihr Vater nicht das Weich-Ei oder das textende Faktotum war, für das sie ihn  vermutlich gehalten haben...


Bestellt und nicht abgeholt

Stellt euch einen Mann vor, der am Rande des Great Barrier Reefs auf einer Insel sitzt, auf der neben einem kurzen Airstrip nur ein Unterstand aus Wellblech auf vier maroden Pfosten von der Zivilisation dort draußen kundet. Der Mann sitzt auf einem Samsonite-Koffer, der offensichtlich schon einiges abbekommen hat, und schaut auf  15 Kilo Kamera-Ausrüstung, die ihm in diesem Moment rein gar nicht helfen.
Dieser Mann ist aber ein Mann, der es gewohnt ist, in geliehenem Luxus zu leben  - und nichts dem Zufall zu überlassen. Vielleicht sollte man erwähnen, dass  er in einer Zeit dort sitzt, in der es weder Cellulars, Telefax noch Internet gibt. Akribisch  - wie er ist - hat er zumindest ein sorgsam zusammen gefaltetes Telex mit seiner "Schedule" dabei, aber nach der ersten Stunde des Wartens in schmorender Hitze erkennt er bereits, dass ihn das nicht retten wird.
Er denkt an den geliehenen Luxus der letzen Tage, und ist immerhin froh, dass er den noch gehabt hat. Er war auf Dunk-Island gewesen, hatte eine Selfmade-Millionärin aus Darwin kennen gelernt, die ihm nicht mehr von der Seite gewichen war, hatte in einer Badehose mit Gummisandalen  an den Füßen (die später Flipflops heißen sollten) neun Löcher Golf gespielt, weisungsgemäß wegen der Giftschlangen keinen Rough-Ball gesucht und dennoch seinen Flight gewonnen.
Aber das war gegenüber einem anderen Erlebnis nicht wichtig. Das neunte Loch lag damals unter einem alles überschattenden Mango-Baum dessen reife Früchte erst einmal aus der Put-Linie geräumt werden mussten. Da saßen dann alle Golfer nach der Runde und vernaschten einträchtig die Mangos...
Als der Mann seiner One-Night-Stand-Millionärin im Morgengrauen gestand, dass er nicht nur Familie, sondern auch einen Helikopter "zu warten" hätte, der ihn"in  mission" nach Hamilton Island brächte, wären deren damals angespannte Besitzverhältnisse, beinahe im Handstreich von der Liebestollen geklärt gewesen...
Jetzt auf seinem Samsonite dachte der Mann, dass ihn nun vielleicht die Strafe einer höheren Instanz erwarte und wurde Demütig - ja geradezu dankbar, dass er mit zahmen Delphinen hatte kuschelig schwimmen dürfen und mit einem HobieCat  Katamaran zwischen den Whitsundays gekreuzt war.

Und dann hatte ihn der nächste Helikopter auf diesem Airstrip abgesetzt. "Kollege kommt gleich", hatte der Pilot ihm noch unter dem anschwellenden Lärm der beschleunigenden Rotoren zugebrüllt. Dann diese Stille, die jetzt schon die zweite Stunde anhielt. .Er holte immer wieder das zusammen gefaltete Telex mit einem Datum heraus, das nun bereits anderthalb Monate her war. Was, wenn es einfach verloren gegangen war? Würden die Aussies tatsächlich ein vermeintliches Reporter-Talent hier draußen am Ende der östlichen Welt verdorren lassen???

In der dritten Stunde des Wartens wurde der Durst schier unerträglich. Nicht der tatsächliche, denn der Mann verfügte ja wegen seines üppigen Körpers noch mindestens für drei Tage über Flüssigkeit. Und außerdem hatte er ja seine Körper-Funktionen (wie man später in einer von Computern beherrschten Welt sagen würde) auf Standby-Modus herunter gefahren. Seine noch wachen Augen hatten seine Umgebung nach Sokkuleten abgescant (der Ausdruck ist natürlich in diesem Zeit-Kontinuum auch nicht statthaft). Wozu hatte er denn seine Sirius-Rettungsdecke in der Kamera-Tasche?

Gerade wollte er sich zum in Sichtweite befindlichen Strand aufmachen, um vielleicht die benötigte Flüssigkeit durch das Fangen von Fischen mit seinem Survival-Kit auszugleichen, als er das Geräusch eines herannahenden Fliegers ausmachte und ihn dann auch noch sah. Er wedelt, mit der Rettungsdecke, schrie - ebenso blöder wie unnützer Weise - da war der Silverbird aber auch schon im unendliche Blau verschwunden.

Die dritte Stunde war angebrochen. Der Mann hatte gerade ein paar letzte, kryptische Zeilen für die Lieben daheim in seinen Konzeptblock geschrieben, als quasi lautlos eine winzige Maschine  "auf dem Teller" neben ihm aus dem Wind drehte. Ein "Zwölfjähriger" klappte die Kanzel-Kuppel hoch und sagte nur lapidar:
"Sorry mate! I'm a little late."

Wie sich herausstellte, war bei einem lokalen Fallschirmspringer-Meeting eine Maschine ausgefallen. Die für den Mann zum "pick up" vorgesehene, war kurzerhand umdisponiert worden, weil es ja schließlich um eine WM-Quali ging.

"They thought German Reporters are tough enough to wait" bekannte der fliegende Teenie, als er die Nase seines Minifliegers auf offene See hinaus steuerte.

Der Mann, der ja selbst einmal mit dem Fallschirm abgesprungen war, staunte nicht schlecht, als sie inmitten der bunten Champignons am Himmel auf dem lokalen Flughafen landeten. Und er staunte noch mehr, als der Kleine, der tatsächlich erst gerade 20 geworden war, ihn in ein Wasserflugzeug aus dem Jahre 1936 nötigte.
Es diente normalerweise, um Taucher ans äußere Barrier Reef zu fliegen. Heute würden die 36 Club-Ledersitze frei bleiben, denn der Reporter bekam den Copiloten-Sitz an den mit Mahagoni verkleideten Armaturen  und dem Steuerruder aus gleichem Edelholz zugewiesen...

Was für ein Erlebnis! Sie stiegen kaum, dann schwenkten sie nordwärts am Rand des Barrier Reefs in Richtung Townsend (NSW).
"Think you can fly this old Lady?" meinte der Kleine, dessen aeronautische Großmutter dieses "thoroughbred plane" hätte sein können. Dann überließ er mit einem simplen "straight North" dem Reporter die Verantwortung für das richtige Kurshalten. Mit offenen Fenstern flogen sie eine Zeit lang so dicht über dem Wasser, dass sie größere Fischschwärme sehen und Seglern zuwinken  konnten.

Als die Maschine in Townsend neben einer Maschine der JAl parkte stürzten die gerade gelandeten Japaner mit ihren Kameras auf die "zwei" Aviatoren zu und nötigten sie für ihre gezückten Kameras zu Posen von Welt-Umfliegern für ihre  Urlaubsalben...

"Thanks! You finally made my day", sagte der Reporter, aber der Jungspund hörte schon vom Tower seine Freigabe für den Rückflug. Ein kurzes Daumen hoch war alles - business as usual.

Dienstag, 1. Juli 2014

Luftschloss (erweiterte Fassung)

Liebe Leser!
Dieses Manuskript wurde schon aufgestückelt in meinem Blog "Briefe von der Burg" veröffentlicht. Jetzt habe ich es auf diesen Blog gepostet, auf den es eigentlich gehört. Allerdings ist dies nun eine erweiterte Fassung, die ich aus persönlichen Gründen bislang zurück gehalten habe. Wer es auf den Burg-Briefen schon gelesen hat, ist daher vielleicht erstaunt über die letzten Kapitel. - Ist ja doch eine gewisse Zeit seither ins Land gegangen.
Claus Deutelmoser  im Juli 2014




Luftschloss
 Roman


 Inhalt:

  1. Stur wie ein Esel

  2. Die Kalte Zeit

  3. Die Empfängnis

  4. Der Held der Arbeit

  5. Der Lenz

  6. Wie die Steine aus der Spur gerieten

  7. Traute

  8. Eine Art Zauberberg

  9. Das deutsche Wesen

10. Memento mori

11. Das Spiel der Spekulanten

12. Euros Gnaden

13. Die Rückkehr der Enkel

14. Wieder Warten auf die Russen

15. Blühende Landschaften







  1. Kapitel
 Stur wie ein Esel

  Die Alten des Dorfes fanden sich nach und nach schweigend auf der steilen Mauer im Schatten der Kastanien, Platanen und Akazien ein. Da sie ausnahmslos Schwarz trugen, muteten sie an wie eine zögerlich eintrudelnde Versammlung von großen, flatterigen Rabenvögeln auf einer Überlandleitung. Es mögen sich im Laufe einer halben Stunde wohl an die tausend Lebensjahre dort entlang der krummen Stufen versammelt haben, die in die mittelalterlichen Ruinen hineinführten.
  Weiter oben, schon im Schlagschatten der engen Gasse, summten und schwirrten die Schmeißfliegen um zwei gewaltige Dungfladen, die sich beim fallen Lassen fast über die gesamte Breite des Aufstiegs  ausgedehnt hatten.
  Die riesigen ligurischen Ochsen, die sich vor ein paar Minuten derart erleichtert hatten, bevor sie - die urgewaltigen Hinterteile voran - in ihre Cantina-Höhlen bugsiert worden waren, sorgten für ein weiteres Hindernis. Mit ihren Titanen-Köpfen und sabbernden Mäulern, die von beiden Seiten so weit in die Passage hineinragten, dass sie fast aneinander stießen, schufen sie ein respektables Bollwerk. Sie waren offenkundig froh, der schon in den Morgenstunden herrschenden Sonnenglut entronnen zu sein. Auch die Alten in ihren schwarzen Stoffsakkos mieden jeden direkten Sonnenstrahl und genossen den bisweilen kühlenden Atemhauch der Tramontana. Der Fallwind aus dem Appenin nährte einmal mehr die Hoffnung, dass ein paar kräftige Gewitter die eingeschränkte Wasserversorgung hier oben beenden mochten. Normalerweise hätten  sich die Männer im Dunkel der kühlen Kellergewölbe schon mal das erste Gläschen Rotwein des Tages gegönnt, aber dieses angekündigte Schauspiel wollten sie sich einfach nicht entgehen lassen.
  Sie warteten darauf, dass der lange Blonde und der mickrige Esel, den ihm einer aus ihren Reihen geborgt hatte, endlich aufgeben oder gar unter den Lasten und  der Glut dieses Vormittags zusammenbrechen würden. Fast die Hälfte der betagten  Rabenreihe hatte dem tedesco pazzo , dem verrückten Deutschen, wie sie ihn unter sich nannten, in der letzten Woche ein Stück zerfallenes Gemäuer an der steilen Ostflanke des mittelalterlichen Wehrdorfes verkauft. Einst als Rückzugs-Refugium gegen die Piraten auf einer Felsnase mitten in den schier unendlichen Olivenhainen der campagna imperese errichtet, war das Dorf nun im Jahre 1968 nahezu verlassen. Die Jungen waren wegen der vermeintlich leichteren Arbeit und des dolce vita, das ihnen das Fernsehen vorgegaukelt hatte, in die Industrie-Städte im Norden oder in die touristischen Ballungszentren der Riviera gezogen. Die Alten schufteten, gewissermaßen als letztes Aufgebot, so lange es eben noch ging, in diesem von Oliven- und Weinernten bestimmten Wartestand zum Jenseits.
  Und dann kam dieser Deutsche Spinner und zahlte für wertloses Gemäuer mal kurz eine Million Lire oder für ein verwildertes Stück Garten mit ein paar gegen die Trockenheit kämpfenden Zitronen- und Feigenbäumen unvorstellbare  600.000 Lire. Obwohl er offenbar so reich war, dass er sein Geld zum Fenster hinaus werfen konnte, begann er nun auch noch zur völlig falschen Jahreszeit damit, sich als Ruinen-Baumeister selbst abzukämpfen. Er würde knöcheltief durch die Ochsenfladen stapfen müssen. Der Esel würde bocken, wenn er zwischen den beiden Monstern hindurch müsste, und die gnadenlose Sonne würde dem hellhäutigen Blonden nach dem fürchterlichen Sonnenbrand einen gnädigen Hitzschlag versetzen, noch ehe nur eine der sinnlos erworbenen Mauern wieder stünde.

  Der Baustoff-Händler aus Borgomaro hatte alles unten an der Schotterstraße abgeladen, was Bernhard Kleiner für den ersten Bauabschnitt bei ihm geordert hatte: Zementsäcke, einen stattlichen Haufen schwarzen Schiefersandes, der wie das Teergranulat erst noch in Kiepen umgefüllt werden musste,  Dachrinnen, Leitungsrohre, Kabel und eine Miet-Mischmaschine. Näher als die zwei Serpentinen vom Hauptort herauf an den unteren Dorfeingang ging es nicht. Der Rest würde harte körperliche Schlepparbeit sein; zweihundert Meter über Stufen und steile Plattenwege hinauf zur eigentlichen Baustelle. Es war zu befürchten, dass die Hälfte des Materials über Nacht verschwunden sein würde, wenn Bernhard es nicht  binnen eines Tages auf sein gesichertes Terrain geschafft hätte.
  Bernhard hatte im Morgengrauen bereits Bekanntschaft mit seinem langohrigen Assistenten gemacht. Fulvio, der Dorfälteste, hatte ihm den Graukittel als sconto für große, grob behauene Sandstein-Quader überlassen, die der Deutsche ihm abgekauft hatte. Was für ein Trottel! Fulvio hatte sich die ganze Zeit über die herumliegenden Dinger geärgert. Jetzt schaffte der Deutsche sie fort und zahlte auch noch dafür. Kein Mensch würde heutzutage noch diese Brocken verarbeiten. Laura, seine Frau, müsste dann nach der Räumung des Trümmerfeldes nicht mehr zu ihrem Gemüsegärtchen an den oberen Ortsrand. Jetzt würde sie einen Garten direkt vor der Haustür bekommen. Ein Garten am Haus - das war für die Bewohner solcher Nester in den Bergen ein Zeichen von echtem Wohlstand.
  - Was der Esel, der Beppo hieß, ganz sicher nicht war. Kaum weniger hinfällig als sein Eigentümer balancierte Beppo einen stattlichen Hängebauch auf ziemlich zerbrechlich wirkenden Stelzen. Der Rücken hing so durch, dass Bernhard, der von Eseln ziemlich wenig verstand, sich fragte, wie der Arme überhaupt den Berg hochkommen sollte. Geschweige denn nur einen Sack Zement dabei würde tragen können. Aber als er ihm instinktiv eine vorsorglich eingesteckte Kohlrübe als Akt der Fraternisation hinhielt, glaubte er in den aufmerksamen Augen des Tieres so etwas wie sein "Alterasino" zu entdecken: Sturheit, Verschlagenheit aber auch ein Beharrungsvermögen, das keiner beiden anzusehen vermochte...

  Und dann hatten die beiden Sturköpfe mit ihrer scheinbaren Sisyphos-Arbeit begonnen:  Der 31jährige Bernhard, der mit seinem lang gezogenen Adlerprofil und der hoch mögenden Kopfhaltung eher anmutete wie ein britischer Gardeoffizier und der alterslose Beppo, der mit dem Auflegen des Tragegeschirrs auf einmal seinen Rücken mit dem "Jesuskreuz" auf der grauen Schulter durchstreckte und keinen Hängebauch mehr hatte. Selbst bei zwei Zementsäcken auf jeder Seite bog sich der Rücken des Esels nicht mehr durch, so dass Bernhard, der vor dem Tier nicht zurückstecken wollte,  seinerseits ordentlich schulterte.
  Der lange Deutsche hatte ebenfalls unsichtbare Kraftpotenziale an seinem hageren Körper, die manchem Widersacher oder vorlauten Mitarbeitern auf den Baustellen schon zum Verhängnis geworden waren. Das waren keine Muskelprotzereien, sondern routinierte, abgestimmte Bewegungsabläufe aller Gliedmaßen. Sie erweckten den Eindruck absoluter Mühelosigkeit. Als hätte der Schlacks leicht selbst das Quantum des Esels bewältigt. Sie schafften so an die 15 Säcke pro Stunde. Am Ende der zweiten Stunde fanden sich dann die "Rabenvögel" ein, denn die Kunde von den unsichtbaren Bärenkräften Bernhards hatte sich zwischen den wenigen noch bewohnten Häusern schnell herumgesprochen. Jetzt mit der Hitze musste der Mann doch wohl aufgeben...
  Aber Bernhard richtete sich ganz nach dem Rhythmus von Beppo. Sie machten nach jedem Aufstieg ein Päuschen, das der Esel bockig einforderte. Tranken das herrlich kühle und mineralhaltig schmeckende Wasser aus der Fontana und teilten brüderlich ein Stück Foccacia bevor sie leichtfüßig wieder zur Schotterstraße hinunter trabten...
  Aber dann war da in der Gasse auf einmal dieser penetrante Ammoniak-Gestank, und die Bremsen fielen über sie her. Von den Monster-Hörnern, die drohend den Weg versperrten, ganz zu schweigen. Bernhard spürte, wie sich die Augen der "Raben" in seinen Rücken bohrten, als er erstmals auf die neuen Hindernisse zustrebte. Er hatte seine bewährten deutschen Norm- Arbeitsstiefel mit den Schutzkappen an und patschte mitten in die Ochsenfladen hinein, dass es nur so gegen die Hauswände spritzte. Und als sich die Titanen-Köpfe nicht in ihre Höhlen zurückziehen wollten, trat er dem einen mit frisch gedüngter Sohle fest genug gegen die weichen Nüstern, so dass auch der andere diese Schmerzen ahnen konnte. Diese Behändigkeit trotz der Last auf seiner Schulter nötigte den Alten schon Respekt ab. Sie nickten einander beifällig zu. Doch noch immer war das sardonische Lächeln aus ihren von Sonne und Alter plissierten Gesichtern nicht ganz verschwunden, denn jedermann kannte Beppos Angst vor den spitzen Ochsenhörnern.
  Und richtig, kaum war Bernhard, der sich den Zaum des Esels an den Werkzeuggürtel gehakt hatte, vorbei und ein paar Stufen weiter oben, schwangen die Riesenschädel der Ochsen wieder auf die Gasse hinaus. Die zwei Lastenträger waren in der Falle, weil der Esel sich nicht weiter bewegte.
  Wären die Ochsen Bauarbeiter von Bernhard gewesen, so hätten sie nun gewusst, dass damit die zweite Reizstufe des stoischen Deutschen erreicht war. Der drehte sich - immer noch ruhig - um die bepackte Achse, womit er die Longe zum Esel verkürzte und sich beim Abstieg nicht verhedderte.
Auf einer Stufe höher angekommen, trat er nochmals zu. Diesmal nach beiden Seiten, und jetzt tat es richtig weh, weil die gezielten Tritte auf die Nasenringe der Tiere trafen. Es erhob sich ein ohrenbetäubendes Gebrüll, und die annähernd eine Tonne schweren Ochsen bäumten sich dermaßen in ihren Gewölben auf, dass man das Gefühl bekam, die darüber liegenden Häuser würden von einem Erdbeben erschüttert.
  Beppo, der schlaue Esel, nützte die schmerzliche Verwirrung, um an  Scylla und Charybdis vorbei zu klettern. Aber dann blieb er eine Stufe oberhalb - außerhalb der vermeintlichen Reichweite der Hörner - plötzlich bockig stehen, als wolle er das Herausschießen der wütenden Ochsenköpfe  noch einmal regelrecht provozieren.
  Und die dummen Ochsen fielen drauf herein. Als sie mit mächtigem Schädelschwänken nachtarocken wollten, zeigte sich Beppo Bernhard als Bruder im Geiste zumindest ebenbürtig: Trotz seines in Hangneigung beladenen Schwerpunktes keilte er mit seinen zierlichen Hufen über die Hinterhand paarweise zweimal elegant aus - wie ein Lipizaner in der Wiener Hofreitschule - und traf die Monster noch einmal hart an den schmerzenden Nüstern.
  Bei den nächsten Anstiegen verschwanden die Köpfe dann in den Höhlen, sobald sie die beiden zu Gesicht bekamen. Bis Mittag war bis auf die Mischmaschine alles Material zu Bernhards Baustelle hoch geschafft. Die beiden Recken gönnten sich im Schatten der eingestürzten Altbauten eine ausgiebige Siesta, in der der Esel vom Geschirr befreit an eine schattige Mauer gelehnt schlief und Bernhard mit einem Sandsteinquader als Kopfkissen in das Azur des Himmels starrte und verzweifelt darüber nachdachte, wie er die Mischmaschine herauf schaffen sollte.
  Dann war auch er eingeschlafen. Als er erwachte, stand die Mischmaschine an einem geeigneten Platz vor seinem bröckeligen Tor. Ganz kommentarlos hatten die Alten ihm mit Ochsenkraft ihren Respekt gezollt. Na, nicht so ganz, denn ein noch feuchter Ochsenfladen stank breit geplatscht von seiner Eingangsstufe und beherbergte schon massenhaft dicke, grün schillernde Fliegen.
 
  In diesem ersten Jahr als Ruinen- und Grundbesitzer in Italien konnte Bernhard weder Italienisch noch hatte er einen Führerschein, der ihm eine unabhängige Mobilität ermöglicht hätte. Zum Telefon,  das nur mit Gettoni aus der Bar Tabacchi  im Capo luogo funktionierte und auf Fernamtvermittlung angewiesen war, musste er fast tausend Stufen hinunter und wieder zurück. Für Behördengänge war er auf den zweimal am Tag verkehrenden Bus angewiesen oder er klemmte sich zu einem der Olivenbauern in die für ihn viel zu kleinen Führerstände der Ape; jene nach Zweitaktgemisch stinkenden, dreirädrigen Lieferkarren, die bergab aus jeder Kurve zu fliegen drohten und bergauf so langsam wurden, dass man am liebsten ausgestiegen wäre, um zu schieben.
  Was Bernhard mit Worten noch nicht erreichen konnte, schaffte er mit seiner Hände Arbeit. Die einfachen Menschen im Appenin machten ja ohnehin nicht viel Worte. Aber sie wussten handwerkliche Fähigkeiten über alle Maßen zu schätzen. Es war  dies ja eigentlich nur als ein erster Urlaub zum Grunderwerb und zur Regelung möglicher notarieller Angelegenheiten  gedacht gewesen. Sein Konzept sah vor, dass er künftig die saisonal bedingte Arbeitslosigkeit als Maurer in Deutschland hier in Italien nutzte, um das in die Tat umzusetzen, was ihm als Achtjähriger in Vorpommern während des gnadenlos kalten letzten Kriegswinters geweissagt worden war und was er sich daraufhin selbst geschworen hatte:
  Ich will ein Schloss im Himmel, und nie wieder frieren müssen!
  Bernhard war von einer zögerlichen, reservierten Gott-Gläubigkeit, die keiner Religion anhing und beherzigte eine unumstößliche, persönliche Moral, so dass ihn Freunde schon mal flapsig in Anspielung auf seine Tätigkeit den "Freimaurer" nannten. Jedenfalls hatte er es als Fingerzeig des Himmels empfunden, als er erstmals bei der Suche nach seiner südlichen Traumimmobilie auf das Wehrdorf Castellinaria gestoßen war.
  Zunächst hatte ihm etwas vorgeschwebt, was die Einheimischen einen Rustico nannten - ein verlassenes Gemäuer auf einem ordentlichen Stück Land in Meernähe, auf dessen Grundriss man neu bauen durfte. Aber dafür reichte das Geld nicht, das seine Frau Traute und er zur Seite gelegt hatten, seit sie nach zwei Fehlgeburten wussten, dass sie kinderlos bleiben würden. Das waren rund 6000 Mark - ein halber Jahresverdienst. Aber was kostet schon ein Traum? Der Immobilien-Makler hatte ihm im schlechten Deutsch beschieden, dass er sich für diese Summe schon selbst auf die Suche begeben müsste,  ihm andererseits aber nachsichtig lächelnd den Tipp gegeben, sich in den weitgehend verlassenen Wehrdörfern des imperischen Hinterlandes umzusehen.
  Weil er ja im Urlaub war, hatte er sich sofort auf die Wanderung begeben. Am ausgetrockneten Flussbett des Impero entlang war er im gleißenden Licht in Richtung Berge marschiert. Kurz hinter der dreibogigen Römerbrücke von Pontedassio blickte er zu den Dörfern hinauf, die wie Perlen an den Zacken einer Krone hintereinander abgestuft und aufgereiht lagen, als seien sie von irdischen Wesen uneinnehmbar. Leuchtende Kleinodien im changierenden Grün von Oliven- und Eichenhainen, die auf Terrassen in den Himmel zu klettern schienen. Bernhard atmete so tief ein, als wolle er diesen Augenblick nicht nur optisch festhalten. Der heiße Duft von wild wachsendem Rosmarin, von Salbei, Lavendel und Ginster drang in Nase und Lunge. Samt der vorauseilenden Erkenntnis, dass er es gefunden hatte.
Da oben, im höchsten Ort würde er es bauen und es würde kein Luftschloss sein, wie es der Ortsname verheißen mochte: Castellinaria.
  Etwas über eine Stunde später in voller Mittagshitze war er an der steilen Ostflanke des um diese Zeit wie komplett ausgestorben wirkenden Ortes angekommen und blickte durch die leeren Fensterhöhlen und die Breschen im alten Gemäuer auf die Weinberge des tiefer gelegenen Nachbarortes, der in den azurblauen Dunst des Luftlinie nur fünf Kilometer entfernten Mittelmeeres ragte.
  Hätte das Schicksal es anders mit ihm gemeint gehabt, Bernhard wäre nicht nur ein Meister seines Faches und später ein umsichtiger Bauleiter geworden. In diesem Moment wurde er nämlich von einer übermächtigen Vision gepackt, wie dies alles aussehen könnte, wenn es denn seines und er auch sein eigener Baumeister wäre.
  "Si vende", sagte da eine Stimme hinter ihm.
  "Si! - Quanto?", antwortete Bernhard ohne sich umzudrehen mit einem von gut einem Dutzend italienischer Vokabeln, die er daheim von seinen Gastarbeiter-Kumpeln aufgeschnappt hatte.
  Doch so einfach war es zunächst nicht, um dann doch wieder viel unkomplizierter zu sein als in Deutschland. Weil Bernhard kletternd umrissen hatte, was er haben wollte, hatte er es auf einmal nicht allein mit dem ersten Mann zu tun, der ihn angesprochen hatte, sondern mit dreien. Und weil er für seine Frau Traute noch ein Stück Garten wollte, kam noch eine Witwe hinzu - und Fulvio, dessen Sandsteinquader es ihm angetan hatten.
  Bernhard hatte die ruhige Schönheit dieser Steine mit seinem geschulten Blick sofort erkannt, obwohl sie wie Kraut und Rüben auf dem Nachbargrundstück verstreut lagen und zum Teil schon dicht von Brombeerranken überwuchert wurden. Auf seinen unfreiwilligen Wanderungen hatte er genug Gelegenheit gehabt, die meisterliche Schicht-Technik ligurischer Trockenmauern zu studieren. Sie stützten die Terrassen  der historischen Olivenhaine zum Teil seit vielen Jahrhunderten unverrückbar. Hier und da waren sogar noch die Treppen aus massiven Trittsteinen zu sehen, auf denen die Bauern  die bisweilen zehn Meter hohen Mauern erklommen; lange, schmale Quader, die hintereinander versetzt zur Hälfte in der Mauer verklemmt waren und auch von gelegentlichen Erdbeben nicht herausgeschüttelt wurden.
  Man musste einen Blick für die Formen und Dimensionen der Steine haben, um sich eine Vorstellung von den Möglichkeiten der Gestaltung machen zu können. In den ersten Momenten seiner Visionen hatte Bernhard diese erkannt und daran eine praktische Überlegung geknüpft: Irgend ein Steinmetz hatte sich vor Jahrhunderten die Mühe gemacht, diese Sandstein-Quader zu brechen und zu behauen und ein Maurer hatte sie sich so geordnet, dass daraus ohne Mörtel oder sonstiges Füllmaterial ein solides Mauerwerk geschichtet werden konnte. Es ging also lediglich darum, für die Grundmauern ein mittelalterliches Puzzle mit modernen Materialien zusammen zu fügen, und Bernhard wusste, dass die unverfälschte Struktur grandios aussehen würde. Dass die Puzzle-Teile nicht selten bis zu einem halben Zentner schwer sein würden, focht ihn nicht an. Wozu hatte er denn den guten alten Beppo?
  Fulvio staunte nicht schlecht, als sich Bernhard bei ihm bis zum Winter verabschiedete und ihm seinen Sarg großen "Zauberkasten", der per Bahnfracht nachgekommen war, zur Aufbewahrung anvertraute. Mit einer Mischung aus Hochachtung,  Staunen und ein wenig Missgunst betrachtete er die neuen Grundmauern, die der Deutsche in Rekordzeit aus seinen "wertlosen" Steinen zusammengefügt hatte. Mit großen Stahlwinkeln, Wasserwaagen und Richtschnüren aus der Kiste hatte er aus den Vorgaben längst verblichener ligurischer Meister ein Mauerwerk unerhörter Ästhetik geschaffen. Selbst das fast noch zur Gänze erhaltene Castello aus dem elften Jahrhundert im Zentrum des Dorfes wies nur an der Hauptfront eine derart erhabene Struktur auf:
  Je fünf ähnliche und doch nicht gleiche, sehr glatte Quader stützen rechts und links vom Eingang einen fast zwei Meter breiten und fünfzig Zentimeter hohen, leicht gewölbten Portalstein. Die zwei Fensterstöcke zur Gasse links und rechts vom Eingang waren Miniaturen dieser Konstruktion. Wenn die Mittagssonne der Länge nach in die Gasse schien, begannen diese Einfassungen honiggelb aus dem ockerfarbenen Netz des übrigen, rauer behauenen Mauerwerkes zu leuchten. Niemand konnte sich dieser archaischen Schönheit verschließen, und in dem Maße, in dem Bernhard den alten Steinen zu neuem Glanz verholfen hatte, schien auch die Fontana am Platz vor dem Castello plötzlich das Wasser eines erquickenden Jungbrunnens zu spenden. Jedenfalls wehte entfacht vom Tun des Deutschen ein neuer Wind durch die fast schon ausgestorbenen Gassen. Das waren weder Scirocco noch Maestrale, keine Libecciata und auch keine Tramontana - dieser Wind hieß Hoffnung und Zukunft für ein verlassenes Dorf.  Der tedesco pazzo hatte sich verblüffend schnell den nachbarschaftlichen Respekt als vicino Bernardo verschafft.






 2. Kapitel
Die kalte Zeit


Als Bernhards Vater in den Krieg zog, verspürte der Sechsjährige keine Trauer des Abschieds, sondern Erleichterung. Erst als die Feldjäger keine neun Monate später die Meldung überbrachten, dass sein Vater niemals mehr heimkommen würde, erinnerte er sich an diesen Moment und sein grenzenlos egoistisches Gefühl des befreit Seins.
  Seit er gerade laufen konnte, war Bernhard ein wildes raumgreifendes Kind gewesen. Über den enormen Bedarf an Raum hatte sich ein Gefühl für Zeit bei dem Jungen zunächst nicht entwickeln können. Selbst wenn er die Gänse dabei hatte, ging es Kilometer weit an den Entwässerungsgräben entlang und über Moorwiesen schier unendlicher Dimensionen, die den Rückweg vergessen ließen. Doch für jede Unpünktlichkeit, unproduktive Tagträumerei oder Verspieltheit setzte es vom Vater unbarmherzige Prügel - mal mit der bloßen Hand und bei schwereren Verfehlungen auch mit dem steifen Bauerngürtel.
  Die Kleiners waren Kleinbauern und stramme, bekennende Sozis in einem Umfeld, das noch dem streng hierarchischen deutschen Landjunkertum nachhing. Die zwei verwitweten Großväter, Vater und Mutter sowie er und sein zwei Jahre jüngerer Bruder samt der bereits im Krieg geborenen Schwester waren zurechtgekommen mit dem, was die kleine Landwirtschaft abwarf. Aber was würde jetzt werden, da der Vater - wie es hieß - auf dem "Feld der Ehre" geblieben war? Bernhard, der erst in die Schule kommen sollte, begriff den Unterschied zwischen Ähre und Ehre akustisch nicht. Das war in den mecklenburgischen oder pommerschen Idiomen dort im Grenzland zwischen Brandenburg und Pommern kaum zu differenzieren. Er stellte sich vor, der tote Vater läge irgendwo in einem dieser für einen Knaben unüberschaubaren Kornfelder seiner Heimat. Seine Leiche würde vielleicht erst im Herbst bei der Mahd gefunden... Aber aus einem noch größeren Missverständnis zwischen ihm und dem Vater war die nicht zu schulternde Bürde geworden, die nun auf dem Knaben lastete:
  Als hätte Carl Kleiner im traurig an seinem hageren Körper schlotternden Feldgrau geahnt, dass es ein Abschied für immer von seiner Familie sein würde, hatte er das "Schiffchen" des einfachen Gefreiten vom Kopf gezogen und sich so vor seinen Ältesten hingekniet, dass er ihm mit ernsthaften Blick direkt und unausweichlich in die Augen sehen konnte:
  "Wenn ich nicht zurückkomme, bist du der Mann im Haus! Die Nazis werden den Krieg verlieren. Du bist mir dafür verantwortlich, dass den Kleinen nichts passiert. Du weichst Ihnen nicht von der Seite. Und Schluss mit dem Zeit verbummeln!"
  Dann hatte er ihm seine silberne Taschenuhr in die kleine Hand gelegt, ihn fest umarmt und einen Kuss auf die Stirn gedrückt. Bernhard konnte sich an eine ähnlich zärtliche Geste in seiner gesamten bisherigen Kindheit nicht erinnern.
  Weil aber diese einzigartige Wärme nun von der Erinnerung ein ums andere Mal aufs Neue in seiner Seele entfacht wurde, war die daran geknüpfte Aufgabenstellung zugleich auch stete Mahnung an sein Gewissen. Die einzige väterliche Liebesbekundung geriet somit zur Bürgschaft.
  Zum Raum hatte Bernhard also jetzt diese kostbare Zeit, die tief verborgen in seiner Hosentasche bei jedem Schritt, den er fortan tat, an die Innenseite seines rechten Oberschenkels schlug. Nicht, dass die väterliche Uhr seine Räume kleiner gemacht hätte, aber sie gab Hin- und Rückweg eine Dimension von garantierter Pünktlichkeit. Sie gab allen - auch den noch so kleinen täglichen Tätigkeiten - eine von ihm selbst immer knapper bemessene Frist: zehn Minuten Holz rein schleppen, drei Minuten Herd anfeuern, zwei Stunden Gänse hüten, drei Stunden mit den Geschwistern spielen und sie beaufsichtigen, fünfzehn Minuten Wäschekorb tragen und Mutter die Stücke zum Trocknen anreichen - und so weiter, und so weiter.
  Als er im Frühjahr 1944 in die einklassige Dorfschule kam, hatte das "Meistern" der Zeit ihn bereits zu einer Diszipliniertheit reifen lassen, die sogar seiner Lehrerin auffiel: Weil ihm die Zeit nie zu lang wurde, und er im Rechnen bereits mühelos mit den Zweit- und Drittklässler-Jahrgängen mithielt.
  Weniger toll fanden es die beiden kleineren Geschwister. Im Windschatten von Bernhards Lausbübereien hatten sie auf dem kleinen Hof bislang ein Kinderdasein in fast absoluter Freiheit geführt. Nun erlebten sie einen Bruder, der in den Stunden, in denen ihm die kleinen Kleiners anvertraut waren, einen Gehorsam verlangte und ihnen eine Obhut auferlegte, die noch nicht einmal die Erwachsenen verstanden. Aber er hatte ihnen auch nie von der Verantwortung erzählt, die ihm der Vater beim Abschied aufgebürdet hatte.
  So machte ihm auch der "Straßenkampf" mit den größeren Kindern der Großbauern immer deutlicher, dass er nun zwar mit Raum und Zeit gut zurechtkam. Es fehlte ihm jedoch noch die Kraft als dritte Dimension. Ja, er war zäh, schlaksig und groß für sein Alter, aber dünn wie eine Bohnenstange. Seine Ungeduld konnte gegen diese naturbedingten Vorgaben des Wachstums nun einmal nichts ausrichten. Das wurmte ihn sehr. Also mutete er sich zur seelischen auch manch physische Last zu, die ihn täglich erneut an den Rand der Erschöpfung führte...
  Die Bürde des Vaters, die Stimme des Vaters in seinem Bewusstsein, da ist er sich heute sicher, hatte Bernhard auf geheime Weise vorbereitet. In seinen unauslöschlichen Erinnerungen wurde ihm später auch deutlich, dass er in seinem ersten Schuljahr zwischen zwei massiven Propaganda-Blöcken seiner Naivität beraubt wurde. Während die Lehrerin, ein kurvenreiches Klischee von einer BDM-Blondine, im Herbst 1944 immer noch nicht müde wurde, die sich in die Kinderherzen einnistenden Ängste vor der nahenden Gewalt mit Erzählungen von der Einzigartigkeit des Führers und der alles entscheidenden Wunderwaffe zu zerstreuen, wurde daheim spekuliert. Der Vater der Mutter - im Herzen immer noch KPD-Mitglied - und der Vater des Vaters - ein Anhänger der Sozialdemokratie - stritten abends mit gedämpften Stimmen am Herdfeuer. Sie diskutierten - mit gewissem tödlichem Risiko - ob wohl die unaufhaltsam heranrückenden Russen den Bauern und Arbeitern im Nachkriegsdeutschland endlich die so lang erhofften bessere Leben brächten.
  Vielleicht war die Ergebnislosigkeit dessen der Grund gewesen, weshalb sie immer noch am spärlichen Feuer saßen, als die anderen Nachbarn sich schon den ersten von der Oder kommenden Flüchtlingen  und ihren Trecks angeschlossen hatten.
  Nicht, dass Hitlers historische Fehleinschätzung über  Schlagkraft und Taktik der Roten Armee irgendetwas am Kollektivschicksal der Vertriebenen hätte verschlimmern können. Aber hier ging es um individuelle Tragödien. Sechs Schicksale von etwa fünf Millionen Menschen, die in jenen Tagen auf der Flucht waren. Wenn es schon für die Nazi-Militärstrategen nicht vorstellbar gewesen war, wie sollten dann Zivilisten mit diesem enormen Tempo gerechnet haben.
  Ab Beginn der vierten Januarwoche 1945 rannte die Rote Armee - ukrainische Verbände im Süden und weißrussische im Norden mit bis zu 80 Kilometern täglich bei ihrem Vormarsch auf Berlin auch über Teile Vorpommerns hinweg. Und das bei Temperaturen von bis zu 25 Grad minus. Die Kleiners, die auf ein Gerücht gehört hatten, in Greifswald und Stralsund würden Flüchtlingsschiffe warten, kamen nur noch bis zur Peene. Dann waren sie quasi von den Russen oben und unten überholt worden. Die eigenen Wehrmachtsverbände jagten die Trecks bei ihrem rücksichtslos angeordneten Rückzug auch noch in die Straßengräben.
  Der Film der Erinnerung im Gedächtnis des bald achtjährigen Bernhard Kleiner über diese Tage der Flucht - entwickelt, geschnitten und auf Lebenszeit gespeichert im Hinterkopf - hat so gar nichts damit zu tun, was dem Siebzigjährigen zu diesem Thema jüngst in Film und Fernsehen vorgeführt wurde. Die dramatische Ästhetik des Kamerablicks von außen über weite Schneefelder und grafisch angeordnete Alleen mit endlosen Menschen- und Wagenkolonnen bot sich ja den Flüchtlingen in der öden Kolonnenmarschiererei nicht. Selbst auf den sonst so heimeligen Nebenstraßen nicht, die die ortskundigen Kleiners gewählt hatten, um dem Rückzug der deutschen Landser und dem weiteren Anblick von in den Frostböden nicht zu beerdigenden Erfrierungs- und Erschöpfungstoten zu entgehen.
  Die Bilder, die im Alter auf einmal wieder häufiger in den Träumen erschienen, waren von einer unbarmherzigen Tiefenschärfe, die auch durch die spätere Kenntnis über historische Gesamtzusammenhänge nicht beeinflusst wurde. Es sind Bilder in der richtigen Abfolge, aber isoliert und - trotz Bernhards unkindlicher Disziplin unter diesem speziellen Aspekt - ohne Bezug zu Raum und Zeit. War dieser viel zu späte und aussichtslose Fluchtversuch nur eine Frage von ein paar Tagen oder gar von Wochen gewesen? Bernhard konnte es, da lange verdrängt, nicht mehr rekonstruieren und er kann auch niemanden mehr fragen, weil alle anderen aus der damaligen Fluchtgemeinschaft nicht mehr lebten. Es blieben quasi Momentaufnahmen oder Filmschnipsel:
  Der Aufbruch war für die Kleiner-Knaben zu allererst ein Abenteuer. Er war von der Mutter betrieben worden, nachdem Flüchtlinge in den Dörfern, durch die sie kamen, immer schauriger über Massenvergewaltigungen von Frauen und Kindern und Vertreibungen durch Rotarmisten berichteten.
  Friede, die Belgier-Stute, war ihnen von den letzten verzweifelten Requirierungen geblieben, weil sie trächtig war. Sie wurde vor einen Kastenwagen gespannt, der dem russischen Panje-Wagen nicht unähnlich war. Die Opas hatten zwei Heuraufen in Zeltform darauf festgezurrt und die Plane einer Rübenmiete darüber gespannt. Das sah komisch aus, - wie ein rollendes Indianer-Zelt - hielt aber die jeweiligen Insassen mit Stroh und Decken einigermaßen warm, weil so der bisweilen schneidende Wind halbwegs abgehalten wurde. Die Kleiners hatten außer dem Hausrat und ein paar persönlichen Sachen nichts von Wert. So wurden eher Gläser mit Rübensirup, Gänseschmalz und gefrorene Butter als Wegzehr unter das Stroh gepackt. Auch die auf Vorrat im Ofenrohr gebackenen Brotlaibe waren gefroren. So hielten sie sich  wenigstens und verschimmelten nicht.
  Die zwei Opas sahen am ehesten so aus, als würden sie schnell schlapp machen. Deshalb war klar, dass sie zur Stammbesatzung dieser merkwürdigen, rollenden Arche gehören würden - ebenso wie der kleine Bruder und die Schwester sowie ein betagter, auf einem Auge erblindeter Hahn und eine noch recht rüstige Legehenne. Ein Ganter und eine Gans konnten ebenfalls von diversen Zugriffen in Sicherheit gebracht und in Weidenkäfigen verladen werden. Blieb also nur noch Platz für einen weiteren Passagier. Seine Mutter und Bernhard wollten sich darin abwechseln, zu Fuß gehend, Friede am Halfter zu führen. Vorne ungeschützt dem Wind ausgesetzt auf der Deichsel zu sitzen, daran war bei diesen Temperaturen überhaupt nicht zu denken gewesen.
  Das Abenteuer hielt die erste Zeit an. Nun erwies es sich als Bestimmung, dass Bernhard nie ein Kind war, das vor längeren Märschen zurückschreckte. Und so kamen sie trotz des trächtigen Zugpferdes recht gut voran, indem sie sich halbstündig abwechselten. Mutter Kleiner hatte in weiser Voraussicht für ihren Sohn ein Paar ihrer Arbeitsstiefel mit Filzgaloschen und Stroh innen gegen die Kälte präpariert und das alte Außenleder mit Gänsefett getränkt. Harte Winter waren in diesem flachen, küstennahen Land ja keine Seltenheit und man wusste mit ihnen umzugehen. Aber die gnadenlos abstrafende höhere Macht sorgte nun für Temperaturen, die das bislang Erlebte vor allem bei Einbruch der Dunkelheit dramatisch unterbot.
  Das Abenteuer war in dem Moment zu Ende, da der kleinersche Wagen eines Abends in einen dieser Treck-Sammelpunkte rollte, die sich an den großen Kreuzungen der Landstraßen quasi von selbst formierten. Da sie wegen des geringeren Tempos stets spät dran waren, blieb meist nur ein Platz fern der schützenden Häuser und nahe der wohlweißlich außerhalb errichteten Latrinen...
  Wie viele Menschen waren da schon durchgekommen? An die dreißig Grad minus nachts sorgten dafür, dass das, was aus den Körpern ausgeschieden wurde, sofort gefror. In den Löchern der Donnerbalken bildeten sich so herausragende Kot- und Urinpyramiden, die die zu spät Gekommenen bestraften. Der bestialische Gestank und die evidente Gefahr, sich bei dieser mangelnden Hygiene anzustecken, wurden aber in Kauf genommen. Sich irgendwo im Freien bei der Verrichtung der Notdurft Erfrierungen zu holen, war  weit aus gefährlicher.
  Die Nächte unter diesen Bedingungen mit ihrer beengten körperlichen Nähe boten zwar einerseits auf der Ladefläche des Wagens verhältnismäßig mehr Wärme, aber sie zehrte auch an den Nerven. Die Opas drehten durch. Anfangs waren es noch politisch motivierte Zänkereien, aber dann geriet das ganze  zwischen den beiden aus den Fugen. Der etwas jüngere KPD-Opa bekam aus unersichtlichem Grund vom SPD-Opa in immer schnellerer Abfolge Kopfnüsse auf immer die gleiche Stelle. Begleitet wurde diese Aktion von zusammenhanglosem Gebrabbel, so dass die kleinen Kleiners zunehmend Angst bekamen und Bernhard aber auch seine Mutter befürchteten, beide verlören komplett den Verstand. Zumal sich nach einem Tag - dort wo die Kopfnüsse unterhalb des verbliebenen Haaransatzes landeten - eine heftige Beule bildete, die sich wenig später blutunterlaufen auch noch entzündete und aufbrach.
  Aber da waren sie schon an der Peene. Bei Neukalen war aus der Richtung Kummerower See im Süden und vom Stettiner Haff im Nordosten - wie das Grollen und Wetterleuchten eines Gewitters -  der Krieg zu ahnen, ohne dass die Kleiners je direkt mit ihm in Berührung kommen sollten. Die schlechten Nachrichten aus dem eingekesselten Ostpreußen, aus Königsberg und Danzig überschlugen sich. Aber am erschütternsten waren die Gerüchte über das Schicksal eines Flüchtlingsschiffes aus Gotenhafen. Hatten ja auch sie die Illusion gehabt, per Schiff in den vermeintlich sichereren Westen zu gelangen. 
  Der Weg nach Greifswald schien ohnehin bereits blockiert, und der eine Opa hatte immer noch nichts Besseres zu tun, als auf den anderen Opa einzuprügeln. Damit aber retteten sie ihrer Familie sogar möglicherweise indirekt das Leben. Denn viele, die dann weiter zogen, erlebten das Ende des Winters nicht.  Die junge Witwe jedoch war vor allem am Ende ihrer psychischen Kraft und entschied resigniert:
  "Sterben können wir auch zu Hause!"
  Am nächsten Morgen kehrten sie also um, und die Sonne sandte ihnen ein Zeichen. Sie schien ihnen ins Gesicht und sorgte dafür, dass die Minus- Temperaturen ein wenig erträglicher wurden. Es war wie das Schweben in einer bunt schillernden Seifenblase. Unwirklich zogen sie gegen den Flüchtlingsstrom auf Abwegen durch eine scheinbar heile Welt.
  Deutschland ein Wintermärchen in all diesem Chaos? Mit jedem Kilometer, den die Kleiners sich der Heimat näherten, normalisierte sich das Verhalten der Opas, die zeitweilig sogar die Führung übernahmen, damit ihnen auf Schleichwegen niemand entgegenkam, der unangenehme Fragen stellte oder gar noch Schlimmeres tat. Es bleibt auf immer ein Rätsel wie sie unbehelligt nach Hause kamen. Die kleinen Höfe in ihrem Zeilendorf Pangerow waren ausgestorben aber offenbar unversehrt. Das eigene windschiefe Walmdachhaus, Fachwerk mit im Schneelicht leuchtend roten Backsteinen, empfing sie, als seien sie nur kurz fort gewesen. Ein paar Handgriffe nur, dann war das Leben fast wie vorher. Was für ein Luxus war nun dessen einfache Behaglichkeit.
  - Doch die war trügerisch. Denn eine unsichtbare Reisebegleiterin hatten sie mitgebracht: Die Diphtherie. Das Hannele erkrankte als erste, dann erwischte es den kleinen Robert und schließlich beide Opas. Nur Mutter Kleiner und Bernhard, die sich eigentlich mit den eingefangenen Bakterien am längsten in der eisigen Luft aufgehalten hatten, blieben verschont und unternahmen verzweifelte Versuche, die in dieser Mangelversorgung tödliche Krankheit mit primitivsten Mitteln zu bekämpfen. Natürlich gab es weit und breit keinen Arzt mehr und so etwas wie frischen Zitronensaft erst recht nicht. Da die unverkennbare Rachenbräune jedoch schon in den vergangenen Kriegsjahren hie und da grassiert hatte, verfügte Martha Kleiner über Grundkenntnisse, sie zu erkennen  und was mit den Patienten zu geschehen hatte, aber auch welche Schutzmaßnahmen die nicht Befallenen ergreifen sollten. Martha und Bernhard zogen in den bis auf Friede leeren Stall. Jeder Patient wurde in einem separaten Zimmer unter Quarantäne gestellt, die Küche zur Desinfektionsstation mit permanent kochenden Wasserkesseln.
  Noch immer waren die Russen nicht gekommen. Der unermüdliche Bernhard klapperte die ganze Umgebung heldenhaft nach Hilfe ab. Aber wenn er dann schon mal jemanden überraschend antraf, wurde er meist feindselig abgewiesen, besonders dann, wenn er vom Diphtherie-Verdacht bei seinen Geschwistern und Großvätern berichtete. Die verheerende Ansteckungsgefahr war in diesem Teil Deutschlands in guter Erinnerung. Doch Bernhard gab nicht auf. Was er  mit der Gewissensstimme seines Vaters im Kopf leistete, war für ein Kind seines Alters übermenschlich. Aber auch seine Eingebungen waren es.
  Weil Kuhmilch nicht vorhanden war, probierte er, ob die hochträchtige Friede bereits laktierte. Und siehe da, für eine Glasflasche täglich reichte es. Seine Geschwister kamen aber nicht nur in deren heilenden Genuss. Bei seinen Wanderungen mit den Gänsen hatte er oft eine  mysteriöse Mecklenburgerin besucht, die in einer Kate an einem kleinen Teich hauste und ihren Lebensunterhalt mit dem Sammeln von Pilzen, Kräutern und allerlei Beeren bestritt. Sie war gelegentlich auch mal Hebamme, aber in den vergangenen Jahren häufiger das Gegenteil, wenn sich  die Kriegsbräute zu allein gelassen gefühlt  und nicht aufgepasst hatten...
  Auf Gutglück stapfte er einige eisige Kilometer über die entlegenen Felder und nutzte des Öfteren den Schutz der vom Wind blank geputzten, zugefrorenen Entwässerungsgräben. Was wären das für den dem Knabenalter so jäh entrissenen Bernhard vor kurzer Zeit noch für tolle Glitschen gewesen. Doch jetzt beschleunigten sie nur sein ernsthaft zielgerichtetes Fortkommen.
  Nach etwa einer Stunde sah er das Hexenhäuschen unter Birken stehen. Doch schon von Ferne bot die Kate einen verlassenen Eindruck. Unberührte Schneeflächen rundherum machten deutlich: hier war seit dem Schneefall niemand mehr gewesen. Bernhard wollte sich gerade umdrehen, als er sah, wie sich aus dem Ofenrohr, das schwarz und schief aus den Holzschindeln ragte, leichter weißer Rauch kräuselte.
  Er hastete ohne nachzudenken direkt über das verharschte Feld auf die Hütte zu. Ein ums andere Mal stolperte er und fiel hin. Die scharfen Kristalle schnitten in seine löchrigen Fäustlinge und er machte dabei auch einen schrecklichen Lärm. Aber er war ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht argwöhnisch.
  "Muhme Alice. Muhme Alice!" Er trommelte gegen die verrammelte Tür an der rückwärtigen Wand der Behausung. Es verging einige Zeit, dann hörte er wie innen der schwere Riegel bewegt wurde.
  "Bernhardchen? Bernhardchen!... Wat biste jroß jeworden. Wat machste denn hier so janz alleine?" Dabei spähte sie misstrauisch in alle Richtungen, als vermute sie ganz das Gegenteil.
  Es sprudelte nur so aus ihm heraus. Von der Flucht, von der Rückkehr, von der Diphtherie. Alice zog ihn darauf hin heftiger in die Hütte, als es notwendig gewesen wäre. Drinnen in dem einzigen Raum war es wärmer, als es der spärliche Rauch hätte vermuten lassen. Durch die frische, kristallene Luft, die er über eine Stunde eingeatmet hatte, war ihm der strenge, weibliche Körpergeruch heftiger und anders bewusst als durch die in jüngster Zeit erzwungene Tuchfühlung zu seiner Mutter. Muhme Alice hatte nur ein grobleinenes Nachthemd an und war barfuss.
  Ohne dass er die aufkommenden Erinnerungen schon als erste sexuelle Regungen zuordnen konnte, erinnerte er sich in diesem eher unpassenden Augenblick daran, wie er die Muhme im vergangenen Herbst heimlich beim Baden in ihrem Weiher beobachtet hatte. Die langen schwarzen, von weißen Strähnen durchzogenen Haare, die sie normalerweise als strengen Dutt trug, hatten ihr tropfnass bis ans Hinterteil gereicht, dass ihm fast so wuchtig erschienen war, wie das der trächtigen Friede. Sie hatte sich zum Trocknen auf dem kleinen Steg mehrmals um die ganze Körperachse gedreht, und Bernhard hatte voll innerer Unruhe aus seinem Versteck unter den Birken die enormen Brüste und den bedrohlichen Haarbusch zwischen ihren Schenkeln betrachtet. Wäre Bernhard ein paar Jährchen älter gewesen, hätte er die Muhme Alice nicht als alt, sondern vermutlich als attraktive, vollreife Schönheit wahrgenommen.
  Oben auf der Schlafempore über dem Kanonenofen, knarzte die Bettstatt, aber Bernhard tat so, als höre er das nicht. Die Muhme war nicht allein, und Bernhard registrierte etwas im Unterbewusstsein, das ihm erst viel später wieder in Erinnerung kommen sollte: An den Trockenstangen hingen Mantel und Hose in Feldgrau und auf dem Boden standen mit Heu ausgestopfte "Knobelbecher" wie sie auch der Vater bei seinem Abschied getragen hatte.
  Ob die Muhme merkte, dass Bernhard etwas gemerkt hatte? Eher nicht. Denn sie ließ sich Zeit mit dem Überlegen, wie sie dem Kleinen wohl helfen könne. Sie stellte ihm einen Hagebutten-Tee auf die Bank am Ofen und nahm heimlich schmunzelnd zur Kenntnis, dass der Blick des Kleinen bisweilen etwas länger an ihrer Oberweite hängen blieb als in dieser Altersklasse üblich.
  Sie suchte diverse Dinge aus ihren duftenden Truhen: ein Beutel getrocknete Kamillen mit Hagebutten, eine Flasche Sanddorn-Extrakt und Eibenbeeren. Eibenbeeren? Bernhard wusste, dass Friede immer von den Eibenhecken ferngehalten werden sollte, weil Eiben absolut tödlich für Pferde seien. - Das sagte er der Muhme.
  "Dummchen!. Dat is dat Fruchtfleisch der Beeren! Dat ist voller Zauberkraft. Sag deiner Mutter, sie soll einen Esslöffel Beeren mit einem Esslöffel heißem Wasser zerdrücken und den Kleinen in den Rachen pinseln. Die Opas sollen damit jurgeln."
  Als er alles im Brotbeutel verstaut hatte, wollte er gehen, aber die Muhme hielt ihn noch einmal zurück:
  "Lass mich deine Hände sehn Bernhardchen!"
  Der Knabe streckte ihr unbedarft die Hände entgegen. Sie drehte die Linke mit der Handfläche nach oben und fuhr die Linien nach. Dann schloss sie die Augen:
  "Du wirst dat überleben Bernhardchen! Und du wirst ein Held wider Willen. Jroße, blonde Engel werden dich begleiten oder sojar beschützen. Und du wirst’n Schloss im Himmel haben und nie mehr frieren müssen, wenn du alt bist."





 3. Kapitel
Die Empfängnis

  Bernhard hatte den Sandsteinkegel am linken Pfeiler des Portals nicht zementiert. Als er Mitte November als Anhalter von Kempen bei Köln innerhalb zweier frostiger Tage nach Castellinaria zurückkehrte, erlebte er eine böse Überraschung. Wie hatte er, der den Ort bisher nur bei staubiger Gluthitze kannte, auch nur ahnen können, welche Unwetter über sein Luftschloss hinweg brechen würden und welche Aufgabe dieser unscheinbare Kegel dann zu erfüllen gehabt hätte?
  Wie so oft hatte der die Ligurer so depressiv machende Scirocco aus Südost gegen Ende des Herbstes die Wende eingeleitet.  Er hatte dafür gesorgt, dass der Schönwetterwind Ponente, der aus Südwest mit seiner warmen, feuchten Luft über das Mittelmeer kam, gestoppt wurde. Die Luftfeuchtigkeit staute sich an den Bergen oberhalb von Sanremo zu gewaltigen, dunkelgrau drohenden Wolken-Türmen. Als der Scirocco sich dann zurückzog, saugte er den eiskalten Maestrale an,  den D-Zug schnellen Fallwind der von Nordwest aus den bereits dick beschneiten Gipfeln der Seealpen heran raste. Die warmen Wolken, die jetzt wie überkochender Leim träge und schwer von Feuchtigkeit über die Bergkämme in die Valle d' Olio rannen, wirkten auf diesen schnellen Wind wie die Reibflächen der staatlich regulierten Zündholzschachteln (die allerdings ebenso selten berechenbar funktionierten). Im Nu waren Gewitter infernalischen Horrors entfacht. Der Regen wurde mitunter waagerecht unter die Dächer gepeitscht, wandelte sich dann in Sekunden zu Hagelstrichen und prasselte sogar durch die zur Vorsicht verrammelten Schlagläden vor den Fenstern. In wenigen Augenblicken wurden dabei große Teile der Olivenernte vernichtet. Diese Kraftentfaltung der Naturgewalten überraschte selbst die Alten immer wieder aufs Neue. Da wurden Zentner schwere Amphoren umgerissen und segelten massive Vordächer davon. - Und dann diese Wassermassen.
  Oben in Castellinaria waren die drei parallelen Gassen auf dem Felsgrat die Ablaufrinnen zwischen den maroden Häuserreihen. In Sekunden verwandelten sie sich in reißende Wildwasser, auf denen Narren hätten Kajak fahren können. Die bergseitig einzementierten Kegel an den Türpfosten und Torpfeilern wirkten dabei wie kleine Wehre, die das Wasser in die Mitte der Häuserschluchten zurücklenkten und dadurch daran hinderten, in die Wohnbereiche einzudringen.
  Der erste Wasserschwall hatte Bernhards nur hingestellten Kegel derart verschoben, dass er seine provisorische Brettertür fortgerissen hatte und als ungebetener Besucher in die nur aufgeschütteten Böden der beiden zukünftigen Wohnzimmer gerauscht war. Da man Bernhards am Ortsrand klebendes Haus im obersten Stockwerk betrat, raste die Flut die alten Stufen hinunter und verschaffte sich zum Garten hin gewaltsam Ausgang, indem sie die historischen Mauern unterspülte und die Sickergrube sprengte.
  Als Berthold seine ruinierte Ruine am Tag danach erreichte, stach die Sonne wieder vom Himmel, als sei nichts gewesen. Der Wind war abgeflaut wie Bernhards Enthusiasmus, aber dann kam auf einmal ein anderer mystischer Wind. Er brachte das Blut in Wallung, weil er im stechenden Sonnenlicht bei 25 Grad durch sein kühles Fächeln Beklemmung und Atemnot behob und  auf eine tückische Art euphorisierend wirkte: La brezza libecciata oder il libeccio
  Die Einheimischen kannten sein trügerisches Spiel und waren deshalb  gar nicht erst aus den Häusern gekommen, um Bernhard zu warnen. Der nachgebesserte Zementsockel für den Sandsteinkegel war gerade fest geworden, da brauste schon ein neues Gewitter heran. Geistesgegenwärtig hatte der Ruinenbaumeister bei dem aufkommenden Sturm Sandsäcke aus einer Felsenhöhle seiner Cantina geschafft, in der sie mit allen anderen dort gelagerten Baustoffen das Unwetter wie durch ein Wunder unbeschadet überstanden hatten. Der kleine Wall verhinderte, dass sich noch einmal ein Sturzbach durch sein Haus ergießen konnte. Aber gegen die von oben herein dreschenden Regenschauer half er natürlich nicht. Zwei Tage und Nächte goss Petrus aus vollen Badewannen Schwall um Schwall in die zum Teil noch unbedachte obere Etage. An arbeiten war nicht zu denken. Es galt, mit Eimern das Wasser heraus zu schöpfen wie bei einem maroden Kahn. Und es wurde wieder bitter kalt, weil durch die Feuchtigkeit die Kälte nach dem neuerlichen Temperatursturz fast unerträglich unter die Haut drang.
  Aber Bernhard wollte ja nie wieder frieren. Es zahlte sich aus, dass seine noch nicht ganz feste Burg tatsächlich nicht auf Sand gebaut, sondern die meisten Mauern auf Felsen verankert waren. In der Höhle, die er eher instinktiv als Lagerplatz für die Materialien gewählt hatte, befand sich am Ende auch eine gemauerte Esse, die vielleicht einmal als primitive Schmiede gedient hatte.
  Er blies seine Luftmatratze auf, rollte dort seinen alten NVA-Rucksack aus, stellte Camping-Kocher samt Geschirr sowie Tütensuppen daneben und schuf sich so das perfekte Biwak. Wann immer es auch nur den Anflug von Kälte gab, heizte er die Esse mit geborstenem Bauholz und schuf damit sogar eine Art Hüttenromantik. So ritt er das Wetter sicher ab wie ein Bergprofi. Es spricht für die Charaktereigenschaften dieses Mannes, dass er aus der primitiven Gemütlichkeit, die Kraft gewann, nicht aufzugeben. Er schaffte es vielmehr,  zu Raum und Zeit mit seiner Urkraft als dritter Dimension innerhalb der verbleibenden fünf Wochen noch nahezu ein Wunder zu vollbringen. Es entstand gewissermaßen aus dem Chaos.
  Am  21. Dezember sollte seine Frau, Traute, mit dem TEE (Trans Europ Express Mediolanum/Ligure) nachkommen, um die Weihnachtsfeiertage und Neujahr in ihrem Himmelsschloss zu verbringen. Da sollten Wohnküche, Bad und das Schlafzimmer doch bewohnbar sein. Sie hatten ohnehin noch einmal einen zusätzlichen Kredit aufnehmen müssen. Wer weiß denn schon wirklich, was so ein Luftschloss kostet?
  Als Berthold nach 48 Stunden völlig verrußt mit seinem Kulturbeutel unterm Arm aus seiner Höhle kroch, um sich an der Fontana vor dem Castell zu waschen, bahnte sich eine weitere Herausforderung gänzlich anderer Art für den Deutschen an.
  Hinter einem Vorhang im Haus auf der Südseite der Piazzetta beobachteten zwei kenntnisreiche Augen, wie der wie ein Carbonaio anmutende  Biondo sich unter dem Seifenschaum in einen Adonis verwandelte, der durchaus von einem italienischen Renaissance-Bildhauer hätte modelliert sein können.
  La Francesa war eine Einheimische, die erst vor kurzem nach einem Leben voller legendärer Vorkommnisse verwitwet in ihr Haus an der Piazza Castello zurückgekehrt war. Die ehelich gebundene Weiblichkeit der Talschaft ward ob des männermordenden Rufes von Tiziana Gandolfo bereits seit Wochen in Angst und Schrecken versetzt. Man erzählte sich treppauf, treppab, sie habe für den Fürsten Rainier von Monaco gekocht und nebenbei ein Vermögen in dessen Spielbank gewonnen. Sie wurde indes auch nicht müde,  selbst die Gerüchteküche um sie herum anzuheizen, indem sie Männer aus der Nachbarschaft, die ihr einen handwerklichen Gefallen erwiesen hatten, gelegentlich mit auf Goldrandtellern dargereichten Leckereien belohnte.
  Natürlich hatten sich die Geschichtchen um die Besonderheiten des Deutschen auch bis zu Signora Gandolfo herumgesprochen, und weil sie einige Jahre im Palace von Sankt Moritz Sous Chef gewesen war, sprach sie auch ganz manierlich Deutsch. Bernhard trocknete gerade seinen mehr als ansehnlichen, kaum behaarten Oberkörper, als sie mit einer Goldrand-Tasse Kaffee auf ihn zu stöckelte:
  "Schaden sehr groß?", fragte sie, indem sie ihm die Tasse reichte.
  Bernhard brauchte ein paar Sekunden, um zweierlei zu verarbeiten: Einerseits, dass es im Dorf jemanden gab, der Deutsch sprach, und andererseits sah diese Frau aus wie eine etwas jüngere, deutlich schlankere und wesentlich elegantere Ausgabe der Muhme Alice... Bernhards pommersches Spökenkieker-Blut nahm das als einen Fingerzeig.
  "Nicht so groß, aber ich wollte fertig sein, bis meine Frau kommt! Ich werde doch Hilfe brauchen."
  Die Signora lupfte indigniert und amüsiert zugleich auf französische Art ihre linke zu einem fadendünnen Strich gezupfte Augenbraue. Sie hatte, nun ja, ihr bestimmtes Beuteschema, und wenn ein Kerl gleich im ersten Satz von seiner Frau sprach, dann weckte das ihren Instinkt als Jägerin und Sammlerin.
  "Ich habe  junge, starke Freunde - da ein paar! Gefallen mir. Non! Schulden mir Gefallen."
  Was für eine Beziehung war das, die sich da ergab? Bernhard war sich seiner Wirkung auf Frauen durchaus bewusst, aber eher sein unbewusster Stoizismus als seine bewusste Moral ließen eine andere Frau als Traute in seiner Gefühlswelt nicht zu. Er war jedoch Pragmatiker genug, der etwa anderthalb Jahrzehnte älteren Frau das Gefühl zu geben, sie könne seine mütterliche Beschützerin sein. Er nahm die mit einem gemütlichen Bett ausgestattete Kammer an, die sie ihm anbot, damit er seine verausgabten Kräfte mit gutem Schlaf regenerieren konnte. Er schleppte ihr die Einkäufe und machte ihr quasi den Hausmeister, was beim nachbarschaftlichen Umfeld natürlich die üblichen Verdächtigungen hervorrief. Andererseits hatte Frau Gandolfo einen flotten, azurblauen Alfa Giulia Super, mit dem sie ihre Favoriten gerne herumfuhr. Ein unbezahlbarer Vorzug für Bernhard, der immer noch keinen Führerschein hatte. Und die Favoriten, die ragazzi oder cipollini, wie Tiziana ihre Höflinge je nach Laune nannte, waren dann für Bernhard das eigentliche Himmelsgeschenk:
  Die vier Männer im Alter Bernhards waren in der Gegend geblieben, weil sie einerseits vitelloni (unverheiratete im Hotel Mama wohnende Müßiggänger) und andererseits gesuchte Meister ihres Fachs waren. Gleich am zweiten Abend nach ihrer Begegnung am Dorfbrunnen hatte die Signora sie in einer Bar an der Piazza von Pontedassio zusammengebracht:
  Franco, ein hageres, untersetztes Energiebündel mit einem bebrillten Professoren-Kopf auf einem dürren Hals hatte eine ape. Er war Schreiner und kannte sich auch mit Türen und Fenstern gut aus.
  Sandro war Elektriker und Monteur bei der staatlichen Stromversorgung und mischte unter seine offiziellen Aufträge in den Bergen manch privaten Zusatzverdienst durch Installationen und Reparaturen. Er war von beängstigender Schönheit, und die Gandolfo konnte Blicke der Begierde nur schwer unterdrücken. Sandro allerdings hatte bei ihren gemeinsamen Treffen nur noch Augen für Bernhard. Was dem wiederum nicht bewusst wurde.
   Enzo war gelernter geometra - also eigentlich Vermessungstechniker - aber im ländlichen Sprachgebrauch erhob ihn das im ligurischen Hinterland zum Quasi-Architekten. Enzo hatte eine Stimme wie Caruso und erledigte jede Arbeit mit einem Lied auf den Lippen. Er war am Bau ein Alleskönner, wenn es jemandem gelang, seinen phlegmatischen Habitus zu überwinden, den er mit einem pyknischen Körper und einer blauschwarz gefärbten Schiebedachfrisur manifestierte.
  Lucca, der jüngste und reichste von allen, war der schnellste und beste Fliesenleger der Täler. Ein immens fleißiger Einmann-Unternehmer mit einer angeborenen Kunstfertigkeit, die es ihm ermöglichte, Preise zu verlangen, die ohne Diskussion bezahlt wurden. Lucca hatte einen eigenen 7,5 Tonner und lebte tatsächlich noch unter der Fuchtel seiner Mutter; in einer herrlichen Villa auf einem Hügel unweit des Meeres, der Ende der sechziger Jahre von einer mächtigen Autobahnbrücke der Autostrada dei Fiori überspannt worden war. Jetzt hatte der Luxus - je nach Jahreszeit – einen langen oder kurzen Mittagsschatten…
  Wer den Ligurern Reserviertheit und Mangel an Kontaktfreudigkeit nachsagt, wäre überrascht gewesen, wie schnell die Vier den Deutschen trotz der Sprachbarriere in ihrer Mitte aufnahmen. Gut, am Anfang war es die Gründung der Gefälligkeitsbank, der banca di favore, die das Miteinander erleichterte. Ihnen hatte so ein kreativer, zupackender Maurer, der vor altem Gemäuer nicht zurückschreckte, einfach noch gefehlt. Hinzu kam, dass Bernhard durch seine Lehr- und Wanderjahre in den Baukombinaten der DDR für diesen speziellen bargeldlosen Austausch von Dienstleistungen ohne nähere Erläuterungen prädestiniert war. Ohne diese "Nachbarschaftshilfe" war dort im Arbeiter- und Bauernparadies doch privat gar nichts gegangen. Hier war sie allerdings Bestandteil einer lukrativen steuerfreien Schattenwirtschaft.
  Die Gefälligkeitsbank hatte keine Buchhalter und trotzdem waren ihre Konten, nachdem die Vier in den Anfangsjahren so kräftig bei Bernhard eingezahlt hatten, im Laufe der späteren Jahre stets ausgeglichen. Jeder hatte seine speziellen Geschäftchen am Laufen, wo die anderen ihm von Nutzen sein konnten. Orte wie Castellinaria wären in den 1970ern ohne solche socii vermutlich dem Verfall ausgesetzt gewesen. Hier kam noch ein anderer Aspekt hinzu - eine sich aus der Arbeit in den Ruinen langsam festigende, bedingungslose Freundschaft höchst unterschiedlicher Männer.
   Es sollte jedoch bis zur Beerdigung der Francesa im Herbst 1996 dauern, ehe sie sich gegenseitig beim Wein eines gestanden: Dass nämlich nicht einer von ihnen jemals in die Venusfalle der mysteriösen Frau geraten war. Die meisten in der Gemeinde betrachteten die Fünf dennoch für immer und ewig als den männlichen Harem, il arem maschile, der Gandolfo. Und diese Legenden geistern deshalb auch heute noch als erregtes Raunen durch die Gassen von Castellinaria...
  Am 19. Dezember 1968 zog Bernhard bei der Signora aus und in sein eigenes Heim. Er machte sich keine Gedanken darüber, ob es seine Wirtin verletzen könnte, als er sie bat, Traute mit ihm gemeinsam zwei Tage später im Alfa vom Bahnhof in Porto Maurizio abzuholen. Er fragte einfach, und sie sagte zu, ohne auch nur mit den Klebe-Wimpern zu klimpern.
  Wie auch immer sich alle Beteiligten Bernhards Frau vorgestellt haben mochten, sie entsprach keiner dieser Erwartungen. Die Langbeinige mit einem Gardemaß von über 180 cm und der damals populären blonden Hippie-Mähne hätte ob ihrer Schönheit allen Grund gehabt, wie ein Model oder eine Discoqueen aus dem Zug zu steigen. Aber es war diese burschikose Natürlichkeit, mit der sie sich von eilfertigen Reisebekanntschaften im Zug verabschiedete, um dann die viel kleinere Patrizia Gandolfo herzlich zu umarmen. Sie dankte ihr für die Fürsorge, die sie ihrem Bernhard in den vergangenen Wochen hatte angedeihen lassen, als sei sie ihre Lieblingstante. Dass das zudem in einfachen italienischen Redewendungen geschah, überraschte auch ihren Mann, der ja selbst immer noch einzelne, gehörte italienische Worte mit deutschen mischte.
  Mag sein, dass die Signora - was ruhig bezweifelt werden kann - die Ankunft einer Rivalin erwartet hatte, aber als sie sich fast nicht aus der Umarmung dieser weiblichen Naturgewalt lösen wollte, beschloss sie - die Kinderlose - spontan eine blonde, deutsche Tochter zu haben, die sie um 25 Zentimeter überragte.
  Traute hatte soviel Ähnlichkeit mit Bernhard, dass man beide durchaus auch für Geschwister hätte halten können. Dazu gehörte neben der rein körperlichen auch Zähigkeit und immense mit ihrer Grazie kaschierte Körperkräfte. Als die Gandolfo automatisch versuchte, Trautes Koffer in den Kofferraum ihrer Giulia zu wuchten, bekam sie das alte von Lederriemen an der Maulsperre gehinderte Ding, das Traute sich wie ein Handtäschchen geschnappt hatte, nicht vom Boden. Tedeschi sonno titanici, dachte da die Signora bei sich.
  Bernhard, der es von seinen Baustellen gewohnt war, sich laut und auch manchmal erzwungen rüpelhaft durchzusetzen, hatte in Traute eine stille, intellektuelle Sicherheitsreserve. So war es typisch, dass seine Frau die Zeit genutzt hatte, sich seit dem Sommer mit Hilfe einer italienischen Arbeitskollegin nicht nur die Grundbegriffe der Sprache anzueignen, sondern auch mit typisch italienischen Gepflogenheiten vertraut zu machen.
  Nachdem Bernhard sie über die Schwelle ihres Luftschlosses getragen und mit ihr die erste Führung gemacht hatte, ging sie alsbald allein durchs Dorf und stellte sich bei allen, die ihr begegneten, artig vor. Sie erkundigte sich nach Kindern, Gesundheit und der Oliven- oder Weinernte. Vor allem die älteren Frauen sprachen anschließend von ihr, als hätten sie den leibhaftigen Weihnachtsengel gesehen.
  Bernhard und die ragazzi della banca favore hatten ganze Arbeit geleistet. Das hatte sich im Ort herumgesprochen, und beinahe jeder der Nachbarn war beiläufig mal vorbei gekommen und hatte sich das werdende Wunder angeschaut:
  Aus Schaden klug geworden, hatte Bernhard, nachdem er die zerfurchten Schotter-Aufschüttungen wieder angeglichen hatte,  sie mit einem Drahtgeflecht gesichert und dann erst zementiert. Der Estrich war auf eine elastische Schicht aus Folien und Teer aufgetragen worden und Lucca hatte obwohl er aus Kostengründen von überall her zwar hochwertige Fliesen-Reste zusammengetragen hatte, ein Meisterwerk an harmonisch abgestuften Ebenen gezaubert. Gerade weil nichts absolut neu war, sah das renovierte Haus aus, als sei es immer schon so edel gewesen.
  Sandro hatte nämlich aus einem historischen öffentlichen Gebäude in Peve di Teco, in dem er zu tun gehabt hatte, von Franco nach der Entkernung Wandverkleidungen und Paneele aus uraltem Eichenholz mit dessen ape abholen lassen. Dazu kam noch ein komplettes, dreiteiliges Halbrundfenster, das jetzt aus dem ligurischen Schlafzimmer der Kleiners den grandiosen Blick übers Tal auf das Meer öffnete. Eigens bestellt war in jenen Tagen die Sicht, denn  Korsika lag so nah und klar am Horizont, als könne man hinüber schwimmen...
  Eine Nachbarin hatte Bernhard das komplette aus dem 19. Jahrhundert stammende, geschnitzte Schlafzimmer samt Herrgottswinkel aus dem leer stehenden Haus ihrer Großeltern für ganze 50 000 Lire überlassen.
  Die Küche hatte natürlich keinen Einbau-Schick, aber sie war durchaus funktionell und  entwickelte mit ihren Wand hoch und auch auf den Arbeitsflächen verarbeiteten, handbemalten Kacheln einen recht gemütlichen Charme. Vorerst gab es ja außer den elektrischen Durchlauferhitzern in Küche und Bad nur für den Herd Gas aus Flaschen. An kalten Tagen musste also allein der großzügig bemessene Kamin in der Wohnzimmerecke zur Balkonterrasse als Wärmequelle reichen.
  Es war in den ersten Jahren wohl eine einfache Ferienwohnung  - mehr nicht. Aber Berthold hatte etwas sehr geschickt gemacht. Dort, wo weder Leitungen noch Armierungen unter Putz kaschiert werden mussten, hatte er die Mauern auch innen so gelassen, wie er sie errichtet hatte. Er ließ beispielsweise um den Kamin herum allein die Struktur der großen Steine für Burg-Atmosphäre sorgen und dekorierte sie mit alten Werkzeugen, Waffen und Gebrauchsgegenständen, die er bei seinen Arbeiten und Wanderungen gefunden hatte.
  Traute hatte ihn nach der ersten Besichtigung nur stumm an die Hand genommen und mit feuchten Augen angeschaut. Dann war sie nicht korrigierend, aber ergänzend auf ihre stille Art daran gegangen, dem Haus auch ein wenig weibliche Note zu geben.
  Natürlich war es auch Traute gewesen, die auf die Idee gekommen war, die Nachbarn und alle, die bei dem Wunder mitgewirkt hatten, am Abend vor Heiligabend zu einer typisch deutschen Weihnachtsfeier einzuladen. Sie hatte mit ihrer schönen Handschrift auf ihrem persönlichen Briefpapier mit Hilfe von Patrizia Gandolfo einen einfachen Einladungstext geschrieben und auch persönlich verteilt. Aus aufgeklaubten Olivenzweigen hatte sie einen schönen Adventskranz geflochten, und nun war auch klar geworden, wieso ihr Koffer dieses Gewicht gehabt hatte. Denn er war voller altrheinischem Weihnachtskram und Keksdosen gewesen. Es gab Stollen, Mutzemandeln, Nonnenfürzchen, dicke Wachskerzen, Lametta, Kerzenhalter und dergleichen. Bernhard hatte in Ermangelung eines Weihnachtsbaumes, der in jener Zeit in den Bergen Liguriens noch nicht aufgestellt wurde, eine kleine Zypresse im Garten mit Schleifen und Kerzen bestückt und - als die paar Glaskugeln nicht ausgereicht hatten - einfach die schönsten Zitronen und Orangen frisch von den eigenen Bäumen an Schleifen dazwischen gehängt.
  Alle kamen, und alle brachten etwas mit, wie es im armen Ligurien der Brauch war. Zwar hatte Traute im Waschtopf der Gandolfo ihre berühmte Erbsensuppe mit Bauchfleisch, gebratenem Speck und Croutons gemacht, um alle satt zu kriegen, aber das hätte für den heuschreckenartigen Heißhunger der Nachbarn längst nicht gereicht. Der aus einem fragwürdig aufgelösten Klosterbestand von Enzo ergatterte Refektoriumstisch vor dem Kamin geriet trotz der aus der Nachbarschaft herbeigeholten Stühle an die Kapazitätsgrenze und bog sich unter den Speisen: frische Laibe Bauernbrot, Flaschen mit mosto d'oro, der grasgrün trüben Erstpressung des extra vergine Olivenöls, Schinken und Sorpressa, Bauern-Taleggio, der so unweihnachtlich duftete, dass er auf dem Balkon verbannt wurde, sowie diverse Töpfe mit pesto (pistou), peperonada und Hasenragout für Berge diverser, natürlich hausgemachter Pasta, die bis in die späte Nacht nachgekocht werden mussten.
  Erst als alles verputzt war und dampfende Tassen coretto aufgetischt worden waren, kehrte mit dem durch Grappa "korrigierten" Kaffee weihnachtliche Ruhe ein. Einer der Nachbarn auf Urlaub von der Arbeit in Deutschland fragte, ob Traute und Bernhard nicht deutsche Weihnachtslieder singen könnten, worauf die beiden in den Garten hinunterkletterten, die Kerzen der Weihnachtszypresse anzündeten und - es war ja längst schon der 24. Dezember - Stille Nacht, Heilige Nacht, O du Fröhliche und Süßer die Glocken nie klingen zu den auf ihrer Terrasse versammelten Menschen hinauf sangen. Die ließen sich nicht  lumpen und stimmten dann ihrerseits die mit durch Mark und Bein sowie zu Herzen gehenden Kopfstimmen vorgetragenen, fremd anmutenden Choräle aus dem Appenin an. Was für eine Bergweihnacht!
  Als Traute und Bernhard nach dem Aufräumen endlich ins Bett gefunden hatten, waren sie sich beide sicher, noch nie in ihrem Leben so glücklich gewesen zu sein. Vor lauter Glück war an Schlaf gar nicht zu denken. Und so passierte es: Andere Umgebung, kein Stress durch Sex nach Thermometer und Kalender - nur ein Rausch der Sinne. Neun Monate später, nach einer diesmal absolut komplikationslosen Schwangerschaft wurde den Kleiners ein Sohn geboren. Obwohl beide eher agnostisch veranlagt waren, ließen sie ihn auf den Namen Sebastian taufen. - In memoriam des Santuario San Sebastiano, das in jener Liebesnacht so weihnachtlich feierlich vom Tal in ihr Schlafzimmer herauf geleuchtet hatte...







 4. Kapitel
Der Held der Arbeit

   Es ist müßig, rechten zu wollen, wenn der Krieg die Bestie Mensch aus den Käfigen der Zivilisation lässt. Sicher waren die Menschen der Uckermark, die in jenen Jahren Opfer willkürlicher Gewaltakte durch Angehörige der Roten Armee wurden, genauso unschuldig und am Krieg nicht beteiligt, wie die ukrainischen Juden, die bis zur Kapitulation - und trotz mangelnder Tonnage für die eigenen, ostpreußischen Flüchtlinge – von der SS über die Ostsee zur Vernichtung verschifft worden waren. Aber Angst, Entsetzen, Leid  und Traumata sind dann ja Privatsache. Und obwohl sich alle immer wieder geschworen hatten, dass so etwas nie wieder passieren dürfe, geschehen die Gräueltaten bis heute, und ihre Opfer werden immer noch alleine gelassen.
  Bernhards Kindheit endete endgültig mit dem Erscheinen der 'schwarzen Frau'.
Die Diphtherie-Patienten der Familie Kleiner schienen gerade auf dem Weg der Besserung, als sie in gellend hohen Tonlagen wehklagend ins Dorf gehastet kam. Sie war derart traumatisiert, dass sie keine Rücksicht darauf nahm, ob das, was sie zusammenhanglos hervorstieß, für Kinderohren geeignet war oder nicht:
  Sie und die Muhme Alice seien von neun Rotarmisten zwei Tage lang vergewaltigt worden. Die Muhme habe man dann mit Bajonetten abgestochen, weil sie sich von Anfang an mit Beißen, Kratzen und Treten gewehrt hätte. Sie selbst habe sich zunächst immer ohnmächtig gestellt, was die Peiniger aber gar nicht abgehalten habe. Den auf dem Rückzug desertierten Verlobten von der Muhme hätten sie nackt aus ihrer Hütte gezerrt und bei lebendigem Leib unters Eis des Weihers gestoßen, bis er nicht mehr aufgetaucht sei. Dabei wären die Russen an der Kate von der Alice schon beinahe vorbei gewesen. Alle, die sie in diesen Wochen besucht hätten, seien ja immer von hinten durch den Birkenhain zu ihr gekommen, damit man keine Spuren sähe. Doch die Russen hätten eben eine einzelne  Spur gesehen, die über  das Feld führte und wieder zurück. Das hätte sie neugierig gemacht. 'Wo ist anders Frau?' hätten sie deshalb auch immer wieder gefragt und alles in der Kate der Muhme auseinander genommen.
  Bernhard sah entsetzt zu den mit Filz und Stroh gestopften Stiefeln seiner Mutter hinunter, die er ja immer noch gegen die Kälte trug. Sind es seine Spuren gewesen, die der Muhme zum Verhängnis geworden waren? Das Blut stieg ihm in den Kopf und gleichzeitig hatte er das Gefühl, er sei in eine Zwinge geraten, die von einer höheren Macht unbarmherzig zugedrückt wurde.
  Nach ihrem Schreikrampf verstummte die schwarze Frau, aß und trank nichts mehr, wanderte bis zum Frühjahr nur noch stumm herum und schüttelte dabei mit Pausen immer wieder heftig den Kopf, als wolle sie ein lästiges Insekt abschütteln. Dann war sie eines Tages spurlos verschwunden.
  So bald es die Temperaturen zuließen, verbrachte Mutter Kleiner "die gefährlichen" Tages- und Nachtzeiten mit den Kindern in mehrere Decken gehüllt auf dem Friedhof, weil jemand erzählt hatte, die Russen seien so abergläubisch, dass sie – egal wie betrunken - auf einem Friedhof niemanden vergewaltigten.
  Dieser Unsinn kostete dem Hannele das Leben. Die Diphtherie hatte wohl ihr kleines Herz geschädigt. Fraglich, ob sie daheim im Bett überlebt hätte. Aber gegen die zehrende Kälte der Friedhofsnächte konnte sie keine Kräfte mehr mobilisieren. Zu der Schuld, die er möglicher Weise mit Muhme Alice auf sich geladen hatte, musste Bernhard nun dem toten Vater sein Versagen als Beschützer der Kleinen eingestehen. Er war ganz allein mit seiner seelischen Last, denn die Mutter war nach Hanneles Tod in eine tiefe Dauer-Depression versunken, aus der sie mit überdrehter Kompensation bis zu ihrem viel zu frühen Tod 1952 nur noch gelegentlich an sonnigen Frühlings- und Sommertagen auftauchte. Den beiden Großvätern, denen es wieder erstaunlich gut ging, kam es hingegen nur noch aufs eigene, tägliche Überleben an.
  Als die Russen dann schließlich auch nach Pangerow gerieten, waren diese weit weniger schrecklich als befürchtet. Offenbar war der Rausch der Gewalt schon am Abklingen, oder es stimmt, was Bernhards damalige Wahrnehmung mutmaßte. Dass nämlich von der kämpfenden Truppe weit weniger Gefahr ausging, als von der ideologisch motivierten, zweiten Etappe mit den Polit-Offizieren und den Beschaffungsbrigaden. Noch nachdem die  DDR schon gegründet war und die Rotarmisten quasi in den Stand der Befreier erhoben worden waren, hielt sich der Hass der vorpommerschen Bevölkerung auf diese spezielle Sorte Russen besonders hartnäckig. Auch Bernhard hatte da schon seine spezifische Erfahrung gemacht.
  Weil die Frühlingsboten nach dem strengen Winter doppelt stimulierend wahrgenommen und die Zirbeldrüsen stärker reagierten, ließ auch das unterbewusste Sicherheitsverhalten speziell der Kinder nach. Fast war der ländliche Tagesablauf zur Normalität zurückgekehrt, nur dass Bernhard statt dreißig, vierzig bloß noch ein paar registrierte Gänse zum Hüten hatte.
Verträumt saß er mit dem Rücken an einer Kopfweide unweit des Bewässerungsgrabens, der zum Dorfteich führte. In Momenten, da er sich unbeobachtet fühlte, holte er jetzt oft die silberne Glashütten-Savonette seines Vaters hervor, ließ den Deckel aufspringen und sprach zum Zifferblatt, wie er es im Angesicht seines Vaters nie getan hätte:
  "Wieso konnte die Muhme mir aus der Hand, meine Zukunft sagen? Wieso konnte sie aus ihren eigenen Händen nicht lesen, was ihr selbst geschah?"
  "Ich hab' doch für das Hannele alles getan. Sogar meine Ration Sanddorn hat sie gekriegt. Bitte, bitte sei mir nicht mehr böse und lass Mammi wieder lachen!"
  Bernhard konnte nicht ahnen, dass der Deckel der Taschenuhr wie ein Blendspiegel die Sonne direkt in die Augen eines russischen Straßenpostens lenkte. Der fühlte sich provoziert und rannte auf den Knaben zu. Als er nah genug heran war, schrie er:
  "Uri, Uri! Davai, davai!"
  Bernhard wollte aufspringen und davon rennen, aber da sah er, wie der Posten bereits seinen Karabiner auf ihn anlegte:
  "Uri, Uri! Davai, davai!", sagte der noch einmal sehr nachdrücklich und streckte die Hand nach Bernhards Uhr.
  "Das ist die Uhr von meinem Pappi!", schrie der Knabe, aber da war sie schon in dessen  Kasack verschwunden. Bernhard war es egal, dass er die Gänse im Stich ließ. Er lief neben dem untersetzten und krummbeinigen Kerl her, der ihm auf einmal trotz des Gewehrs keine Angst mehr machte.
  "Gib mir die Uhr zurück!"
  Sie waren jetzt an dem Holzschott angelangt, das den Abfluss aus dem Dorfteich regelte. Da steckte auch ein hölzerner Torfspaten im Modder. Ohne zu überlegen, packte Bernhard den, riss ihn hoch und drosch mit aller Kraft, die in seinem Knabenköper steckte, dem Russen auf den Rücken...
  Die Gänse hörten auf zu schnattern, die Hunde bellten nicht mehr. Auf einmal schien die ganze Welt verstummt. Gewalt gegen einen russischen Soldaten - das bedeutete sofort zu vollstreckende Todesstrafe...
  Bernhard blickte bestürzt auf das marode Holzteil in seinen Händen. Da peitschten schon auf Russisch Kommandos über die Straße. Zwei Soldaten, die ebenfalls am Ortseingang Wache schoben, packten den Knaben an den Armen und zerrten ihn in die Mitte der Fahrspur. Alles ging so schnell und war so unwirklich, weil es so gar nicht zur Heiterkeit des Frühlings passen wollte. Doch noch immer war die Wut Bernhards größer als seine Angst. Die Empörung über das Unrecht überwog die sichere Erkenntnis, dass er jetzt sterben müsse.
  Der Rotarmist hob das Gewehr und zielte auf die Brust des Jungen. Bernhard steckte in einem Wahrnehmungstunnel, sonst hätte er die Bremsen und den Motor eines Fahrzeuges hinter ihm gehört.
  "Stoi!"
  Die helle, scharfe Kommando-Stimme registrierte er nur, weil der Mann, der ihn erschießen wollte, plötzlich blass geworden, die Waffe sicherte und ihren Lauf zu Boden senkte.
  "Was ist hier los?" Ein großer blonder Offizier in Breeches und Reitstiefeln blickte auf Bernhard herab und herrschte ihn in gutturalem Deutsch an.
  "Er hat mir die Uhr von meinem Vater weggenommen", sagte Bernhard mit ersterbender Stimme und fing endlich an zu weinen, wie es einem Kind seines Alters zustand.
  Der große blonde Offizier hob Bernhard hoch und setzte ihn so auf seine Unterarme, dass zwei ziemlich stattliche Brüste gegen seinen Bauch drückten:
  "Wo ist dein Vater?"
  "Er liegt auf dem Feld der Ehre", ahmte Bernhard den Euphemismus der Erwachsenen nach, was seine Hilflosigkeit nur unterstrich.
  "Du meinst tot. Als Soldat gefallen?"
  "Ja!"
  "Und das ist dein letztes Andenken?"
  "Nein! Das ist wegen der Zeit. Damit ich sie nicht vergeude, weil ich doch auf die Kleinen aufpassen muss. Und das Hannele ist ja schon tot und die Muhme auch - obwohl ich alles versucht habe. Die Diphtherie." Es sprudelte nur so aus Bernhard heraus, weil auf einmal erst die Todesangst einsetzte.
  "Muss ich jetzt sterben?"
  Die mütterliche Fürsorge erhielt bei dem Wort Diphtherie einen spürbaren Dämpfer, und der weibliche Offizier stellte den Knaben schnell wieder auf den Boden.
  "Nein! Das musst du wohl nicht."
  Die Frau ging auf den Posten zu und stellte ihn offenbar mit knapper, befehlsgewohnter Stimme zur Rede. Obwohl sie ihren Untergebenen ohnehin schon überragte, schien jener noch zu schrumpfen, als er kleinlaut die Uhr aushändigte, und von den anderen beiden davon geführt wurde.
  "Besser, du spielst nicht mehr mit ihr herum!"
  Und mit einem 'davai, davai!' schwang sie sich wieder in den Führerstand des Armeelasters. Weder seinen verhinderten Henker noch seine Lebensretterin sah Bernhard jemals wieder.
 
  Die wenigen, noch verbleibenden Wochen eines Menschenlebens im Krieg machten Bernhard wie viele Kinder jener Jahrgänge zu einem ernsten, jungen Menschen. Introvertiert, wortkarg, aber von einer scharfen Aufmerksamkeit geprägt, glitt der Bauernsohn in den Nachkriegsjahren mit wachsender Körperkraft und zunehmender Körperlänge durch ein spezielles Raum-Zeit-Kontinuum. Die ideologisch geschulten  Lehrkräfte des 'neuen Deutschlands', die sein striktes Verhalten als besonderes, linientreues Bewusstsein missverstanden, betrachteten ihn als pädagogisch wertvolles Vehikel für ihre eigene eifernde Beflissenheit. In Wirklichkeit war es aber so, dass es Bernhard einfach keine Mühe machte, die geforderten Standards einzuhalten. Ob im Klassenzimmer oder auf dem Sportplatz, bei der FDJ oder bei den Ferien-Einsätzen - er war das Idealbild eines jungen Pioniers und wurde mit Auszeichnungen überhäuft. Und was er bei all dem tatsächlich dachte, vertraute er bis zu Pubertät über das Zifferblatt seiner Uhr nur dem Geist des Vaters an.
  Denn im selbsternannten Arbeiter- und Bauernparadies passierte es, dass die Kleiners bei der ersten übereilten Bodenreform ihr Land zunächst zu- und dann wieder abgesprochen bekamen. Denn nichts anderes war die zwangsweise Eingliederung in die LPGs, die Landwirtschaftlichen Produktions-Genossenschaften doch gewesen - als rigorose Enteignung. Irgendwann gegen Ende der 1950er hatte er einmal im Kino-Vorprogramm einen dieser unsäglichen Selbstlob-Propagandastreifen zu den LPGs gesehen. Da wurden der Achtstunden-Tag und der pünktliche Feierabend für die Bauern als revolutionäre Errungenschaft gefeiert. Aus der flackernd erhellten Dunkelheit erschall ein einzelnes, herzhaftes Gelächter und Beifallklatschen. Das war Bernhards erste und einzige politische Reaktion in zehn Jahren als Bürger der DDR. Hatte er doch schon als kleines Kind gelernt und erfahren, dass die natürlichen Abläufe den Stundenplan auf einem Hof prägten, und dass der Ertrag einzig und allein vom Fleiß und persönlichen Einsatz des Bauern und seiner ganzen Familie abhing. Die agronomische Planlosigkeit der sozialistischen Planwirtschaft hatten  dann im Falle des Verzugs immer wieder - der Leistungsbilanz wegen - die jungen Pioniere durch Ferienverzicht mit freiwilligem Ernte-Einsatz ausbaden dürfen.
  Aber zu diesem Zeitpunkt existierte ja die Bauernfamilie Kleiner schon nicht mehr. Obwohl ihm alle offiziellen Stellen schon aus propagandistischem Interesse die höhere Schule und ein Studium nahe gelegt hatten, begann Bernhard nach dem frühen Tod der Mutter 1953 das Maurer-Handwerk zu erlernen. Er war 1950 mit der depressiven Mutter und dem weiterhin kränkelnden Bruder nach Strausberg gezogen, wo der KPD-Opa, der inzwischen SED-Genosse geworden war, Wohnung und Aufgabe gestellt bekommen hatte.
  Der SPD-Opa hatte kurz davor die Erkenntnis nicht überlebt, dass die Ostdeutschen von einem Faschismus in den nächsten geraten waren. Als bei einem ländlichen Sportfest, an dem sein Enkel aussichtsreich teilnehmen sollte, vor den Wettkämpfen riesige Plakate mit den Konterfeis von Otto Grotewohl (einem ehemaligen SPD-Mann) und Walter Ulbricht auf den Sportplatz getragen worden waren, hatte er sich dermaßen  in Rage und Sauerstoffmangel geredet, dass er noch auf der Tribüne einem Herzinfarkt erlegen war.
  Als Beherrscher seiner eigenen Zeit und Wahrer der privaten Räume in einer gänzlich entprivatisierten Gesellschaft begann Bernhard in den Folgejahren systematisch Kraft und Körper zu kultivieren. Das hatte fast schon etwas Metaphysisches, denn die jungen Aspiranten wurden kaserniert, drangsaliert und in einer Form ausgebeutet, wie es selbst der kapitalistische deutsche Klassenfeind in diesem Stadium der zweigeteilten Geschichte, im „Wirtschaftswunder“, bei Lehrlingen nicht mehr gewagt hätte. Bernhard überstand diese ersten vierundzwanzig Monate seiner Lehre, weil er jeder einzelnen Erfahrung an Demütigung und Kasteiung eine Bedeutung beimaß, die ans Rituelle grenzte. Die Steine und 'die Spur der Steine' als Metapher wurden zu seiner Bestimmung - seiner Lebenslinie.  
  Wenn er später nach der Wiedervereinigung den von den DDR-Bonzen so geschmähten und 23 Jahre lang gebannten DEFA-Film von Frank Beyer mit Manfred Krug aus dem Jahr 1963 immer und  immer wieder ansah, dann liefen dem harten Bernhard die Tränen herunter. So nah kam die Handlung dieses Streifens seinen eigenen Erlebnissen.
  Schon im dritten Jahr hatte er sich auf seine Weise einen Sonderstatus erarbeitet. Als Lehrling bereits mehrfach für vorbildlichen Arbeitseinsatz ausgezeichnet, wurde er nun unter den Erwachsenen schon mit 18 zum "Arbeiter des Monats" gekürt. Die ihm in verschiedenen Brigaden und Kombinaten vorgesetzten Poliere erkannten und förderten seine besondere Neigung und Hinwendung zu historischem Mauerwerk. Sie verstanden eine seiner wenigen, flapsig hingeworfenen Bemerkungen nur zu gut, auch wenn sie sich selbst nicht trauten, dieser ideologisch zuzustimmen:
  "Der Plattenbau macht die Maurer platt!"
  Als sei er eine Art Reaktionsbeschleuniger gewesen, passierten merkwürdige Dinge in den Brigaden und Kolonnen, denen sich Bernhard anschloss. Sein konzentriertes Zupacken erhöhte schleichend das Arbeitstempo in seinem Umfeld. Seine inneren – seit der Kindheit stetig präzisierten – Zeitvorgaben wurden nun auf das Tagwerk eines Maurers ausgerichtet. Den Verantwortlichen in den Kombinaten fiel das direkt erst auf, als die von Bernhards Arbeitseifer betroffenen Genossen damit begonnen hatten, ihn auszugrenzen.
  Und dann entpuppte er sich auch noch als Schlaumeier und widersprach einem vorgesetzten Polier und KPD-Veteranen.
  Es ging um einen kleinen Glockenturm an einem der historischen Gebäude von Stralsund, der bei dem einzigen Bombenangriff im Oktober 1944 zunächst unbemerkt in Mitleidenschaft gezogen worden war. Erst als eine parteinahe Institution Anspruch wegen mangelnder Büroräume auf den gesamten Gebäudekomplex angemeldet hatte, entdeckte man bei der allgemeinen Sanierung die feinen netzartigen Risse und die dadurch bedingte Einsturzgefahr des Türmchens. Besonders die Bedrohung durch die Tonnenschwere Glocke forderte eine radikale Lösung, weil mit einem entsprechenden Kran durch die Enge nicht heranzukommen war.
   Denkmalschutz - noch dazu als Erinnerung an das glorreiche kapitalistische Wirken der Hanse – war ja nicht gerade eine Stärke der SED-Genossen. Also beschlossen sie, auf Vorschlag des Poliers eine rasche gezielte Sprengung, von der die Bevölkerung erst hören würde, wenn es bereits gekracht hätte.
  Bernhard war ein noch nicht einmal zwanzigjähriger Geselle, als er seinen Einwand wagte. Wieso man in einer Hafenstadt mit Werften und Stahlverarbeitung sei, wenn man deren Wissen nicht anwendete? Bernhard konnte unheimlich schnell und präzise zeichnen, und so entstand innerhalb von ein paar Minuten, was ihm durch den Kopf geschossen war:
  Er zeichnete dem Türmchen ein stählernes Rohr-Korsett, das zugleich Stütze für die Schienen einer von einer Werft geliehenen Laufkatze sein sollte. Die Laufkatze würde die Glocke in beinahe gleicher Höhe versetzt auf ein Podest im bereits sanierten oberen Stock des Hauptgebäudes transportieren. Dort würde sie für die Dauer der Maurerarbeiten im Inneren des Türmchen-Korsetts abgestellt.
  Der Polier tippte sich, den Blick streng auf Bernhard gerichtet, mehrmals hart an die Stirn:
  „Und womit willste det allet bewejen, wenn wa noch nich ma nen Kran hia rin bekommen.“
  „Wie die Pharaonen - mit Muskelkraft und schiefen Ebenen!“
  Der begleitende Architekt war nach statischen Berechnungen von Bernhards Idee begeistert, und wenn es im real existierenden Sozialismus eine Tugend gab, dann war es die durch Fehler der Planwirtschaft generierte Improvisationsfähigkeit. Laufkatze, Rohre und Schienen zu beschaffen, erwies sich dann als weitaus leichter, als das Überwinden der menschlichen Barrieren. Die Bauarbeiter und Maurerkollegen sollten erst ohne Murren ihre Körperkräfte einsetzen, als Bernhard den stärksten von Ihnen beim Ziehen der Laufkatze zum Duell herausgefordert und den Zweizentner-Mann mit scheinbarer Mühelosigkeit übertroffen hatte.
  Die Arbeit erwies sich im wahrsten Sinne des Wortes als der Mühe wert, weil sie nur eine Woche länger erforderte, als Sprengung, Abtransport des Schutts und Schließen der Baulücke dies getan hätten. Die ganze Brigade bekam zwei Tage Sonderurlaub. Polier und Architekt wurden eigens belobigt. Bernhard jedoch wurde an seinem zwanzigsten Geburtstag das rote Bändchen mit dem Silbernen Stern an die Brust geheftet, das ihn als „Held der Arbeit“ auszeichnete. Seine Jugend und die im Verhältnis dazu  besonders hoch erscheinende  Prämie von 10 000 Mark waren natürlich Anlass die Propaganda-Trommel kräftig zu rühren und jede Menge Neider auf den Plan zu rufen.
  Fortan galt er natürlich als Muster-Genosse und Streber, was ihn noch weiter isolierte. Der staatlich verordneten Gleichmacherei waren Neid und Missgunst keinesfalls erlegen, und ein Kolonnenführer, dem man widerspricht, vergisst zuletzt.
  Im Sommer 1957 fand sich Bernhard in quasi einsamer Mission und mit dem hinter seinem Rücken kreierten Spitznamen „Ruinen-Bernd“ auf der schönen Insel Rügen wieder. Doch was insgeheim vielleicht von den lieben Genossen als Strafversetzung ausgeheckt worden war, sollte der „Freimaurer“ rückblickend als die schönsten Jahre in der DDR empfinden.






 5. Kapitel
Der Lenz
 

  Es gibt Menschen, bei denen fällt es selbst den gläubigsten Christenmenschen schwer, weiterhin an die Existenz eines göttlichen Plans zu glauben. Und selbst agnostische Moralisten zweifeln bei solchen Individuen an der Gerechtigkeit jener höheren Macht, der sie sich insgeheim oft anvertraut haben.
  So lange diese Menschen nicht als Diktatoren oder Verbrecher aus ihrem Umfeld heraus treten, lässt man sie in mitunter eitel pharisäerhafter  Selbstbespiegelung gewähren oder nimmt ihr Tun fatalistisch hin. So wie ein Bauer einen Hagelstrich aus heiterem Himmel auf sein reifes Kornfeld über sich ergehen lassen muss.
  Genau so ein Mensch war Lorenz Meester.
  Nun könnte man für die Art, mit der dieser durchs Leben ging und als beinahe Hundertjähriger immer noch geht, diverse soziologische Aspekte als Entschuldigung für seine Handlungsweisen aufführen:
  Durch zwei Weltkriege traumatisiert, Entsagungen überkompensierend, Verlustängste durch Raffsucht verdrängend und Liebesmangel durch hemmungslose Promiskuität ausgleichend – doch nichts trifft wirklich zu. Mag sein, dass sich  irgendein Dazugehörigkeitsgefühl durch seine diffuse Geburt im Grenzbereich zwischen den Reichen des Deutschen Kaisers und denen der Benelux-Monarchen nicht ausprägen konnte. Aber selbst daraus zog er noch einen Vorteil. Denn er entging im Status selbst gewählter Staatenlosigkeit hüben wie drüben der Einberufung.
  Darf man sich so einen Opportunisten, Kriegsgewinnler. Schieber, Anlagebetrüger und Urkundenfälscher als wahren Kotzbrocken vorstellen? - Man darf nicht! Denn Zeit seines Lebens belehrten einen Erscheinungsbild und  Auftritt dieses Charakter-Chamälions anscheinend eines anderen. Und so sitzen die heute da, die er am meisten ausgenutzt und ausgebeutet hat und leisten resigniert mit hasserfüllten Herzen eine Art Altenpflege, obwohl der vermeintliche Greis noch immer rüstig genug ist, um alle Puppen konzentriert an jenen Fäden tanzen zu lassen, die er noch ganz allein, und ohne zu zittern, fest in seiner Hand hält.
  Keiner - außer seinen italienischen Opfern, die ihn respektvoll mit Don Lorenzo anredeten – benutzte jemals seinen wirklichen Vornamen. Als er in diese Geschichte trat, war er bereits „der Lenz“. Was das Ergebnis eines Slogans war, den er für alle möglichen und unmöglichen Dienstleistungen schon vor der Währungsreform verwendet hatte:
  „Der Lenz ist da!“
  1954, als die Deutsche Nationalelf Fußball-Weltmeister geworden und das Deutsche Wesen demzufolge am Genesen war, saß der Lenz für eine vergleichsweise harmlose Urkundenfälschung sechs Monate Gefängnis ab. Sie waren nicht zur Bewährung ausgesetzt worden, weil er zwei Jahre zuvor eine Vorstrafe wegen organisierten Schmuggels an der Deutsch-Niederländischen Grenze kassiert hatte.
  Es war der verzweifelte Versuch, dieser Haftstrafe zu entgehen, der ihn in diese Geschichte führte. Die Urkundenfälschung hatte er im Zusammenhang mit einer Wohnhaus-Ruine begangen, die im Dunstkreis eines Klinik-Neubaus in Köln Lindenthal stand und erheblichen Veräußerungsgewinn versprach. Im noch absolut stabilen Souterrain dieses Hauses wohnte unter beinahe menschenunwürdigen Bedingungen eine Frau Körber mit fünf Kindern und wartete auf die Heimkehr ihres Mannes aus russischer Kriegsgefangenschaft. Die mussten natürlich raus.
  Als der gefälschte Räumungsbescheid wegen Einsturzgefahr aufflog und neben dem Straf- auch ein Zivilverfahren drohte, heiratete der gerade von seiner dritten Frau geschiedene Lenz die älteste Tochter dieser Frau in einer Blitzaktion, obwohl die erst 17 war. Er hätte sonst  vielleicht auch noch gestehen müssen, dass er sich das junge Ding schon gefügig gemacht hatte, als sie noch erheblich unter 16 gewesen war.
  Halt! Keine voreiligen Schlüsse! So anrüchig die Rahmenbedingungen für diese Eheschließung auch gewesen sein mochten, es handelte sich aus dem Blickwinkel der 17jährigen tatsächlich um eine Art Liebe, die – aufgrund der Unerschütterlichkeit, mit der diese zum Ausdruck gebracht wurde - auch der 47jährige im Laufe der Jahrzehnte zögerlich zu erwidern begann. Noch heute sind beide im wahrsten Sinne des Wortes zusammen und haben vor kurzem Goldene Hochzeit gefeiert.
  Die Ehe blieb jedoch kinderlos, was wohl daran lag, dass Lenzens Kinder aus den anderen Ehen bei der Trauung bereits wesentlich älter waren als die neue Braut. Heute ist von denen nur noch eine 72jährige Tochter übrig, die ihre Stiefmutter auf dem Weg zur Erbschaft als mehr oder weniger störend empfindet…
  So kam es also, dass der Lenz bereits Trautes Schwager war, als Bernhard in dem anderen Deutschland begann, der Spur der Steine zu folgen. Seinem Naturell entsprechend, hatte Meester nämlich bereits ein Auge auf Traute geworfen, ehe er begann, bei Hannelore überhaupt sexuell auf „seine Kosten“ zu kommen. Die Schwestern waren aber auch zu unterschiedlich:
  Hannelore war in den Augen des Nimmersatts so etwas wie ein pralles Marzipan-Schweinchen. Er konnte nur dosiert von ihr naschen, wollte er nicht Gefahr laufen, sich die Seele zu verkleben. Bei Traute, die noch auf langen Stelzen unter einem knochigen Hinterteil herumstakste wie das frisch geborene Fohlen eines teuren Rennpferdes, musste der Lüstling nur heimlich mit den Augen den leicht nach außen gebogenen Innenlinien der Oberschenkel nach oben folgen, um sicher zu sein, was da in ein paar Jahren auf ihn warten würde…
  Die Weichen hatte er ja schon unfreiwillig großzügig gestellt, indem er die übrigen „Kellerasseln“ – wie er sie bei sich nannte - in eine geräumige Etagenwohnung aus seinem Besitz umgesiedelt hatte. Als der neue Schwiegervater von Lenz dann aus einem Lager hinter dem Ural nach Köln zurückkam, war er zu überwältigt von der „guten Partie“, die seine Älteste gemacht hatte, um anderes wahrzunehmen.
  Er sah die im Vergleich zu früher deutlich verbesserten Lebensverhältnisse der Seinen, nahm den leichten Fahrerjob, den sein Schwiegersohn ihm angesichts des körperlichen Zustandes angeboten hatte und hörte im Übrigen nicht auf, den Lenz zu loben.
  Selbst als die Traditionszeitung der Domstadt, die damals noch trotz ihrer eindeutigen Adenauer-Freundlichkeit investigativen und objektiven Journalismus publizierte, den Lenz unter der Überschrift „Der Absahner“ an den Pranger stellte, ließ Eddie Körber auf seinen Schwiegersohn nichts kommen. Andeutungen seiner Zweitältesten, der Mann von Hannelore versuche immer wieder an ihr rumzufummeln, überhörte er genauso geflissentlich, wie das Rumoren aus dem Inneren seines Körpers.
  Der charmante, großzügige und weltmännische Meester  hatte es als seine persönliche Aufgabe betrachtet, den zum Hänfling verkümmerten Schwiegervater wieder aufzupeppen. So häufig standen die damals so begehrten Fresskörbe im Porzer Wohnzimmer, dass seine Familie von neidischen Nachbarn schon die „Freß-Körbers“ genannt wurden. Mutter Körber platzte innerhalb kurzer Zeit aus allen Nähten. Der durch die Gefangenschaft beeinträchtigte Stoffwechsel ihres Mannes jedoch unterlag der Gier, die erlittenen Hungerjahre möglichst in einigen Monaten ungebremster Orgien aufzuholen. Eddie verstarb nach gerade mal siebzehn Monaten in Freiheit am kollektiven Versagen seiner inneren Organe. Erst bei der Beerdigung wurde dem Lenz eigentlich bewusst, dass sein Schwiegervater vier Jahre jünger gewesen war als er. Er hatte ihn immer so wahrgenommen, wie er ihn gesehen hatte – als Mann kurz vor dem Eintritt ins Rentenalter.
  Einmal in die Öffentlichkeit geraten, ohne größeren Schaden zu nehmen, fing der Lenz an, seine zwielichtige Berühmtheit zu genießen. Er begann seinen Kleidungsstil zu wandeln und suchte immer häufiger die Nähe einflussreicher Politiker.  Im Habitus war er bald von jenen kaum mehr zu unterscheiden, die er sich durch die eine oder andere kräftige Spende gewogen machte. Zu Beginn der 1960er war Lorenz Meester ein festes Glied im so genannten „Kölschen Klüngel“.
  „Man kennt sich, man hilft sich“, pflegte der Lenz sein Idol Konrad Adenauer gerne zu zitieren. Kein Zweifel, er war stadtfein geworden, und dafür, dass er es bleiben konnte, sorgte seine Frau fürs Grobe, Gerda Janke.
  Die sehnig elastische Fatalistin mit der kurzen, nach hinten gekämmten, brünetten Bubikopf-Frisur war aus diffuser Herkunft 1950 an der Seite vom Lenz aufgetaucht und von dort nicht mehr gewichen, obwohl sie da wohl kaum älter gewesen sein konnte als Hannelore Körber bei der Hochzeit mit ihrem Chef.
  Scharf geschnittene Züge von böser Schönheit signalisierten den Männern in diesem Spielfeld von Geld und Macht, dass sie es trotz der nur 160 Zentimeter Körpergröße hier mit einem gefährlichen Sprengstoffpaket zu tun hatten. Wer sie verärgerte, bekam auch Ärger mit dem Lenz – das war klar.
    Im Kanon hatten sie den Lebensstil der Wirtschaftswunder-Jahre assimiliert und traten nun als Erfolgsduo auf. Hannelore hatte als erste Lektion begriffen, dass weder Eifersucht noch Stutenbissigkeit etwas am engen Verhältnis von Gerda und Lenz ändern konnten. Wenn es zum Skifahren nach Obergurgel ging, war Gerda dabei. Wenn sie an Sommerwochenenden Geschäftsfreunde zu einer Rheinpartie mit dem neuen Riva-Boot luden, brillierte Gerda als Femme fatale im Mini-Bikini.
  Während Hannelore und Lenz quasi Blümchen-Sex zelebrierten, hielt Gerda Janke ihren Körper für all jene Varianten fit, die der Lenz mit seiner niedlichen Braut nicht praktizieren wollte. Hannelore, die zwar naiv, aber keinesfalls blöd war, arrangierte sich nachdem sie nachts auf einer Reise einmal heimlich vom Balkon ihres Hotelzimmers in das benachbarte der Sekretärin gelugt hatte. Insgeheim war sie Gerda sogar dankbar, dass es ihr auf diese Weise erspart blieb, diverse Körperpositionen, -Teile und – Öffnungen darzubieten.
  Hätte Gerda andererseits geahnt, dass der Lenz in Stellungen, bei denen sie ihn nicht mit ihrem harten Blick fixieren konnte, detailliert an Traute dachte, wäre es vielleicht zu einer Gewalttat gekommen…
  Aber zu der kam es genau so wenig wie zu der „Menage à quatre“ – wie man so etwas im immer noch frankophilen Cologne hätte nennen können. Denn auf einmal war in aller Dunstkreis ein frisch „rübergemachter“ Beau aus der DDR aufgetaucht, der die Traute hofierte, aber von Gerda derart angeschmachtet wurde, dass die sich dem Lenz fortan im wahrsten Sinne des Wortes verschloss.
  Hätte die Erläuterung der latenten lenzschen Liederlichkeit eines besonderen Beispieles bedurft, so wäre dies der Fortlauf der Handlung in den Jahren bis zur Hochzeit von Bernhard und Traute gewesen. Leute wie Lenz können noch so reich und mit den tollsten Häusern und Frauen versorgt sein – sie werden nie den Neid und die Missgunst los, wenn ein anderer ähnliches ohne ihre ausdrückliche Hilfe schafft. Lenz fehlte ja auch das Gen des gönnen Könnens.
  Bernhard hingegen war ein Typ, der niemanden brauchte, dessen Geradlinigkeit im Gegenteil bei solchen Menschen, die ihn vom rechten Weg abbringen wollten, als anhaltende Provokation empfunden wurde. Natürlich nahm er die Aufträge, die ihm der Lenz auf diversen im Rheinland verstreuten Baustellen zuschanzte, gerne an. Doch die Absichten, die damit verknüpft waren ignorierte er. Er neutralisierte diese mit exzellenter, schneller und verlässlicher Maurerarbeit. Dabei darf ruhig spekuliert werden, dass er das häufige und vom Lenz gewollte Aufeinandertreffen mit Gerda genauso von vornherein durchschaute wie die mit den Engagements einhergehende Trennung von Traute…
  In Lenz fand eine Implosion unbändiger Wut statt, als er im März 1970 nicht nur von dem Luftschloss in Ligurien und der Schwangerschaft von Traute erfuhr. Das war der Höhepunkt unbequemer Niederlagen. Wen wunderte es da noch, dass der Lenz auch ein schlechter Verlierer war:
  Die von Bernhard nicht erhörte und dem Lenz gegenüber nun zugeknöpfte Gerda hatte sich mit einem international operierenden Baulöwen aus Düren eingelassen und ihn gleich geheiratet, nachdem sie an sich gegenseitig als liebenswert eine unüberbietbare Skrupellosigkeit festgestellt hatten.
  Bei eben diesem Bauunternehmer heuerte Bernhard auf Vermittlung der ihn immer noch begehrenden Gerda als gut und nun korrekt und regelmäßig bezahlter Bauleiter an, um seiner Familie die nötige Sicherheit zu geben. Sein erstes Projekt war ein gigantisches Bauvorhaben in Süd-Spanien. Ein Führerschein war nun unerlässlich, denn vor Ort wartete ein Dienstwagen. Auch ans viele Fliegen musste er sich erst gewöhnen.
  Der Lenz jedoch – nun über sechzig – wurde kein bisschen weise. Er schnappte sich seine 30jährige Hannelore und reiste mit ihr nach Castellinaria, wo er die Abwesenheit von „Don Bernardo“ nutzte, um sich mit Bargeldbündeln als „Don Lorenzo“ zu etablieren. Als Bernhard erstmals Urlaub von seiner Großbaustelle nehmen konnte und wieder nach Castellinaria kam, gehörte seinem Schwager bereits ein Dutzend der aussichtsreichsten Häuser…










 6. Kapitel
Wie die Steine aus der Spur gerieten

 Bernhards wunderbare Jahre auf Rügen waren auch die Zeit des Aufstiegs eines Mannes zum ganz großen Sportstar der DDR. Gustav-Adolf Schur, genannt „Täve“, war durch seine Leistungen auf dem Rennrad zu einem Vorreiter der kommenden Sport-Supermacht geworden und als erster noch aktiver Weltmeister 1959 in die Volkskammer eingezogen.
  Bernhard wurde nicht „Täves“ ultimativer Fan wegen der vielen Siege und dessen tadelloser Haltung als Sportsmann, die später im Exil der Schriftsteller Uwe Johnson (Mutmaßungen über Jakob) literarisch manifestiert hatte. Vielmehr entdeckte er in der  Geradlinigkeit des politischen Athleten sehr viel von seiner eigenen Einstellung zum selbst ernannten Arbeiter- und Bauernparadies:
  Wenn einer an einer Sache grundsätzlich mitarbeiten will, auch wenn einem da Auswüchse sauer aufstoßen, dann muss er dort, wo er anpackt, das Maul aufmachen. Das tat der „Täve“ (übrigens auch noch als er nach der Wiedervereinigung bis 2002 als sportpolitischer Sprecher für die PDS im Bundestag saß), und deshalb schwang sich Bernhard quasi solidarisch aufs Rennrad.
  Man hatte den „Ruinen-Bernd“ als Einzelkämpfer mit der Maurerkelle überall auf der Insel zu aufgelassenen Herrenhäusern und Villen geschickt. Die SED und ihre diversen Unterorganisationen hatten auf einmal auch einen enormen Bedarf an Schulungszentren sowie Sport- und Erholungsheimen. Zum Teil waren die so entlegen, dass er bei Eiseskälte und ohne bereits wieder funktionierende Installationen regelrecht in ihnen kampieren musste.
  – Er war also mit seinen verqueren politischen Ansichten erst einmal aus dem Weg. Denn ohne fahrbaren Untersatz war er deutlich isoliert von Kollegen, die seine Ansichten hätten teilen können. Aber als Held der Arbeit mit 10 000 Mark in der Tasche kam er trotzdem schneller an so einen Renner – wie ihn der „Täve“ fuhr - als der Rest der Bevölkerung. Der musste bei den nun durch die spontane Nachfrage provozierten Engpässen der VEB-Fahrradproduktion zum Teil erst einmal Bezugsscheine für einfachste Drahtesel erwerben. Bernhard jedoch erhielt sein Velo, das bis ins Detail dem seines Idols entsprach, direkt von der elitären Sportgeräte-Schmiede im Umfeld der Leipziger Sportfakultät und war mit ihm wieder zurück in der Polit-Agitation.
  Von da an sah ihn die Inselbevölkerung egal ob bei Gluthitze,  bei steifem Wind oder splittrigem Frost zu diversen Baustellen über das kupierte Gelände Rügens düsen. 30 Kilometer nach dem Frühstück von seiner nun festen Unterkunft in Gustow zur Arbeit  und abends auf Umwegen über die Genossen zurück waren keine Seltenheit. Aber jetzt war ihm zu Raum und Zeit auch die Kraft gegeben. Und die wuchs noch mit jedem geradelten Kilometer.
  Dem Streckenschwimmen, seiner zweiten Leidenschaft, frönte er, so bald die Wassertemperatur der Ostsee im Sund über 16 Grad lag. – Auch da interessierten ihn die übrigen Wetterbedingungen dann nur beiläufig.
  Er war zu einer testosteronträchtigen, nahtlos gebräunten Augenweide für Freunde der Körperkultur mutiert, als er sich für den Juli 1960 zum Sundschwimmen anmeldete. Das älteste deutsche Langstrecken-Schwimmen über 2,3 Kilometer von Rügen über den Strelasund nach Stralsund hinüber schien ihm der richtige Test für sein neues, ganz persönliches Kontinuum zu sein. Er hatte sich lediglich vorgenommen, die Strecke in etwa dreißig Minuten zu schaffen. Wie er dann unter den tausend Mitschwimmern abschnitt, war ihm eigentlich egal, denn er war ja kein registrierter Wettkampfschwimmer – eher ein Gentleman-Sportler.
  Für ihn wurde dann nach einem mühelosen Schwimmspaß über die spiegelglatte Meerenge tatsächlich eine Zeit von 30 Minuten 22 Sekunden registriert, was ihn vor allem wegen seiner richtigen Selbsteinschätzung  durchaus befriedigte. Er konnte nicht ahnen, dass ihn seine sportliche Leistung nach der Urkundenverteilung bei der abendlichen Tanzveranstaltung in eine neue, gänzlich andere Dimension seines Lebens stoßen würde.
  Bernhard hatte – kaum zu erstem Geld gekommen – in dem spießigen Umfeld des DDR-Alltags begonnen, ein besonderes Augenmerk auf gute und Stil sichere Kleidung zu legen. Ausgerechnet der KPD-Opa war hierfür die Initialzündung gewesen, denn der organisierte von Strausberg aus auf höhere Anweisung Reisen zwecks Meinungs- und Gedankenaustausch im Sinne der Sozialistischen Internationalen. Es lief im Wesentlichen darauf hinaus, dass ausgewählte und verdiente deutsche KP-Veteranen auf Einladung nach Italien oder Frankreich verbracht wurden, um sich vor Ort einen Eindruck davon zu verschaffen, wie die Genossen unter den kapitalistischen Bedingungen – beispielsweise denen des italienischen Wirtschaftswunders - ihre Ziele verfolgten. Auf Gegeneinladung sollten die italienische Socii   und die französischen Copains sich dann propagandaträchtig darüber vergewissern, wie viel toller dies unter den Paradigmen des real existierenden DDR-Sozialismus funktionierte – oder auch nicht.
  Die Berichte des Großvaters über den „Spaghetti-Kommunismus“ eines Palmiro Togliatti oder über den sozialistischen Jungstar Enrico Berlinguer hatten bei Bernhard wohl erstmals die (häufig wohl auch genetisch veranlagte) Sehnsucht nach dieser Leichtigkeit des Lebens im  Süden aktiviert; die Sehnsucht im goethischen Sinne nach „dem Land, wo die Zitronen blühen“ war es jedenfalls nicht. Die abgebildeten Genossen der PCI in ihrem Parteiblatt „L’Unita“, das dem KPD-Opa wegen der Berichte über seine Reisegruppen gelegentlich geschickt wurde, machten einen so gänzlich anderen Eindruck als die stets verknöcherte Riege der DDR-Führung. Berlinguer wurde in seinem Charisma eindeutig von der lässigen Eleganz seiner Kleidung gestützt, was selbst im miesen Druckraster  zu erkennen war.
  Kleider machen Leute. Dieser alte deutsche Spruch hatte in der DDR völlig an Bedeutung verloren. Selbst die halbstarke und  aufmüpfige DDR-Jugend, die sich in „Röhrenhosen“ genannte VEB-Jeans zwängte und sich Haartollen im Elvis-Stil kämmte, wirkte irgendwie hilflos uniform. Das wollte Bernhard nicht. Er fand, Sozialismus und Schick mussten sich nicht ausschließen, und sein Handwerk sollte ihn erst recht nicht daran hindern, schnieke auszusehen.
  Ein Freund von der Berufsschule hatte sich in Strausberg als Schneider „selbständig“ gemacht. Zu dem ging er und zeigte ihm die Fotos aus dem italienischen Parteiorgan. Der „baute“ zuzüglich eigener Ideen die Anzüge, Hosen und Jacken der italienischen Genossen  nach und wurde dadurch, dass die intellektuelleren Führungskreise später bei ihm schneidern ließen, einer der wenigen erfolgreichen „privaten Unternehmer“ der DDR…
  Mag sein, dass Bernhard mit seinem Auftritt bei der Siegerehrung und dem, was diesem folgte, so eine Art Anschub-Marketing für den Freund geleistet hatte: Jedenfalls sprang er bei der Siegerehrung mit einem federnden Satz blond und braun gebrannt in einem stahlblauen, zu seinen Augen passenden Maßanzug, auf die Bühne. Es war die zweite Begegnung mit Otto Dudenhove.
  Dudenhove war nicht nur Volkskammer-Abgeordneter, sondern er war als so eine Art „Capo di tuti Capi“ für alle Bau-Kombinate in Mecklenburg zuständig. Und der  zu diesem Zeitpunkt natürlich dort noch unbekannte Mafia-Ausdruck, der Bernhard später so geläufig werden sollte, passt in der Nacherzählung wahrlich am besten, weil Dudenhove seinen geplanten Aufstieg ins Politbüro durchaus mit den Mitteln eines Paten bestritt.
  Charakterlich ein echter Eisbär mit entsprechendem Raubtier-Instinkt schaffte es sein oberflächlicher Charme immer wieder, dass es seine Opfer erst vor Angst fror, wenn er sie schon auf einer Eisscholle zum Verspeisen isoliert hatte. Bernhard sollte es genau so ergehen. Die Eisscholle für Bernhard im übertragenen Sinne des Wortes war Dudenhoves Töchterchen Käthe, die an diesem  Abend Medaillen, Urkunden und Küsschen  verteilte.
  So lange war es noch nicht her, dass Bernhard „Held der Arbeit“ geworden war, und die Tatsache, dass er zeitlich als bester nicht  organisierter Schwimmer an die Spezialisten heran geschwommen war, bot daher dem Politiker Gelegenheit zum Schwadronieren. - Käthe und Otto wussten, wann sie Klasse vor sich hatten, die sie für ihre Ziele nutzen konnten.
   Während Otto also mehr blumige Worte zu Bernhard Kleiners sozialistischer Vorbildfunktion fand, als für die Leistung der eigentlichen Sieger des Sundschwimmens, winkte er die Fotografen herbei. Die schossen ein Foto von den sich freundschaftlich umarmenden Männern, an die sich Käthe drückte, als seien die Drei da schon diese spontan von ihr geplante DDR- Vorzeigefamilie: Der verwitwete Spitzenfunktionär, seine Tochter als Studentin in einem Männerberuf und der potenzielle Schwiegersohn, ein Maurer bäuerlicher Herkunft mit dem Stern eines Helden der Arbeit dekoriert – und ein Schwimmstar wider Willen.
  Bis dahin hatte Bernhard – einmal abgesehen von ein paar Maurer-Jungen-Abenteuern mit Mädchen, denen man im natürlich prostitutionsfreien Sozialismus als Gegenleistung Gefälligkeiten erweisen musste -  keine Ruhe gehabt, um Frauen kennen zu lernen. Sich an einem Ort länger als nötig  aufzuhalten, um einer Frau den Hof zu machen, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. Das sollte sich jetzt durch dieses Mädchen ändern, denn Käthe war fest entschlossen, dem sozialistischen Muster-Mannsbild Bernhard ein Kind zu machen.
  Da Bernhard keine Ahnung von Frauen hatte und dem Phänomen der wahren Liebe noch nicht begegnet war, hatte er natürlich auch erst recht keine Ahnung, dass es zu deren edlem Ideal-Bild auch Varianten gab, die von Machtinstinkten gesteuert wurden. Als ihm Käthe offen Avancen machte, war es um ihn geschehen. Er verliebte sich in das mittelgroße Mädchen mit den streichholzlang geschnittenen braunen Haaren, obwohl ihm der burschikose, knabenhafte Typ eigentlich nicht so lag.
  Käthe studierte Bau-Ingenieur in Rostock, und so wie Bernhard ein Ideal-Mann nach DDR-Muster war, so entsprach Käthe der Vorstellung, wie Frau in dem Arbeiter- und Bauernstaat zu sein hatte, wenn sie eine intellektuell gesteuerte Führungsposition einnehmen wollte: eine linientreue Kaderideologin, die keiner Aufgabe auswich, bei jeder Parteisitzung das Wort ergriff und sich gerade soviel weiblichen Charme zugestand, dass sie auf Knopfdruck begrenzte Begierde bei Kollegen auslösen konnte. Das geschah  aber ausschließlich, damit sie ihre Ziele leichter erreichen konnte.
  Beim ersten Knutschen mit Bernhard dachte sie, um in Fahrt zu kommen, an die Rundungen der etwas übergewichtigen Kommilitonin mit dem kantig slawischen Gesicht, die das Zimmer im Studentenheim mit ihr teilte. Natürlich besaß sie soviel Selbstkontrolle, dass sie dieser speziellen aber sicher karrierefeindlichen Neigung niemals nachgegeben hätte. Es ist aber denkbar, dass sie gerade deshalb sexuell so funktionell und offensiv bei Bernhard vorgehen konnte, weil sie sinnlich eigentlich nicht bei der Sache war.
  Bernhard merkte davon zunächst vor allem deshalb nichts, weil er umgarnt und umsorgt wurde wie seit dem Tod seiner Mutter nicht mehr. Und auch die Tatsache, dass ein so wichtiger Mann wie Otto Dudenhove ihn nicht nur wegen der Liaison mit seiner Tochter wichtig nahm, gab ihm ein gutes Gefühl.
  Dass der Funktionär ihn wieder nach Stralsund holte, weil er den jungen Mann um sich haben wollte, ihn zudem in „seine Kreise“ einführte, schmeichelte beider Eitelkeit. Bernhard stellte sich nicht einen Moment die Frage, wieso ihm Dudenhove, in dessen Macht es ja gestanden hätte, nicht gleich  Arbeit und Quartier im nur hundert Kilometer entfernten Rostock vermittelt hatte. War es doch so offenkundig gewesen, dass Käthe und er ein Paar waren und schon bald auch ans Heiraten dachten…
  Aber dann war eben wieder „politischer“ Alltag. Die Tageszeitungen mit den Aufmachern über den schwimmenden Helden der Arbeit waren beim Altpapier und drohten in Vergessenheit zu geraten. Das konnte der Propaganda-Profi Dudenhove natürlich nicht zulassen. Er sorgte also dafür, dass sein Schwiegersohn in spe als „Fachberater“ kaum noch von seiner Seite wich. Er spielte dabei bewusst mit dem Kontrast zwischen dem zivilen und dem handwerklichen Erscheinungsbild seines Protegées und verschaffte sich mit diesem Trick selbst Kompetenz. Denn tatsächlich hatte Dudenhove von den meisten Dingen am Bau keine Ahnung.
  So wie Bernhards Fixstern der „Täve“ war, so hatte sich Otto Dudenhove einen Mann als Orientierung für seine Karriereplanung erwählt, der etwa gleich alt und noch smarter bei der Auslotung und Erschließung persönlicher Geldquellen im real existierenden Sozialismus war als er selbst. Sie hatten Berührungspunkte, weil der Mann als Vertreter des Außenhandels auch in einer übergreifenden Baukommission saß: Alexander Schalck-Golodkowski.
  Der aalglatte Karrierist, dessen Doppelspiel zwischen beiden deutschen Staaten auch nach der Wiedervereinigung (wohl auf höhere Beeinflussung) bis heute nie vollständig ausgelotet werden konnte, war eindeutig charismatisch, kleidete sich da aber eher noch unvorteilhaft. Dudenhove, der sich von Bernhard bald die Adresse des Strausberger Schneidermeisters hatte geben lassen, reichte die flugs an sein Idol Schalck weiter, und es darf angenommen werden, dass die beiden darauf hin eine Art geschäftliches Interesse aneinander pflegten. Jedenfalls häuften sich in persönlichen Gesprächen mit Bernhard Sätze wie: Der Genosse Schalck-Golodkowski hat das gesagt. Der Alex meint dies. Der Golo glaubt das…
  Derweil radelte Bernhard an jedem freien Wochenende die hundert Kilometer zu Käthe nach Rostock. Anfangs noch mit einem Rucksack, in dem die „Ausgehkleidung“ verstaut wurde. Aber nachdem der DKP-Opa begonnen hatte, von seinem Taschengeld aus Italien Felgen, Reifen, Naben, Zahnkränze und Übersetzungen solcher Edelmarken wie Colnago und Campagnolo für seinen radnärrischen Enkel mitzubringen, war Bernhard die Idee zu seiner „Zauberkiste“ gekommen.
  Noch heute rätselt er, ob ihn schon da eine gewisse Ahnung dazu getrieben hatte, die fehlerhafte rundeckige Aluwanne, die er bei einem Zulieferbetrieb abgestaubt hatte, wasserdicht zu machen. Jedenfalls schuf der Schrauber und Bastler Bernhard mit den zwei ausrangierten Rädern Leipziger Bauart und einem zurechtgebogenen Lochblech-Profil als Deichsel einen ultraleichten Radanhänger, der mit einer Persenning komplett abgedeckt werden konnte. Die Konstruktion lief so leicht und verteilte den Druck trotz Zuladung derart gut, dass es in der Ebene kaum zur Verlangsamung des Fahrtempos kam. Bernhard hätte mit so einem „Buggy“ im Westen ein Vermögen machen können,  zumal er bis zum Frühjahr 1961 noch diverse Verbesserungen an seiner Erfindung vorgenommen hatte. Dann aber sollte die „Zauberkiste“ über Nacht eine gänzlich andere Bedeutung bekommen.
  Schlag auf Schlag hämmerte das Schicksal Bernhard da einen anderen Kurs ein. Es begann damit, dass Käthe sich Ende April schwanger fühlte und, was das Heiraten anging, aufs Tempo drückte. Doch die Euphorie, die Bernhard durch diese Verkündigung beseelte, erhielt einen Dämpfer durch ein denkwürdiges Besäufnis mit seinem Schwiegervater in spe.
  Am Abend des 1.Mai nach diversen Feierlichkeiten am Tag der Arbeit hatten die zwei nicht aufhören können und waren noch mit einer Flasche Wodka auf Bernhards Bude versackt.
  Es ist keine besondere Erkenntnis, dass sich  nüchterne Charaktere im Stadium der Trunkenheit anders offenbaren. Während Bernhard zu den Typen gehört, die ruhig und bedächtig werden, löste das Feuerwasser bei Otto Dudenhove einen unerwarteten Hang zu einer ansonsten gnadenlos kontrollierten Extrovertiertheit. Nie hätte er sich das gestattet, wenn er sich seines Schwiegersohns nicht schon so sicher gewesen wäre. Auf einmal verfiel er nämlich genial in die nasale Fistelstimme Walter Ulbrichts und hielt eine Ansprache, die bewusst und deutlich konspirativ nur für die Ohren Bernhards bestimmt war:
  „Maurer! Genossen in den Bau-Kombinaten! Es wartet eine große vaterländische Aufgabe auf Euch. Die Partei, das Zentralkomitee und ich haben gemeinsam mit unseren Genossen aus der glorreichen SU beschlossen, einen Schutzwall gegen die permanenten US-imperialistischen Übergriffe zu errichten, die sich vom Staatsgebiet der BRD aus auf die Souveränität unserer Deutschen Demokratischen Republik richten.“
  Hätte er die Augen geschlossen gehabt, Bernhard hätte die Sätze für eine Original-Ansprache gehalten. So aber hatte er sie vor Schreck weit aufgerissen, und lachen konnte er über diese perfekte Parodie auch nicht.
Zumal Dudenhove jetzt mit schwerer Zunge zwar, todernst in seine eigene Sprache zurück fiel:
  „Die Frontarbeit werden die Pioniere der NVA mit den russischen Genossen leisten. Von uns im Hintergrund erwartet man, dass wir die Logistik vorbereiten. Wenn du dich da mit einbringst, wirst du am Ende mehr sein als nur ein Held der Arbeit. Du musst mir helfen, große Mengen Material von unseren größeren Baustellen hier in Richtung Lübecker Bucht umzulenken. Ich brauche dafür einen verlässlichen Genossen, der den Deckel möglichst lang auf dem Topf halten kann und sich nach geeigneten Gebäuden umschaut, die mit wenig Umbauarbeiten als Quartiere für das aufgestockte Grenzpersonal geeignet sind.“
  Bernhard nickte versonnen, doch was der andere als kadertreue Zustimmung interpretierte, war das Bejahen einer schlagartig nüchternen persönlichen Entscheidung, die der „Freimaurer“ in Sekunden getroffen hatte. Er würde nicht helfen, die Spur der Steine zu verändern. Er würde sich selber verändern – räumlich!

  Am  darauf folgenden Wochenende versetzte er Käthe ohne Nachricht und kurbelte die etwa 270 Kilometer Landstraße von Stralsund nach Strausberg zu Großvater und Bruder in knapp sieben Stunden herunter. – Dabei hatte er bereits die gewisse, von allgegenwärtiger Staatssicherheit gespeiste Paranoia als „schwere Last“ im Rucksack seines schlechten Gewissens. Was, wenn Käthe nun tatsächlich schwanger war?
  Seine beiden letzten direkten Verwandten waren nicht wenig überrascht, ihn so unvermittelt mit dem Rad auftauchen zu sehen. Und sie waren besorgt, als er nach der gerade überstandenen Strapaze darum bat, sie mögen doch am Straussee einen schönen Abendspaziergang machen.
  Während sie zum Fischerkietz hinunterschlenderten, fiel Bernhard mit der Tür ins Haus:
  „Der Ulbricht will einen sozialistischen Menschenzoo aus uns machen. Er will uns einmauern und einzäunen – angeblich um uns vor US-imperialistischen Übergriffen zu schützen. Ich weiß nur nicht, wann und wo es losgeht. Ich bin aber für Juli wohl schon diesbezüglich an die Lübecker Bucht abgestellt.“
  Der linientreue SED-Opa machte einen weit weniger überraschten oder gar abweisenden Eindruck als Bernhard erwartet hatte. Sein Bruder Robert allerdings brach das kurze Schweigen als erster. Er, der nach dem 17. Juli 1953 und dem Aufstand der intellektuelle Jugend 1956 trotz Jugendweihe und FDJ-Zugehörigkeit nicht nur aufgrund seiner gesundheitsbedingten Zurückhaltung bei Aktivitäten manch Demütigung zu schlucken gehabt hatte, war längst ideologisch von der Linie abgerückt:
  „Das ist Verrat an der Idee. Da siehst du Opi, was du immer nicht wahrhaben wolltest. Wir leben im tiefsten Faschismus.“
  Bernhards Großvater machte einen gelassenen Eindruck und reagierte gar nicht empört auf den Angriff seines jüngeren Enkels:
  „Ich nehme an, es geht noch diesen Sommer los, denn ich habe dieser Tage die Mitteilung bekommen, dass es ab Juli keine Reisen mehr zu oder gar Einladungen für ausländische Genossen aus dem Westen geben soll. Für Juni steht noch eine Reise nach Mestre an, die venezianischen Genossen werden vierzehn Tage später zum Gegenbesuch erwartet. Dann soll auf höhere Weisung erst einmal Schluss sein mit unserer Beteiligung an Treffen der Sozialistischen Internationale außerhalb des Warschauer Paktes.“
  „Dann müsst ihr raus!“
  Bernhard wusste, dass sein Großvater, der nach dem Tod der Mutter ihr Vormund gewesen war, seinen kleinen Bruder schon einige Male als Unterstützung auf die Reisen hatte mitnehmen dürfen, wenn Schule und später das Studium dies zuließen.
  „Ich weiß nicht. In meinem Alter alles aufgeben?“
  „Denk an Robert und sein krankes Herz. Was hat der als Bruder eines Republikflüchtlings zu erwarten. Noch dazu, wenn der ein Held der Arbeit war?...“
  „Das heißt, du willst hier auf alle Fälle weg, wo du es dir doch gerade so gut eingerichtet hast?“
  „Ich habe mir geschworen, dass ich nie wieder frieren will und momentan ist mir ganz eisig kalt ums  Herz.“
  Es gab eine Schwester des verstorbenen SPD-Opas in Kerpen bei Köln. Bernhard empfahl ihnen, sich da hin zu wenden und drückte dem Großvater 4000 Mark von seiner Prämie in die Hand. Dann tranken sie noch ein paar wehmütige Gläser Bier in einer traditionellen Fischerkneipe, deren Gemütlichkeit der Resopal- und Plaste-und-Elaste-Sozialismus noch nichts hatte anhaben können.
  Im Morgengrauen war er ohne Abschied, aber mit der Hoffnung zurück geradelt, die beiden im anderen Deutschland wohlbehalten wieder zu treffen – mit oder ohne Käthe.
  Mitte Juni bekam Bernhard eine in Strausberg abgestempelte Postkarte. Auf einer persönlich unterschriebenen Autogramm-Karte von Berlinguer, die der Großvater wohl in einem Anfall von Galgenhumor umfunktioniert hatte, stand in der krakeligen, nur von nahen Verwandten zu entziffernden Schrift:
   „ Vinceriamo! Wegen des bevorstehenden Feiertages erwarten wir auch viele unserer westdeutschen Genossen. Salve Enrico.“
  Das war das vereinbarte Zeichen, dass der Großvater und Robert dazu entschlossen waren, sich am 16. Juni von ihrer Reisegruppe abzusetzen. Das bedeutete auch, dass Bernhard an diesem Tag, beziehungsweise in der Nacht zum „Tag der Deutschen Einheit“ seine bis ins Detail geplante „Ausbürgerung“ antreten würde.
  Und zwar ohne schlechtes Gewissen. In einigen vorsichtig und taktisch klug geführten Gesprächen mit Käthe hatte er erfolgreich ausgelotet, dass die fanatische Beziehung seiner Freundin zur DDR die vermeintliche Liebe zu ihm erheblich überwog – nein, eigentlich klar ausschloss. Diese bittere Erkenntnis  ging einher mit Käthes Geständnis, dass sie zwischenzeitlich längst wieder ihre Regel gehabt hätte. Anfang Juni war die Gefühlskälte zwischen ihnen spürbar so groß geworden, dass Bernhard einen bewusst mit Käthe herbei geführten Streit als inszenierten Abgang und Ausrede geplant hatte, - falls er bei seiner Republikflucht erwischt würde.

  Was dann tatsächlich ablief, ist ein aus Bruchstücken zusammen gesetztes Mosaik aus Spekulationen. Bis weit in die 1990er beharrte Bernhard darauf, er habe die DDR wegen eines „Kavaliersdeliktes“ verlassen. Obwohl er Stasi-Übergriffe da schon nicht mehr fürchten musste, ließ er sich detailliert weder über die Fluchtroute noch über die drei Monate aus, die er brauchte, um in Kerpen wohlbehalten wieder mit dem Großvater und seinem Bruder zusammen zu treffen.
  Da er auf seinem Rennrad samt „Zauberkasten“ dort eintraf, liegt die Vermutung nahe, die Flucht sei radelnd und schwimmend erfolgt. Das beharrliche Schweigen darüber war aber möglicher Weise auch aus Sicherheitsgründen derart in Fleisch und Blut übergegangen. Nach und nach trafen in Kerpen nämlich Genossen im Geiste ein; also andere „Freimaurer“, die mit Bernhard in verschiedenen Kombinaten und Kolonnen malocht hatten. Das Schlupfloch, durch das sie „rüber gemacht“ hatten, hielt zumindest bis zum Frühsommer 1962. Da war es auf Initiative von Bernhard schon zur Gründung des „Bullenklosters“ gekommen:
  Seine sieben „konspirativen“ DDR-Kollegen, Bruder Robert und Willy Granzow, der sich fortan verbat, KPD- oder SED-Opa genannt zu werden, zogen mit Bernhard in ein Appartementhaus vom Lenz, bei dessen Bau er gewissermaßen schon als Polier gewirkt hatte.
Aber da hatte ja schon die wirklich große, wahrhaftige und einzige Liebe seines Lebens Besitz von Bernhard ergriffen.













 7. Kapitel
Traute

  Die, die nur nach dem Äußeren eines Menschen gehen, machen es sich oft bei ihren Beurteilungen wissentlich zu leicht. Das Vorurteil, eine Frau müsse nur gut genug aussehen, um Erfolg und Glück im Leben zu haben, hält sich sogar bei intelligenteren Menschen. Traute Körber war, bis sie sich endlich die Liebe ihres Lebens erarbeitet hatte, das Opfer multipler Vorurteile:
 
  Vorurteil 1: Wer einmal im Keller gehaust hat, bleibt meist auch ein Kellerkind - also sozial unterste Schublade.
  Als Familie Körber 1943 in Köln ausgebombt und  ins Bergische Land auf einen Bauernhof umgesiedelt worden war, musste die dreijährige Traute an der Hand ihrer älteren Schwester Hannelore schon große Strecken auf eigenen Füßen zurücklegen. Die Mutter schob den Kinderwagen mit den anderthalb jährigen Zwillingen Rolf und Renate und einen Bauch vor sich her, aus dem in zwei Monaten Tochter Nummer vier schlüpfen sollte: Vielleicht das Abschiedsgeschenk von Eddie Körber, der kurz nach seinem finalen Zeugungsakt auf möglicher Weise nimmer Wiedersehen an die Ostfront geschickt worden war.
  Die Demütigungen, die die Stadtkinder bis ein Jahr nach Kriegsende dort von der Landbevölkerung erfuhren, waren nichts gegen die Wohnverhältnisse und den Hunger, den sie trotz fleißiger Erntearbeit zu erleiden hatten. Der Bauer hatte ihnen eiligst den muffigfeuchten Unterbau einer Scheune frei geräumt. Plumpsklo und Pumpe zum Waschen lagen auf der anderen Seite vom Hof.
  Um die Versorgungsverhältnisse ihrer Kleinen bisweilen ein wenig zu verbessern, ließ Mutter Körber es zu, dass der Bauer ihr gelegentlich im Stall oder, in einem vermeintlich unbeobachteten Moment bei der Pause von der Feldarbeit die Röcke über den Hintern hochschlug. Was er dann machte, kannten die beiden großen Mädchen, die mehrfach spionierten, von Hengst und Stute auf der Weide.
  Durch eine Fehlmeldung kurz vor Weihnachten 1946 hieß es, sie könnten in ihre alte Wohnung zurück. So hoffnungsfroh waren sie gewesen, von dem Bauernhof fort zu kommen, dass sie eine Rückversicherung gar nicht in Erwägung zogen. Zu sechst standen sie mit ihrer armseligen Habe und löchrigen Klamotten vor ihrem einstigen Wohnhaus, das allerdings immer noch so aussah wie nach dem Bomben-Einschlag. Ein Zahlenverdreher bei der Straßennummer hatte sie zum zweiten Mal obdachlos gemacht.
  Bis 1947 lebten sie folglich in einer zum Massenquartier umfunktionierten Kaserne. Sie teilten die Stube mit einer Kriegswitwe, die zwei kleine Buben hatte. Das Zusammenleben war ein Alptraum. Hygiene und Privatsphäre konnten nur mit erheblichem Kraftaufwand bei der Selbstdisziplinierung erreicht werden. Die beiden Frauen vermochten immerhin jedoch im Wechsel einer bescheidenen Erwerbstätigkeit nachzugehen.
  Mutter Körber hatte dabei Glück im Unglück – oder umgekehrt? Sie fand Arbeit bei einer Änderungsschneiderei, die in einem ehemaligen Textil-Geschäft von den Eigentümern im eigenen Haus betrieben wurde. Bei dem Haus war nur der Dachstuhl zerstört. Weil sie sehr fleißig war und bei Überstunden nicht murrte, machte ihr der Arbeitgeber den Vorschlag, es sich mit ihren Kindern und den dort noch vorhandenen, nicht so ramponierten Möbeln,  unter dem unbeschädigten Teil des Speichers gratis häuslich einzurichten. Damit begann eine fünfjährige nahezu sklavische Abhängigkeit der Körbers, in der das Textilgeschäft wieder auferstand und  das Dach mit den Körbers drunter sowie Etage um Etage wieder saniert wurde, ohne dass sich jedoch deren Lebensverhältnisse sonderlich verbesserten. Dann erst flohen sie aus Verzweiflung in das Souterrain, aus dem sie der Lenz dann „befreite“
  Hannelore und Traute wurden trotz des Altersunterschiedes zusammen eingeschult. Die britische Besatzungsmacht hatte sich alle Mühe gegeben, das Deutsche Bildungssystem zu entnazifizieren und wieder auf ein gewisses Niveau zu bringen. Damit die Schüler nicht gezwungen waren, wegen der permanenten Nahrungssuche in diesen chaotischen Verhältnissen die Schule zu schwänzen, wurden sie von den Tommys mit einem Mittagsessen – meist Suppe oder Brei – zum Besuch des Unterrichts regelrecht angelockt. Damit Mutter Körber ungestört durchschuften konnte, nahmen die beiden großen Mädchen die drei kleinen Geschwister einfach mit in den Unterricht und Teilten den Inhalt aus den zwei Kommissbüchsen durch fünf. Niemand erhob Einwand dagegen, obwohl die mangelhaft ausgestatteten und kaum geheizten Klassenzimmer der Notschulen ohnehin hoffnungslos überfüllt waren…

  Vorurteil 2: Außergewöhnliche Intelligenz bahnt sich von selbst ihren Weg.
  Obwohl sich Traute im Gegensatz zu Hannelore mit ihren Leistungen aus den unüberschaubaren Klassen stets nachhaltig heraus hob, reüssierte sie nicht. Die Lehrer, die vor allem auch wegen der hohen sozialen Kompetenz, die Traute von Beginn an entwickelt hatte, nicht müde wurden, Empfehlungen für das Gymnasium und ein späteres Studium auszusprechen, fanden kein Gehör.
  Hannelores frühe Hochzeit war ebenso kontraproduktiv wie die wenigen Monate väterlicher erzieherischer Begleitung.  Eddie Körber hatte selbst am eigenen Leib verspürt, dass er durch die Heirat seiner Töchter einen Status einnahm, den Leute aus seinen Kreisen sich nie und nimmer hätten erarbeiten können. Warum sollte Traute dann unnütz die Zeit auf der Schule verplempern?
  1954 war Traute immer noch auf der Volksschule und alles hatte darauf hingedeutet, dass sie dort auch ihren Abschluss gemacht hätte. Wenn es im Leben des Lenz aus menschlicher Regung eine Handlung gegeben hat, die in der Folge zu etwas Gutem führte, dann war es sein Beharren, Traute müsse zumindest die Mittel- und danach eine Handelsschule besuchen. Die edle Tat wurde später allerdings von Traute selbst als Akt der alternativen sexuellen Langzeitversorgung enttarnt. Meesters Büro in Porz lag nur um die Ecke von den beiden avisierten schulischen Einrichtungen, und er selbst bestand darauf, sich persönlich um Trautes Fortkommen zu kümmern. Neben der Überwachung der Hausaufgaben sollte sie so auch gleichzeitig in den Vorzug kommen, alle fürs Büro von der Pieke auf zu lernen…
  „Dat Jerda, dat Aas“, hatte natürlich den Braten als erste gerochen und machte sich einen Spaß daraus, ein ums andere Mal ihrem Sex- und Geschäftspartner auf die vor  vorfreudiger Geilheit bis auf den Boden feudelnde Zunge zu treten. Und zwar so, dass es immer richtig weht tat.

 Vorurteil 3: Schönheit muss nicht arbeiten.
 Da war aus dem Gör, das langgliedrig und dürr war wie eine Gottesanbeterin plötzlich mit gerade einmal sechzehn eine hoch aufragende Schönheit geworden, die selbst angebetet wurde. Selbst der freche kleine Bruder, der sich immer über ihre Länge lustig gemacht hatte, verstummte. Gerade hatte er noch gemeint, wenn Traute jemals Männer abbekommen wolle, müsse sie wohl zwei aufeinander stellen, da rannten die Kerle ihnen bereits die neue Bude in Porz ein. Aber war Traute darüber glücklich?
  Ein Freund vom Lenz, der es in den wenigen Jahren zum Besitzer mehrerer großer Friseur-Salons gebracht hatte, spannte die überragende Traute gratis als Modell und Repräsentantin seiner neuesten Haarkreationen ein. Was Traute noch mehr zu einem Hingucker machte. Das wiederum blieb nicht ohne Folgen auf ihr soziales Umfeld. War sie mit Freundinnen zum Tanztee, stürzten sich die Jungs allein auf sie, was den anderen Mädchen unbeabsichtigt das Gefühl gab, Mauerblümchen zu sein. 
  Was tat Traute in ihrer angeborenen sozialen Fürsorge? Sie wurde den Galanen gegenüber unwirsch und abweisend, damit ihre Freundinnen besser zum Zuge kamen. Sie selbst blieb von da an stoisch hocken, was wiederum als unnahbare Arroganz ausgelegt wurde.
  Intellektuell unterfordert, zu Höherem befähigt, aber nicht erkannt und unnahbar schön glitt die Göttin in eine Isoliertheit ab, in der sie aber nach indischem Vorbild sechs Arme benötigt hätte, um die flinken zielstrebigen Hände von Schwager Lorenz Meester abzuwehren. Der Lenz hatte doch so gar nichts frühlingshaftes, war er doch erkennbar nun schon ein Mann in den Fünfzigern.
  Kaum aus der Handelsschule nahm Traute also eine Lehrstelle an, die sie, so weit es ging, aus der Reichweite dieser Fänge brachte. In Königsdorf begann sie eine Lehre als kaufmännische Gehilfin für Im- und Export. Paradoxer Weise bekam sie die Stelle, weil sie im Büro vom Lenz so gut aufgepasst hatte, dass  sie gleich als vollwertige Kraft eingesetzt werden konnte. Es brauchte ihr ja kaum jemand noch etwas beizubringen …
 
 Man stelle sich die ersten Begegnungen zwischen Bernhard und Traute am besten folgender Maßen vor:
  Aus dem Meer der allmorgendlich zur Arbeit schwappenden Köpfe auf den Bahnsteigen des Königsdorfer Bahnhofs ragten zwei Leuchttürme, die ihre Strahlen über allem kreisen ließen: Stadteinwärts Bernhard mit seinen Attitüden eines englischen Landjunkers und langem, sonnegebleichten Blondhaar sowie dem gepflegten Oberlippenbart, der sein stets gebräuntes Gesicht markant kontrastierte. Und auf dem gegenüberliegenden Perron ankommend schwebte die der Garbo so ähnliche Gottheit mit wöchentlich wechselnden, tollkühnen Frisuren, wie man sie nur von den Titelbildern der FÜR SIE oder der Constanze kannte.
  Am Anfang streiften sich die Strahlen lediglich oder kreuzten sich bestenfalls. Aber eines Morgens verhakten sie sich kurz, und von da an warteten alle anderen vergebens, noch einmal von beider Glanz beschienen zu werden.
Erst zehn Sekunden, dann zwanzig und schließlich eine volle Minute ertranken sie nun täglich - immer noch durch die Bahngleise getrennt - gegenseitig in ihren Augen. Dann wechselte Bernhard endlich mutig  auf ihre Seite und erwartete sie. Bewusst eine Verspätung in Kauf nehmend, artig unter Wahrung aller Anstandsregeln, sie im Gespräch auch formell siezend, begleitete er Traute erstmals zu ihrer Firma.

  Obwohl der direkte Augenkontakt die Initialzündung war, ist das keine Liebe auf den ersten Blick gewesen, die da zwischen Traute und Bernhard ihren Lauf nahm. Sie gingen ins Kino, wo sie zunächst einmal zögerlich Händchen hielten, aber sich noch nicht zu küssen wagten. Sie verabredeten sich am Samstagabend zwar zum Tanzen und gingen beim Slow auch auf Tuchfühlung, aber den ersten Kuss tauschten sie erst nach acht Wochen bei einem Sonntagsspaziergang am Rheinufer. Es war der Kuss seines Lebens, behauptete der 71jährige Bernhard und dabei schwammen seine Augen immer in etwas mehr Flüssigkeit als sonst.
  An diesem Sonntag war Traute schon 22 und noch Jungfrau. Bernhard war 25 und verdrängte schlagartig die nun scheinbar schon so weit zurück liegenden Exzesse mit seiner lesbischen DDR-Braut. Er wartete noch zwei Monate, bis er Traute vorsichtig fragte, ob sie nach dem Tanzen noch zu ihm in sein Appartement im „Bullenkloster“ käme…
  Diese Behutsamkeit, manchmal sogar Langsamkeit, bei den gemeinsamen Schritten, sollte ihr weiteres Leben prägen. Wieder einmal war Bernhard in einem Zeittunnel autarker Wahrnehmungen unterwegs, und dass seine Partnerin dies akzeptierte, gab ihm eine veränderte, aber noch stärkere Selbstsicherheit.
  Traute fand Bernhard auch in seinen Maurerklamotten äußerst attraktiv, aber den Kick versetzte ihr dieser Mann immer aufs Neue, wenn er in seinen Maßanzügen vor ihr stand. Lag es nun an Bernhards DDR-Vergangenheit, die ihn sichtlich reifer erscheinen ließ, oder auch an Trautes reservierter Schönheit, dass die zwei die stürmischen 1960er in einem Kokon erlebten. Klar hörten sie Beatles und Rolling Stones und manchmal twisteten sie sich auch die Seele aus dem Leibe, aber sie waren doch eher die Cliff-Richard-oder Paul-Anka-Typen. Zu ihrer Lebenshymne wurde jedoch Percy Sledges “When a Man Loves a Woman“. Sie wurde natürlich auch bei  ihrer Hochzeit 1966 gespielt.
  Was hatte die beiden abgehalten, schon früher zu heiraten? Sie waren doch einander so sicher.  - Die Welt war es nicht. Da kam die Kuba-Krise. Dann wurde Kennedy ermordet. Aber gleichzeitig erhob sich Köln immer noch nachhaltig aus seinen Trümmern. Banken, Versicherungen und Spekulanten überboten sich im Hochziehen gigantischer Verwaltungsgebäude. - Mittendrin der Lenz als eine Art Neunauge im Kölschen Klüngel, der sich überall parasitär festsaugte und den Versuch nicht aufgab, den „Beschäler von Traute“ (so nannte er Bernhard verächtlich vor Dritten) auf die dunkle Seite hinüber zu ziehen. Aber da Bernhard nur wenig von seiner Vergangenheit preisgegeben hatte, ahnte der Lenz nicht, dass Bernhard der Umgang mit Dunkelmännern durchaus vertraut war. Zudem konnte es sich der permanent sich selbst überhöhende Meester wohl nicht vorstellen, dass er die „Fünfte Kolonne“ in den eigenen Reihen hatte. Mag sein, dass Gerda Janke zunächst aus einer Art Eifersucht die Annäherung des Lenz an Traute immer wieder geschickt sabotierte. Aber da die rasant verstreichenden Jahre ihre Kinderlosigkeit besiegelten, wuchsen ihr Bernhard und Traute mehr und mehr ans Herz. - Wobei ihr langer Blick auf Bernhards männliche Attribute recht häufig nicht unbedingt etwas mit mütterlicher Zuneigung zu tun hatte.
  In der Praxis sah das so aus: Wann immer der Lenz etwas ausgeheckt hatte, um Bernhards Geradlinigkeit zu erschüttern oder ihn in Folge nicht ganz koscherer Vorgehensweisen von sich abhängig zu machen, steckte Gerda das der Traute.
  Der Lenz musste lernen, dass es, jenseits seiner Ränkespiele, eine unerschütterliche Aufrichtigkeit gab, gegen die ihm kein Mittel gegeben war. Das gefiel ihm nicht. Und es gefiel ihm noch weniger, dass dieser, sein neuer Schwager, immer nur einen kontrollierten Schritt davon entfernt war, seinem durchaus vorhandenen Temperament wie einen Vulkan ausbrechen zu lassen.
  Im Frühjahr 1967 überraschte er im Baubüro zu einer Großbaustelle am Kaiser-Wilhelm-Ring seinen Schwager dabei, wie er gegenüber Gerda Janke in einem Streit handgreiflich wurde. Er ahnte doch nicht, dass das einmal „part of the Game“ war. Gewalt gegen Frauen aktivierte bei Bernhard ganz kurze Reizleitungen. Dass hatte nichts damit zu tun, dass Gerda dem jungen Paar eine echte Vertraute geworden war. Jede andere Frau in dieser Lage hätte die gleiche ungebremste Reaktion bei Bernhard ausgelöst:
  Er zerrte den Lenz an seinen Jackett-Aufschlägen aus der Baracke an den Rand der Baugrube für die dreistöckige Tiefgarage. Eine falsche Bewegung, und der Lenz wäre fünfzehn Meter tief gefallen:
 „Wie wär’s, wenn du dir mal einen gleich starken Gegner suchtest? Ich schau mir das ja schon eine ganze Weile an und ich weiß auch, dass du mich nur für einen rüber gemachten DDR-Trottel hältst. Aber sollte ich noch einmal erleben – vor allem bei Gerda und Traute – dass du eine unserer Damen nur berührst, dann hast du keinen Schwager mehr, der dich gerade noch vor einem Fehltritt bewahrt. Dann hast du einen Unfall!“
  Eine Stunde später lag Bernhards Kündigung auf dem Tisch, und irgendwie war von da an auch klar, dass beide wohl keine echten Freunde mehr würden.










 8. Kapitel
Eine Art Zauberberg

  Später sollte Bernhard einmal gestehen, dass er sich nie und nimmer auf sein italienisches Luftschloss eingelassen hätte, wenn er auch nur geahnt hätte, doch noch Vater zu werden. Die durch die alleinigen Versorgerpflichten bedingte höhere Verantwortung als Bauleiter war allerdings zweischneidig. Einerseits war der Kredit für Italien im Nu getilgt, andererseits ging der weitere Ausbau in Castellinaria nur sporadisch im knapp bemessenen Urlaub voran. Manches musste jetzt mit italienischen und aus der Heimat über die Adria geflohenen albanischen Bauarbeitern fortgeführt werden, sollte das Haus nicht wieder in den Ruinenzustand zurück fallen.
  Klar waren die vier ligurischen Freunde auch da wieder zur Stelle, aber immer konnten sie die jeweiligen Vorhaben auch nicht beaufsichtigen. Der Lenz, der die Zeit genutzt hatte, um im Ort zu Ansehen und Akzeptanz zu kommen, spielte nun in Bernhards Abwesenheit immer  häufiger die Karte des fürsorglichen Schwagers aus. Da die Schwestern immer noch – so sie dort zusammen waren – einen liebevollem Umgang miteinander pflegten, war es bei den ligurischen Familienmenschen keine Frage, dass das Tun der beiden Schwäger ebenso von den Familienbanden motiviert war.
  Auf einmal fanden die Kleiners aber bei ihrer Rückkehr den ehemals großzügigen Eingangsbereich ihres Hauses durch eine massive Mauer halbiert wieder. Sie war während ihrer Abwesenheit eingezogen worden, weil der Lenz der deutschen Arztfamilie, der er das unmittelbar an die Mauer grenzende Nachbarhaus zu einem vielfachen Gewinn verkauft hatte, auch einen Eingang von der Gasse haben wollte. Praktischer Weise war der Bauschutt des Umbaus dafür im kleinerschen Garten gelandet…
  Lucca, der im ganzen Haus des deutschen Doktors edelste Fliesen verlegt hatte, war gar nicht auf die Idee gekommen, die Anweisungen des Schwagers Don Lorenzo in Frage zu stellen und Bernhard von diesem „Umbau“ zu berichten.
   Allerdings war er durch eine anderweitige Motivation auch arg abgelenkt. Weil die die Arbeiten überwachende Arztgattin vor allem einen Blick auf Luccas schneidige Erscheinung geworfen hatte, unterhielten die beiden in engster deutsch-italienischen Freundschaft über nahezu ein Jahrzehnt eine leidenschaftliche Sexbeziehung. Der ganze Ort nannte den alten Eingang des Anwesens, der zum Garten führte, folglich auch „La porta di Lucca“. Es konnte passieren, dass Lucca erst unten durch diese Tür in die Campagna entschlüpfte, wenn der aus Deutschland angereiste Doktor oben bereits vom beschwerlichen Aufstieg schnaufend seine Koffer in die geraubte Diele stellte.
  Klar, dass zwischen Bernhard und Lenz – da konnten sich die Schwestern mit weiblicher List noch so sehr ins Zeug legen – die Tür zueinander für eine lange Zeit schwer ins Schloss gefallen war. Was den Lenz nicht sonderlich anfocht, denn er zog sein Ding durch. Am Ende der Siebziger sprach er, im Gegensatz zu Bernhard nicht nur fließend Italienisch, sondern hatte, bis auf ein Schmuckstück von Terrassen-Villa mit Gärten, Pool und Einlieger-Wohnung, das er für sich selbst behielt, alle oberflächlich renovierten Ruinen, die in Castellinaria ihm gehört hatten, verkauft; meist an betuchte Alltagsflüchtlinge aus Deutschland und den Benelux-Staaten.
  Bernhard meinte, der Lenz habe dabei mehr als eine Million Mark steuerfreien Reingewinn gemacht. Damit er die Bebauungs- und Spekulationsfristen von fünf Jahren auch parallel einhalten konnte, hatte er mit Gratisurlauben Familien-Mitglieder als Strohmänner- und –Frauen gewonnen. Auch die Körber-Zwillinge und selbst ihre mittlerweile gassenbreite Mutter, die nie und nimmer mehr dort hochgekommen wäre, waren so eine gemessene Frist pro forma Hausbesitzer in Castellinaria gewesen, wagten aber nicht, vom Lenz vor dem Verkauf einen Bonus für ihr Zurücktreten zu verlangen.
  Die Raffgier und Konsumstärke der neuen Bewohner dieses mittelalterlichen Wehrdorfes hatten aber auch positive Auswirkungen; vor allem auf die Infrastruktur. - Einmal abgesehen davon, dass der Ort vielleicht ein Jahrzehnt später gar nicht mehr zu retten gewesen wäre.
  Den endlich asphaltierten Serpentinen vom Capoluogo hinauf  folgte bald auch ein geteertes, steiles Sträßchen des neu gegründeten Konsortiums durch die Oliventerrassen zum höher gelegenen oberen Dorfrand. Das erleichterte Transporte und Lieferungen und trug ein wenig dem nun rasant wachsenden Bedarf an Parkplätzen Rechnung.
  Die kleinen heimischen Bauunternehmen, bei denen der Impresario meist Maurer und Architekt – beziehungsweise Geometra -  in Personalunion war, konnten auf einmal Leute einstellen und mussten nicht mehr zeitweise in andere Regionen Italiens ausweichen.  Diese völlig ungewohnte Vollbeschäftigung sorgte sogar dafür, dass, selbst bei der lausigen Steuermoral der Einheimischen, ordentlich Geld bis hin in  die Gemeindekasse floss. Erstmals wurde von der Commune  im Tal oben in Castellinaria auch Geld für Schönheitsreparaturen ausgegeben.
 
  Bernhards Weg nach Ligurien war von einem bestimmten Gefühl motiviert gewesen, das treffend in der italienischen Denkweise und Bedeutung als la nostalgia bezeichnet werden konnte. Er war keinesfalls schwermütig und konnte sich im doppelten Sinne sogar größte Lasten aufbürden. Es war auch nicht so, dass er süchtig war nach einer gewissen Leichtigkeit des Daseins. Es war wohl die Sehnsucht nach einer gewissen archaischen Existenz in den Aggregatszuständen des Lebens, die er auf den Großbaustellen Europas immer mehr aus dem Blick verlor.
  Die neuen residenti aus den Bildungs- oder Wohlstandseliten nordeuropäischer Gesellschaften hingegen hatten vordergründig meist andere Beweggründe für den Kauf ihrer meist schon vorrenovierten Häuser: Sie schufen sich damit ein Statussymbol und pflegten etwas, das sie für das dolce far niente hielten – zumindest die nicht mit dem Gelderwerb befassten Angehörigen.
  So entstanden in den Achtziger und Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts dort oben, aber auch in ähnlichen Dörfern der anderen Täler, zeitgeistige Karikaturen von Thomas Manns Zauberberg. Enklaven des Denkens und Verhaltens, die die Natur und das Naturell der unmittelbaren Umgebung nur soweit mit einbezogen, wie die eigene Wahrnehmung das zulassen wollte. Da Neid, Missgunst oder treudeutsche Werte jeweils im Reisgepäck verstaut wurden, entstand so etwas wie eine italienische Schein-Existenz. In Wahrheit mutierte Castellinaria zu einer Enklave Wohlstands-Europas, während die RAF und die Brigate Rosse ihr Terrorwerk verrichteten, der kalte Krieg seiner absoluten Eiszeit entgegen frostete und allenthalben die Umweltzerstörung fortschritt. Wer wollte, konnte - so er sich es eingerichtet hatte – dort ganzjährig auf der Sonnenseite des Lebens Gott einen lieben Mann sein lassen. Aber es gab keinen Gott in Castellinaria oder besser gesagt, er hatte sich von dort eine Auszeit genommen. Und das, obwohl Generationen dieses kleinen, an einen Felsgrat geklammerten Bergnestes in den tausend Jahren seiner Existenz, um ihn zu preisen, auf einer Grundfläche von etwa vier Fußballfeldern, nicht weniger als drei Kirchen und zwei Kapellen errichtet hatten…











 9. Kapitel
Das Deutsche Wesen

  Mit la nostalgia, dieser Sehnsucht nach nicht zu konkretisierenden Wunschzuständen des Lebens, ist das so eine Sache: Der Nostalgiker muss schon etwas erlebt haben, um dieses Sehnen und Wähnen wenigstens halbwegs ausrichten zu können. Immer jedoch bleibt das am Ende ganz individuell. So hatten vermutlich, die die sich in den 1970ern und in den folgenden Jahrzehnten aus dem Norden Europas in Castellinaria ansiedelten, anfänglich vorrangig die „italienischen Momente“ im Sinn; die Sonne, das Meer, den Duft von Orangen und Zitronen, die einzigartige Landschaft und die urwüchsige Küche. Aber im detaillierten Spektrum der erlebten Realität traten dann schon die Eigenheiten hervor.
  Bernhard wollte bloß der Scholle nahe sein auf seinen Wanderungen am Meer und in den Bergen, sowie möglichst nie wieder frieren müssen. Der Lenz wollte – nachdem er alle wirtschaftlichen Ziele an der ligurischen Küste fristgerecht erreicht hatte – mit einem Minimum an Aufwand das Maximum an Macht auf seinen neuen Lebensraum ausüben. Traute lebte nur noch für ihren Sohn und den einzigartigen Terrassengarten mit Klarblick auf  Korsika. Frau Doktor (la dottoressa) Dröse, Bernhards Nachbarin, wollte mit Lucca ewigen Sexurlaub von ihrem Mann. Aber selbst der Frömmste kann nicht in Frieden leben, wenn es dem Nachbarn nicht gefällt.
  Wenn das persönliche Etappenziel der Sehnsucht dort am Rande des Himmels erreicht war, stellte sich bei den Pilgern und Emigranten nicht etwa ein grenzenloses Gefühl der Zufriedenheit und des Wohlbefindens ein, sondern es trat alsbald ein Mangelgefühl auf. Es fehlte ihnen derart zunehmend am „Deutschen Wesen“– dass auch die wenigen Skandinavier und Holländer kurioser Weise  von diesem Vakuum teutonischer Lebensart profitierten. In dem Maße, in dem die Deutschen im mittelalterlichen Ligurien heimisch wurden, wollten sie natürlich auch, dass der Sindaco und die Comune nach dem deutschen Reinheitsgebot funktionierten, wenn es um Übertretungen von Bauvorschriften, vernachlässigter Wasserversorgung, Müllabfuhr und elektrotechnische Nachrüstungen ging. Die armen Bürgermeister und ihre an Gemächlichkeit gewöhnten Administratoren, begannen das „Deutsche Wesen“ und seine Beharrlichkeit zu fürchten. Ganz besonders dann, wenn seine Protagonisten wegen mangelnder Beschäftigung und Langeweile den Faktor Zeit unbegrenzt ausspielten…
  Da war - als ein typischer Vorreiter –  der Polier Peter Häubel, dem Bernhard Kleiner im Büro auf einer Baustelle in Portugal gegenüber gesessen hatte. Der Kahlkopf mit rutschigem Gebiss und kurzen Beinen stammte aus einer sauerländischen Bauernfamilie. Sein gedrungener Körper war zum Ausgleich mit endlos langen Armen ausgestattet, die tüchtig zupacken konnten,
  Als Bernhard ihm – dem bei der Hof-Erbfolge daheim zu kurz Gekommenen - erzählte, dass in den Valle d’Olio für wenig Geld viele landwirtschaftliche Nutzflächen (Fasce) zu erwerben seien, konzentrierte sich die Sehnsucht des Schrats fortan darauf: Nämlich mit Leib und Seele das zu werden, was ein Einheimischer dort seit dem Krieg partout nicht mehr gerne sein wollte; - ein in der Hitze schuftender, vom Ertrag seiner Scholle kaum leben könnender, ligurischer Bergbauer. Zu erste Oliventerrassen gesellten sich im Schweiße von Häubels Angesicht nach und nach ein Weinberg, Zitronen- und Orangen-Haine sowie Gemüsegärten – alle natürlich mit bis dahin noch nie erreichten Muster-Erträgen.
   Häubel schien im Erfolgsrausch seiner agricoltura die ganze Kommune auf einmal umarmen zu wollen. Er war auch der erste, der die residenza und einen Ausländerpass beantragte. Er trat als neuer „Ölbaron“ jedem Konsortium bei, das ihn aufnahm, aber er war auch bei den legendären sagre, den ausgelassenen Dorffesten mit Tanz und Völlerei, ein emsiger Mitorganisator. Kurz, er bemühte sich – selbst in der Sprache - einheimischer zu sein als die Einheimischen und merkte dabei nicht, wie jene ihn zwar gerne ausnützten, aber keinesfalls in ihre Herzen ließen.
  Unerwiderte Liebe geht gerne verschlungene Wege, und so ließ Häubel seine Fürsorge verstärkt dem Zauberberg angedeihen, an dessen Aufgang er in strategisch einflussreicher Position als selbsternannter Concierge vom Lenz ein großes Haus mit Garten erworben hatte. Nur Eingeweihte entgingen seiner Wachsamkeit, indem sie lieber die schwierige Straße zum oberen Ortsrand in Kauf nahmen.
  Kaum ein Neuansiedler oder Kaufinteressent, der seinen aufdringlichen Belehrungen, Warnungen oder Ermahnungen entgehen konnte. Ja selbst völlig arglose Touristen und Bergwanderer wurden oft ungefragt Opfer seiner detaillierten Vorträge oder gar erzwungener Führungen. Sie kamen immer häufiger, weil sie von Castellinaria (da ein Autor vom anderen abschrieb) in vielen Reiseführern gelesen hatten und sich das malerisch auferstandene Dörfchen nur ansehen wollten,
  Da er zudem ein gläubiger und praktizierender Katholik war, schritt Häubel auch gerne gut sichtbar in vorderster Reihe bei den mannigfaltigen Bergprozessionen mit.  Alsbald rief sich der umtriebige Umgetriebene gewissermaßen selbst zum Erfinder und Fremden-Bürgermeister von Castellinaria aus. Da dauerte es natürlich nicht lange, bis der, der sich ebenfalls – bislang unangetastet - in dieser Position sah, zu einem seiner leidenschaftlichsten und hinterhältigsten Feinde wurde: Der Leibhaftige selbst, der listige Lenz.

  Aber das  transferierte Deutsche Wesen gedieh auch noch auf dem Humus anderer, sich stetig anreichernder Erkenntnisse. Eine davon: Luftschlösser taugen nicht zum Schaffen von Dynastien, weil es Kronprinzen und
-Prinzessinnen an vergleichbarer Nostalgie und Wahrnehmungsfähigkeit fehlt. In Castellinaria selbst wurden ja keine Kinder mehr geboren. Die verbliebene einheimische Bevölkerung hatte ihren abgewanderten,
bevölkerungspolitischen Beitrag  längst geleistet oder war schlichtweg zu alt, um sich zeugend noch einmal ans Werk zu machen. Die nordeuropäischen Damen im gebärfähigen Alter hingegen ließen ihre teutonischgermanischen Eizellen vielleicht dort oben vom Ambiente stimuliert befruchten. Doch zur Niederkunft suchten sie die Kreissäle daheim auf.
  Sebastian Kleiner – wohl die unbestrittene Nummer Eins auf dieser besonderen Zeugungsliste – kann als exemplarisch für diesen eigenartigen Generationen-Konflikt dienen:
  Traute nutzte das Vorschulalter ihres Sohnes und die langen Aufenthalte Bernhards bei Bauvorhaben auf der Iberischen Halbinsel, um Sebastian so viele italienische Momente fürs Leben mitzugeben wie nur irgend möglich. Der Knabe wuchs in diesem herrlich abenteuerlichen und autofreien Ambiente mit dem Maximum an Sonne, Wärme und Sinnlichkeit auf, aber er hatte – außer wenn Sie mit dem Bus ans Meer hinunter fuhren – keine gleichaltrigen und wenn dann nur sporadische Spielgefährten. Der Vater fehlte ihm dabei gar nicht mal so sehr. Denn sobald des Autofahrens mächtig, fuhr Bernhard in Barcelona auf die Fähre nach Genua und war so vermutlich mehr verlängerte Wochenenden (durch den langen Schlaf an Bord auch völlig entspannt) präsent, als ihm dies in Deutschland möglich gewesen wäre.
  Kaum waren die Kleiners zwecks Einschulung von Sebastian in eine Wohnung bei Düren gezogen, passierte aber etwas Unerwartetes. Sebastian, braugebrannt und randvoll mit italienischen Impulsen fuhr auf seine neues Umfeld total ab. Durch sein annähernd perfektes Italienisch wuchs ihm eine besondere Rolle bei der Integration der Gastarbeiter-Kinder in seiner Klasse zu, und er erfuhr, dass es wichtiger als alles andere war, eine Horde gleichaltrigrer Freunde zu haben, mit denen er selbst bei schlechtestem Wetter spielen konnte. Das war es! Sehnsüchte, da gesättigt, mussten nicht länger befriedigt  werden. Für Sebastian überwog – den Eltern fast unverständlich – das Deutsche Wesen. Je älter er wurde, desto schwerer wurde es für Traute und Bernhard, den Knaben dazu zu bewegen, sich mit ihnen in den Schulferien immer wieder auf die lange Reise in den Süden zu begeben. Nach der Pubertät kam es deswegen sogar einmal zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung, aber das Verhärtete die Fronten diesbezüglich nur.
  In solchen Momenten fand er tröstenden Unterschlupf bei Mutter Körber, die genau das richtige Rezept für derlei Missstimmungen hatte: Fernsehen bis zum Einschlafen und Fastfood bis zum Abwinken. Traute und Bernhard, selbst immer noch Aufsehen erregende statuarische Erscheinungen, übernahmen ihren Hoffnungsträger nach jedem Aufenthalt bei seiner Oma einige Kilo schwerer. Als er 1987 ein 1,0 Abitur hinlegte, war Sebastian bereits ein wachsbleicher  120Kilo-Schwabbel, dessen Leben sich – als sei die Reife-Note Vorgabe – fortan nur noch um Einsen und Nullen drehte.  Das Programmieren und Entwickeln von Computern war dem Junior derart zum Lebensinhalt geworden, dass seine gramgebeugten Erzeuger befürchteten, die grüne Schrift jener Screens hätte für immer seine Haut verfärbt.
  Sebastian war das, was die Szene bald einen „Nerd“ nennen sollte. Er schaffte es aber dennoch, seine Eltern irgendwie stolz zu machen. Nicht nur, dass er sein Studium autark, selbst finanziert und ohne Umweg über die Bundeswehr in Rekordzeit durchzog. Er war, als er seinen Doktor magna cum laude machte, auch sonst schon ein gemachter Mann. Anhand eines deutsch-italienischen Übersetzungsprogramms, das er als Semester-Arbeit eingereicht hatte, war ihm die Idee zu grundsätzlicher Software auf dem Gebiet der Spracherkennung gekommen. Sein Vater indes sprach – nach bald dreißig Jahren „residenza“  immer noch kaum mehr als sein Baustellen- und Menükarten-Italienisch
  Sebastians äußere Langsamkeit stand im krassen Gegensatz zu der rasenden Geschwindigkeit seiner Gedanken und Ideen im Cyberspace. Wer so wollte, konnte das Wesen Castellinarias und damit seine Abneigung als das genaue Paradoxon zu dieser Konstellation sehen.
  Berthold hingegen, der den Zauberberg immer noch zwecks Broterwerb verlassen musste, hatte gerade deshalb die notwendige Perspektive, genau in diesem Wandel mit Weile die Magie Castellinarias zu erkennen: Er sah, wie sich zwar das Umfeld rapide nach jeder Abwesenheit verändert hatte. Er erkannte aber auch, dass hier das Wahre immer noch das Virtuelle ausstechen konnte.
  Der Blick vom Tal hinauf mochte im Vergleich zu seiner allerersten Momentaufnahme noch unverändert geblieben sein, wie die unmittelbare Atmosphäre in den engen Gassen.  Doch Castellinaria war auf wundersame Weise errettet worden. Einmal abgesehen davon, dass alles neu gepflastert worden war und das Ambiente sich harmonisiert hatte. Die prägenden Häuserzeilen waren nun alle saniert und zum teil recht niedlich hergerichtet worden. Aber dadurch, dass die Autos fehlten und die Logistik noch nach Körperkraft verlangte, schien die Zeit immer noch langsamer zu vergehen als unten am Meer.
  - Der Zauberberg trog, wie Zauberberge dies nun einmal zu tun pflegen.
  Die fiktiven „mannschen Protagonisten“ konnten noch isoliert mit intellektueller Egozentrik in Parabeln dräuende „Zeitläufte“ reflektieren. Die realen „Luftschlosser“ von Castellinaria erlebten hingegen die Serpentinen vom und ins Tal tatsächlich wie das Zeittor bei „Stargate“. Und wenn sie von ihren Terrassen den Blick nicht nur auf das Meer schweifen ließen, sondern senkrecht hinunter richteten, konnten sie ihn auch nicht mehr vor den Veränderungen verschließen.
  In dem Maße wie das „grüne Gold“, das unverschnittene Olio extra vergine aus den  Valle d’Olio,  quasi ohne EU-Subventionen unbezahlbar wurde, krochen die Industriezonen Werksgelände um Werksgelände flankiert von gigantischen Einkaufszentren das Impero-Tal hinauf. Namhafte Olivenöl-Weltmarken, die am alten Hafen von Oneglia Jahrhunderte produziert hatten, verschwanden oder beugten sich nach und nach den billigen Verschnitt-Diktaten durch Granulat-Importe aus Nordafrika. Neue Eu-Richtlinien machten das möglich. Die Ernte-Handarbeit auf den historischen Terrassen mit unter den Bäumen ausgelegten Netzen und den Klöppelstangen, sowie der mühevollen und auch gefährlichen Schlepperei von vollen Körben über steile Terrassen-Trittsteine blieb die alte. An bezahlte Erntehelfer war längst nicht mehr zu denken, und Ende des Jahrtausends konnte dieses Weltkulturerbe der UNO auch nur noch vor dem Überwuchern bewahrt werden, weil die Europäische Gemeinschaft Beschnitt-Prämien auslobte.
  Aber damit noch nicht genug der kuriosen Paradoxen: Je mehr die Bergbauern oben wirtschaftlich am Stock gingen, suggerierten unten im Tal clevere Geschäftsleute ursprünglichen Gaumengenuss auf Konserve, indem sie die vermeintliche Romantik eben jenes Berufsstandes auf Flaschen und Gläser zogen. Aziende Agricole schossen wie die berühmten ligurischen Steinpilze, die nun immer häufiger aus Rumänien importiert werden mussten, aus den aufgelassenen zu Bauland mutierten Ölterrassen. Für den Export ins sehnsüchtige Nordeuropa gab es Pesto im Minigläschen, Peperoncini mit Ricotta gefüllt und marinierte Funghi Porcini zu Preisen pro Einheit, mit denen eine ligurische Bauersfrau ihre ganze Riesensippe auf gleiche aber besser und frisch zubereitete Weise ein ganzes Jahr versorgt hätte. Schlaumeier zogen von einem dörflichen Ölmüller (frantoio) zum anderen, kauften den Mosto billig auf und füllten ihn im Rahmen der Richtlinien gestreckt in mit Goldfolien kaschierte  und fantasievoll etikettierte homöopathische Fläschchen. Natürlich zu entsprechenden Preisen, die bis zu  500 Prozent Gewinn ermöglichten.
  Wo so eine Gewinnspanne lockte, durfte natürlich einer beim Mitmischen nicht fehlen: Lorenz Meester war einer der Ersten, der die Nordlichter mit selbst erfundenen „original  altligurischen“ Fantasieprodukten küchennostalgisch versorgte. Wobei die Marke, die er schuf, von seinem bösartigen Humor zeugte. Die hieß angelehnt an das Lateinische - die Metapher doppeldeutig abwandelnd - „tavola rasa“, was natürlich im Italienischen nicht wirklich Sinn machte. Ihm jedoch gefiel seine Assoziation:
   Denn wenn die Leute zwischen Garmisch und Großenbrode nach telefonischer Akquise und Postversand seine Genussmittel auf ihren Tisch stellten, hatte der Lenz sie wirklich im übertragenen Sinn ordentlich rasiert: Normal eingelegte Zwiebeln, Pilze, Schoten, Wildschweinstücke und dergleichen – noch nicht einmal von besonderem Geschmack – unterschieden sich von den gängigen Industrie-Produkten in den Regalen der großen Supermärkte nur durch ein Stück nostalgisch bedrucktes Kunstleinen, das von einem grünweißroten Band auf den Deckeln festgezurrt war; – und natürlich einem Preis der um die Hälfte höher war…
  Ganz seinem Stil treu bleibend, rührte der Lenz jedoch weder Koch- oder Öltöpfe noch den kleinsten Finger. Er stellte eine seiner fasce für die Ansiedlung des Betriebes zur Verfügung. Der eilfertige Bürgermeister einer Gemeinde im benachbarten Tal hatte sie in freudiger Erwartung neuer Arbeitsplätze zur Bebauung frei gegeben. Die übernahm gegen Beteiligung ein kleiner ortsansässiger Bauunternehmer (Impresario), der endlich einmal etwas Großes bauen wollte. Die Herstellung und Logistik für Marke und Produkte gingen gegen Tantieme zu Gunsten Meesters an eine Agrar-Genossenschaft. Die Perspektiven entwickelten sich prächtig und der Lenz hatte wieder einmal ohne großen Kraftaufwand eine Geldquelle, die prächtig sprudelte. Zumindest so lange bis die erste rege Nachfrage die dem Lenz sattsam bekannte Gier beflügelte.
  Seit einigen Jahren kann man diesen makellosen Musterbetrieb nun auf einer Serpentine mit prachtvoller Aussicht bei gleichzeitiger Einsicht umfahren. Drinnen sieht alles aus wie bei Dornröschen: Allerdings ohne Personal im Tiefschlaf. Ansonsten scheint alles mitten im Produktionsprozess zum Stillstand gekommen zu sein. In Momentaufnahme erstarrt steht ein einst ultra moderner Betrieb seit bald einem Jahrzehnt unter Konkurs-Kartell und Gläubiger-Schutz.
  Seine früheren Partner glauben immer noch an eine altersbedingte Hinfälligkeit, wenn der Lenz angesichts dieses Themas einen unbändigen Hustenanfall bekommt. Sie ahnen nicht, dass er sich tatsächlich ins Fäustchen lacht. Der Hauptgläubiger ist natürlich er – ohne jemals jedoch selbst eine Lira oder einen Euro riskiert zu haben. Der bald Hundertjährige wähnt immer noch den Faktor Zeit auf seiner Seite…
  In dem Maße, in dem beim Lenz die sexuelle Gier als Triebfeder seines Schaffens nachließ – was sowieso unverschämt spät der Fall war – gewann der pure Spaß an der Macht-Ausübung die Oberhand. Die Puppen an ihren Fäden nach seiner Facon zappelnd agieren zu lassen, war ihm als Genuss auf seine alten Tage bald wichtiger als das Studium seiner Konto-Auszüge.
Man könnte rückblickend meinen, gerade das fortschreitende Alter hätte ihn gegen diverse Ängste zusätzlich resistent gemacht, aber so war das nicht.

  Bernhard hatte aus anerkennendem Respekt und Toleranz eine Allianz mit Häubel geschlossen, ohne ihm allerdings jemals freundschaftlich verbunden zu sein. Aber allein dieser Umstand offenbarte ihm, dass der Lenz trotz ihres gestörten Verhältnisses so etwas wie Eifersucht auf ihn, den eigentlich ungeliebten Schwager, projizierte. Das ging so weit, dass Meester, um auch ein wenig schön Wetter bei Traute zu machen, Bernhard zunehmend um großzügig belohnte Hilfestellung bei bautechnischen Aufgaben oder der Verwaltung seiner Liegenschaften bat.
  Bernhard Kleiner war ein großer Charakter. Er konnte Mitleid mit dem Alten empfinden, ohne die in seinem Hinterkopf gespeicherte Wut der Vergangenheit ad acta zu legen. Rachegefühle hegte er keine, aber er hatte sich vorgenommen, seinen Schwager irgendwann auf elegante Weise in die gleiche hilflose Ohnmacht zu versetzen, wie er sie hatte erleiden müssen. Er konnte nicht ahnen, dass ihm dies auf recht heftige Weise abgenommen werden würde.
  Er war zwar im Rang als Bauleiter die Treppe weit hinauf geklettert, aber das hatte ihn nicht unabhängiger gemacht. Seit Sebastian in Aachen studierte, waren seine Auslandseinsätze weniger, aber die Verantwortung auf den Großbaustellen im Rheinland belastender geworden. Er schaffte die zusätzliche Schufterei beim Urlaub in Castellinaria einfach nicht mehr.
Auch der gleichaltrige Häubel  hatte noch genug neben seiner Landwirtschaft zu tun.
   Aber beide wollten die Eisen auch schmieden, so lange die noch heiß waren. Sollte heißen, die letzten aussichtsreichen Ruinen noch zu sanieren, um daraus Ferien-Appartements zwecks späterer Rentenaufbesserung zu gestalten.
  Häubel und er hatten sehr gute Erfahrungen mit zwei albanischen Brüdern gemacht, die nach ihrer Flucht ein kleines Bau-Unternehmen bei Garlenda gegründet hatten. Sie waren ehrlich, fleißig, in einem gewissen Maß zuverlässiger als ihre ligurische Konkurrenz und vor allem nannten sie einen Preis, und dabei blieb es dann. Selbst Bernhards Freund Lucca hatte sich im Laufe der Jahre dieses nervende, scheibchenweise Nachfordern bei Baufortschritt angewöhnt.
  Die beiden deutschen Poliere bündelten also ihre Vorhaben mit den restlichen vom Lenz zu einem guten halben Jahr Vollbeschäftigung für die „albanesi“. Bernhard unterrichtete seinen Schwager der Fairness halber.
Lorenz Meester residierte zu diesem Zeitpunkt schon in einer Villa auf dem Capo Berta, wie man sie nur aus Hochglanz-Magazinen kennt. Zwei Hektar mediterraner Botanik in Hanglage über dem Meer, mit einem großen Pförtnerhaus oben und einem Renaissancebauten-Ensemble mit Pool-Terrasse über der steilen Klippe unten.
  Das vordere Haus war lukrativ vermietet, Autos verschwanden in einer in den Fels gesprengten Tiefgarage, und die mit einem Golfcart befahrbaren Parkwege waren elektronisch gesichert und wurden von Videokameras überwacht.
  Bernhard hatte schnell aufgehört, sich von diesem Ambiente einschüchtern zu lassen. Er genoss vielmehr die angenehmen Seiten seiner „Altenpflege“, die ihm zunehmend Freiräume im Anwesen seines Schwagers einräumte, ohne sich für die gewaltigen Unterhaltskosten interessieren zu müssen.
  Meester war überraschend schnell einverstanden gewesen mit der Beauftragung der Albaner, so dass sich Bernhard anschließend in dem Riesenpool einem ausgiebigen Schwimmtraining hingeben konnte. Der Pool war auf einer Ebene  mit Überläufen angelegt. Seine bis zum Rand reichende Wasserfläche spiegelte vor, man schwämme im Süßwasser aufs offene Meer hinaus. Noch einmal ordentlich Frieden und Ambiente tanken, dachte Bernhard, bevor es am nächsten Tag mit dem Flieger wieder von Nizza nach Köln/Bonn ginge…










 10. Kapitel
Memento Mori

  Die Gebrüder Besnik waren nur schwer zu verstehen. Das lag einerseits daran, dass Sali und Milan so gut wie nicht redeten. Wenn sie aber mit anderen redeten, dann geschah das in dem mit zischelnden S- und gaumigen Umlauten fast wie Albanisch klingenden urligurischen Dialekt. In dem hieß das Feuer zum Beispiel nicht fuoco sondern fögü. Es gehört zu den ungeklärten Mirakeln der europäischen Wohlstands-Völkerwanderung, wieso die über die Adria geflohenen albanischen Boat-People sich schon früh im ligurischen Appenin ansiedelten und mit unfassbarer Geschwindigkeit dessen Dialekt, aber auch leidlich das Italienische assimilierten. Lag es daran, dass die Ligurer unter den italienischen Landsmannschaften die gleiche Außenseiter-Rolle spielten wie die Albaner auf dem Balkan?
  Erst ein deutscher Journalist, der in Castellinaria das Haus der „Francesa“ gegenüber vom Schloss nach der Jahrtausend-Wende gekauft hatte und die beiden vorübergehend beschäftigte, sollte noch weit Wundersameres über die zwei mit ihrer kleinen Baufirma herausfinden. Um zu verstehen, was in Castellinaria 1996 ablief, muss jedoch auf dessen spätere Erkenntnisse vorgegriffen werden:
  Die Annahme, dass die Besniks Brüder waren, rührte lediglich vom Firmennamen her: Besnik Fratelli Imprese Edile nannte sich die. Dass sie völlig unterschiedlich aussahen, wurde dadurch nie in Frage gestellt. Milan war feingliedrig, klein und so dunkel, dass er auch als Palestinenser durchgegangen wäre. Sali, dem sie auf den Baustellen den Beinamen „Il Mulo“ – das Maultier – nachriefen, hätte gut und gerne mit wenig Maske Rübezahl oder Quasimodo darstellen können. Er gab den zotteligen roten Riesen in gebückt schlurfender Haltung unter Entfaltung gigantischer Körperkräfte derart überzeugend, dass ihm ein anderes Signalement überhaupt nicht zuzutrauen gewesen wäre.
  Tatsächlich aber waren die beiden so „ungleichen Brüder“ Cousins. Der jüngere Milan war mit Sali in der Obhut dessen daheim zur traurigen Legende gewordenen Mutter aufgezogen worden, bis er alt genug sein sollte, um als letzter Überlebender seiner Sippe die Blutrache gegen eine andere Familie fortzuführen. Sali wurde, um die „Schuld“ seiner Mutter abzutragen, von albanischen Exil-Politikern erpresst, die die Spur vom Alt-Kommunismus schnurstracks in die modern organisierte, grenzenlose Verbrechenswelt der EU gewechselt hatten. So wie sich Sali am Bau auf die groben und Milan ergänzend auf die feinen Arbeiten konzentrierte, so waren sie auch bei ihrer gut getarnten Nebenbeschäftigung spezialisiert – nur umgekehrt. Milan war als „Auftragsmörder“ für die groben, nassen Hits zuständig, während Sali nicht einmal selbst Hand anlegte, denn er arrangierte gezielte Todesfälle aus Alltagssituationen mit versteckten Risiken. Je nachdem, ob und welche Botschaft die Auftraggeber  mit ihren Morden übermitteln wollten, wählten sie einen der Besniks. Und zwar so oft, dass das Baugeschäft doch wohl mehr oder weniger Hobby oder Tarnung war.
  Bernhard Kleiner und Peter Häubel waren wie alle  ahnungslos, als sie sich für die anerkannte Zuverlässigkeit der Beiden bei ihrem gemeinsamen Bauvorhaben entschieden. Und der alte Lenz frohlockte, weil er sich irgendwie vorstellte, er könne die albernen Albaner – wenn die deutschen Poliere erst einmal wieder daheim im Einsatz waren – besser  zu seinem Vorteil herumscheuchen als die individualistischen Italiener.
  Da nie ruchbar wurde, was in jenem Herbst tatsächlich passiert war, bauen die Hintergründe auf einer Hypothese auf, was später tatsächlich den nachhaltigen Wandel im „Prinzip Lenz“ bewirkt haben könnte:
  Dessen Prinzip beruhte ja in der Vergangenheit darauf, dass die Marionetten, deren Fäden er in der Hand hielt, willig in die Richtung zappelten, die er vorgab. Sein Prinzip sah nicht vor, dass die Puppen ein Eigenleben führten, die Fäden selbst verhedderten und am Ende gar noch abschnitten. Der verschlagene, aber eigentlich im Sinne der körperlichen Auseinandersetzung stets gewaltfrei operierende Lenz war noch nicht einmal ansatzweise in seinem bisherigen Leben auf die Idee gekommen,  jemand könnte ihm Paroli bieten und seine schon rücksichtslose Vorgehensweise dann auch noch mit unverhohlener Gewaltbereitschaft überbieten…
  Sali und Milan hatten ungefähr vier Wochen von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang auf beiden Baustellen geschuftet, um die ständigen Sonderwünsche zu erfüllen, mit denen der Lenz das Projekt Kleiner/Häubel  bis zur Schlechtwetter-Periode im November ins Hintertreffen bringen und somit torpedieren wollte.
  „Il Mulo“ machte seinem Spitznamen alle Ehre. Selbst nach viermaligem Umsetzen zweier nicht tragender, rund drei  Zentner schwerer Ziersäulen und dreimaligem Umgestalten des dazu gehörigen Treppenaufgangs mit massiven historischen Trittsteinen fuhr er noch immer nicht aus der Haut. Den immer dreisteren Anweisungen Meesters kam er äußerlich derart stoisch und stur nach, dass der Deutsche dann bei der massiven Reaktion der beiden aus allen Wolken fiel.
  Der Unfall, der dem Lenz eines Abends widerfuhr, erzeugte – kausal für Dritte kaum in Zusammenhang zu bringen -  einen deutlichen Klimawandel in Castellinaria. Der Journalist erzählte Bernhard Kleiner erst nach dem gewaltsamen Tod Salis  2004 den Ablauf  dieser Begebenheit. Die perfide Wirkungsweise des „Arrangierens“ wird an diesem nicht tödlichen Beispiel exemplarisch veranschaulicht. Er wunderte sich nur, dass Kleiner sich überhaupt nicht empörte, sondern sardonisch Lächelte. Aber Goerz kannte ja den Lenz  weder  persönlich noch wusste er, dass jener der nicht gerade geliebte Schwager seines neuen Freundes war.

  Gerade waren die Besniks also in diesem Spätherbst 1996 nach der Arbeit in der Abenddämmerung mit ihrem alten Kipplaster auf die lange abschüssige Gerade der Konsortiumsstraße zum Capoluogo hinunter eingebogen, als sich auch der Lenz mit seinem schicken Mercedes-Geländewagen talwärts begeben wollte. Milan, der am Steuer saß, winkte und bedeutete Meester, dass er ihm noch einmal etwas zu sagen habe. Er bremste, stellte bei laufendem Motor die Handbremse fest und stieg mit einer Blaupause aus dem Führerhaus. Da das Licht zu deren Studium nicht mehr ausreichte, forderte er den Alten auf, nach vorne ins Scheinwerferlicht des Lasters zu treten. Während er nahezu  unverständlich irgendein Problem schilderte, war Sali  auf der anderen Seite mit einer Flasche eines speziellen Kriechöls in den Schatten geschlüpft und besprühte die vier Bremsen des Benz mit einer auf Erfahrung beruhenden Menge.
  Als Milan seine Blaupause wieder zusammen gefaltet hatte, war der abgelenkte Lenz, der von allem nicht das Geringste verstanden und mitbekommen hatte,  bereits leicht gestresst. Der Laster setzte sich zügig in Bewegung und war schon fast an der ersten Spitzkehre, als der Alte mit mehr PS als seiner Reaktionsfähigkeit gut tat, den schnell schrumpfenden Abstand fast schon zu gefahren hatte. Er sah noch, wie die durch Baustaub  beinahe blinden Bremslichter des Lasters kurz aufleuchteten und dann sah er nichts mehr. Denn trotz ABS griffen die Bremsen - für eben diesen einen, ausreichenden Moment verzögert - nicht. Der schwere „G“ krachte auf der abschüssigen Strecke weiter beschleunigend in die massive Hinterachse, und die Kipplade des Lasters zerschlug die Frontscheibe. Der Airbag öffnete sich Hundertstel von Sekunden vor dem einsetzenden Glashagel mit lautem Knall. Für eine Minute war der Lenz geistig so alt und verwirrt, wie ihm das eigentlich an Lebensjahren zugestanden hätte. Dann hatte er sich wieder gesammelt und kochte vor Wut.
  Doch die beiden Albaner riefen ungerührt, den eingeklemmten Greis beobachtend mit dem Handy die Polizei und die Ambulanz aus Pontedassio. Beide Bereitschaftswagen waren überraschend schnell mit Blaulicht und Martinshorn vom Tal heraufgeprescht. Alles sollte doch seine Ordnung haben.
   Der Alte wurde gegen seine Einlassungen und Proteste zur Beobachtung nach Imperia in die Klinik gebracht. Das Unfallfahrzeug konnte nur noch als Totalschaden sichergestellt werden (und landete wundersam wieder wie neu Wochen später auf einer Fähre Richtung Osten). An den Aussagen der Albaner, die  dem Hergang nach und dem Augenschein gemäß protokolliert wurden, gab es keinerlei Zweifel.
  Natürlich hätte eine kriminaltechnische Untersuchung zumindest eine kleine Merkwürdigkeit auf den Bremsscheiben und  -Backen des nahezu fabrikneuen Fahrzeugs erbracht. Aber da bei Lorenz Meester nach mehreren kräftigen Schlucken Grappa, die er sich zuvor gewohnheitsmäßig gegen die abendliche Kühle auf der Baustelle aus seinem Flachmann genehmigt hatte, ein zu hoher Alkoholwert im Blut festgestellt wurde, lag der Fall auch so klar. Wer wollte da noch hören, wie der Lenz von irgendwie verzögert funktionierenden Bremsen schwadronierte?
  Die Albaner ließen dem Lenz gegenüber in der Folge keine weiteren Zweifel mehr an den geänderten Machtverhältnissen aufkommen. Als ihr Auftragsgeber wieder einmal in alte Verhaltensmuster zurück fallen und weitere unsinnige Anweisungen geben wollte, griff ihm „Sali Rübezahl“ fürsorglich unter beide Achseln hob ihn wie ein ungezogenes Kind vor sich auf Augenhöhe und sprach:
  „Memento mori, alter Mann! Das nächste Mal fährst du in den Tod.“
 Womit er nicht nur Bildung offenbarte, sondern auch die Tatsache, dass er mit für Sekundenbruchteile nicht blöde verstellten Gesichtszügen in der Lage war, fließend Deutsch zu sprechen.
  Dass der wieselflinke, geschmeidige Milan in den Folgejahren immer wieder einmal im memento mori an allen Überwachungssystemen und Alarmanlagen vorbei nachts das Schlafzimmer von Meester  aufsuchte, beruht auf Hörensagen. Dass er dann - zärtlich den Schalldämpfer seiner Beretta streichelnd - am Bett des Deutschen saß, soll ihre weiterhin blühenden Geschäftsbeziehungen noch gesteigert haben. Jedenfalls ließ sich der Lenz –auf einmal sein Alter vorschützend – kaum noch in Castellinaria sehen.
 Die Bauarbeiten waren so pünktlich und tadellos fertig, dass genug Folgeaufträge für die Besniks hereinkamen. Erstaunlicher Weise für Außenstehende wuchs die kleine Firma der Albaner trotz ihrer stets manifestierten Tüchtigkeit nicht. Was ihrem Kalkül entsprach. Da sie nicht gierig waren, wurden sie eben auch von der heimischen Konkurrenz respektiert und niemand sah sich veranlasst, hinter die Kulissen zu blicken

  In jenem Herbst erinnerte die dem Luftschloss „übergeordnete Instanz“, die ja von den meisten seiner Bewohner als ihr Gott dem dort so nahen Himmel zugeordnet wurde, sehr nachhaltig daran, dass alle Menschen sterblich sind:
  „La Francesa“ hatte einen zu spät erkannten Tumor in ihrer Gebärmutter. Doktor Dröse der sich selbst nie an Verbote gehalten hatte, die er seinen Patienten gerne auferlegte, starb während der Sprechstunde. Dicke Zigarren und Cognac nach zu fettem Essen hatten seinem ersten, gleich tödlichen Herzinfarkt  durch arrogantes Ignorieren  rechtzeitig und deutlich an sich selbst diagnostizierter Signale  den Weg bereitet. Überraschender Weise trauerte seine sich immer noch jung fühlende Witwe derart heftig, dass sie Lucca nicht mehr in ihr Bett lassen und eine lange Auszeit von Castellinaria nehmen wollte. Um Dinge daheim zu regeln. Deshalb verkaufte sie ihr Haus, ohne dass die Sache mit dem „geraubten Stück Flur“ zuvor bereinigt  worden wäre.
  Peter Häubel, ansonsten absolut schwindelfrei, kam auf dem Dach eines Hochhauses in Bonn ins Schwanken und konnte gerade noch von seinem Bauherrn daran gehindert werden, ohnmächtig in die Tiefe zu stürzen. Überraschend bei seiner Umtriebigkeit und gänzlich unbemerkt war er schwer an Diabetes mellitus erkrankt. Bernhard Kleiner, der kurz vor seinem Sechzigsten stand, hatte Stress bedingt zwei schwere Autounfälle, die er nur durch Glück überlebte. Normaler Weise sagt man ja  jenen, die erst spät den Führerschein gemacht haben, ein ruhigere und umsichtigere Fahrweise nach. Im Prinzip war das auch bei Bernhard so. Aber vier Bauvorhaben in drei Städten mit  immerhin dreihundert Wohneinheiten mussten koordiniert und beaufsichtig werden. Er, der sein Leben lang  körperlich in Bewegung gewesen war, hatte seit der Wiedervereinigung meist nur noch im Auto oder im Baubüro gesessen. Das nahm sein Kreislauf natürlich übel, und die Blutdruck-Werte rauschten in abnorme Höhen.
  Aber das Handtuch warf er, weil die Büros der Baufirma komplett international vernetzt auf Computer umgestellt werden sollten. Ausgerechnet sein Sohn Sebastian hatte diesen ungemein lukrativen Auftrag ergattert. Es lag auf der Hand, dass „Jerda, dat Aas“ – die Tante ehrenhalber quasi - dabei ihre Hände im Spiel hatte. Sie schmiss den Baukonzern  mittlerweile nahezu alleine, weil ihr Göttergatte nur noch zum Golfen ging; angeblich zwecks Geschäftsanbahnungen.















 11. Kapitel
Das Spiel der Spekulanten

  War der Lenz durch sein Unwesen doch so etwas wie ein Katalysator für Castellinaria gewesen – oder eher eine Art Reaktionsbeschleuniger?
Indem er sich nicht ganz freiwillig von dem Burgberg zurückzog, öffnete er den Wegelagerern, die an den Geldflüssen des neuen Europas lauerten, jedenfalls ein weiteres Feld. Eine zweite, diesmal viel breitere Invasionswelle von Spekulanten rollte nun auf die höher gelegenen Bergdörfer Liguriens zu. Sie erfasste vor allen auch das durch die neue Schnellstraße im Tal dem Meer näher gerückte Castellinaria
  Das Jahrzehnt der Habgier hatte zur Jahrtausendwende und bis zum Anschlag auf die Twintowers des World Trade Centers einen sich selbst erhöhenden Menschenschlag von Gewinnlern, Spekulanten und Raffern in die schönsten Regionen des alten Europas geschwemmt. Sie nutzten vor allem die Gier der Neureichen, die ihr langes kommunistisches Darben hinter dem Eisernen Vorhang mit einer Art Hochgeschwindigkeitskapitalismus wett zu machen hofften. Über Nacht waren die in der Lage, jeden Preis für aufgestaute mediterrane Träume zu bezahlen.
  Das westliche Ligurien, das nach den beiden Weltkriegen irgendwie im Windschatten diverser Wirtschaftswunder weitgehend unbeschadet ausgeharrt hatte, geriet nun auf einmal auf die Landkarte spekulativer Begehrlichkeiten. Die Toskana war zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend abgegrast. Die Cote D’Azur -  vor allem zwischen Nizza und Menton – durchbrach bereits die ökologisch vertretbare Bebauungsdichte, also schwappte das Geld nun ins Hinterland von Bordighera und Sanremo und begann den küstennahen Blumen- und Gemüsegürtel in Richtung Imperia zu verdrängen.
  Der große Rahmen der Veränderung war beispielhaft am alten Hafen  von Imperias Ortsteil Oneglia fest zu machen:
  Im Jahr 2000 vermittelte er noch den morbiden Charme des Industrie-Zeitalters. Wie Urzeittiere standen die auf Schienen beweglichen Riesenkräne an den Kais und die Gleise des Güterverkehrs führten noch direkt zu ihnen hin. Gebraucht aber wurden beide kaum noch. Große Frachter legten schon längst nicht mehr an. Den kleinen Kümos, die Oliven-Schrot zum Verschneiden des ligurischen Öls aus  Nordafrika herüber brachten, reichten die zwei restlichen Kräne…
  2007 lagen bereits die ersten Millionen-Jachten Bug voraus am Pier. Angedockt  an ultra modernen Versorgungseinheiten und mit unmittelbarem Blick auf die renovierte und in vielen neuen Farben erstrahlende historische Häuserfront, in der die einfacheren Appartements nun ab 300 000 Euro aufwärts kosteten. Eine wunderschöne „zona  divertimento“ war aus dem alten Hafen geworden und veränderte das vergnügliche Leben in dieser Stadt, die bis dahin eher das hässliche Entlein im Reigen der ligurischen Küstenorte war.
  Der kleinere Rahmen der Veränderung wurde 600 Meter höher rund ums Kastell von Castellinaria gezogen: Allerdings vollzog sich der Wandel der Zeit dort mit mehr Zeit beim Wandeln. Denn je länger es dauerte, desto mehr Gewinn versprach bei den rasant steigenden Preisen unten das umsichtige  Engagement oben. Auch die restlich verbliebenen Ruinen des Ortes erfuhren daher nun nach und nach ihre Wiederauferstehung als kapriziöse Wohnobjekte. Wobei gar nicht mehr zählte, ob die Gemäuer einst jemals als Wohnraum für Menschen gedacht gewesen waren. Ehemalige Tierställe, Speicherräume für die Olivennetze und die leeren Glasflakons avancierten über Nacht zu romantisch rustikalen Ferienwohnungen. Ja sogar der örtliche Ölmüller, der Frantoio, gab sein verwinkeltes, mittelalterliches Bogengewölbe auf, um einem aufstrebenden Künstler stilvoll und preislich absolut überzogen Wohnung und Atelier zu bieten.
  Gegen die neuen Bauherren hatte vergleichsweise sogar der Lenz noch einen gewissen Ethos bei der Renovierung gehabt. Die Devise der neuen Spekulaten war es, schnell zahlungsbereiten Sonnen-Sehnsüchtigen eine Art potemkinsches Dorf vorzugaukeln. Wie sehr sich die Geschichte im zaristisch russischen Sinne wiederholte, sollte das vorläufige Ende dieser Geschichte noch zeigen.
  Eines Tages war nach Jahren der Abwesenheit „la Dottoressa“, die Dröse also, wieder mit einem schicken Mann an der Hand zur Piazza hinauf gestöckelt. Sie hieß  jetzt allerdings nicht mehr Dröse, sondern Gogel. Aber der Spitzname „la dottoressa“ blieb ihr noch eine Zeit lang, obwohl sie nie eine Uni von innen und „akademische Grade“ allenfalls auf diversen Liebeslagern beim Ausüben seltener Körperstellungen erworben hatte. Das alte Prinzip „was du dir erheiratest, musst du dir nicht erarbeiten“ hatte sie jedenfalls erneut mit zusätzlichem, krisenfestem Wohlstand versorgt. Zu dem trug nämlich ihr neuer, fast ein Jahrzehnt jüngerer Prinzgemahl mit der Kaltschnäuzigkeit einer just beendeten internationalen Banker-Karriere bei.
  Patrik Gogel sah die Piazza und das hufeisenförmige Ensemble rund um die Fontana, und sein Midas-Blick verwandelte es vor seinem geistigen Auge in pures Gold: die Rudimente vom Castell mit dem gegenüber liegenden Haus der „Francesa“, die Metzgerei aus dem vorvorigen Jahrhundert samt Zerwirkgewölbe und die dazwischen gequetschte Kapelle. Innerhalb von Sekunden hatte er die Summe im Kopf, die er noch herausschlagen würde, selbst wenn er seiner Königin quasi als Abfallprodukt auch wieder eine neue, hochherrschaftliche Residenz – diesmal aber am Meer - kaufen würde.
 
  Die ehemalige „dottoressa sesso“ jedenfalls war nun voller Inbrunst und Leidenschaft Bankiersgattin Gogel. In Erkenntnis eigener fortschreitender Reife hatte sie sich, um den Altersunterschied auszugleichen, in diesen Jahren einen gewagten Farb-Code verschrieben. Eine Vorliebe für den Farbton Purple sollte visuell das anregen oder erregen, was die unsichtbaren und immer noch reichlich verschütteten Botenstoffe nun nicht mehr so hergaben. Obwohl sie dazu auch noch signalisierte, vollen Körper-Einsatz leisten zu wollen, blieb allen außer Patrik Gogel nicht verborgen, dass das ganze immer mehr zu einer Parodie auf Laszivität geriet.
  Halt, das stimmt nicht ganz. Johannes Goerz, der sie ja nicht von früher kannte und - gleich alt – die Tragik nachlassender sexueller Attraktivität am eigenen Leib nachvollziehen konnte, fuhr vom ersten Blick voll auf sie ab. Er nannte sie unpassend  My Purple Heart, schenkte ihr CDs von Deep Purple und ein Video von „Jimmy plays Monterey“ auf dem Hendrix die lange Version von Purple Haze zum Besten gab. Die purplefarbene Gel-Frisur, die langen, künstlichen Finger- und Fußkrallen sowie dazu passend Lippenstift und hauchzarte Jeans aus Satin oder Saffian im gleichen Farbton lösten bei dem Journalisten auch noch ganz andere vorpubertäre Reaktionen aus.
  Gogel, der Goerz aus gemeinsamer beruflicher Vergangenheit kannte, boten diese jedenfalls die Initialzündung  für ein Bomben-Geschäft. Er nutzte das Überreizen seiner welkenden Venusfalle, indem er sie noch einmal zu voller Blüte anstachelte. Obendrein hatte Frau Gogel aber nicht nur ein Händchen, oberflächliche Verschönerungen an der eigenen Person vor zu nehmen. Was sie mit wenigen Tricks aus dem Haus der „Francesa“ bis zum Ablauf der Spekulationsfrist gemacht hatte, war innenarchitektonische Bauernfängerei vom feinsten. Goerz, der die Trennung von seiner Familie gerade hinter sich hatte und dessen offene Wunden eines über Nacht von Geschäfts- und Vertragspartnern brutal herbei geführten Buyouts nicht verheilen wollten, war zudem ein willfähriges Opfer.
  Er war einen Sommer lang von Port Bou an der spanisch-französischen Grenze nach Porto Venere am Ende der Cinque Terre entlang  des Mittelmeers gereist, um sich in selbstmitleidiger Larmoyanz einen Platz zu suchen, an dem er sterben wollte. Als ihn Gogel am Handy erreichte, war er schon dabei, unverrichteter Dinge in eine Heimat ohne Heim zurückkehren:
  „Suchen Sie immer noch ein Haus im Süden?“
  „Ja. Allerdings wollte ich gerade aufgeben.“
  „Wo sind Sie denn im Moment?“
  „In Porto Venere am Hafen. Preise haben die hier!“
  „Was wollten Sie denn anlegen?“
  „Na ja, maximal 300 000 Mark. -  Renovierung und Umbauten inklusive!“
  „Bei unserem Haus könnten Sie ohne weiteres sofort einziehen.“
  „Wieso wollen Sie denn verkaufen?“
  „Meine Frau will unbedingt einen Garten. Ein älterer Herr verkauft sein Haus hier am Ortsrand - eine Gasse weiter. Wir wären Nachbarn. Schauen Sie sich’s an! In weniger als drei Stunden könnten wir hier auf unserer Terrasse bei einem eiskalten Vermentino den Sonnenuntergang genießen. Mit dem Preis werden wir uns dabei sicher einig.“
  „Wo sind Sie denn?“
  „In Castellinaria oberhalb von Imperia. Mitten in einem Kastell umgeben von endlosen Olivenhainen. Es wird Ihnen die Sprache verschlagen.“
  „Castellinaria? Heißt das nicht sinngemäß Luftschloss? – Wenn das mal kein böses Omen ist…“, lachte Goerz  mit überzogener Heiterkeit.
 
  Gogels Kalkül ging auf. Die spektakuläre Aussicht von seiner Terrasse über vier Täler und ein Dutzend noch  tiefer gelegene Bergnester knockte Johannes Goerz an. Der Anblick von Frau Gogel jedoch schickte ihn  sinnbildlich auf die Bretter. Diese kaschierende Verplankung der Terrasse hatte die Purple Lady eigenhändig frisch schwarzbraun lackiert, um davon abzulenken, wie marode der Freisitz in Wirklichkeit war. Das Schwarzbraun kontrastierte obendrein genial ihre Purple-Aura.
 
  Anfang September saßen sie schon zu Dritt beim Notar, wo 150 000 Mark – der verbriefte und später ermittelte,  tatsächliche Wert – in Form von registrierten Bankschecks über den Schreibtisch gingen. Als der Notar kurz mal auf Toilette ging, ließ Gogel weitere 140 Tausender in seinem Aktenkoffer  verschwinden. Goerz  hatte sie ihm, in der Auffassung ein gutes Geschäft gemacht zu haben, nach tolerierter, alter italienischer Steuer-Sitte  bar - und für  Gogel natürlich schwarz - mitgebracht.
  Am  11. September flogen die Flugzeuge ins World Trade Center. Am 12. November kam ein Kälte-Einbruch und es begann zu regnen; vier Tage wie aus Eimern. Die angeblich neue Gasheizung gab ihren Geist auf. Wasser brach über die Terrasse und das Treppenhaus ins Esszimmer und riss die halbe Decke samt der Verschleierung aus billigem Samt mit sich. Ein Wasservolumen von einem Dutzend randvoller Badewannen musste aus dem Stockwerk geschöpft werden. Von den ungezählten Litern, die in die neunzig Zentimeter dicken Trockenmauern eingedrungen waren ganz zu schweigen. Aber dabei konnte Johannes Goerz auch entdecken, dass die dekorativ gebogenen und ziselierten, schmiedeisernen Vorhangstangen unter den Saal hohen Decken in Wirklichkeit an den Enden gold lackierte, schwarz angemalte Armiereisen waren.
  Zu Weihnachten gab es passend auch noch ein sakrales Erlebnis. Als der Journalist im Rundgewölbe seines Arbeitszimmers ein Regal aufhängen wollte, brach eine Teller große, vielschichtige Scholle Putz aus der Wand. Dahinter trat deutlich ein altes Fresko mit christlichen Motiven ans Tageslicht. Der Journalist war kein Experte, wie alt und wichtig es sein mochte. Aber italienische Denkmalschützer, die seine mittelalterliche Bruchbude nach geltendem Recht auf seine Kosten okkupieren konnten, bis die Provenienz gesichert war, wollte er sicher nicht konsultieren. Der Hand eines heiligen Mannes folgten unter seinen wütenden Hammerschlägen ein Stück Heiligenschein, der Turm einer brennenden Kirche, sowie ein Fluss mit Kähnen drauf. Und von  der Gewölbedecke fielen einige Engel aus einem überputzten, blauen Himmel oder ließen brüchig Federn. War das in den Anfangsjahren des Gemäuers vielleicht die Hauskapelle gewesen? Ein vermutlich unwiederbringlicher Schatz ging da Schlag auf Schlag verloren. Selbst den erklärten Agnostiker  Johannes Goerz überkam bei seinem Tun und aller Wut auf die Gogels massiv das schlechte Gewissen.
  Und dann galt ab 1. Januar 2002 der Euro…







 12. Kapitel
Euros Gnaden

  Und dann galt ab 1. Januar 2002 der Euro und sorgte für einen Wertewandel sowie höchst unterschiedliche Wahrnehmungen bezüglich seiner wirtschaftlichen Wirkung. Das traf sicher überall in Europa zu, war aber auf dem Zauberberg von Castellinaria mit seinem verlangsamten Raum-Zeit-Kontinuum und den höchst persönlichen Perspektiven seiner Bewohner geradezu exemplarisch. Durch den Nationen-Mix war hier quasi ein Musterzoo oder besser ein Reservat für unterschiedlichste Wirtschaftswesen europäischer Herkunft entstanden. Je nachdem in welchen Biotopen sie aufgewachsen waren, gediehen sie jubelnd oder verkümmerten seelisch; jedwedes aber eigentlich ohne ersichtlichen Grund:
  Bernhard Kleiner war bedingt durch seinen Lebenslauf Vertreter einer raren, gegen diese Anwandlungen immunen Spezies. Das galt auch für die steinalten, immer schon hier angesiedelten „Gewächse“, die sich landwirtschaftlich selbst versorgten. Sie suchten höchsten bei schwersten Krankheitsfällen niedere Gefilde auf oder wurden meist erst nach weit über 80 Jahren harten Lebens im Sarg auf den Friedhof ins Tal gebracht.
  Die Gogels hatten zwar noch das Haus mit Garten gekauft, es aber sofort, nachdem sie es wieder in bewährter Manier dekoriert hatten, an eine Agentur zur Vermietung weiter gegeben. Im Übrigen aber waren sie gleich über die nur noch in den Köpfen vorhandene Grenze nach Frankreich entwischt und hatten von den Gewinnen in Castellinaria eine Villa auf dem Cap d’Ail  zwischen Monaco und Nizza erstanden. Bevor der Rest der Welt begriff, dass der Euro bald nicht mehr heimlich in Gedanken umgerechnet zu werden brauchte, kauften sie diese von verängstigten Amerikanern in Dollar auf der Basis von Franc-Umrechnung. 2007 sollten sie (wieder einmal fristgerecht und hübsch dekoriert) die Villa in Euro zur gleichen Summe verkaufen und das taten sie dann auch gleichermaßen bei dem Haus in Castellinaria.
  Natürlich bekam Johannes Goerz seine vermeintlichen Nachbarn niemals mehr zu Gesicht, um ihnen zumindest einmal die Meinung zu sagen. Der Journalist gehörte also schon wegen seines baufälligen Domizils und der Tatsache, dass er nun weitgehend vom „Eingemachten“ leben musste, ganz sicher zu denen, die Gefahr laufen würden, zu verkümmern. Er entwickelte jedoch für das Phänomen des Euro-Wertwandels ein Ursachenschema, mit dem sich außer ihm auch andere Europa-Depressive gedanklich aus dem schwarzen Loch hätten hieven können: Das Pizza-Theorem.
  Das Pizza-Theorem zeigte einerseits die Machtlosigkeit des Individuums, machte ihm andererseits aber auch deutlich, dass es zumindest nicht allein von den Wirtschaftsmächten verarscht wurde – dass das Volk als Volkswirtschaft demnach immer  noch die Chance gehabt hätte, zurück zu schlagen:
  Der Euro war im März/April 2002 für die Italiener immer noch so ungewohnt, dass die Kaufhäuser und Laden-Ketten die Waren (zum Teil bis heute) auch noch mit Lire auszeichneten. Restaurants gestalteten ihre Menükarten nach diesem Vorbild, um zu suggerieren: Schaut her, nichts hat sich durch die neue Währung geändert. Aber der Euro war für den kleinen Mann eben ein schleichendes Gift. Drehbuchschreiber von Verschwörungsthrillern könnten rückblickend vielleicht einen Zusammenhang zwischen der Euro-Einführung, „Nine Eleven“,  Börsen-Crash, „America at War“ und dem damit verbundenen Angriff auf den Irak konstruieren. Tatsache war, dass das beidermaßen in Friedenskundgebungen und Kriegshandlungen engagierte Berlusconi-Italien mehr damit zu tun hatte, die regenbogenfarbenen „Peace“-Flaggen auf die Balkons zu hängen, als Preise zu kontrollieren.
  Der kleine Riss im Damm  gegen den „Teuro“ wurde durch eine Pizza-Kette verursacht. Die Schallgrenzen für Pizze lagen 2001 zwischen 6000 und 9000 Lire (etwa sechs bis neun Mark). Heimlich hatte sich im April der Euro-Preis für die „Margherita“, die nur mit Mozzarella, Tomaten und Basilikum belegte in der Regel billigste Version, mit 3,90 Euro von der alten Einstiegsmarke entfernt. Als sie erstmals die Vier-Euro-Grenze überschritt, schlugen die Italienischen Verbraucherschützer angesichts der Preissteigerung um 25 Prozent innerhalb dreier Monate erstmals Alarm und riefen zum landesweiten Boykott von Pizzerien,  Pizza-Bäckereien und -Lieferanten auf.
  Das funktionierte. Ein Wochenende lang aß Italien nur selbst gemachte oder tiefgekühlte Teigfladen. Es rutschte jedoch nur die Margherita unter die frühere Marke zurück. Die nicht so leicht typologisch zuzuordnenden übrigen Pizza-Kreationen mogelten sich weiter auf die Neun Euro zu oder schlichen sich im Jahr darauf gar schon darüber. Im Frühjahr 2008 kostete die Durchschnittspizza bei gleichem Lohn-Niveau und  EU-weit geringeren landwirtschaftlichen Erzeuger-Preisen mit Neun Euro nach nur fünf Jahren um jedenfalls 100 Prozent mehr.
  Das Theorem hätte übrigens ohne weiteres auch auf Deutschland als Schweinsbraten- oder in Österreich als Kaffeehaus-Theorem angewendet werden können… Der 1000Lire-Steh-Espresso war auf wundersame zwei Euro geklettert, aber da hatte dieses Genussraucher-Volk auch schon ohne jeglichen Widerstand und vor allen anderen EU-Mitgliedsstaaten die härtesten Restriktionen gegen Tabakqualm akzeptiert…
 
  Bernhard Kleiner wusste zunächst mit Johannes Goez, dem neuen, streitbaren Bewohner Castellinarias nichts anzufangen. Ihm fiel auf, dass dieser sich jedoch sehr schnell in seinem Umfeld zurechtfand, weil er ungeachtet seiner geringen Sprachkenntnisse auf die Einheimischen zuging und ihnen sichtlich bemüht zuhörte wie ein Therapeut oder Seelsorger. Goerz signalisierte ihnen – anders als der beflissene Peter Häubel -  dass er mit ihnen leben, aber nicht um jeden Peis dazu gehören wollte. Man zollte ihm wohl  gerade deshalb schnell Respekt.
  Dieser wuchs auch, weil der Journalist für Dienstleistungen und Reparaturen sein Geld strikt im inneren Zirkel der Gemeinde ausgab, selbst wenn er sich dafür manche Unzuverlässigkeit (zunächst durchaus bewusst) einhandelte. Aber irgendwann erträgt auch der dickste Nacken keine weiteren Schläge mehr.
   Der von ihm engagierte Baumeister war mitten im totalen Sanierungs- und Umbau-Chaos in Folge eines Herzinfarktes von der Leiter gepurzelt. Dadurch geriet dessen „banca di favore“, die Gefälligkeitsbank, in Schieflage. Mit den Lebensgeistern des „impresarios“ waren nämlich auch 15 000 per Handschlag a conto übergebene Euro entfleucht. Und unmittelbar darauf stellte sich heraus, dass die Baugenehmigung für eine Säulenreihe, die eine marode Mauer an der Dachterrasse nach Maßgabe des Verstorbenen ersetzen sollte, beim „Sindaco“ nicht eingeholt worden war.  Das bedingte eine Anzeige wegen Verstoßes gegen den mittlerweile sehr strengen Denkmalschutz.  Eine neue, kostenpflichtige Vermessung für das Katasteramt zuzüglich eines stattlichen Bußgeldes wurde fällig.
  Bernhard Kleiner war ein harter Mann, und nichts von dem, was seinem Landsmann widerfuhr, hätte ihn jemals emotional tangiert. Doch als er den Fleischberg eines Morgens heulend und zusammen gesunken durch die offene Haustür an seinem Küchentisch sitzen sah, trat er ungefragt und auch besorgt von der Piazza in dessen Haus.
  Goerz wischte sich verschämt die geröteten Augen und versuchte sich an einem Grinsen:
  „Ich gebe auf. Dieses Haus schafft mich. Das ist eine Sparbüchse ohne Boden. Und jetzt das!“
  Er wies auf die vor kurzem frisch gestrichene Küchendecke. Dort breitete sich zügig ein pechrabenschwarzer Fleck aus. Irgendwie war das ablaufende Wasser aus der Wanne des darüber liegenden Bades seit Jahren unbemerkt in einen stillgelegten, zu zementierten und total verrußten Kaminabzug geraten. Jahrhunderte Olivenholz-Befeuerung mussten sich in ihm abgelagert haben. Jetzt hatte sich das seit wohl geraumer Zeit zusickernde Wasser einen Weg durch die Hohlräume der Mauern gebrochen.
 
  Dies also war der Moment, in dem der legendäre „Ruinen-Bernd“ seine Wiedergeburt feierte, und es war auch der Beginn einer eigentümlichen Männerfreundschaft. Zwei vom Leben unterschiedlich geschundene Alpha-Wesen gingen zunächst eine Symbiose ein, die sicherlich keiner von beiden noch ein paar Jahre zuvor für möglich gehalten hätte. Der eher Manuelle und der ans Dominieren gewöhnte Delegierer – konnte das gut gehen?
  Instinktiv spürte Goerz die einfach strukturierte Kompetenz und den unerschütterlichen Mut zum Anpacken bei dem zehn Jahre Älteren und lieferte sich erstmals in seinem Erwachsenen-Leben einem anderen Menschen vorbehaltlos aus.
  Dank Euros Gnaden sollte dies eine der besten Entscheidungen seines Lebens werden. Mit castorpschem, naivem Staunen nahm er in den kommenden Monaten die Urkraft wahr, die von diesem Zauberberg ausgehen konnte, wenn man sich nur bewusst auf ihn einließ. Es schien auch, als wolle jener seine Bewohner erst prüfen, ehe er sie dauerhaft als Bewohner duldete.
  Schutthalden, Trümmer im Haus, Deckenkonstruktionen, die nicht hielten, was sie versprachen – das alles hätte den alten Johannes an den Rande eines Nervenzusammenbruches geführt. Jetzt war es ihm wurscht, wenn er sich einen Abend mal staubverkrustet und stinkend zum Schlafen niederlegte, weil das Wasser abgestellt bleiben musste. Jetzt war ihm auch egal, dass sein ramponiertes Vermögen stetig schrumpfte wie die von Signora Elza auf blitzenden Blechen zum Ausdörren auf dem Dach gegenüber ausgelegten Tomaten.  Jeden Morgen trat er  mit breiter Brust auf die Piazza oder seine über allem schwebende Terrasse, umarmte das einzigartige Panorama und sog die vom Meer aromatisierte, frische Bergluft wie befreit in seine Lungen. Sein Leben hatte als Ruinen-Bauherr einen neuen Orientierungspunkt, und diese Zielsetzung riss sein Umfeld mit.
  Milan Besnik war der erste, der Johannes Goerz in einer Mischung aus Respekt und Baustellen-Kumpanei mit seinem zukünftigen Spitznamen „Don Giovanni“ ansprach. Kleiner hatte die beiden Albaner in kleiner Nachbarschaftshilfe engagiert, weil diese neben ihrer erwiesenen und erprobten Zuverlässigkeit als einzige nicht mit dem Euro ihre Preise eins zu eins angehoben hatten. Er ahnte ja nicht, was Johannes Goerz bald erfahren sollte, aber  seiner  Verschwiegenheitspflicht gehorchend,  noch Jahre für sich behalten musste:
   Die „Sterbenachhilfe“ in Euroland war bei zunehmender Zwielichtigkeit derart gefragt, dass die zwei das Schuften am Bau, schlicht als  einen, die Nerven beruhigenden  Ausgleichssport betrachteten. Den meist ausländischen Bauherren fielen dabei die immer häufigeren partiellen Abwesenheiten des einen oder anderen Besnik nicht wirklich auf. Dass auf einmal Sali Besnik häufig allein auf seiner Baustelle schuftete, führte beispielsweise Johannes Goerz darauf zurück, dass nur der titanische Rotschopf so mühelos dazu in der Lage war, die Tonnen von Schutt durch das winkelige Anwesen nach draußen zu schaffen.
   Als auch „Il Mulo“ ihn zum ersten Mal mit „Don Giovanni“ ansprach, fühlte sich der Journalist gruselig amüsiert an die Szene in „Der Pate I“ erinnert. Die, in der der Killer Clemenza Don Corleone seine Aufwartung macht und in gutturalem Dialog seine tödlichen Anweisungen empfängt. Wie sollte „Don Giovanni“ da schon ahnen, wie treffend diese Assoziation noch werden würde?
  Und dann hatte Goerz beim gemeinsamen Schleppen einer schweren Säule in Folge von Pressatmung einen kurzen Herzstillstand, der den Exil-Albaner aus seiner zementierten Rolle zwang. Mit der kühlen Routine eines promovierten Kardiologen, der er im früheren Leben tatsächlich gewesen war, holte er seinen Bauherrn aus dem Jenseits zurück. Zog sich nach erfolgreicher Wiederbelebung aber nicht so schnell zurück, dass jener bei dem Rübezahl nicht  die Sachkompetenz und die damit kurz einher gehende Veränderung seines Habitus feststellen konnte…
  Ausgerechnet beim Lebensretten hatte Sali Besnik seine Tarnung aufgegeben. Das Schicksal schrieb die besten Sketche.  Diese Geschichte erschien dem einst so investigativen Journalisten zu kurios, als dass man sie hätte erfinden können. Und er brauchte nicht weiter nachzuhaken. Einmal regelrecht entlarvt, schien der Enttarnte nur darauf gewartet zu haben, seiner aufgestauten Seele die Schleusen zu öffnen. Dass Besnik dies in fließendem Deutsch mit nur geringfügigem Akzent tat, war schon bald kein erstaunlicher Begleitumstand mehr. Besnik hatte vor dem Fall der Mauer seinen Facharzt an einer ostdeutschen Uni-Klinik gemacht. Als Spielball einer blutrüstigen, postkommunistischen Europa-Geschichte war er erzwungener Maßen zu dem geworden, was er nun war.
  Johannes Goerz hielt die gesamten Hintergründe für eine geplante große Enthüllungsgeschichte lange unter Verschluss. Was womöglich auch damit zusammen hing, dass Sali einige Wochen, nachdem die Renovierung von Goerzens Haus endlich abgeschlossen war und der Deutsche mit seinen Nachforschungen bei einigen der geschilderten, mysteriösen Todesfälle begonnen hatte, ertrunken aus einem Stellnetz vor dem Capo Berta gefischt wurde. In seinen Lungen fanden die Pathologen allerdings kein Meerwasser, sondern Marmorkleber. Kurze Zeit später war dann auch Milan samt dem kleinen Bauhof bei Garlenda verschwunden.
  Bernhard Kleiner waren die stimmungsmäßigen Veränderungen seines neuen Freundes nach dem euphorischen Zwischenhoch durchaus nicht verborgen geblieben, aber so sicher war er sich, dass Goerz ihm eines Tages erklären würde, was geschehen war, dass er nicht neugierig war. Noch waren sie beim Umgang miteinander zur Sicherheit distanziert beim Sie geblieben.
 Kleiner hatte den neuen Bekannten genauestens studiert. Ihm war aufgefallen, dass dessen augenscheinliche Interesselosigkeit im näheren Umfeld in erster Linie den deutschen Landsleuten auf dem Zauberberg galt. Bei den Italienern war das anders. Lucca, Enzo und die anderen mit Bernhard in die Jahre gekommenen Spießgesellen der ersten Zeit in Castellinaria hatten „Il Rullo“, die Dampfwalze, sofort in ihr Herz geschlossen. Sie nannten Goerz wegen seiner bisweilen plattmachenden Herzlichkeit ihnen gegenüber und natürlich auch wegen seiner Figur so. Bernhard beschrieb Traute die Art, wie Goerz, sich so schnell auf neue Bekannte oder alte Antipathien einstellte, als sie einmal an der Kasse im Supermarkt standen:
  Die Kassiererin zog Produkt um Produkt stoisch über das Scannerfenster. Erst wenn eines keinen Signalton von sich gab, widmete sie ihre Aufmerksamkeit ganz individuell dieser Ware. Dann tippte sie die Zahlen des Strichcodes ein und schickte sie auf dem Laufband hinterher. Manche Produkte - meist selten ausgewählte aber auch besonders neue wurden dann per Aufruf durchs Mikrofon ausgezeichnet an die Kasse nachgeliefert. Die nicht derart standardisierten Stücke gingen in einen besonderen Korb. Bernhard wies auf das Scan-Fenster:
  „Ich glaube Goerz macht das mit Menschen genauso. Er scant sie und bevorzugt die, die nicht gleich per Strichcode ihren Euro-Preis zu erkennen geben. Wir sind wohl bei ihm in diesem Sonderkorb gelandet. Anders wäre das in unseren unterschiedlichen Preisklassen ja kaum zu erklären.“

















 13. Kapitel
Die Rückkehr der Enkel


  „Ich komme einfach nicht an!“, sagte Johannes Goerz und schaute über den erleuchteten Kirchturm der Nachbargemeinde auf das vom Mond beschienene Meer hinunter. Offenbar recht große Wellen, die der Scirocco vor sich her schob, ließen es mit ihren streifigen Schatten von dort oben, wo sie saßen, wie ein Teller aus gehämmertem Silber erscheinen.
  „Ich komme einfach nicht an - in diesem so genannten Dritten Leben. Ich erkenne, das Privileg hier sein zu dürfen. Ich sauge diese einzigartige Schönheit in mir auf, aber anstatt es zu genießen, lasse ich zu, dass gerade in solchen Momenten ein aberwitzig schlechtes Gewissen von mir Besitz ergreift.“
  Bernhard Kleiners lange Beine baumelten wie die des Journalisten in lässiger Fahrlässigkeit außen von der Zinne des Kastells über dem schwarzen Abgrund, der sich an der Südostfront der Burgmauer erstreckte. Glühwürmchen tanzten in der Tiefe. Er schmauchte seine Pfeife mit zerkautem Mundstück und sagte gar nichts. Längst wusste er, dass sein neuer Bekannter ein komplizierter und zerrissener Charakter war, dem mit seinem gesunden Menschenverstand kaum beizukommen war. Indem er ihn aber schweigend und fest anschaute, wenn der eine Pause machen wollte, ermutigte er den Jüngeren stets mit seinen Monologen fortzufahren. Das klappte und war besser, als sich mit Traute via Satellit deutsche Fernseh-Soaps anzusehen. Diese fortwährende Selbstzerfleischung war eine Reality-Show – exklusiv und wegen beiläufig gewonnener Erkenntnisse unbezahlbar.  Er selbst war ja auch auf Wichtigkeitsentzug gewesen, nachdem er die Großbaustellen seines Lebens auf immer verlassen hatte. Er wusste, dass Verluste von Macht, Kraft, Sex und anderer Antriebskräfte auch bei dem Journalisten seine Zeit brauchen würde, aber er war sich nicht ganz sicher, ob Goerz - so wie er - den Stand der Weisheit durch homöopathischen Genuss des noch Gewährten erreichen würde.
  „Der Gogel hat mir außer der Bruchbude noch einen Spruch da gelassen. Quasi ein Leitsatz aus seinen Management-Seminaren: Man merke sich: Die beiden größten Arschlöcher in meiner Karriere sind mein Vorgänger und mein Nachfolger…“
  „Ich habe übrigens meine Wohnung an den Enkel von Franco verkauft“, warf Kleiner mitten in den unvollendeten Satz.
  „Was hat das jetzt mit dem Spruch vom Gogel zu tun?“ hakte Goerz in einer Mischung aus Erstaunen und Ungehaltenheit nach. Kleiner hatte ihn noch nie unterbrochen, und schon gar nicht, indem er ein völlig anderes Thema anschnitt.
  „Nehmen Sie doch Castellinaria! Das ist eine über Jahrhunderte andauernde Abfolge von Vorgängern und Nachfolgern. Aber die gegenwärtigen Arschlöcher sind wir, die wir gedacht haben, wir könnten einfach ein fremdes Stück Paradies kaufen und nach unseren Vorstellungen formen und verändern. Wie sehr wir in die historische Nachfolge eingegriffen haben, ist mir gerade erst durch diesen Spruch und das, was ich mit Francos Enkel erlebt habe, bewusst geworden.“
  „Sie sprechen in Rätseln. Don Bernardo!“
  „Nun, die Wohnung, die ich seinem Enkel verkauft habe, hat einmal Franco gehört. Er hat mir und Häubel das Haus zu Beginn der Achtziger verkauft, weil seine Kinder nach Turin und Genua gegangen waren und von Castellinaria nichts mehr wissen wollten. Unser Geld hat er – genügsam wie er immer war – für seine ungeborenen Enkel bei der Ambrosiana angelegt. Stellen Sie sich das mal vor. Damals haben sie die Italiener auf den Baustellen bei uns wegen ihres ungebremsten Kinderzeugens noch ‚Katzelmacher’ genannt…“
  „Ja, so hieß doch auch ein Film von Rainer Werner Fassbinder…“
  „…Und jetzt sind die bei den Geburtenraten in Europa das Schlusslicht.
  Francos Töchter sind geschieden und haben gar keine Kinder. Einer der beiden Söhne seines Sohnes ist jetzt bei Imperia Mare für die künftige Hafen-Entwicklung zuständig. In den 26 Jahren seines Lebens war er vielleicht dreimal hier oben, ansonsten durfte Franco, um seine Enkel zu sehen, nach Genua reisen. Marco, der ältere der beiden Enkel, erinnerte sich also, dass sein Vater häufig von einem zweiten Häuschen seines Großvaters gesprochen hatte und fragte nach Jahrzehnten des Desinteresses Opa Franco, ob er dieses Häuschen als Wohnung haben könnte, weil die Mieten am Hafen so absurd teuer seien. Franco erzählte ihm, dass das Haus schon vor seiner Geburt verkauft worden sei. Dass er ihm aber die Hälfte des damals angelegten Erlöses zugedacht habe.“
  „Und da hat der sich riesig gefreut und Ihnen davon gleich die Wohnung abgekauft?“
  „Nein! Ganz im Gegenteil! Der hat seinen Opa wüst beschimpft. Er habe ein Fundament der italienischen Kultur für centesimi an Ausländer verhökert. Und seine Wut wurde fast zu einem Tobsuchtsanfall, als er feststellte, dass das Geld vom Opa mit Zins und Zinseszins gerade dazu ausreichen sollte, davon die Hälfte von der Hälfte des früheren Hauses zu bezahlen. Er nannte mich einen Spekulanten, obwohl ich ihm sogar  die Wohnung aufgrund meiner Freundschaft zu seinem Großvater noch um 25 Prozent günstiger angeboten habe.  Häubel und ich hatten ja in die Renovierung neben dem Material und der Ausstattung einen Haufen eigene aber auch viele Arbeitstunden der Albanesi gesteckt. Jeder von uns hatte Franco damals 15 000 Mark bezahlt und etwa die gleiche Summe in die durch die Teilung entstandenen Wohnungen investiert. Lustiger Weise hatten auch wir beide die Idee, diese dereinst mal unseren Enkeln zu überlassen…“
  „Und?“
 „Häubel hat ja welche. Unser Sebastian hat das Thema Kinder längst abgehakt. Und was Sie erzählt haben, wird es doch auch bei Ihnen keine geben. Die wenigsten der Deutschen hier oben – so sie überhaupt Kinder hatten – haben Enkel, und da sich deren Eltern schon kaum mehr interessierten, wird es von denen hier keine wirkliche Nachfolge-Generation geben.“
  „Luftschlösser taugen offensichtlich nicht für Dynastien“, Goerz schüttelte in jäher Erkenntnis und ein wenig resigniert seinen Kopf und fuhr dann fort: „aber waren wir denn blind in unserer Sehnsucht nach so einem Ort? Wenn es so sein wird, dass unsere Kinder und Enkel im Globalismus nicht mehr sesshaft werden können, weil sie für den Job vielleicht alle fünf Jahre oder öfter wieder an einen anderen Ort müssen, dann wäre doch so eine Zufluchstätte eine tolle Alternative.“
  „Ja, schon. Aber sie wäre eben keine Heimat oder nur ein Ersatz für sie. So etwas wie ein Elternhaus hat keine Bedeutung mehr, so bald es in dessen Umfeld nicht mehr genügend Jobs gibt. Im Prinzip ist das so, wie es hier oben war. Francos Generation hatte schon keine Perspektive mehr als Bergbauern. Also haben die meisten damals Castellinaria verlassen, um ihr Glück anderswo zu suchen. Wenn meine Generation Deutscher nicht die Sehnsucht nach den italienischen Momenten gehabt hätte, wäre das hier oben alles verfallen. Klar haben wir die alten Gemäuer für vergleichsweise lächerliche Summen gekauft. Aber niemand zählt ja die Arbeitsstunden und die Kosten für das Material zusammen, die wir all die Jahre in die Restaurierung gesteckt haben, ohne dafür Subventionen für den Denkmalschutz einzustreichen…“
  „Nein, die Enkel sehen natürlich nur die Preise, die sie sich meist mit normalen Jobs nicht leisten können – selbst wenn sie Opas wie Franco haben.“
  „Fünf der Häuser, die verkauft wurden, seit Sie das Haus der Francesa übernommen haben, sind nicht mehr an Nordeuropäer gegangen, sondern als Investments für Ferienwohnungen an Immobilien-Firmen aus Turin und Mailand.“
  „Februar und März war der Ort tatsächlich so ausgestorben, dass ich mir hier wie in einer Geisterkulisse vorgekommen bin, aber das war auch irgendwie mystisch und schön.“
  „Es werden also andere Nachfolger kommen, aber bis dahin sind wir die Arschlöcher. Ich sage es ungern – obwohl wir ja auch zum Wohlstand der Gemeinde beitragen – baut sich hier erstmals in all den Jahren eine unterschwellige Feindseligkeit auf. Die Enkel-Generation weint einem verlorenen Paradies nach, dass ihre Eltern verlassen haben und in dem ihre Großeltern erst einen verbesserten Status erfuhren, als wir dessen Verfall gestoppt haben.“
  „Dürfen wir ihnen das denn verübeln?“
  „Nein, natürlich nicht! Man muss sich ja nur vorstellen, das wäre mit einem unserer historischen Dörfer daheim passiert – beispielsweise durch Japaner. Oder einfacher: Wir erinnern uns daran, was die vermögenden Wessies nach der Wiedervereinigung an Luxussanierungen und Spekulationen allein in Dresden, Leipzig und Weimar mit Unterstützung der Treuhand durchgezogen haben.“
  Goerz bewegte eine Weile schweigend seinen mächtigen Schädel mit der Einsteinmähne hin und her. Dann grinste er schüchtern wie ein Schuljunge, der seinen Lehrer in einer Mischung aus Respekt und Erkenntnis um einen Gefallen bitten will:
  „Ich weiß, wir haben in Deutschland die Sitte, dass die Aufforderung zum vertraulicheren Du vom Älteren auszugehen hat. Wir beide - glaube ich - lassen uns mit dem Duzen wohl auch aus einem gewissen Misstrauen heraus immer noch mehr Zeit als andere. Aber ich möchte hier und jetzt etwas zum Ausdruck bringen, was mir schon seit einiger Zeit klar ist. -  Bernhard Kleiner, Sie haben einen außergewöhnlichen Charakter und Sie sind ein inspirierender Quell der Weisheit. Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mir das Du anböten.“







 14. Kapitel
Wieder Warten auf die Russen

  Im Frühjahr 2008 saß Bernhard Kleiner auf seinem Lieblingsplatz, der Zitronenlaube auf der Zinne im Garten, und wartete zum zweiten Mal in seinem Leben auf die Russen. So viel war seit jenem denkwürdigen Abend passiert, an dem er Goerz das Du angeboten hatte. Sie waren wirklich noch bessere Freunde geworden. Einem geheimen, unausgesprochenen Regelwerk folgend, rückten sie sich nie zu nah auf die Pelle. Aber beide sprangen ohne zu Zögern auf und ließen alles stehen und liegen, wenn es galt, Hilfe zu leisten oder für ein ernstes Gespräch bereit zu stehen.
  Sie waren zum Fischen aufs Meer hinaus gefahren, hatten am Haus herum gebastelt und herrliche Abende beim Kochen und Weinverkosten verbracht.
   Goerz hatte Kleiner endlich die Geschichte von Sali Besnik erzählt, und Kleiner die das Bild ergänzenden Dramen mit seinem Schwager Lenz geschildert. Sie hatten gemeinsam diverse Kämpfe mit der regionalen Kataster-Bürokratie ausgefochten, weil seit deren Umstellung auf Computer kaum einer noch auf Anhieb sagen konnte, wofür und wie viel Steuern zu zahlen waren.
  Für zwei milde Winter und angenehm temperierte Frühlings- und Sommerperioden führten Sie das einst erträumte Leben von Edelrentnern. Aber dann war Bernhard von einem medizinischen Routine-Check in der Heimat nicht gleich zurückgekommen.
  Krebszellen in seiner Prostata hatten vollkommen unbemerkt bereits derart metastiert, dass er direkt aus der Praxis auf den Operationstisch  geschickt worden war. Der Totaloperation folgte eine langwierige Chemo, die nur ein Mann von seiner Willenskraft und Athletik derart stoisch  und äußerlich unversehrt wegstecken konnte.
 Goerz hatte sich – als ob der Sensenmann synchron arbeiten wollte – bei seinen Recherchen ungeahnt ebenfalls in Todesgefahr sowie aus dem Seelischen Gleichgewicht gebracht. In der Folge musste er sich der schwersten Depression seines Lebens erwehren. Ein im Nachhinein lächerlich dramatisiert erscheinender Selbstmordversuch mit seinem Boot schlug fehl. Und so schämte er sich unendlich, als er seinen tapfer kämpfenden Freund in wirklich  tragischer Lebenssituation unverzagt wieder traf.
  Innerliche Verletzlichkeit nach außen nicht zulassend, gingen die beiden fortan in einer rüden Knarzigkeit und einem überzogenen Galgenhumor miteinander um. Goerz, der Literaturbeflissene, hätte  das als „hemmingwaysche Macho-Scheiße“ eigentlich verachten sollen. Aber es half ihnen über die Anflüge von Hilflosigkeit hinweg

  Dass er sich unten herum neu orientieren musste, und dass der Harnblasen- und Schließmuskelbereich bei diesem Treppauf Treppab erniedrigend zum Versagen gezwungen wurde, muss für Kleiner in den Monaten der Rekonvaleszenz  die Hölle gewesen sein. Goerz, jeglicher Behinderung anderer gegenüber verkrampft, überwand sich erstaunlicher Weise. Er überspielte zunehmend die eigene Unsicherheit im Umgang mit dem Freund, indem er ihn vielleicht mehr antrieb, als gut war. Das zwang ihn dann, Kleiner immer  wieder einzubremsen. Weil der kaum, dass es ihm besser ging, wie früher gewohnt, zupacken wollte. Wenn  er Bernhard gar nicht mehr Herr wurde, petzte er das unverfroren Traute, die mittlerweile wie eine Schwester für ihn war. Ja ihm Gelang es sogar, dass Don Bernardo nach geduldigem Zureden einen knorrigen Spazierstock aus poliertem Olivenholz als Absicherung gegen Fehltritte akzeptierte.
 
  Eigentlich machte dieser Stock erst den wahren Don aus Kleiner. Denn fortan erteilte und verteilte er Belehrungen und Hinweise bautechnischer Art, indem er mit diesem auf Schwachstellen, Pfusch oder versteckte Mängel deutete. Das gab ihm irgendwie eine Respekt einflößende Distanz.
  Indem er niemanden mehr zur Seite schob, um immer gleich selbst Hand anzulegen, wuchs ihm sogar  noch mehr Kompetenz und Souveränität zu.
Der knotige Stock wäre aber beinahe  auch noch zur Schlagwaffe geworden, als dieser Junge Mann im schwarzen Designeranzug begann, mit seinem Klemmbrett durch die Gassen zu spazieren.
  Der Schweizer Jungmann in Diensten einer diffusen Touristik- und Immobilien-Holding schwadronierte mühelos vielsprachig durch die historischen Gemäuer und machte Angebote, die eigentlich niemand ablehnen konnte. Er war bestens orientiert über Besitzverhältnisse, Nutzungszeiträume und die Standards bei der Ausstattung diverser Häuser. Er wirkte wie der Frontsänger einer Boygroup mit seiner Gelfrisur und den blondierten Haarspitzen, und gerade die etwas älteren Nordeuropäerinnen verspürten bei seinem Scharwenzeln ein Prickeln in tot geglaubten Körperregionen. Neben den unausgesprochenen, von Testosteronfülle begleiteten Versprechungen war aber auch das rein geschäftliche Angebot verlockend:
  Verkauf des Anwesens zu einem Preis erheblich über aktuellem Marktwert und geknüpft an ein noch fünf Jahre geltendes, Gratis-Wohnrecht für insgesamt jeweils acht Wochen pro Jahr; allerdings außerhalb der Hauptsaison-Monate.
  Als Traute dem smarten Jüngling erstmals die Tür aufmachte, war sie zuerst äußerst abweisend und misstrauisch, aber angesichts der jüngsten Ängste, die sie um ihren Bernhard ausgestanden hatte, war ihr das Ganze doch des Überlegens wert. Zumal Traute – was sie Bernhard bislang verschwiegen hatte – auch einen Grund hatte, die ihnen noch verbleibenden gemeinsamen Tage in Castellinaria als gezählt zu betrachten:
  Weil sie sich so gefreut hatte über die quasi normalen Werte ihres Mannes hatte sie auf der Sagra zu Ehren der Santa Madalena auf dem Dorfplatz des Capoluogo hemmungslos Masurka getanzt. Franco hatte sie mit seinem großen Professorenkopf den Takt vornickend, herumgewirbelt, was seine Schweißdrüsen hergaben, - sein Deo allerdings nicht hielt. Aber wer wird schon die Nase rümpfen, wenn die Live-Band unermüdlich schmalzt und die Juniluft selbst um Mitternacht noch dreißig Grad hatte? Zudem entspannte der eiskalte Vermentino Trautes immer noch außerirdische Schönheit. Die fortgeschrittene Osteoporose der Garbogöttlichen allerdings ließ sich nur bis zur ersten längeren Pause betäuben. Den Wallfahrerweg hinauf nach Castellinaria schaffte sie im Morgengrauen nur, weil sie zu beschickert war, um die Schmerzen zu spüren. Den restlichen Sommer jedenfalls konnte sie ihre liebgewordene Gartenarbeit nur noch unter unmenschlichen, heldinnenhaft  unterdrückten Schmerzen verrichten. Was letztlich auch dazu führte, dass sie immer häufiger das verlockende Angebot des Schweizer Akquisiteurs zur Sprache brachte.
  Don Bernardo von neuer Lebenskraft beseelt, wollte von alldem nichts wissen und geriet in der Folge derart in Wut, dass er dem jungen Mann eines Tages auflauerte und ihn wild seinen Olivenholzstock schwingend über die Piazza trieb. Der Charmebolzen, derlei rüde Reaktionen bislang bei seiner erfolgreichen Akquise nicht gewohnt, ließ vor Schreck Klemmbrett und Präsentationsmappen fallen. Goerz sammelte alles ein, ging aber weder dazwischen, noch ergriff er Partei, denn schon auf den ersten Blick erkannte er, dass hier etwas ganz Großes im Werden war.
  Goerz nötigte die beiden Streithähne auf die Steinbank an der Fontana. Gab das persönlich vertraulich wirkende Klemmbrett als erstes zurück. Allerdings nachdem er schon registriert hatte, dass einer der Ersten auf der Liste der Verkäufer Francos Enkel Marco war. Eine der Mappen hatte er für sich behalten und begann, sie zu studieren. Nicht ohne vorher mit einer herrischen Geste jedweder weiteren Gemütsäußerung der Kampfhähne  Einhalt zu gebieten.
  Der Profi erkannte nicht nur die perfekte Präsentation, sondern auch den genialen Ansatz hinter der Idee:
  Auf dem Deckblatt war ein Screenshot von Google Earth zu sehen. Er war mit einem Graphikprogramm derart brillant nachbearbeitet, dass Goerz in der Draufsicht von Castellinaria deutlich auch seine Dachterrasse samt Schirm und Markise erkennen konnte. Don Bernardos hängender Garten wirkte aus der Satelliten-Perspektive so spektakulär wie in natura. Als Goerz ihm das zeigte, schien sich die wütende Spannung für einen Moment zu lösen.
  Auf den folgenden Seiten wich die Google-Darstellung immer mehr einem architektonischen Relief-Plan vom zukünftigen „Castello in Aria“. Die großen Häuser des Ortes wurden außenarchitektonisch vereinheitlicht als Residenzen hervorgehoben, die kleineren als Ferien-Appartements. Die im Privatbesitz verbleibenden Häuschen der Einheimischen, die nicht verkaufen wollten, waren mit Personaggio betitelt, Personal!
  – Es würde also auch um neue Arbeitsplätze gehen, und wohl deshalb hatte auch die Gemeinde ohne Widerstand ihr Legat am Anwesen der ehemaligen Klosterschule abgetreten. Die hatte ja mangels Kindern  seit den 1970ern immer nur leer gestanden. Das Atrium mit  Kreuzgang und den hohen Schlafsälen sowie den beiden Spielplätzen an der Burgmauer firmierte auf den Prospektseiten bereits als künftiges Kulturzentrum mit Galerien und Bühnen für Musik- und Theater-Darbietungen. In Standaufnahmen von Computer-Animationen wurden die Gassen mit  elektrischen Golf-Carts befahren. Sämtliche Unstimmigkeiten an den Fassaden waren virtuell bereits angeglichen. Das galt vor allem für die frischen Farben aller Häuser, die im Plan einzigartig harmonierten und ganz besonders für das Castello.
  Goerz sah den Hinweis auf eine interaktive Webside und bat die beiden Männer über die Piazza spontan in sein Arbeitszimmer, wo er seine Computer online hatte:
  Die virtuelle Fahrt durchs Dorf samt Anreise – oder sollte man besser sagen Anflug – war noch spektakulärer. Der Cyber-Hubschrauber hob am neuen – hier digital schon fertig gestellten - Jachthafen zwischen Oneglia und Porto Maurizio ab, umrundete den mittelalterlichen Kirchberg und kletterte hoch über den Monte Aquarone und das Imperotal, um die Totale über die Valle d’Olio zu öffnen. Im Landeanflug auf  den Heliport des zukünftigen „Castello in Aria“ nahmen die Cyberspace-Reisenden zur Kenntnis, dass der Ort hier schon von einem Par-3-Neunloch-Golfplatz umgeben war. In der Realität würde der wohl nur von einem fanatischen Freak  mit grenzenlosen Finanzen aus den Fasce und Oliven-Terrassen heraus gegraben werden können. Aus den beiden Spielplätzen der Klosterschule war eine römisch anmutende Pool- und Spa-Landschaft geworden…
  Am Hubschrauber-Landeplatz oberhalb und ein wenig abseits des Ortes in einer rundum geschützten Bodenfalte (sie wurde Lardo - also Speck - genannt, weil  dort vor Zeiten ausgewilderte Hausschweine lebten) wurden die Gäste der Webside mit einem Golf-Cart zum Einchecken ins Schloss gebracht. Es diente hier als stilvolles Verwaltungszentrum vor dem das animierte Daten-Ebenbild des jungen Schweizers einen kleinen Einführungsvortrag hielt. Als die Fahrt dann weitergehen sollte, stoppte Goerz sie per Mausklick. Sein Blick verharrte auf dem Haus der Francesa – also seinem.
Dort hatte die Text-Einblendung das „Zentrum für Werbung und Kommunikation“ angesiedelt.
  „Das ist mein Haus“, bellte er empört in Richtung des Schweizer Smartys.
  „Das wissen wir. Wir wissen auch, dass es Ihnen wirtschaftlich nicht so gut geht, und der Job wäre ideal für Sie bis ins hohe Alter. Sie bräuchten nicht zu verkaufen und wir zahlten Ihnen noch dazu Büro-Miete…“
  „Also mir reicht es jetzt“, knurrte Kleiner und verließ wechselweise wachsbleich und wutrot werdend das Haus seines Freundes. In der stets zur Piazza hin offenen Tür drehte er sich noch einmal um und sagte ganz leise und eisig:
  „Ihr könnt kaufen, wen und was ihr wollt. So lange ich hier lebe, bekommt ihr mein Haus nicht!“
  Goerz indessen war bestürzt, dass er zu so einer drastischen Aussage spontan nicht fähig gewesen wäre. Die Verlockung, doch noch einmal im Leben wichtig zu sein und für den Austrag hier oben auch noch bezahlt zu werden, drang in seine Nervenbahnen wie ein schleichendes Gift. War nicht „in den Stiefeln zu sterben“ immer eine seiner Visionen gewesen?
 
  Offenbar weil er sich nicht sofort auf dessen Seite geschlagen hatte, war das Verhältnis zwischen Johannes und Bernhard - unausgesprochen zwar – in den restlichen Sommer- und Herbstwochen belastet. Kleiners Stimmung wurde natürlich nicht besser, als er erfuhr, dass auch Häubel sein Anwesen am unteren Ortseingang verkauft hatte. Der Sindaco hatte ihm das Baurecht
auf einer seine Fasce eingeräumt, und die Holding würde ihm zum Selbstkostenpreis dort eine Villa hinbauen, so dass noch ein ordentlicher Teil des Verkaufserlöses für die Enkel übrig bleiben sollte. Außerdem war ihm das exklusive Recht angeboten worden, mit seinen und den Produkten anderer, einheimischer Bauern einen Bioladen an der Piazza zu betreiben.
  Die größtmögliche Wut und das absolute Stimmungstief lösten jedoch bei Bernhard Kleiner die weiteren Recherche-Ergebnisse seines Journalisten-Freundes aus.

  Der touristische Multi  - so  hatte Goerz herausgefunden - wurde von einem Konsortium namhafter Schweizer Banken getragen, die aber offenbar wiederum nur die Geldmacht eines in London ansässigen russischen Oligarchen kaschieren durften. Der trat natürlich zunächst nicht einmal annähernd selbst in Erscheinung. Goerz kam nur drauf, weil er im Laufe früherer,  letztendlich lebensbedrohender Recherchen schon einmal auf die Namen zweier auch in diesem Umfeld wieder beteiligter Institute gestoßen war. Das eine war eine Art Islamische Bank für Wiederaufbau mit Firmensitz in einem der Vereinigten Emirate und das andere ein Private Equityfund, der auf Grand Cayman in der Karibik ansässig war. Trotz oder gerade wegen der internationalen Immobilien-Krise und der Liquiditätsengpässe selbst größerer Banken wurden in diesem Dreieck während der folgenden Monate Liegenschaften mit massiven Geldmitteln aus sehr diffusen Quellen aufgekauft und  bisweilen zu Spottpreisen übernommen. Da wunderte es doch, weshalb man in Castellinaria so großzügige Angebote machte.
  Das letzte, was Bernhard Kleiner von Goerz erfuhr, bevor er zur Kontrolle seiner PSA-Werte nach Düren zurückkehrte, war der Fakt, dass in einem in Liechtenstein geführten Kontroll-Gremium als Chairman ein Name auftauchte, der dazu beitrug, seinen Gesundheitszustand schlagartig zu verschlechtern:
Lorenz Meester – der Lenz…

  Dann kam Ende November 2007 der Anruf:
  „Es geht zu Ende“, fiel Bernhard bei Goerz gleich mit der Tür ins Haus. „Sie haben Metastasen in meiner Leber und der Bauchspeicheldrüse gefunden. Sie sagen zwar, dass der Krebs in meinem Alter sehr langsam voran schreite, aber haben mir doch empfohlen, ohne Hast meine Dinge zu ordnen.“
  Johannes Goerz hielt den Atem an und kämpfte mit den Tränen. Ihm fehlten die Worte – wie immer in solchen Situationen.
  „Hallo? Bist Du noch dran?“
  „Ja, natürlich! Ich bekomme nur gerade keine Luft.“
  „Hör zu! Außer Dir und Traute weiß niemand, wie krank ich bin. Die Russen haben mir eine Carta bollata geschickt. In diesen Vorvertrag soll ich meine preislichen Vorstellungen eintragen. Der Boss selbst will mein Haus für sich. Kannst du das begreifen? Mein zusammengestückeltes Gemäuer für einen Mann, der sich unten am Meer die exklusivsten Paläste im Dutzend aus der Westentasche kaufen könnte.“
  „Vielleicht steht es auf einer Goldader“, versuchte Goerz gequält zu scherzen.
  „Nun, ich werde das Sergei Ibrahimowitsch schon persönlich fragen, bevor ich unterschreibe.“

  Da saß Bernhard Kleiner nun im Frühjahr 2008, also fast  genau vierzig Jahre nachdem er Castellinaria erstmals betreten hatte, in seinem Garten und wartete auf die Russen. Seit Februar surrten die ersten elektrischen Golf -Carts durch die Gassen. Goerz hatte ihn vom Flughafen in Nizza abgeholt. Er war ohne Traute gekommen. Nachdem die Entscheidung zum Verkauf erst einmal gefallen war, hatte sie beschlossen, das Luftschloss nie wieder zu betreten, da es ihr sonst vermutlich das Herz zerrissen hätte. Der angekündigte lange Abschied von Bernhard war allein ja schon schwer genug  zu verkraften.
  Beat Aufdemblatten, der junge Schweizer, hatte Bernhard persönlich bis vor seine Haustür chauffiert. Nicht ohne voller Stolz auf die Steigkraft des Carts hinzuweisen, die sogar den steileren Bereich der Treppen mit den neuerdings seitlich zementierten Fahrspuren meisterte. Der Respekt des Mannes vor Kleiner, den er jetzt auch wie die Einheimischen mit „Don Bernardo“ ansprach war offenkundig gewachsen, seit bekannt geworden war, dass sich der Capo di tutti Capi im Anmarsch befand, um mit persönlicher Inbesitznahme sein neuestes Projekt zu adeln.
  Anhand der Vorberichterstattung des Regionalfernsehens ließ sich irgendwie auch erahnen, was den Tycoon zu seinem Kontrastprogramm in den Bergen veranlasst haben könnte. Seit einer Nacht lag am alten Pier von Oneglia längsseits – nicht  Bug voran – die Jacht „Yekatarina II“, mit der Ibrahimowitsch jüngst einen arabischen Kronprinzen als Spitzenreiter bei privat genutzten Bruttoregistertonnen  ausgestochen hatte. Dieser schwimmende Palast bot natürlich mehr als jede Strandvilla. Selbst der Helikopter auf dem Achterdeck fehlte nicht. Wie doch Reality selbst Virtuallity noch übertreffen kann…
  Wieso sich Johannes Goerz jedoch so schnell aus dem Staub gemacht hatte, ahnte Kleiner nicht. Er wolle bei diesem Ausverkauf nicht dabei sein, hatte ausgerechnet der geseufzt, der vor kurzem noch Feuer und Flamme für eine berufliche Aufgabe in diesem neuen Luftschloss gewesen war. Aber Johannes hatte schon die ganze Zeit, seit er Kleiner abgeholt hatte, irgendwie herumgedruckst. Als hätte er etwas auf dem Herzen und fände nur nicht den Mut, es auszusprechen.
 
  Der Oligarch kam im T-Shirt, Jeans und ausgefransten Converse-Turnschuhen. Er war auf  eine sprungfedernde Art athletisch und doch feingliedrig. Sein spärliches Haar war kurz geschoren und wurde schon grau, obwohl er kaum älter als vierzig sein mochte. Er wirkte eher wie ein smarter Vertrauenslehrer als ein Milliardär.  Mit seiner Entourage in Nadelstreifen, die den wichtigsten Notario Imperias geleitete, sprach er gutturales Englisch. Er war sichtlich erstaunt, als ihn Don Bernardo in seinem leidlich noch vorhandenen DDR-Pflichtfach-Russisch willkommen hieß.
  Auf dieser privaten und hier exklusiven Sprachbrücke begegneten sich die zwei so unterschiedlichen Menschen wie einsame Wanderer, die im unwegsamen Gelände unterwegs zu konträren Destinationen waren. Bernhard auf seinen Olivenholzstock gestützt, nahm dabei überraschend eine deutlich arrogantere Haltung ein.
  „Ja, wir Exilrussen vergessen doch immer wieder, dass ihr Großdeutschen jetzt gerne mit Moskaus Mächtigen in unserer Muttersprache parliert. Sie stammen ja auch wirklich aus der DDR – nicht so wie Kanzlerin Angela, die nur so tut.“
  Bernhard bot dem Käufer seines Hauses einen Platz in der Zitronenlaube an, nachdem er ihn über die diversen Ebenen seines Hauses auf die hängenden Terrassen von Trautes Garten geführt hatte. Neben Vermentino und Kaffee bot er Limonade an, die er aus dem selbst gepressten Saft eigener Zitronen angesetzt hatte. Ibrahimowitsch, der Informierte, bat allerdings um Trautes legendären, selbst gemachten Limoncello von dem Beat Aufdemblatten ihm vorgeschwärmt hätte.
  Bernhard fühlte sich nach der kleinen dialektischen Spitze des Russen bemüßigt, ihm seinen Werdegang in einfachem Russisch kurz zu schildern.
  „Brauchst du nicht Gospodin Tovarish, Held der Arbeit!“ Das Russische Herr Genosse kam eindeutig ironisch rüber, das Folgende mit einer freundlichen Eisbären-Kälte und in besserem Deutsch als es Vladimir Putin spricht:
  „Der KGB hatte eine Akte von dir, und auch als Republikflüchtling und Fluchthelfer konnte man über dich in den Stasi-Akten der Bürthler-Berhörde manches nachlesen. Bist du wirklich mit einer von einem Fahrrad angetriebenen Badewanne über die Lübecker Bucht abgehauen? Du hast wirklich Nerven was? Pass auf, ich habe Kaviar und Wodka mitgebracht. Lass uns das mit dem Notario und dem Verkauf schnell hinter uns bringen. Dann schicke ich meine Leute fort und du erzählst mir gemütlich, wie das war, als du damals hier hochgekommen bist.“
  Bernhard verzichtete darauf, dem Käufer seines Hauses Bedenken hinsichtlich seiner  befallenen Leber und Bauchspeicheldrüse zu bekunden. Da er sich nicht lumpen lassen wollte, stellte er – nach dem der Papierkram und die Computerbuchung auf ein Schweizer Konto wireless online erfolgt war - einen Krug giftgrünen Mosto, einen Bauern-Taleggio, eine Sorpressa so dick wie ein Unterschenkel und selbst gebackenes Brot von Signora Elza auf die raue Platte seines steinernen Gartentisches. Während er erstmals seit den Zeiten mit Dudenhove wieder mit gehäuftem Esslöffel Kaviar konsumierte, beobachtete er andererseits mit großem Vergnügen, wie der Oligarch lieber Mosto aufs Brot träufelte und sich damit begnügte, nur ein wenig Salz drauf zu streuen, bevor er es in mehr als sättigenden Mengen verschlang.
  Die Sonne war schon hinter dem Ort verschwunden, als sich Ibrahimowitsch verabschiedete. Wieder einmal gab es Anlass, über die wundersame Wirkung von wirklich gutem Wodka zu staunen. Sie hatten zwei Flaschen intus, doch sie lallten und torkelten nicht, was ja immer gerne als Klischee russischer Gelage kolportiert wird. Sie waren zwar alkoholisiert, aber dadurch eher bei geschärftem Verstand, als der Jüngere sein Schlusswort sprach, und der Ältere ihm aufmerksam lauschte:
  „Eines Tages, wenn die Zahl meiner Feinde unüberschaubar geworden sein wird, ist das hier oben meine Fluchtburg. Dann mag ein startbereiter Jet jenseits des Ginster-Passes in Albenga stehen und mein Schiff, das 200 Tage offshore operieren kann, mag im Hafen liegen. Aber die Dinge, die zählen, stehen dann hier auf dieser Steinplatte mit dem unverbaubaren Blick aufs Meer.“
 ‚Jeder hat so sein Luftschloss, und wer weiß schon, was so eines kosten kann?’, dachte sich Bernhard und schwieg in Erkenntnis seines eigenen, vierzigjährigen Traumes.














 15. Kapitel
Blühende Landschaften


  Nachdem Franco die ganz persönlichen Sachen der Kleiners, die vereinbarungsgemäß nicht im Haus verbleiben sollten, mit seiner Ape zur Spedition nach Chiusavecchia hinunter gebracht hatte, suchte Bernhard Johannes Goerz auf. Der saß in Gedanken versunken auf der Steinbank an der Fontana und schien ihn zunächst gar nicht wahr zu nehmen. Also setzte er sich, wie er es gewohnt war, schweigend daneben und wartete geduldig.
Nach einer Viertelstunde etwa, begann der Freund ungewohnt stockend und mit brüchiger Stimme:
  „Wir haben nicht viel geredet in jüngster Zeit… Ich möchte noch eine Menge von dir wissen… Aber du solltest auch von einer ziemlichen Wende in meinem Leben erfahren. Wenn ich dich nur zum Flughafen fahre, bleibt uns dafür nicht mehr genügend Zeit. Ich sage es frei heraus – ich tauge nicht für Besuche am Sterbebett. Das pack’ ich nicht. Mir ist klar, dass das mein purer Egoismus ist, wenn ich dich gerade jetzt noch um einige gemeinsame Tage bitte. Was hältst du davon? Anstatt zu fliegen, fahre ich dich heim…?“
  Und so machten sie es. Aber einmal ausgesprochen, dass es noch so viel zu bereden gäbe, verliefen die ersten dreihundert Kilometer weitgehend in merkwürdig angespanntem Schweigen. Erst als sich hinter Bellinzona die Autobahnen zum Gotthard und St. Bernhard gabelten, geriet Goerz mit seinen Hintergedanken unter Zugzwang:
  „Warst du eigentlich jemals wieder in der Gegend, in der du geboren wurdest? Warst du überhaupt schon in den neuen Bundesländern?“
  „Nein, das wollte ich nie, und es hat sich auch beruflich nie ergeben.“
  „Was hältst du davon, wenn wir das jetzt nachholen? Ich habe sie nämlich auch gemieden, und mir war eigentlich nie richtig klar, warum.“
  „Ich weiß nicht. Traute hat ja schon so komisch reagiert, als wir sie wegen der Heimfahrt angerufen haben. Bis zur nächsten Chemo wäre allerdings noch eine Woche...“
  „Wir nehmen den Bernardino! Und  wenn du es dir doch noch anders überlegst, dann könnten wir von Chur aus immer noch in Richtung Basel fahren.“
  In den Schluchten der Via Mala bog Johannes von der Schnellstraße auf die alte Trasse ab und hielt einem unbewussten Timing folgend in einer Parkbucht. Sie stiegen aus, und er führte Bernhard auf einem nicht gesicherten Trampelpfad zu einem glatten Felsen, der wie eine Kanzel über der Schlucht hing. Aus alter Gewohnheit ließen die beiden erprobt Schwindelfreien ihre Beine wieder einmal über einem Abgrund baumeln. Einige hundert Meter senkrecht unter ihnen gurgelte der immer noch junge Rhein und ließ seinen smaragdgrünen Schwall nach den Schnellen weißgold in der Nachmittagssonne aufschäumen. Derart sich wuchtig windend, den Redefluss plötzlich stauend, um ihn dann wieder einem Katarakt gleich auf  Bernhard herunterprasseln zu lassen, schilderte der Journalist sein Leben – das alte und das, welches erst kurz vor Weihnachten, zum jüdischen Chanukka,  begonnen hatte:
  Er sprach von den Urängsten, seiner lebenslangen Paranoia, von einer Zeit, da sich sein Verstand wirklich schon verabschiedet hatte, von seinen Selbstmordversuchen, von den vielen Freunden, die gestorben waren und die ihn beinahe unfähig, neue Freundschaften einzugehen, zurück gelassen hätten. Und dann dieses Legat seines Hausarztes aus Kindertagen, das ihn reich gemacht, aber aufs Neue in den Verfolgungswahn getrieben habe. Dass das Geld und die hochbrisanten Unterlagen des Mossad nun auf der gleichen Bank lägen, derer sich Ibrahimowitsch wie eines Supermarktes bediene. Und dass er, als er bei dem neuen Resort-Namen von Castellinaria die Initialen gesehen hätte, sofort an die CIA und diverse Merkwürdigkeiten in seinem Lebenslauf gedacht habe. Aber am meisten irritiere ihn die verzweifelte Gottsuche, die ausgerechnet ihn, den bekennenden Agnostiker, bei all dem in jüngster Zeit überkommen habe.
  Als Goerz verstummt war, begann Bernhard Kleiner wundersam  befreit wirkend zu lachen:
  „Weißt du, was ich getan habe, als ich über die Lübecker Bucht geflohen bin? Ich, der reformierte Kommunist und Held der Arbeit auf Republik-Flucht? Ich habe das Vaterunser gebetet im Rhythmus des Kurbeltretens. Und weißt Du, was ich jetzt mache, da ich hinüber muss? Ich gehe an keiner katholischen Kirche vorbei, ohne als evangelisch getaufter Atheist eine Kerze für Traute, Sebastian und mich anzuzünden. Hast du das nicht mal gesagt? Wenn die Nutten alt werden, gingen sie in die Kirche...?
  „Nein, das war Hemmingway.“
  „Na, macht nix, passt aber gut. Komm, lass uns blühende Landschaften gucken fahren!“ Dann holte er sein Handy heraus und sprudelte nur so voller Glück über, als er Traute seine ja eigentlich von Goerz manipulierte Entscheidung verkündete.  – Auf Johannes wirkte er auf einmal wie ein  in Feierlaune zu schnell eingegossenes Champagnerglas.
 
  Die blühenden Landschaften, durch die sie in moderatem Tempo glitten und zu denen sie, wenn sie schweigen wollten, Händel, Vivaldi und Telemann hörten, waren nicht die, die Dr.Kohl versprochen hatte. Der Mai hatte nur dafür gesorgt, dass es so aussah. Dennoch wurde ihnen bewusst, dass es „kein schöner Land zu dieser Zeit“ geben konnte. Das frische Grün, blühende Kastanien und die hoch stehende Sonne kaschierten viele der krasseren Kontraste. Je weiter sie nach Norden vorstießen, desto mehr wurde ihnen nach Brahms zumute und umso häufiger mischte sich in die Hochstimmung, die sie eben noch beseelt hatte, eine Melancholie, die sie leicht lächelnd und mit wiegendem Kopfschütteln akzeptierten. Hatten beide recht daran getan, die Heimat für die Sehnsucht nach dem Süden zu verdrängen?
  Sie hatten sich vorgenommen irgendwo zwischen Nürnberg und Bayreuth die Autobahnen zu verlassen, um dann auf Wunsch Bernhards in Leipzig zu übernachten. Goerz war alles recht, denn ab der Grenze zu Thüringen war ja für ihn alles Neuland. Bernhard hatte 1958 am Ortsrand von Leipzig geholfen, Plattenbauten hoch zu ziehen. Er jubelte in der sanierten Altstadt wie ein lahmer Pilger, der nach dem Besuch in Lourdes wieder gehen konnte. Sie hatten sich Zimmer im Leipziger Hof genommen und waren sofort los gestreunt wie zwei Twens auf Stadteroberung. Alle Hinfälligkeit, die ja ohnehin nur von Bekannten bei ihm zu erahnen gewesen wäre, war schlagartig von Bernhard abgefallen:
  „Du kannst dir nicht vorstellen, wie das hier vor fünfzig Jahren ausgesehen hat. Verdreckt, bröckelig die alten Fassaden. Löchrig und verworfen, die Plätze und Gehwege. Und jetzt schau dir diesen Naschmarkt an! Was für ein einzigartiges Ensemble! Als hätte es den Krieg und diese grauen Jahre der Freudlosigkeit danach nie gegeben. Alle, die jetzt wieder auf einmal in DDR-Nostalgien schwelgen wollen, sollte man übers Knie legen.“
  Der Abend war lau genug, dass sie lange draußen sitzen konnten. Goerz, der sich vorgenommen hatte, möglichst reserviert zu bleiben, ließ sich von Bernhards Begeisterung anstecken. Vor ein paar Wochen hatte Minister Per Steinbrück erstmals seit der Wiedervereinigung einen ausgeglichenen Staatshaushalt angekündigt. – Tedeschi sonno tinanici!
  Da sie weiter auf Landstraßen blieben und sich in Richtung Strausberg östlich von Berlin orientierten, kamen sie bei der Weiterfahrt am nächsten Tag dann aber auch in Sachsen-Anhalt und später im Brandenburgischen durch Orte, die vom Soli offenbar kaum etwas abbekommen hatten. Verödete Straßendörfer und allenthalben baulich vernachlässigte Anwesen wirkten auch im schönsten Licht und in duftender Luft nicht romantisch.
  Bernhard zeigte Johannes Goerz in Strausberg den Fischerkietz, wo der KPD-Opa, sein Bruder und er damals ihre Flucht abgesprochen hatten. Dann drängte er darauf, mit der S-Bahn nach Berlin hinein zu fahren. Und das war etwas gewesen, was Goerz in jedem Fall eigentlich hätte vermeiden wollen. Selbst als die Mauer schon gefallen war, hatte er Berlin, wenn er zu Messen musste, nie anders bereist als irgendeine andere Insel seiner journalistischen Destinationen.
  Den Gedanken an Berlin als Hauptstadt hatte er zwar zugelassen, aber nicht den Umstand, dass man diese dann auch ohne Behinderung auf dem Landwege erreichen konnte. Und schon gar nicht gefiel ihm die Idee, einfach mit öffentlichen Verkehrsmitteln vom Osten der Stadt  mitten ins Zentrum dieses urbanen Molochs zu fahren. Aber das hatte einen andren Grund: Er bekam nämlich in ihnen regelmäßig seine unkontrollierbaren Panik-Anfälle. Der gleiche Mann, der seine Beine, ohne nachzudenken, über gähnende Abgründe hängen lassen konnte oder nachts bei schwerer See mit seinem Fischkutter hinausfuhr, mutierte in einer S-Bahn oder Metro zu einem schwitzendes Nervenbündel, das hyperventilierend an den Rand einer Ohnmacht geriet.
  So war Goerz bereits vorgeschädigt, als sie zwischen Alexanderplatz, Brandenburger Tor und Potsdamer Platz herummarschierten. Das ICC, das Internationale Kongresszentrum, war bei seinem letzten Besuch noch von herausragender Architektonik gewesen. Jetzt wirkte es inmitten all dieser Gigantomanie wie eine Schildkröte, die eingeschüchtert Kopf und Gliedmaßen eingezogen hatte. Und genauso ging es Goerz.
  Zwei Jahre Castellinanria hatten ihn offenbar untauglich gemacht für eine Weltstadt. Er dachte an den Börsencrash in den ersten Monaten des Jahres, an die Talfahrt des Dollars und die möglicher Weise in einem Jahrzehnt noch nicht ausgestandene internationale Immobilienkrise. Plötzlich glaubte er physisch zu spüren, auf welch brüchigen Fundamenten diese protzige Klarsichtarchitektur der für die dummen Menschlein im Nebel operierenden Globalisten stehen könnte. Aber er machte seiner Angst nicht Luft. Zu sehr war sein Freund in Begeisterung gefangen, als dass er ihm diese Impressionen seiner letzten Tage durch Spökenkiekerei  hätte verderben wollen.
 
Sie hatten noch eine Bootsfahrt auf der Spree gemacht, bei der sich auch der Journalist wieder an die schönen Seiten der Hauptstadt heran denken konnte, weil Puls und Atemfrequenz sich langsam wieder normalisierten. Aber das war dann der Grund, weshalb sie den Kummerower See erst bei Einbruch der Dämmerung erreichten.
  Das Hotel Gravelotte, das sie ansteuerten, ließ dennoch erahnen, dass sie nun wiederum in einer blühenden Landschaft angekommen waren.
  Die Schönheit der Mecklenburgischen Schweiz mit ihrer Seenplatte hatte sich innerhalb von nicht einmal zwei Jahrzehnten zum großdeutschen Tourismus-Spektakel gewandelt, das wurde ihnen am nächsten Morgen klar. Auch dass die italienische Aussicht auf mehr (Meer-) Sonne wohl unverhältnismäßig ihren Preis hat. Sie hatten für 60 Euro ein schmuckes kleines Ferienhaus gehabt, weil das Haupthaus durch eine Tagung belegt war, und zahlten für Abendessen und Frühstück zusammen noch einmal den gleichen Betrag. In Porto Maurizio hätten 120 Euro bei ihrem Lieblingsrestaurant gerade einmal für ein – wenn auch üppiges - Abendessen gereicht…
  Nachdem sie die Peene am nächsten Morgen überquert hatten und den Wagen in Generalrichtung Oder lenkten, ertranken sie derart in der Schönheit dieser Landschaft, dass sie zweimal an der Abzweigung nach Pangerow vorbei fuhren. Die Topografie in ihrer Gesamtheit hatte sich nur unwesentlich verändert, aber im Detail sind 60 Jahre für die Natur doch viel Zeit. Und dann kam natürlich noch ein Effekt hinzu, den die Kinderperspektive in der erwachsenen Gegenwart fast immer ereilt: Alles kommt dem Betrachter überraschend viel kleiner vor.
  Das von einer Umgehungsstraße in den Windschatten des Fernverkehrs gedrängte Pangerow  hatte sich nicht wirklich verändert. Touristisch zu  „ab vom Schuss“ gelegen, war es das Zeilendorf der Armenhäusler-Landwirtschaft geblieben – gerade durch seine zusätzliche LPG-Vergangenheit.
  Als sie den Wagen am Dorfweiher parkten, um zu Fuß nachzusehen, ob das Elternhaus von Bernhard noch stünde, trat niemand heraus, um sie nach ihrem Anliegen zu fragen. Hie und da zuckten Vorhänge und ließen erkennen, dass der Ort doch noch bewohnt war. Alles war gepflegt, ließ aber die von touristischem Geld ermöglichte Niedlichkeit anderer Orte vermissen, durch die sie gefahren waren.
  Bernhards Geburtshaus war von einem einfallslosen Gemeindebau aus den sechziger oder siebziger Jahren halb verdeckt, aber es stand noch. Als er es sah, schwammen Bernhards Augen in Tränen. Wie hatten sie nur alle in diese Kate hineingepasst, die jetzt allenfalls noch als Abstellschuppen diente? Manche Scheiben in den kleinen Sprossenfenstern waren blind, einige hatten einen Sprung, die meisten fehlten jedoch ganz. Als hielte ihn ein unsichtbarer Strahlenschild davon ab, näher heran zu treten, fror die lange Silhouette von Bernhard erst ein, um dann deutlich sichtbar zusammen zu schmelzen. Als er sich gebeugt abwandte, sah ihm Johannes Goerz zum ersten Mal seine 71 Jahre wirklich an. Jemand zog hinter dem eigenen Brustbein langsam ein Rasiermesser durch sein Innerstes.
  Auf dem Weg zum Auto bogen sie links auf den Pfad entlang des kleinen Kanals ein, den ausladende Trauer- und vereinzelte Kopfweiden säumten. Der Schott vom Weiher ließ nur einen kleinen Schwall Wasser überlaufen. Ein rostiger Torfspaten steckte tief in der Erde. Das gute Dutzend Enten und ein lässiger Schwan beäugten sie, wie dies eben Tiere tun, die genau wissen, dass ihnen niemand nachstellt. In einiger Entfernung hingegen erklang warnendes Gänse-Geschnatter.
  Bernhard hatte sich - wohl einer Erinnerung folgend – an eine gewaltige Kopfweide gelehnt und schaute über den Dorfweiher, der ihm in Kindertagen wie ein respektabeler See vorgekommen war. Goerz wagte es nicht, sich zu ihm zu setzen, weil er in diese spürbare Sphäre  nicht einzudringen wagte.
  Aber Bernhard wollte ihn einbeziehen. Er blinzelte gegen die Sonne zu ihm hoch und sprach diesen Satz, der in Goerz auf immer nachhallen sollte:
  „Wenn ich gewusst hätte, wie schnell sie verrinnt und wie knapp sie am Ende sein würde, hätte ich mir mehr Zeit genommen…“
  Dann glitt in einer fließenden Bewegung seine rechte Hand rein und raus aus der Jackentasche und sein Arm holte aus, um die silberne Taschenuhr von Vater Kleiner ohne einen Moment des Zögerns mitten in den Weiher zu werfen. Das ging so schnell: Goerz hätte keine Chance gehabt, ihn davon abzuhalten.

  Bernhard und Johannes thematisierten diesen Akt nicht. Ohne sich abgestimmt zu haben, aber in stiller Übereinkunft lenkte der Journalist den Wagen in Richtung Stralsund. Ein erneutes Beispiel, dass Kohls Visionen überwiegend in den Städten und den touristisch verwertbaren Regionen der neuen Bundesländer Realität geworden waren. Sie glitten auf der neuen Brücke über den Strelasund und tauchten ein in die beinahe unwirklich erscheinende Postkartenlandschaft Rügens.
  Das einstige Quartier des „Ruinen-Bernd“ in Gustow war zu einer schmucken Pension geworden, die von einem jungen Pärchen aus Braunschweig geführt wurde; wie sich herausstellte war die junge Frau die Enkelin von Bernhards früherer Wirtin. Die Zimmer waren einfach, aber dennoch von einer stilvollen Gemütlichkeit.  
  Bernhard gab nicht nur vor, unendlich müde zu sein und ging sofort zu Bett.

  Johannes Goerz las am nächsten Morgen in der Lokalzeitung, während er mit dem Frühstück auf seinen Freund wartete. Er schüttelte ungläubig den Kopf über den Beitrag eines Kollegen. Der hatte den jüngst vom BKA  geäußerten Verdacht aufgegriffen, die Italienische Mafia benütze hochwertige, touristische Liegenschaften an der Ostsee, um Geld zu waschen und um sich neue Wirkungskreise an den nun nach Polen hin offenen Grenzen zu erschließen. Der Autor führte Beispiele von Schutzgeld-Erpressungen, Prostitution und Autoschiebereien an, die Bernhard nicht so recht zum Gesehenen passen wollten. Aber das war ihm ja vor Jahren an der sizilianischen Küste vor Taormina auch so gegangen.
 
  Die mädchenhafte Wirtin war leise an seinen Tisch getreten:
  „Ihr Freund ist übrigens schon vor zwei Stunden zu einem Ausflug aufgebrochen. Er hat sich das Rad von meinem Mann ausgeliehen, um an den Sund zu fahren. Stimmt es, dass er mal beim Sundschwimmen nur eine halbe Stunde gebraucht hat?  - Diese Nachricht soll ich Ihnen geben.“
  Bernhard öffnete den offenbar aus einer Rügener Werbemappe stammenden Umschlag für Anfragen:

Lieber „Don Giovanni“!
Vielen Dank für diese schöne Reise. Das war ein guter Einfall von Dir! Heimat ist nun mal Heimat.
Ich bin zum Schwimmen im Sund. Mal sehen, ob ich es noch hinüber schaffe…

Bis bald
Dein
Bernhard

  Am 10. Mai 2008 hatte die Ostsee im Strelasund eine Temperatur von 14 Grad. Der Seewetterbericht verzeichnete eine  - selbst für dieses stürmische Frühjahr - außergewöhnlich starke Strömung.