Liebe Leser!
Dieses Manuskript wurde schon aufgestückelt in meinem Blog "Briefe von der Burg" veröffentlicht. Jetzt habe ich es auf diesen Blog gepostet, auf den es eigentlich gehört. Allerdings ist dies nun eine erweiterte Fassung, die ich aus persönlichen Gründen bislang zurück gehalten habe. Wer es auf den Burg-Briefen schon gelesen hat, ist daher vielleicht erstaunt über die letzten Kapitel. - Ist ja doch eine gewisse Zeit seither ins Land gegangen.
Claus Deutelmoser im Juli 2014
Luftschloss
Roman
Inhalt:
1. Stur wie ein
Esel
2. Die Kalte
Zeit
3. Die
Empfängnis
4. Der Held der
Arbeit
5. Der Lenz
6. Wie die
Steine aus der Spur gerieten
7. Traute
8. Eine Art
Zauberberg
9. Das deutsche
Wesen
10. Memento mori
11. Das Spiel der Spekulanten
12. Euros Gnaden
13. Die Rückkehr der Enkel
14. Wieder Warten auf die Russen
15. Blühende Landschaften
1. Kapitel
Stur wie ein Esel
Die Alten des Dorfes fanden sich nach und nach schweigend auf der
steilen Mauer im Schatten der Kastanien, Platanen und Akazien ein. Da sie
ausnahmslos Schwarz trugen, muteten sie an wie eine zögerlich eintrudelnde
Versammlung von großen, flatterigen Rabenvögeln auf einer Überlandleitung. Es
mögen sich im Laufe einer halben Stunde wohl an die tausend Lebensjahre dort
entlang der krummen Stufen versammelt haben, die in die mittelalterlichen
Ruinen hineinführten.
Weiter oben, schon im Schlagschatten der engen Gasse, summten und
schwirrten die Schmeißfliegen um zwei gewaltige Dungfladen, die sich beim
fallen Lassen fast über die gesamte Breite des Aufstiegs ausgedehnt hatten.
Die riesigen ligurischen Ochsen, die sich vor ein paar Minuten derart
erleichtert hatten, bevor sie - die urgewaltigen Hinterteile voran - in ihre Cantina-Höhlen
bugsiert worden waren, sorgten für ein weiteres Hindernis. Mit ihren
Titanen-Köpfen und sabbernden Mäulern, die von beiden Seiten so weit in die
Passage hineinragten, dass sie fast aneinander stießen, schufen sie ein
respektables Bollwerk. Sie waren offenkundig froh, der schon in den
Morgenstunden herrschenden Sonnenglut entronnen zu sein. Auch die Alten in
ihren schwarzen Stoffsakkos mieden jeden direkten Sonnenstrahl und genossen den
bisweilen kühlenden Atemhauch der Tramontana. Der Fallwind aus dem
Appenin nährte einmal mehr die Hoffnung, dass ein paar kräftige Gewitter die
eingeschränkte Wasserversorgung hier oben beenden mochten. Normalerweise
hätten sich die Männer im Dunkel der
kühlen Kellergewölbe schon mal das erste Gläschen Rotwein des Tages gegönnt,
aber dieses angekündigte Schauspiel wollten sie sich einfach nicht entgehen
lassen.
Sie warteten darauf, dass der lange Blonde und der mickrige Esel, den ihm
einer aus ihren Reihen geborgt hatte, endlich aufgeben oder gar unter den
Lasten und der Glut dieses Vormittags
zusammenbrechen würden. Fast die Hälfte der betagten Rabenreihe hatte dem tedesco pazzo , dem verrückten
Deutschen, wie sie ihn unter sich nannten, in der letzten Woche ein Stück
zerfallenes Gemäuer an der steilen Ostflanke des mittelalterlichen Wehrdorfes
verkauft. Einst als Rückzugs-Refugium gegen die Piraten auf einer Felsnase
mitten in den schier unendlichen Olivenhainen der campagna imperese
errichtet, war das Dorf nun im Jahre 1968 nahezu verlassen. Die Jungen waren
wegen der vermeintlich leichteren Arbeit und des dolce vita, das ihnen das
Fernsehen vorgegaukelt hatte, in die Industrie-Städte im Norden oder in die
touristischen Ballungszentren der Riviera gezogen. Die Alten schufteten,
gewissermaßen als letztes Aufgebot, so lange es eben noch ging, in diesem von
Oliven- und Weinernten bestimmten Wartestand zum Jenseits.
Und dann kam dieser Deutsche Spinner und zahlte für wertloses Gemäuer
mal kurz eine Million Lire oder für ein verwildertes Stück Garten mit ein paar
gegen die Trockenheit kämpfenden Zitronen- und Feigenbäumen unvorstellbare 600.000 Lire. Obwohl er offenbar so reich
war, dass er sein Geld zum Fenster hinaus werfen konnte, begann er nun auch
noch zur völlig falschen Jahreszeit damit, sich als Ruinen-Baumeister selbst
abzukämpfen. Er würde knöcheltief durch die Ochsenfladen stapfen müssen. Der
Esel würde bocken, wenn er zwischen den beiden Monstern hindurch müsste, und
die gnadenlose Sonne würde dem hellhäutigen Blonden nach dem fürchterlichen
Sonnenbrand einen gnädigen Hitzschlag versetzen, noch ehe nur eine der sinnlos
erworbenen Mauern wieder stünde.
Der Baustoff-Händler aus Borgomaro hatte alles unten an der
Schotterstraße abgeladen, was Bernhard Kleiner für den ersten Bauabschnitt bei
ihm geordert hatte: Zementsäcke, einen stattlichen Haufen schwarzen
Schiefersandes, der wie das Teergranulat erst noch in Kiepen umgefüllt werden
musste, Dachrinnen, Leitungsrohre, Kabel
und eine Miet-Mischmaschine. Näher als die zwei Serpentinen vom Hauptort herauf
an den unteren Dorfeingang ging es nicht. Der Rest würde harte körperliche
Schlepparbeit sein; zweihundert Meter über Stufen und steile Plattenwege hinauf
zur eigentlichen Baustelle. Es war zu befürchten, dass die Hälfte des Materials
über Nacht verschwunden sein würde, wenn Bernhard es nicht binnen eines Tages auf sein gesichertes
Terrain geschafft hätte.
Bernhard hatte im Morgengrauen bereits Bekanntschaft mit seinem
langohrigen Assistenten gemacht. Fulvio, der Dorfälteste, hatte ihm den
Graukittel als sconto für große, grob behauene Sandstein-Quader
überlassen, die der Deutsche ihm abgekauft hatte. Was für ein Trottel! Fulvio
hatte sich die ganze Zeit über die herumliegenden Dinger geärgert. Jetzt
schaffte der Deutsche sie fort und zahlte auch noch dafür. Kein Mensch würde
heutzutage noch diese Brocken verarbeiten. Laura, seine Frau, müsste dann nach
der Räumung des Trümmerfeldes nicht mehr zu ihrem Gemüsegärtchen an den oberen
Ortsrand. Jetzt würde sie einen Garten direkt vor der Haustür bekommen. Ein
Garten am Haus - das war für die Bewohner solcher Nester in den Bergen ein
Zeichen von echtem Wohlstand.
- Was der Esel, der Beppo hieß, ganz sicher nicht war. Kaum weniger
hinfällig als sein Eigentümer balancierte Beppo einen stattlichen Hängebauch
auf ziemlich zerbrechlich wirkenden Stelzen. Der Rücken hing so durch, dass
Bernhard, der von Eseln ziemlich wenig verstand, sich fragte, wie der Arme
überhaupt den Berg hochkommen sollte. Geschweige denn nur einen Sack Zement
dabei würde tragen können. Aber als er ihm instinktiv eine vorsorglich
eingesteckte Kohlrübe als Akt der Fraternisation hinhielt, glaubte er in den
aufmerksamen Augen des Tieres so etwas wie sein "Alterasino" zu
entdecken: Sturheit, Verschlagenheit aber auch ein Beharrungsvermögen, das keiner
beiden anzusehen vermochte...
Und dann hatten die beiden Sturköpfe mit ihrer scheinbaren
Sisyphos-Arbeit begonnen: Der 31jährige
Bernhard, der mit seinem lang gezogenen Adlerprofil und der hoch mögenden
Kopfhaltung eher anmutete wie ein britischer Gardeoffizier und der alterslose
Beppo, der mit dem Auflegen des Tragegeschirrs auf einmal seinen Rücken mit dem
"Jesuskreuz" auf der grauen Schulter durchstreckte und keinen
Hängebauch mehr hatte. Selbst bei zwei Zementsäcken auf jeder Seite bog sich
der Rücken des Esels nicht mehr durch, so dass Bernhard, der vor dem Tier nicht
zurückstecken wollte, seinerseits
ordentlich schulterte.
Der lange Deutsche hatte ebenfalls unsichtbare Kraftpotenziale an seinem
hageren Körper, die manchem Widersacher oder vorlauten Mitarbeitern auf den
Baustellen schon zum Verhängnis geworden waren. Das waren keine
Muskelprotzereien, sondern routinierte, abgestimmte Bewegungsabläufe aller
Gliedmaßen. Sie erweckten den Eindruck absoluter Mühelosigkeit. Als hätte der
Schlacks leicht selbst das Quantum des Esels bewältigt. Sie schafften so an die
15 Säcke pro Stunde. Am Ende der zweiten Stunde fanden sich dann die
"Rabenvögel" ein, denn die Kunde von den unsichtbaren Bärenkräften
Bernhards hatte sich zwischen den wenigen noch bewohnten Häusern schnell
herumgesprochen. Jetzt mit der Hitze musste der Mann doch wohl aufgeben...
Aber Bernhard richtete sich ganz nach dem Rhythmus von Beppo. Sie
machten nach jedem Aufstieg ein Päuschen, das der Esel bockig einforderte.
Tranken das herrlich kühle und mineralhaltig schmeckende Wasser aus der Fontana
und teilten brüderlich ein Stück Foccacia bevor sie leichtfüßig wieder
zur Schotterstraße hinunter trabten...
Aber dann war da in der Gasse auf einmal dieser penetrante
Ammoniak-Gestank, und die Bremsen fielen über sie her. Von den Monster-Hörnern,
die drohend den Weg versperrten, ganz zu schweigen. Bernhard spürte, wie sich
die Augen der "Raben" in seinen Rücken bohrten, als er erstmals auf
die neuen Hindernisse zustrebte. Er hatte seine bewährten deutschen Norm-
Arbeitsstiefel mit den Schutzkappen an und patschte mitten in die Ochsenfladen
hinein, dass es nur so gegen die Hauswände spritzte. Und als sich die
Titanen-Köpfe nicht in ihre Höhlen zurückziehen wollten, trat er dem einen mit
frisch gedüngter Sohle fest genug gegen die weichen Nüstern, so dass auch der
andere diese Schmerzen ahnen konnte. Diese Behändigkeit trotz der Last auf
seiner Schulter nötigte den Alten schon Respekt ab. Sie nickten einander
beifällig zu. Doch noch immer war das sardonische Lächeln aus ihren von Sonne
und Alter plissierten Gesichtern nicht ganz verschwunden, denn jedermann kannte
Beppos Angst vor den spitzen Ochsenhörnern.
Und richtig, kaum war Bernhard, der sich den Zaum des Esels an den
Werkzeuggürtel gehakt hatte, vorbei und ein paar Stufen weiter oben, schwangen
die Riesenschädel der Ochsen wieder auf die Gasse hinaus. Die zwei Lastenträger
waren in der Falle, weil der Esel sich nicht weiter bewegte.
Wären die Ochsen Bauarbeiter von Bernhard gewesen, so hätten sie nun
gewusst, dass damit die zweite Reizstufe des stoischen Deutschen erreicht war.
Der drehte sich - immer noch ruhig - um die bepackte Achse, womit er die Longe
zum Esel verkürzte und sich beim Abstieg nicht verhedderte.
Auf einer Stufe höher angekommen, trat
er nochmals zu. Diesmal nach beiden Seiten, und jetzt tat es richtig weh, weil
die gezielten Tritte auf die Nasenringe der Tiere trafen. Es erhob sich ein
ohrenbetäubendes Gebrüll, und die annähernd eine Tonne schweren Ochsen bäumten
sich dermaßen in ihren Gewölben auf, dass man das Gefühl bekam, die darüber
liegenden Häuser würden von einem Erdbeben erschüttert.
Beppo, der schlaue Esel, nützte die schmerzliche Verwirrung, um an Scylla und Charybdis vorbei zu klettern. Aber
dann blieb er eine Stufe oberhalb - außerhalb der vermeintlichen Reichweite der
Hörner - plötzlich bockig stehen, als wolle er das Herausschießen der wütenden
Ochsenköpfe noch einmal regelrecht
provozieren.
Und die dummen Ochsen fielen drauf herein. Als sie mit mächtigem Schädelschwänken
nachtarocken wollten, zeigte sich Beppo Bernhard als Bruder im Geiste zumindest
ebenbürtig: Trotz seines in Hangneigung beladenen Schwerpunktes keilte er mit
seinen zierlichen Hufen über die Hinterhand paarweise zweimal elegant aus - wie
ein Lipizaner in der Wiener Hofreitschule - und traf die Monster noch einmal
hart an den schmerzenden Nüstern.
Bei den nächsten Anstiegen verschwanden die Köpfe dann in den Höhlen,
sobald sie die beiden zu Gesicht bekamen. Bis Mittag war bis auf die Mischmaschine
alles Material zu Bernhards Baustelle hoch geschafft. Die beiden Recken gönnten
sich im Schatten der eingestürzten Altbauten eine ausgiebige Siesta, in der der
Esel vom Geschirr befreit an eine schattige Mauer gelehnt schlief und Bernhard
mit einem Sandsteinquader als Kopfkissen in das Azur des Himmels starrte und
verzweifelt darüber nachdachte, wie er die Mischmaschine herauf schaffen
sollte.
Dann war auch er eingeschlafen. Als er erwachte, stand die Mischmaschine
an einem geeigneten Platz vor seinem bröckeligen Tor. Ganz kommentarlos hatten
die Alten ihm mit Ochsenkraft ihren Respekt gezollt. Na, nicht so ganz, denn
ein noch feuchter Ochsenfladen stank breit geplatscht von seiner Eingangsstufe
und beherbergte schon massenhaft dicke, grün schillernde Fliegen.
In diesem ersten Jahr als Ruinen- und Grundbesitzer in Italien konnte
Bernhard weder Italienisch noch hatte er einen Führerschein, der ihm eine
unabhängige Mobilität ermöglicht hätte. Zum Telefon, das nur mit Gettoni aus der Bar Tabacchi im Capo
luogo funktionierte und auf Fernamtvermittlung angewiesen war, musste er
fast tausend Stufen hinunter und wieder zurück. Für Behördengänge war er auf
den zweimal am Tag verkehrenden Bus angewiesen oder er klemmte sich zu einem
der Olivenbauern in die für ihn viel zu kleinen Führerstände der Ape; jene nach Zweitaktgemisch
stinkenden, dreirädrigen Lieferkarren, die bergab aus jeder Kurve zu fliegen
drohten und bergauf so langsam wurden, dass man am liebsten ausgestiegen wäre,
um zu schieben.
Was Bernhard mit Worten noch nicht erreichen konnte, schaffte er mit
seiner Hände Arbeit. Die einfachen Menschen im Appenin machten ja ohnehin nicht
viel Worte. Aber sie wussten handwerkliche Fähigkeiten über alle Maßen zu
schätzen. Es war dies ja eigentlich nur
als ein erster Urlaub zum Grunderwerb und zur Regelung möglicher notarieller
Angelegenheiten gedacht gewesen. Sein
Konzept sah vor, dass er künftig die saisonal bedingte Arbeitslosigkeit als
Maurer in Deutschland hier in Italien nutzte, um das in die Tat umzusetzen, was
ihm als Achtjähriger in Vorpommern während des gnadenlos kalten letzten
Kriegswinters geweissagt worden war und was er sich daraufhin selbst geschworen
hatte:
Ich will ein Schloss im Himmel, und nie wieder frieren müssen!
Bernhard war von einer zögerlichen, reservierten Gott-Gläubigkeit, die
keiner Religion anhing und beherzigte eine unumstößliche, persönliche Moral, so
dass ihn Freunde schon mal flapsig in Anspielung auf seine Tätigkeit den
"Freimaurer" nannten. Jedenfalls hatte er es als Fingerzeig des
Himmels empfunden, als er erstmals bei der Suche nach seiner südlichen
Traumimmobilie auf das Wehrdorf Castellinaria gestoßen war.
Zunächst hatte ihm etwas vorgeschwebt, was die Einheimischen einen Rustico nannten - ein
verlassenes Gemäuer auf einem ordentlichen Stück Land in Meernähe, auf dessen
Grundriss man neu bauen durfte. Aber dafür reichte das Geld nicht, das seine
Frau Traute und er zur Seite gelegt hatten, seit sie nach zwei Fehlgeburten
wussten, dass sie kinderlos bleiben würden. Das waren rund 6000 Mark - ein
halber Jahresverdienst. Aber was kostet schon ein Traum? Der Immobilien-Makler
hatte ihm im schlechten Deutsch beschieden, dass er sich für diese Summe schon
selbst auf die Suche begeben müsste, ihm
andererseits aber nachsichtig lächelnd den Tipp gegeben, sich in den weitgehend
verlassenen Wehrdörfern des imperischen Hinterlandes umzusehen.
Weil er ja im Urlaub war, hatte er sich sofort auf die Wanderung
begeben. Am ausgetrockneten Flussbett des Impero entlang war er im gleißenden
Licht in Richtung Berge marschiert. Kurz hinter der dreibogigen Römerbrücke von
Pontedassio blickte er zu den Dörfern hinauf, die wie Perlen an den Zacken
einer Krone hintereinander abgestuft und aufgereiht lagen, als seien sie von
irdischen Wesen uneinnehmbar. Leuchtende Kleinodien im changierenden Grün von
Oliven- und Eichenhainen, die auf Terrassen in den Himmel zu klettern schienen.
Bernhard atmete so tief ein, als wolle er diesen Augenblick nicht nur optisch
festhalten. Der heiße Duft von wild wachsendem Rosmarin, von Salbei, Lavendel
und Ginster drang in Nase und Lunge. Samt der vorauseilenden Erkenntnis, dass
er es gefunden hatte.
Da oben, im höchsten Ort würde er es
bauen und es würde kein Luftschloss sein, wie es der Ortsname verheißen mochte:
Castellinaria.
Etwas über eine Stunde später in voller Mittagshitze war er an der
steilen Ostflanke des um diese Zeit wie komplett ausgestorben wirkenden Ortes
angekommen und blickte durch die leeren Fensterhöhlen und die Breschen im alten
Gemäuer auf die Weinberge des tiefer gelegenen Nachbarortes, der in den
azurblauen Dunst des Luftlinie nur fünf Kilometer entfernten Mittelmeeres
ragte.
Hätte das Schicksal es anders mit ihm gemeint gehabt, Bernhard wäre
nicht nur ein Meister seines Faches und später ein umsichtiger Bauleiter
geworden. In diesem Moment wurde er nämlich von einer übermächtigen Vision
gepackt, wie dies alles aussehen könnte, wenn es denn seines und er auch sein
eigener Baumeister wäre.
"Si vende", sagte da eine Stimme hinter ihm.
"Si! - Quanto?", antwortete Bernhard ohne sich umzudrehen mit
einem von gut einem Dutzend italienischer Vokabeln, die er daheim von seinen
Gastarbeiter-Kumpeln aufgeschnappt hatte.
Doch so einfach war es zunächst nicht, um dann doch wieder viel
unkomplizierter zu sein als in Deutschland. Weil Bernhard kletternd umrissen
hatte, was er haben wollte, hatte er es auf einmal nicht allein mit dem ersten
Mann zu tun, der ihn angesprochen hatte, sondern mit dreien. Und weil er für seine
Frau Traute noch ein Stück Garten wollte, kam noch eine Witwe hinzu - und
Fulvio, dessen Sandsteinquader es ihm angetan hatten.
Bernhard hatte die ruhige Schönheit dieser Steine mit seinem geschulten
Blick sofort erkannt, obwohl sie wie Kraut und Rüben auf dem Nachbargrundstück
verstreut lagen und zum Teil schon dicht von Brombeerranken überwuchert wurden.
Auf seinen unfreiwilligen Wanderungen hatte er genug Gelegenheit gehabt, die
meisterliche Schicht-Technik ligurischer Trockenmauern zu studieren. Sie
stützten die Terrassen der historischen
Olivenhaine zum Teil seit vielen Jahrhunderten unverrückbar. Hier und da waren
sogar noch die Treppen aus massiven Trittsteinen zu sehen, auf denen die
Bauern die bisweilen zehn Meter hohen
Mauern erklommen; lange, schmale Quader, die hintereinander versetzt zur Hälfte
in der Mauer verklemmt waren und auch von gelegentlichen Erdbeben nicht
herausgeschüttelt wurden.
Man musste einen Blick für die Formen und Dimensionen der Steine haben,
um sich eine Vorstellung von den Möglichkeiten der Gestaltung machen zu können.
In den ersten Momenten seiner Visionen hatte Bernhard diese erkannt und daran
eine praktische Überlegung geknüpft: Irgend ein Steinmetz hatte sich vor Jahrhunderten
die Mühe gemacht, diese Sandstein-Quader zu brechen und zu behauen und ein
Maurer hatte sie sich so geordnet, dass daraus ohne Mörtel oder sonstiges
Füllmaterial ein solides Mauerwerk geschichtet werden konnte. Es ging also
lediglich darum, für die Grundmauern ein mittelalterliches Puzzle mit modernen
Materialien zusammen zu fügen, und Bernhard wusste, dass die unverfälschte
Struktur grandios aussehen würde. Dass die Puzzle-Teile nicht selten bis zu
einem halben Zentner schwer sein würden, focht ihn nicht an. Wozu hatte er denn
den guten alten Beppo?
Fulvio staunte nicht schlecht, als sich Bernhard bei ihm bis zum Winter
verabschiedete und ihm seinen Sarg großen "Zauberkasten", der per
Bahnfracht nachgekommen war, zur Aufbewahrung anvertraute. Mit einer Mischung
aus Hochachtung, Staunen und ein wenig
Missgunst betrachtete er die neuen Grundmauern, die der Deutsche in Rekordzeit
aus seinen "wertlosen" Steinen zusammengefügt hatte. Mit großen
Stahlwinkeln, Wasserwaagen und Richtschnüren aus der Kiste hatte er aus den
Vorgaben längst verblichener ligurischer Meister ein Mauerwerk unerhörter
Ästhetik geschaffen. Selbst das fast noch zur Gänze erhaltene Castello aus dem
elften Jahrhundert im Zentrum des Dorfes wies nur an der Hauptfront eine derart
erhabene Struktur auf:
Je fünf ähnliche und doch nicht gleiche, sehr glatte Quader stützen
rechts und links vom Eingang einen fast zwei Meter breiten und fünfzig
Zentimeter hohen, leicht gewölbten Portalstein. Die zwei Fensterstöcke zur Gasse
links und rechts vom Eingang waren Miniaturen dieser Konstruktion. Wenn die
Mittagssonne der Länge nach in die Gasse schien, begannen diese Einfassungen
honiggelb aus dem ockerfarbenen Netz des übrigen, rauer behauenen Mauerwerkes
zu leuchten. Niemand konnte sich dieser archaischen Schönheit verschließen, und
in dem Maße, in dem Bernhard den alten Steinen zu neuem Glanz verholfen hatte,
schien auch die Fontana am Platz vor dem Castello plötzlich das Wasser eines
erquickenden Jungbrunnens zu spenden. Jedenfalls wehte entfacht vom Tun des
Deutschen ein neuer Wind durch die fast schon ausgestorbenen Gassen. Das waren weder
Scirocco noch Maestrale, keine Libecciata und auch keine Tramontana
- dieser Wind hieß Hoffnung und Zukunft für ein verlassenes Dorf. Der
tedesco pazzo hatte sich verblüffend schnell den nachbarschaftlichen
Respekt als vicino
Bernardo verschafft.
2.
Kapitel
Die kalte Zeit
Als Bernhards Vater in den Krieg zog,
verspürte der Sechsjährige keine Trauer des Abschieds, sondern Erleichterung.
Erst als die Feldjäger keine neun Monate später die Meldung überbrachten, dass
sein Vater niemals mehr heimkommen würde, erinnerte er sich an diesen Moment
und sein grenzenlos egoistisches Gefühl des befreit Seins.
Seit er gerade laufen konnte, war Bernhard ein wildes raumgreifendes
Kind gewesen. Über den enormen Bedarf an Raum hatte sich ein Gefühl für Zeit
bei dem Jungen zunächst nicht entwickeln können. Selbst wenn er die Gänse dabei
hatte, ging es Kilometer weit an den Entwässerungsgräben entlang und über
Moorwiesen schier unendlicher Dimensionen, die den Rückweg vergessen ließen.
Doch für jede Unpünktlichkeit, unproduktive Tagträumerei oder Verspieltheit
setzte es vom Vater unbarmherzige Prügel - mal mit der bloßen Hand und bei
schwereren Verfehlungen auch mit dem steifen Bauerngürtel.
Die Kleiners waren Kleinbauern und stramme, bekennende Sozis in einem
Umfeld, das noch dem streng hierarchischen deutschen Landjunkertum nachhing.
Die zwei verwitweten Großväter, Vater und Mutter sowie er und sein zwei Jahre
jüngerer Bruder samt der bereits im Krieg geborenen Schwester waren zurechtgekommen
mit dem, was die kleine Landwirtschaft abwarf. Aber was würde jetzt werden, da
der Vater - wie es hieß - auf dem "Feld der Ehre" geblieben war?
Bernhard, der erst in die Schule kommen sollte, begriff den Unterschied
zwischen Ähre und Ehre akustisch nicht. Das war in den mecklenburgischen oder
pommerschen Idiomen dort im Grenzland zwischen Brandenburg und Pommern kaum zu
differenzieren. Er stellte sich vor, der tote Vater läge irgendwo in einem
dieser für einen Knaben unüberschaubaren Kornfelder seiner Heimat. Seine Leiche
würde vielleicht erst im Herbst bei der Mahd gefunden... Aber aus einem noch
größeren Missverständnis zwischen ihm und dem Vater war die nicht zu
schulternde Bürde geworden, die nun auf dem Knaben lastete:
Als hätte Carl Kleiner im traurig an seinem hageren Körper schlotternden
Feldgrau geahnt, dass es ein Abschied für immer von seiner Familie sein würde,
hatte er das "Schiffchen" des einfachen Gefreiten vom Kopf gezogen
und sich so vor seinen Ältesten hingekniet, dass er ihm mit ernsthaften Blick
direkt und unausweichlich in die Augen sehen konnte:
"Wenn ich nicht zurückkomme, bist du der Mann im Haus! Die Nazis
werden den Krieg verlieren. Du bist mir dafür verantwortlich, dass den Kleinen
nichts passiert. Du weichst Ihnen nicht von der Seite. Und Schluss mit dem Zeit
verbummeln!"
Dann hatte er ihm seine silberne Taschenuhr in die kleine Hand gelegt,
ihn fest umarmt und einen Kuss auf die Stirn gedrückt. Bernhard konnte sich an
eine ähnlich zärtliche Geste in seiner gesamten bisherigen Kindheit nicht
erinnern.
Weil aber diese einzigartige Wärme nun von der Erinnerung ein ums andere
Mal aufs Neue in seiner Seele entfacht wurde, war die daran geknüpfte
Aufgabenstellung zugleich auch stete Mahnung an sein Gewissen. Die einzige
väterliche Liebesbekundung geriet somit zur Bürgschaft.
Zum Raum hatte Bernhard also jetzt diese kostbare Zeit, die tief
verborgen in seiner Hosentasche bei jedem Schritt, den er fortan tat, an die
Innenseite seines rechten Oberschenkels schlug. Nicht, dass die väterliche Uhr
seine Räume kleiner gemacht hätte, aber sie gab Hin- und Rückweg eine Dimension
von garantierter Pünktlichkeit. Sie gab allen - auch den noch so kleinen
täglichen Tätigkeiten - eine von ihm selbst immer knapper bemessene Frist: zehn
Minuten Holz rein schleppen, drei Minuten Herd anfeuern, zwei Stunden Gänse
hüten, drei Stunden mit den Geschwistern spielen und sie beaufsichtigen,
fünfzehn Minuten Wäschekorb tragen und Mutter die Stücke zum Trocknen anreichen
- und so weiter, und so weiter.
Als er im Frühjahr 1944 in die einklassige Dorfschule kam, hatte das
"Meistern" der Zeit ihn bereits zu einer Diszipliniertheit reifen
lassen, die sogar seiner Lehrerin auffiel: Weil ihm die Zeit nie zu lang wurde,
und er im Rechnen bereits mühelos mit den Zweit- und Drittklässler-Jahrgängen
mithielt.
Weniger toll fanden es die beiden kleineren Geschwister. Im Windschatten
von Bernhards Lausbübereien hatten sie auf dem kleinen Hof bislang ein
Kinderdasein in fast absoluter Freiheit geführt. Nun erlebten sie einen Bruder,
der in den Stunden, in denen ihm die kleinen Kleiners anvertraut waren, einen
Gehorsam verlangte und ihnen eine Obhut auferlegte, die noch nicht einmal die
Erwachsenen verstanden. Aber er hatte ihnen auch nie von der Verantwortung
erzählt, die ihm der Vater beim Abschied aufgebürdet hatte.
So machte ihm auch der "Straßenkampf" mit den größeren Kindern
der Großbauern immer deutlicher, dass er nun zwar mit Raum und Zeit gut
zurechtkam. Es fehlte ihm jedoch noch die Kraft als dritte Dimension. Ja, er
war zäh, schlaksig und groß für sein Alter, aber dünn wie eine Bohnenstange.
Seine Ungeduld konnte gegen diese naturbedingten Vorgaben des Wachstums nun
einmal nichts ausrichten. Das wurmte ihn sehr. Also mutete er sich zur
seelischen auch manch physische Last zu, die ihn täglich erneut an den Rand der
Erschöpfung führte...
Die Bürde des Vaters, die Stimme des Vaters in seinem Bewusstsein, da
ist er sich heute sicher, hatte Bernhard auf geheime Weise vorbereitet. In
seinen unauslöschlichen Erinnerungen wurde ihm später auch deutlich, dass er in
seinem ersten Schuljahr zwischen zwei massiven Propaganda-Blöcken seiner
Naivität beraubt wurde. Während die Lehrerin, ein kurvenreiches Klischee von
einer BDM-Blondine, im Herbst 1944 immer noch nicht müde wurde, die sich in die
Kinderherzen einnistenden Ängste vor der nahenden Gewalt mit Erzählungen von
der Einzigartigkeit des Führers und der alles entscheidenden Wunderwaffe zu
zerstreuen, wurde daheim spekuliert. Der Vater der Mutter - im Herzen immer
noch KPD-Mitglied - und der Vater des Vaters - ein Anhänger der
Sozialdemokratie - stritten abends mit gedämpften Stimmen am Herdfeuer. Sie
diskutierten - mit gewissem tödlichem Risiko - ob wohl die unaufhaltsam
heranrückenden Russen den Bauern und Arbeitern im Nachkriegsdeutschland endlich
die so lang erhofften bessere Leben brächten.
Vielleicht war die Ergebnislosigkeit dessen der Grund gewesen, weshalb
sie immer noch am spärlichen Feuer saßen, als die anderen Nachbarn sich schon
den ersten von der Oder kommenden Flüchtlingen
und ihren Trecks angeschlossen hatten.
Nicht, dass Hitlers historische Fehleinschätzung über Schlagkraft und Taktik der Roten Armee irgendetwas
am Kollektivschicksal der Vertriebenen hätte verschlimmern können. Aber hier
ging es um individuelle Tragödien. Sechs Schicksale von etwa fünf Millionen
Menschen, die in jenen Tagen auf der Flucht waren. Wenn es schon für die
Nazi-Militärstrategen nicht vorstellbar gewesen war, wie sollten dann
Zivilisten mit diesem enormen Tempo gerechnet haben.
Ab Beginn der vierten Januarwoche 1945 rannte die Rote Armee -
ukrainische Verbände im Süden und weißrussische im Norden mit bis zu 80
Kilometern täglich bei ihrem Vormarsch auf Berlin auch über Teile Vorpommerns
hinweg. Und das bei Temperaturen von bis zu 25 Grad minus. Die Kleiners, die
auf ein Gerücht gehört hatten, in Greifswald und Stralsund würden
Flüchtlingsschiffe warten, kamen nur noch bis zur Peene. Dann waren sie quasi
von den Russen oben und unten überholt worden. Die eigenen Wehrmachtsverbände
jagten die Trecks bei ihrem rücksichtslos angeordneten Rückzug auch noch in die
Straßengräben.
Der Film der Erinnerung im Gedächtnis des bald achtjährigen Bernhard
Kleiner über diese Tage der Flucht - entwickelt, geschnitten und auf Lebenszeit
gespeichert im Hinterkopf - hat so gar nichts damit zu tun, was dem
Siebzigjährigen zu diesem Thema jüngst in Film und Fernsehen vorgeführt wurde.
Die dramatische Ästhetik des Kamerablicks von außen über weite Schneefelder und
grafisch angeordnete Alleen mit endlosen Menschen- und Wagenkolonnen bot sich
ja den Flüchtlingen in der öden Kolonnenmarschiererei nicht. Selbst auf den
sonst so heimeligen Nebenstraßen nicht, die die ortskundigen Kleiners gewählt
hatten, um dem Rückzug der deutschen Landser und dem weiteren Anblick von in
den Frostböden nicht zu beerdigenden Erfrierungs- und Erschöpfungstoten zu
entgehen.
Die Bilder, die im Alter auf einmal wieder häufiger in den Träumen
erschienen, waren von einer unbarmherzigen Tiefenschärfe, die auch durch die
spätere Kenntnis über historische Gesamtzusammenhänge nicht beeinflusst wurde.
Es sind Bilder in der richtigen Abfolge, aber isoliert und - trotz Bernhards
unkindlicher Disziplin unter diesem speziellen Aspekt - ohne Bezug zu Raum und
Zeit. War dieser viel zu späte und aussichtslose Fluchtversuch nur eine Frage
von ein paar Tagen oder gar von Wochen gewesen? Bernhard konnte es, da lange
verdrängt, nicht mehr rekonstruieren und er kann auch niemanden mehr fragen,
weil alle anderen aus der damaligen Fluchtgemeinschaft nicht mehr lebten. Es blieben
quasi Momentaufnahmen oder Filmschnipsel:
Der Aufbruch war für die Kleiner-Knaben zu allererst ein Abenteuer. Er
war von der Mutter betrieben worden, nachdem Flüchtlinge in den Dörfern, durch
die sie kamen, immer schauriger über Massenvergewaltigungen von Frauen und
Kindern und Vertreibungen durch Rotarmisten berichteten.
Friede, die Belgier-Stute, war ihnen von den letzten verzweifelten
Requirierungen geblieben, weil sie trächtig war. Sie wurde vor einen
Kastenwagen gespannt, der dem russischen Panje-Wagen nicht unähnlich war. Die
Opas hatten zwei Heuraufen in Zeltform darauf festgezurrt und die Plane einer
Rübenmiete darüber gespannt. Das sah komisch aus, - wie ein rollendes
Indianer-Zelt - hielt aber die jeweiligen Insassen mit Stroh und Decken
einigermaßen warm, weil so der bisweilen schneidende Wind halbwegs abgehalten
wurde. Die Kleiners hatten außer dem Hausrat und ein paar persönlichen Sachen
nichts von Wert. So wurden eher Gläser mit Rübensirup, Gänseschmalz und
gefrorene Butter als Wegzehr unter das Stroh gepackt. Auch die auf Vorrat im
Ofenrohr gebackenen Brotlaibe waren gefroren. So hielten sie sich wenigstens und verschimmelten nicht.
Die zwei Opas sahen am ehesten so aus, als würden sie schnell schlapp
machen. Deshalb war klar, dass sie zur Stammbesatzung dieser merkwürdigen,
rollenden Arche gehören würden - ebenso wie der kleine Bruder und die Schwester
sowie ein betagter, auf einem Auge erblindeter Hahn und eine noch recht rüstige
Legehenne. Ein Ganter und eine Gans konnten ebenfalls von diversen Zugriffen in
Sicherheit gebracht und in Weidenkäfigen verladen werden. Blieb also nur noch
Platz für einen weiteren Passagier. Seine Mutter und Bernhard wollten sich
darin abwechseln, zu Fuß gehend, Friede am Halfter zu führen. Vorne ungeschützt
dem Wind ausgesetzt auf der Deichsel zu sitzen, daran war bei diesen
Temperaturen überhaupt nicht zu denken gewesen.
Das Abenteuer hielt die erste Zeit an. Nun erwies es sich als
Bestimmung, dass Bernhard nie ein Kind war, das vor längeren Märschen
zurückschreckte. Und so kamen sie trotz des trächtigen Zugpferdes recht gut
voran, indem sie sich halbstündig abwechselten. Mutter Kleiner hatte in weiser
Voraussicht für ihren Sohn ein Paar ihrer Arbeitsstiefel mit Filzgaloschen und
Stroh innen gegen die Kälte präpariert und das alte Außenleder mit Gänsefett
getränkt. Harte Winter waren in diesem flachen, küstennahen Land ja keine
Seltenheit und man wusste mit ihnen umzugehen. Aber die gnadenlos abstrafende
höhere Macht sorgte nun für Temperaturen, die das bislang Erlebte vor allem bei
Einbruch der Dunkelheit dramatisch unterbot.
Das Abenteuer war in dem Moment zu Ende, da der kleinersche Wagen eines
Abends in einen dieser Treck-Sammelpunkte rollte, die sich an den großen
Kreuzungen der Landstraßen quasi von selbst formierten. Da sie wegen des
geringeren Tempos stets spät dran waren, blieb meist nur ein Platz fern der
schützenden Häuser und nahe der wohlweißlich außerhalb errichteten Latrinen...
Wie viele Menschen waren da schon durchgekommen? An die dreißig Grad
minus nachts sorgten dafür, dass das, was aus den Körpern ausgeschieden wurde,
sofort gefror. In den Löchern der Donnerbalken bildeten sich so herausragende
Kot- und Urinpyramiden, die die zu spät Gekommenen bestraften. Der bestialische
Gestank und die evidente Gefahr, sich bei dieser mangelnden Hygiene
anzustecken, wurden aber in Kauf genommen. Sich irgendwo im Freien bei der
Verrichtung der Notdurft Erfrierungen zu holen, war weit aus gefährlicher.
Die Nächte unter diesen Bedingungen mit ihrer beengten körperlichen Nähe
boten zwar einerseits auf der Ladefläche des Wagens verhältnismäßig mehr Wärme,
aber sie zehrte auch an den Nerven. Die Opas drehten durch. Anfangs waren es
noch politisch motivierte Zänkereien, aber dann geriet das ganze zwischen den beiden aus den Fugen. Der etwas
jüngere KPD-Opa bekam aus unersichtlichem Grund vom SPD-Opa in immer
schnellerer Abfolge Kopfnüsse auf immer die gleiche Stelle. Begleitet wurde
diese Aktion von zusammenhanglosem Gebrabbel, so dass die kleinen Kleiners
zunehmend Angst bekamen und Bernhard aber auch seine Mutter befürchteten, beide
verlören komplett den Verstand. Zumal sich nach einem Tag - dort wo die
Kopfnüsse unterhalb des verbliebenen Haaransatzes landeten - eine heftige Beule
bildete, die sich wenig später blutunterlaufen auch noch entzündete und
aufbrach.
Aber da waren sie schon an der Peene. Bei Neukalen war aus der Richtung
Kummerower See im Süden und vom Stettiner Haff im Nordosten - wie das Grollen
und Wetterleuchten eines Gewitters - der
Krieg zu ahnen, ohne dass die Kleiners je direkt mit ihm in Berührung kommen
sollten. Die schlechten Nachrichten aus dem eingekesselten Ostpreußen, aus
Königsberg und Danzig überschlugen sich. Aber am erschütternsten waren die
Gerüchte über das Schicksal eines Flüchtlingsschiffes aus Gotenhafen. Hatten ja
auch sie die Illusion gehabt, per Schiff in den vermeintlich sichereren Westen
zu gelangen.
Der Weg nach Greifswald schien ohnehin bereits blockiert, und der eine
Opa hatte immer noch nichts Besseres zu tun, als auf den anderen Opa
einzuprügeln. Damit aber retteten sie ihrer Familie sogar möglicherweise
indirekt das Leben. Denn viele, die dann weiter zogen, erlebten das Ende des Winters
nicht. Die junge Witwe jedoch war vor
allem am Ende ihrer psychischen Kraft und entschied resigniert:
"Sterben können wir auch zu Hause!"
Am nächsten Morgen kehrten sie also um, und die Sonne sandte ihnen ein
Zeichen. Sie schien ihnen ins Gesicht und sorgte dafür, dass die Minus-
Temperaturen ein wenig erträglicher wurden. Es war wie das Schweben in einer
bunt schillernden Seifenblase. Unwirklich zogen sie gegen den Flüchtlingsstrom
auf Abwegen durch eine scheinbar heile Welt.
Deutschland ein Wintermärchen in all diesem Chaos? Mit jedem Kilometer,
den die Kleiners sich der Heimat näherten, normalisierte sich das Verhalten der
Opas, die zeitweilig sogar die Führung übernahmen, damit ihnen auf
Schleichwegen niemand entgegenkam, der unangenehme Fragen stellte oder gar noch
Schlimmeres tat. Es bleibt auf immer ein Rätsel wie sie unbehelligt nach Hause
kamen. Die kleinen Höfe in ihrem Zeilendorf Pangerow waren ausgestorben aber
offenbar unversehrt. Das eigene windschiefe Walmdachhaus, Fachwerk mit im Schneelicht
leuchtend roten Backsteinen, empfing sie, als seien sie nur kurz fort gewesen.
Ein paar Handgriffe nur, dann war das Leben fast wie vorher. Was für ein Luxus
war nun dessen einfache Behaglichkeit.
- Doch die war trügerisch. Denn eine unsichtbare Reisebegleiterin hatten
sie mitgebracht: Die Diphtherie. Das Hannele erkrankte als erste, dann
erwischte es den kleinen Robert und schließlich beide Opas. Nur Mutter Kleiner
und Bernhard, die sich eigentlich mit den eingefangenen Bakterien am längsten
in der eisigen Luft aufgehalten hatten, blieben verschont und unternahmen
verzweifelte Versuche, die in dieser Mangelversorgung tödliche Krankheit mit
primitivsten Mitteln zu bekämpfen. Natürlich gab es weit und breit keinen Arzt
mehr und so etwas wie frischen Zitronensaft erst recht nicht. Da die
unverkennbare Rachenbräune jedoch schon in den vergangenen Kriegsjahren hie und
da grassiert hatte, verfügte Martha Kleiner über Grundkenntnisse, sie zu
erkennen und was mit den Patienten zu
geschehen hatte, aber auch welche Schutzmaßnahmen die nicht Befallenen
ergreifen sollten. Martha und Bernhard zogen in den bis auf Friede leeren
Stall. Jeder Patient wurde in einem separaten Zimmer unter Quarantäne gestellt,
die Küche zur Desinfektionsstation mit permanent kochenden Wasserkesseln.
Noch immer waren die Russen nicht gekommen. Der unermüdliche Bernhard
klapperte die ganze Umgebung heldenhaft nach Hilfe ab. Aber wenn er dann schon
mal jemanden überraschend antraf, wurde er meist feindselig abgewiesen,
besonders dann, wenn er vom Diphtherie-Verdacht bei seinen Geschwistern und
Großvätern berichtete. Die verheerende Ansteckungsgefahr war in diesem Teil
Deutschlands in guter Erinnerung. Doch Bernhard gab nicht auf. Was er mit der Gewissensstimme seines Vaters im Kopf
leistete, war für ein Kind seines Alters übermenschlich. Aber auch seine
Eingebungen waren es.
Weil Kuhmilch nicht vorhanden war, probierte er, ob die hochträchtige
Friede bereits laktierte. Und siehe da, für eine Glasflasche täglich reichte
es. Seine Geschwister kamen aber nicht nur in deren heilenden Genuss. Bei
seinen Wanderungen mit den Gänsen hatte er oft eine mysteriöse Mecklenburgerin besucht, die in
einer Kate an einem kleinen Teich hauste und ihren Lebensunterhalt mit dem
Sammeln von Pilzen, Kräutern und allerlei Beeren bestritt. Sie war gelegentlich
auch mal Hebamme, aber in den vergangenen Jahren häufiger das Gegenteil, wenn
sich die Kriegsbräute zu allein gelassen
gefühlt und nicht aufgepasst hatten...
Auf Gutglück stapfte er einige eisige Kilometer über die entlegenen
Felder und nutzte des Öfteren den Schutz der vom Wind blank geputzten,
zugefrorenen Entwässerungsgräben. Was wären das für den dem Knabenalter so jäh
entrissenen Bernhard vor kurzer Zeit noch für tolle Glitschen gewesen. Doch
jetzt beschleunigten sie nur sein ernsthaft zielgerichtetes Fortkommen.
Nach etwa einer Stunde sah er das Hexenhäuschen unter Birken stehen.
Doch schon von Ferne bot die Kate einen verlassenen Eindruck. Unberührte
Schneeflächen rundherum machten deutlich: hier war seit dem Schneefall niemand
mehr gewesen. Bernhard wollte sich gerade umdrehen, als er sah, wie sich aus
dem Ofenrohr, das schwarz und schief aus den Holzschindeln ragte, leichter
weißer Rauch kräuselte.
Er hastete ohne nachzudenken direkt über das verharschte Feld auf die
Hütte zu. Ein ums andere Mal stolperte er und fiel hin. Die scharfen Kristalle
schnitten in seine löchrigen Fäustlinge und er machte dabei auch einen
schrecklichen Lärm. Aber er war ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht argwöhnisch.
"Muhme Alice. Muhme Alice!" Er trommelte gegen die verrammelte
Tür an der rückwärtigen Wand der Behausung. Es verging einige Zeit, dann hörte
er wie innen der schwere Riegel bewegt wurde.
"Bernhardchen? Bernhardchen!... Wat biste jroß jeworden. Wat
machste denn hier so janz alleine?" Dabei spähte sie misstrauisch in alle
Richtungen, als vermute sie ganz das Gegenteil.
Es sprudelte nur so aus ihm heraus. Von der Flucht, von der Rückkehr,
von der Diphtherie. Alice zog ihn darauf hin heftiger in die Hütte, als es
notwendig gewesen wäre. Drinnen in dem einzigen Raum war es wärmer, als es der
spärliche Rauch hätte vermuten lassen. Durch die frische, kristallene Luft, die
er über eine Stunde eingeatmet hatte, war ihm der strenge, weibliche
Körpergeruch heftiger und anders bewusst als durch die in jüngster Zeit
erzwungene Tuchfühlung zu seiner Mutter. Muhme Alice hatte nur ein grobleinenes
Nachthemd an und war barfuss.
Ohne dass er die aufkommenden Erinnerungen schon als erste sexuelle
Regungen zuordnen konnte, erinnerte er sich in diesem eher unpassenden
Augenblick daran, wie er die Muhme im vergangenen Herbst heimlich beim Baden in
ihrem Weiher beobachtet hatte. Die langen schwarzen, von weißen Strähnen
durchzogenen Haare, die sie normalerweise als strengen Dutt trug, hatten ihr
tropfnass bis ans Hinterteil gereicht, dass ihm fast so wuchtig erschienen war,
wie das der trächtigen Friede. Sie hatte sich zum Trocknen auf dem kleinen Steg
mehrmals um die ganze Körperachse gedreht, und Bernhard hatte voll innerer
Unruhe aus seinem Versteck unter den Birken die enormen Brüste und den
bedrohlichen Haarbusch zwischen ihren Schenkeln betrachtet. Wäre Bernhard ein
paar Jährchen älter gewesen, hätte er die Muhme Alice nicht als alt, sondern
vermutlich als attraktive, vollreife Schönheit wahrgenommen.
Oben auf der Schlafempore über dem Kanonenofen, knarzte die Bettstatt,
aber Bernhard tat so, als höre er das nicht. Die Muhme war nicht allein, und
Bernhard registrierte etwas im Unterbewusstsein, das ihm erst viel später
wieder in Erinnerung kommen sollte: An den Trockenstangen hingen Mantel und
Hose in Feldgrau und auf dem Boden standen mit Heu ausgestopfte
"Knobelbecher" wie sie auch der Vater bei seinem Abschied getragen
hatte.
Ob die Muhme merkte, dass Bernhard etwas gemerkt hatte? Eher nicht. Denn
sie ließ sich Zeit mit dem Überlegen, wie sie dem Kleinen wohl helfen könne.
Sie stellte ihm einen Hagebutten-Tee auf die Bank am Ofen und nahm heimlich
schmunzelnd zur Kenntnis, dass der Blick des Kleinen bisweilen etwas länger an
ihrer Oberweite hängen blieb als in dieser Altersklasse üblich.
Sie suchte diverse Dinge aus ihren duftenden Truhen: ein Beutel
getrocknete Kamillen mit Hagebutten, eine Flasche Sanddorn-Extrakt und
Eibenbeeren. Eibenbeeren? Bernhard wusste, dass Friede immer von den
Eibenhecken ferngehalten werden sollte, weil Eiben absolut tödlich für Pferde
seien. - Das sagte er der Muhme.
"Dummchen!. Dat is dat Fruchtfleisch der Beeren! Dat ist voller
Zauberkraft. Sag deiner Mutter, sie soll einen Esslöffel Beeren mit einem
Esslöffel heißem Wasser zerdrücken und den Kleinen in den Rachen pinseln. Die
Opas sollen damit jurgeln."
Als er alles im Brotbeutel verstaut hatte, wollte er gehen, aber die
Muhme hielt ihn noch einmal zurück:
"Lass mich deine Hände sehn Bernhardchen!"
Der Knabe streckte ihr unbedarft die Hände entgegen. Sie drehte die
Linke mit der Handfläche nach oben und fuhr die Linien nach. Dann schloss sie
die Augen:
"Du wirst dat überleben Bernhardchen! Und du wirst ein Held wider
Willen. Jroße, blonde Engel werden dich begleiten oder sojar beschützen. Und du
wirst’n Schloss im Himmel haben und nie mehr frieren müssen, wenn du alt
bist."
3.
Kapitel
Die Empfängnis
Bernhard hatte den Sandsteinkegel am linken Pfeiler des Portals nicht
zementiert. Als er Mitte November als Anhalter von Kempen bei Köln innerhalb
zweier frostiger Tage nach Castellinaria zurückkehrte, erlebte er eine böse
Überraschung. Wie hatte er, der den Ort bisher nur bei staubiger Gluthitze kannte,
auch nur ahnen können, welche Unwetter über sein Luftschloss hinweg brechen würden
und welche Aufgabe dieser unscheinbare Kegel dann zu erfüllen gehabt hätte?
Wie so oft hatte der die Ligurer so depressiv machende Scirocco aus Südost
gegen Ende des Herbstes die Wende eingeleitet.
Er hatte dafür gesorgt, dass der Schönwetterwind Ponente, der aus
Südwest mit seiner warmen, feuchten Luft über das Mittelmeer kam, gestoppt
wurde. Die Luftfeuchtigkeit staute sich an den Bergen oberhalb von Sanremo zu
gewaltigen, dunkelgrau drohenden Wolken-Türmen. Als der Scirocco sich
dann zurückzog, saugte er den eiskalten Maestrale
an, den D-Zug schnellen Fallwind der von Nordwest
aus den bereits dick beschneiten Gipfeln der Seealpen heran raste. Die warmen
Wolken, die jetzt wie überkochender Leim träge und schwer von Feuchtigkeit über
die Bergkämme in die Valle d'
Olio
rannen, wirkten auf diesen schnellen Wind wie die Reibflächen der staatlich
regulierten Zündholzschachteln (die allerdings ebenso selten berechenbar
funktionierten). Im Nu waren Gewitter infernalischen Horrors entfacht. Der
Regen wurde mitunter waagerecht unter die Dächer gepeitscht, wandelte sich dann
in Sekunden zu Hagelstrichen und prasselte sogar durch die zur Vorsicht
verrammelten Schlagläden vor den Fenstern. In wenigen Augenblicken wurden dabei
große Teile der Olivenernte vernichtet. Diese Kraftentfaltung der Naturgewalten
überraschte selbst die Alten immer wieder aufs Neue. Da wurden Zentner schwere
Amphoren umgerissen und segelten massive Vordächer davon. - Und dann diese
Wassermassen.
Oben in Castellinaria waren die drei parallelen Gassen auf dem
Felsgrat die Ablaufrinnen zwischen den maroden Häuserreihen. In Sekunden
verwandelten sie sich in reißende Wildwasser, auf denen Narren hätten Kajak
fahren können. Die bergseitig einzementierten Kegel an den Türpfosten und
Torpfeilern wirkten dabei wie kleine Wehre, die das Wasser in die Mitte der
Häuserschluchten zurücklenkten und dadurch daran hinderten, in die Wohnbereiche
einzudringen.
Der erste Wasserschwall hatte Bernhards nur hingestellten Kegel derart
verschoben, dass er seine provisorische Brettertür fortgerissen hatte und als
ungebetener Besucher in die nur aufgeschütteten Böden der beiden zukünftigen
Wohnzimmer gerauscht war. Da man Bernhards am Ortsrand klebendes Haus im
obersten Stockwerk betrat, raste die Flut die alten Stufen hinunter und
verschaffte sich zum Garten hin gewaltsam Ausgang, indem sie die historischen
Mauern unterspülte und die Sickergrube sprengte.
Als Berthold seine ruinierte Ruine am Tag danach erreichte, stach die
Sonne wieder vom Himmel, als sei nichts gewesen. Der Wind war abgeflaut wie
Bernhards Enthusiasmus, aber dann kam auf einmal ein anderer mystischer Wind.
Er brachte das Blut in Wallung, weil er im stechenden Sonnenlicht bei 25 Grad
durch sein kühles Fächeln Beklemmung und Atemnot behob und auf eine tückische Art euphorisierend wirkte:
La brezza libecciata oder il libeccio
Die Einheimischen kannten sein trügerisches Spiel und waren deshalb gar nicht erst aus den Häusern gekommen, um
Bernhard zu warnen. Der nachgebesserte Zementsockel für den Sandsteinkegel war
gerade fest geworden, da brauste schon ein neues Gewitter heran.
Geistesgegenwärtig hatte der Ruinenbaumeister bei dem aufkommenden Sturm
Sandsäcke aus einer Felsenhöhle seiner Cantina geschafft, in der sie mit
allen anderen dort gelagerten Baustoffen das Unwetter wie durch ein Wunder
unbeschadet überstanden hatten. Der kleine Wall verhinderte, dass sich noch
einmal ein Sturzbach durch sein Haus ergießen konnte. Aber gegen die von oben
herein dreschenden Regenschauer half er natürlich nicht. Zwei Tage und Nächte
goss Petrus aus vollen Badewannen Schwall um Schwall in die zum Teil noch
unbedachte obere Etage. An arbeiten war nicht zu denken. Es galt, mit Eimern
das Wasser heraus zu schöpfen wie bei einem maroden Kahn. Und es wurde wieder
bitter kalt, weil durch die Feuchtigkeit die Kälte nach dem neuerlichen Temperatursturz
fast unerträglich unter die Haut drang.
Aber Bernhard wollte ja nie wieder frieren. Es zahlte sich aus, dass
seine noch nicht ganz feste Burg tatsächlich nicht auf Sand gebaut, sondern die
meisten Mauern auf Felsen verankert waren. In der Höhle, die er eher instinktiv
als Lagerplatz für die Materialien gewählt hatte, befand sich am Ende auch eine
gemauerte Esse, die vielleicht einmal als primitive Schmiede gedient hatte.
Er blies seine Luftmatratze auf, rollte dort seinen alten NVA-Rucksack
aus, stellte Camping-Kocher samt Geschirr sowie Tütensuppen daneben und schuf
sich so das perfekte Biwak. Wann immer es auch nur den Anflug von Kälte gab,
heizte er die Esse mit geborstenem Bauholz und schuf damit sogar eine Art
Hüttenromantik. So ritt er das Wetter sicher ab wie ein Bergprofi. Es spricht
für die Charaktereigenschaften dieses Mannes, dass er aus der primitiven
Gemütlichkeit, die Kraft gewann, nicht aufzugeben. Er schaffte es vielmehr, zu Raum und Zeit mit seiner Urkraft als
dritter Dimension innerhalb der verbleibenden fünf Wochen noch nahezu ein
Wunder zu vollbringen. Es entstand gewissermaßen aus dem Chaos.
Am 21. Dezember sollte seine
Frau, Traute, mit dem TEE (Trans Europ Express Mediolanum/Ligure) nachkommen,
um die Weihnachtsfeiertage und Neujahr in ihrem Himmelsschloss zu verbringen.
Da sollten Wohnküche, Bad und das Schlafzimmer doch bewohnbar sein. Sie hatten
ohnehin noch einmal einen zusätzlichen Kredit aufnehmen müssen. Wer weiß denn
schon wirklich, was so ein Luftschloss kostet?
Als Berthold nach 48 Stunden völlig verrußt mit seinem Kulturbeutel
unterm Arm aus seiner Höhle kroch, um sich an der Fontana vor dem Castell zu
waschen, bahnte sich eine weitere Herausforderung gänzlich anderer Art für den
Deutschen an.
Hinter einem Vorhang im Haus auf der Südseite der Piazzetta beobachteten
zwei kenntnisreiche Augen, wie der wie ein Carbonaio anmutende Biondo
sich
unter dem Seifenschaum in einen Adonis verwandelte, der durchaus von einem
italienischen Renaissance-Bildhauer hätte modelliert sein können.
La Francesa war eine
Einheimische, die erst vor kurzem nach einem Leben voller legendärer
Vorkommnisse verwitwet in ihr Haus an der Piazza Castello zurückgekehrt war. Die ehelich
gebundene Weiblichkeit der Talschaft ward ob des männermordenden Rufes von
Tiziana Gandolfo bereits seit Wochen in Angst und Schrecken versetzt. Man
erzählte sich treppauf, treppab, sie habe für den Fürsten Rainier von Monaco
gekocht und nebenbei ein Vermögen in dessen Spielbank gewonnen. Sie wurde indes
auch nicht müde, selbst die
Gerüchteküche um sie herum anzuheizen, indem sie Männer aus der Nachbarschaft,
die ihr einen handwerklichen Gefallen erwiesen hatten, gelegentlich mit auf
Goldrandtellern dargereichten Leckereien belohnte.
Natürlich hatten sich die Geschichtchen um die Besonderheiten des
Deutschen auch bis zu Signora Gandolfo herumgesprochen, und weil sie einige
Jahre im Palace von Sankt
Moritz Sous Chef gewesen war, sprach sie auch ganz manierlich Deutsch. Bernhard
trocknete gerade seinen mehr als ansehnlichen, kaum behaarten Oberkörper, als
sie mit einer Goldrand-Tasse Kaffee auf ihn zu stöckelte:
"Schaden sehr groß?", fragte sie, indem sie ihm die Tasse
reichte.
Bernhard brauchte ein paar Sekunden, um zweierlei zu verarbeiten:
Einerseits, dass es im Dorf jemanden gab, der Deutsch sprach, und andererseits
sah diese Frau aus wie eine etwas jüngere, deutlich schlankere und wesentlich
elegantere Ausgabe der Muhme Alice... Bernhards pommersches Spökenkieker-Blut
nahm das als einen Fingerzeig.
"Nicht so groß, aber ich wollte fertig sein, bis meine Frau kommt!
Ich werde doch Hilfe brauchen."
Die Signora lupfte indigniert und amüsiert zugleich auf französische Art
ihre linke zu einem fadendünnen Strich gezupfte Augenbraue. Sie hatte, nun ja,
ihr bestimmtes Beuteschema, und wenn ein Kerl gleich im ersten Satz von seiner
Frau sprach, dann weckte das ihren Instinkt als Jägerin und Sammlerin.
"Ich habe junge, starke
Freunde - da ein paar! Gefallen mir. Non! Schulden mir Gefallen."
Was für eine Beziehung war das, die sich da ergab? Bernhard war sich
seiner Wirkung auf Frauen durchaus bewusst, aber eher sein unbewusster
Stoizismus als seine bewusste Moral ließen eine andere Frau als Traute in
seiner Gefühlswelt nicht zu. Er war jedoch Pragmatiker genug, der etwa
anderthalb Jahrzehnte älteren Frau das Gefühl zu geben, sie könne seine
mütterliche Beschützerin sein. Er nahm die mit einem gemütlichen Bett
ausgestattete Kammer an, die sie ihm anbot, damit er seine verausgabten Kräfte
mit gutem Schlaf regenerieren konnte. Er schleppte ihr die Einkäufe und machte
ihr quasi den Hausmeister, was beim nachbarschaftlichen Umfeld natürlich die
üblichen Verdächtigungen hervorrief. Andererseits hatte Frau Gandolfo einen
flotten, azurblauen Alfa Giulia Super, mit dem sie ihre Favoriten gerne
herumfuhr. Ein unbezahlbarer Vorzug für Bernhard, der immer noch keinen
Führerschein hatte. Und die Favoriten, die ragazzi oder
cipollini, wie Tiziana ihre Höflinge je nach Laune nannte, waren dann für
Bernhard das eigentliche Himmelsgeschenk:
Die vier Männer im Alter Bernhards waren in der Gegend geblieben, weil
sie einerseits vitelloni
(unverheiratete im Hotel Mama wohnende Müßiggänger) und andererseits gesuchte
Meister ihres Fachs waren. Gleich am zweiten Abend nach ihrer Begegnung am
Dorfbrunnen hatte die Signora sie in einer Bar an der Piazza von Pontedassio
zusammengebracht:
Franco, ein hageres, untersetztes Energiebündel mit einem bebrillten
Professoren-Kopf auf einem dürren Hals hatte eine ape. Er war Schreiner und kannte
sich auch mit Türen und Fenstern gut aus.
Sandro war Elektriker und Monteur bei der staatlichen Stromversorgung
und mischte unter seine offiziellen Aufträge in den Bergen manch privaten
Zusatzverdienst durch Installationen und Reparaturen. Er war von beängstigender
Schönheit, und die Gandolfo konnte Blicke der Begierde nur schwer unterdrücken.
Sandro allerdings hatte bei ihren gemeinsamen Treffen nur noch Augen für
Bernhard. Was dem wiederum nicht bewusst wurde.
Enzo war gelernter geometra - also
eigentlich Vermessungstechniker - aber im ländlichen Sprachgebrauch erhob ihn
das im ligurischen Hinterland zum Quasi-Architekten. Enzo hatte eine Stimme wie
Caruso und erledigte jede Arbeit mit einem Lied auf den Lippen. Er war am Bau
ein Alleskönner, wenn es jemandem gelang, seinen phlegmatischen Habitus zu
überwinden, den er mit einem pyknischen Körper und einer blauschwarz gefärbten
Schiebedachfrisur manifestierte.
Lucca, der jüngste und reichste von allen, war der schnellste und beste
Fliesenleger der Täler. Ein immens fleißiger Einmann-Unternehmer mit einer
angeborenen Kunstfertigkeit, die es ihm ermöglichte, Preise zu verlangen, die
ohne Diskussion bezahlt wurden. Lucca hatte einen eigenen 7,5 Tonner und lebte
tatsächlich noch unter der Fuchtel seiner Mutter; in einer herrlichen Villa auf
einem Hügel unweit des Meeres, der Ende der sechziger Jahre von einer mächtigen
Autobahnbrücke der Autostrada
dei Fiori überspannt worden war. Jetzt hatte der Luxus - je nach Jahreszeit –
einen langen oder kurzen Mittagsschatten…
Wer den Ligurern Reserviertheit und Mangel an Kontaktfreudigkeit
nachsagt, wäre überrascht gewesen, wie schnell die Vier den Deutschen trotz der
Sprachbarriere in ihrer Mitte aufnahmen. Gut, am Anfang war es die Gründung der
Gefälligkeitsbank, der banca
di favore, die das Miteinander erleichterte. Ihnen hatte so ein kreativer,
zupackender Maurer, der vor altem Gemäuer nicht zurückschreckte, einfach noch
gefehlt. Hinzu kam, dass Bernhard durch seine Lehr- und Wanderjahre in den
Baukombinaten der DDR für diesen speziellen bargeldlosen Austausch von
Dienstleistungen ohne nähere Erläuterungen prädestiniert war. Ohne diese
"Nachbarschaftshilfe" war dort im Arbeiter- und Bauernparadies doch
privat gar nichts gegangen. Hier war sie allerdings Bestandteil einer
lukrativen steuerfreien Schattenwirtschaft.
Die Gefälligkeitsbank hatte keine Buchhalter und trotzdem waren ihre
Konten, nachdem die Vier in den Anfangsjahren so kräftig bei Bernhard
eingezahlt hatten, im Laufe der späteren Jahre stets ausgeglichen. Jeder hatte
seine speziellen Geschäftchen am Laufen, wo die anderen ihm von Nutzen sein
konnten. Orte wie Castellinaria wären in den 1970ern ohne solche socii vermutlich dem Verfall
ausgesetzt gewesen. Hier kam noch ein anderer Aspekt hinzu - eine sich aus der
Arbeit in den Ruinen langsam festigende, bedingungslose Freundschaft höchst
unterschiedlicher Männer.
Es sollte jedoch bis zur Beerdigung der Francesa im Herbst 1996
dauern, ehe sie sich gegenseitig beim Wein eines gestanden: Dass nämlich nicht
einer von ihnen jemals in die Venusfalle der mysteriösen Frau geraten war. Die
meisten in der Gemeinde betrachteten die Fünf dennoch für immer und ewig als
den männlichen Harem, il arem maschile, der Gandolfo.
Und diese Legenden geistern deshalb auch heute noch als erregtes Raunen durch
die Gassen von Castellinaria...
Am 19. Dezember 1968 zog Bernhard bei der Signora aus und in sein
eigenes Heim. Er machte sich keine Gedanken darüber, ob es seine Wirtin
verletzen könnte, als er sie bat, Traute mit ihm gemeinsam zwei Tage später im
Alfa vom Bahnhof in Porto Maurizio abzuholen. Er fragte einfach, und sie sagte
zu, ohne auch nur mit den Klebe-Wimpern zu klimpern.
Wie auch immer sich alle Beteiligten Bernhards Frau vorgestellt haben
mochten, sie entsprach keiner dieser Erwartungen. Die Langbeinige mit einem
Gardemaß von über 180 cm und der damals populären blonden Hippie-Mähne hätte ob
ihrer Schönheit allen Grund gehabt, wie ein Model oder eine Discoqueen aus dem
Zug zu steigen. Aber es war diese burschikose Natürlichkeit, mit der sie sich
von eilfertigen Reisebekanntschaften im Zug verabschiedete, um dann die viel
kleinere Patrizia Gandolfo herzlich zu umarmen. Sie dankte ihr für die
Fürsorge, die sie ihrem Bernhard in den vergangenen Wochen hatte angedeihen
lassen, als sei sie ihre Lieblingstante. Dass das zudem in einfachen
italienischen Redewendungen geschah, überraschte auch ihren Mann, der ja selbst
immer noch einzelne, gehörte italienische Worte mit deutschen mischte.
Mag sein, dass die Signora - was ruhig bezweifelt werden kann - die
Ankunft einer Rivalin erwartet hatte, aber als sie sich fast nicht aus der
Umarmung dieser weiblichen Naturgewalt lösen wollte, beschloss sie - die
Kinderlose - spontan eine blonde, deutsche Tochter zu haben, die sie um 25
Zentimeter überragte.
Traute hatte soviel Ähnlichkeit mit Bernhard, dass man beide durchaus
auch für Geschwister hätte halten können. Dazu gehörte neben der rein
körperlichen auch Zähigkeit und immense mit ihrer Grazie kaschierte
Körperkräfte. Als die Gandolfo automatisch versuchte, Trautes Koffer in den
Kofferraum ihrer Giulia zu wuchten,
bekam sie das alte von Lederriemen an der Maulsperre gehinderte Ding, das
Traute sich wie ein Handtäschchen geschnappt hatte, nicht vom Boden. Tedeschi sonno titanici, dachte da die
Signora bei sich.
Bernhard, der es von seinen Baustellen gewohnt war, sich laut und auch
manchmal erzwungen rüpelhaft durchzusetzen, hatte in Traute eine stille,
intellektuelle Sicherheitsreserve. So war es typisch, dass seine Frau die Zeit
genutzt hatte, sich seit dem Sommer mit Hilfe einer italienischen
Arbeitskollegin nicht nur die Grundbegriffe der Sprache anzueignen, sondern
auch mit typisch italienischen Gepflogenheiten vertraut zu machen.
Nachdem Bernhard sie über die Schwelle ihres Luftschlosses getragen und
mit ihr die erste Führung gemacht hatte, ging sie alsbald allein durchs Dorf
und stellte sich bei allen, die ihr begegneten, artig vor. Sie erkundigte sich
nach Kindern, Gesundheit und der Oliven- oder Weinernte. Vor allem die älteren
Frauen sprachen anschließend von ihr, als hätten sie den leibhaftigen
Weihnachtsengel gesehen.
Bernhard und die ragazzi
della banca favore hatten ganze Arbeit geleistet. Das hatte sich im Ort
herumgesprochen, und beinahe jeder der Nachbarn war beiläufig mal vorbei
gekommen und hatte sich das werdende Wunder angeschaut:
Aus Schaden klug geworden, hatte Bernhard, nachdem er die zerfurchten
Schotter-Aufschüttungen wieder angeglichen hatte, sie mit einem Drahtgeflecht gesichert und dann
erst zementiert. Der Estrich war auf eine elastische Schicht aus Folien und
Teer aufgetragen worden und Lucca hatte obwohl er aus Kostengründen von überall
her zwar hochwertige Fliesen-Reste zusammengetragen hatte, ein Meisterwerk an
harmonisch abgestuften Ebenen gezaubert. Gerade weil nichts absolut neu war,
sah das renovierte Haus aus, als sei es immer schon so edel gewesen.
Sandro hatte nämlich aus einem historischen öffentlichen Gebäude in Peve
di Teco, in dem er zu tun gehabt hatte, von Franco nach der Entkernung
Wandverkleidungen und Paneele aus uraltem Eichenholz mit dessen ape abholen lassen. Dazu kam noch
ein komplettes, dreiteiliges Halbrundfenster, das jetzt aus dem ligurischen
Schlafzimmer der Kleiners den grandiosen Blick übers Tal auf das Meer öffnete.
Eigens bestellt war in jenen Tagen die Sicht, denn Korsika lag so nah und klar am Horizont, als
könne man hinüber schwimmen...
Eine Nachbarin hatte Bernhard das komplette aus dem 19. Jahrhundert
stammende, geschnitzte Schlafzimmer samt Herrgottswinkel aus dem leer stehenden
Haus ihrer Großeltern für ganze 50 000 Lire überlassen.
Die Küche hatte natürlich keinen Einbau-Schick, aber sie war durchaus
funktionell und entwickelte mit ihren Wand
hoch und auch auf den Arbeitsflächen verarbeiteten, handbemalten Kacheln einen
recht gemütlichen Charme. Vorerst gab es ja außer den elektrischen
Durchlauferhitzern in Küche und Bad nur für den Herd Gas aus Flaschen. An
kalten Tagen musste also allein der großzügig bemessene Kamin in der
Wohnzimmerecke zur Balkonterrasse als Wärmequelle reichen.
Es war in den ersten Jahren wohl eine einfache Ferienwohnung - mehr nicht. Aber Berthold hatte etwas sehr
geschickt gemacht. Dort, wo weder Leitungen noch Armierungen unter Putz
kaschiert werden mussten, hatte er die Mauern auch innen so gelassen, wie er
sie errichtet hatte. Er ließ beispielsweise um den Kamin herum allein die
Struktur der großen Steine für Burg-Atmosphäre sorgen und dekorierte sie mit
alten Werkzeugen, Waffen und Gebrauchsgegenständen, die er bei seinen Arbeiten
und Wanderungen gefunden hatte.
Traute hatte ihn nach der ersten Besichtigung nur stumm an die Hand
genommen und mit feuchten Augen angeschaut. Dann war sie nicht korrigierend,
aber ergänzend auf ihre stille Art daran gegangen, dem Haus auch ein wenig
weibliche Note zu geben.
Natürlich war es auch Traute gewesen, die auf die Idee gekommen war, die
Nachbarn und alle, die bei dem Wunder mitgewirkt hatten, am Abend vor
Heiligabend zu einer typisch deutschen Weihnachtsfeier einzuladen. Sie hatte
mit ihrer schönen Handschrift auf ihrem persönlichen Briefpapier mit Hilfe von
Patrizia Gandolfo einen einfachen Einladungstext geschrieben und auch
persönlich verteilt. Aus aufgeklaubten Olivenzweigen hatte sie einen schönen
Adventskranz geflochten, und nun war auch klar geworden, wieso ihr Koffer dieses
Gewicht gehabt hatte. Denn er war voller altrheinischem Weihnachtskram und
Keksdosen gewesen. Es gab Stollen, Mutzemandeln, Nonnenfürzchen, dicke Wachskerzen,
Lametta, Kerzenhalter und dergleichen. Bernhard hatte in Ermangelung eines
Weihnachtsbaumes, der in jener Zeit in den Bergen Liguriens noch nicht
aufgestellt wurde, eine kleine Zypresse im Garten mit Schleifen und Kerzen
bestückt und - als die paar Glaskugeln nicht ausgereicht hatten - einfach die
schönsten Zitronen und Orangen frisch von den eigenen Bäumen an Schleifen
dazwischen gehängt.
Alle kamen, und alle brachten etwas mit, wie es im armen Ligurien der
Brauch war. Zwar hatte Traute im Waschtopf der Gandolfo ihre berühmte
Erbsensuppe mit Bauchfleisch, gebratenem Speck und Croutons gemacht, um alle
satt zu kriegen, aber das hätte für den heuschreckenartigen Heißhunger der Nachbarn
längst nicht gereicht. Der aus einem fragwürdig aufgelösten Klosterbestand von
Enzo ergatterte Refektoriumstisch vor dem Kamin geriet trotz der aus der
Nachbarschaft herbeigeholten Stühle an die Kapazitätsgrenze und bog sich unter
den Speisen: frische Laibe Bauernbrot, Flaschen mit mosto d'oro, der grasgrün
trüben Erstpressung des extra
vergine Olivenöls, Schinken und Sorpressa, Bauern-Taleggio, der so
unweihnachtlich duftete, dass er auf dem Balkon verbannt wurde, sowie diverse
Töpfe mit pesto (pistou),
peperonada und Hasenragout für Berge diverser, natürlich hausgemachter Pasta,
die bis in die späte Nacht nachgekocht werden mussten.
Erst als alles verputzt war und dampfende Tassen coretto
aufgetischt worden waren, kehrte mit dem durch Grappa "korrigierten"
Kaffee weihnachtliche Ruhe ein. Einer der Nachbarn auf Urlaub von der Arbeit in
Deutschland fragte, ob Traute und Bernhard nicht deutsche Weihnachtslieder
singen könnten, worauf die beiden in den Garten hinunterkletterten, die Kerzen
der Weihnachtszypresse anzündeten und - es war ja längst schon der 24. Dezember
- Stille Nacht, Heilige Nacht, O du Fröhliche und Süßer die Glocken nie klingen
zu den auf ihrer Terrasse versammelten Menschen hinauf sangen. Die ließen sich
nicht lumpen und stimmten dann
ihrerseits die mit durch Mark und Bein sowie zu Herzen gehenden Kopfstimmen
vorgetragenen, fremd anmutenden Choräle aus dem Appenin an. Was für eine
Bergweihnacht!
Als Traute und Bernhard nach dem Aufräumen endlich ins Bett gefunden
hatten, waren sie sich beide sicher, noch nie in ihrem Leben so glücklich
gewesen zu sein. Vor lauter Glück war an Schlaf gar nicht zu denken. Und so
passierte es: Andere Umgebung, kein Stress durch Sex nach Thermometer und
Kalender - nur ein Rausch der Sinne. Neun Monate später, nach einer diesmal
absolut komplikationslosen Schwangerschaft wurde den Kleiners ein Sohn geboren.
Obwohl beide eher agnostisch veranlagt waren, ließen sie ihn auf den Namen
Sebastian taufen. - In memoriam des Santuario
San Sebastiano, das in jener Liebesnacht so weihnachtlich feierlich vom
Tal in ihr Schlafzimmer herauf geleuchtet hatte...
4.
Kapitel
Der Held der Arbeit
Es ist müßig, rechten zu wollen, wenn der
Krieg die Bestie Mensch aus den Käfigen der Zivilisation lässt. Sicher waren
die Menschen der Uckermark, die in jenen Jahren Opfer willkürlicher Gewaltakte
durch Angehörige der Roten Armee wurden, genauso unschuldig und am Krieg nicht
beteiligt, wie die ukrainischen Juden, die bis zur Kapitulation - und trotz
mangelnder Tonnage für die eigenen, ostpreußischen Flüchtlinge – von der SS über
die Ostsee zur Vernichtung verschifft worden waren. Aber Angst, Entsetzen,
Leid und Traumata sind dann ja
Privatsache. Und obwohl sich alle immer wieder geschworen hatten, dass so etwas
nie wieder passieren dürfe, geschehen die Gräueltaten bis heute, und ihre Opfer
werden immer noch alleine gelassen.
Bernhards Kindheit endete endgültig mit dem
Erscheinen der 'schwarzen Frau'.
Die
Diphtherie-Patienten der Familie Kleiner schienen gerade auf dem Weg der
Besserung, als sie in gellend hohen Tonlagen wehklagend ins Dorf gehastet kam.
Sie war derart traumatisiert, dass sie keine Rücksicht darauf nahm, ob das, was
sie zusammenhanglos hervorstieß, für Kinderohren geeignet war oder nicht:
Sie und die Muhme Alice seien von neun
Rotarmisten zwei Tage lang vergewaltigt worden. Die Muhme habe man dann mit
Bajonetten abgestochen, weil sie sich von Anfang an mit Beißen, Kratzen und
Treten gewehrt hätte. Sie selbst habe sich zunächst immer ohnmächtig gestellt,
was die Peiniger aber gar nicht abgehalten habe. Den auf dem Rückzug
desertierten Verlobten von der Muhme hätten sie nackt aus ihrer Hütte gezerrt
und bei lebendigem Leib unters Eis des Weihers gestoßen, bis er nicht mehr
aufgetaucht sei. Dabei wären die Russen an der Kate von der Alice schon beinahe
vorbei gewesen. Alle, die sie in diesen Wochen besucht hätten, seien ja immer
von hinten durch den Birkenhain zu ihr gekommen, damit man keine Spuren sähe.
Doch die Russen hätten eben eine einzelne
Spur gesehen, die über das Feld
führte und wieder zurück. Das hätte sie neugierig gemacht. 'Wo ist anders Frau?'
hätten sie deshalb auch immer wieder gefragt und alles in der Kate der Muhme
auseinander genommen.
Bernhard sah entsetzt zu den mit Filz und Stroh gestopften Stiefeln
seiner Mutter hinunter, die er ja immer noch gegen die Kälte trug. Sind es
seine Spuren gewesen, die der Muhme zum Verhängnis geworden waren? Das Blut
stieg ihm in den Kopf und gleichzeitig hatte er das Gefühl, er sei in eine
Zwinge geraten, die von einer höheren Macht unbarmherzig zugedrückt wurde.
Nach ihrem Schreikrampf verstummte die schwarze Frau, aß und trank
nichts mehr, wanderte bis zum Frühjahr nur noch stumm herum und schüttelte
dabei mit Pausen immer wieder heftig den Kopf, als wolle sie ein lästiges
Insekt abschütteln. Dann war sie eines Tages spurlos verschwunden.
So bald es die Temperaturen zuließen, verbrachte Mutter Kleiner
"die gefährlichen" Tages- und Nachtzeiten mit den Kindern in mehrere
Decken gehüllt auf dem Friedhof, weil jemand erzählt hatte, die Russen seien so
abergläubisch, dass sie – egal wie betrunken - auf einem Friedhof niemanden
vergewaltigten.
Dieser Unsinn kostete dem Hannele das Leben. Die Diphtherie hatte wohl
ihr kleines Herz geschädigt. Fraglich, ob sie daheim im Bett überlebt hätte.
Aber gegen die zehrende Kälte der Friedhofsnächte konnte sie keine Kräfte mehr
mobilisieren. Zu der Schuld, die er möglicher Weise mit Muhme Alice auf sich
geladen hatte, musste Bernhard nun dem toten Vater sein Versagen als Beschützer
der Kleinen eingestehen. Er war ganz allein mit seiner seelischen Last, denn
die Mutter war nach Hanneles Tod in eine tiefe Dauer-Depression versunken, aus
der sie mit überdrehter Kompensation bis zu ihrem viel zu frühen Tod 1952 nur
noch gelegentlich an sonnigen Frühlings- und Sommertagen auftauchte. Den beiden
Großvätern, denen es wieder erstaunlich gut ging, kam es hingegen nur noch aufs
eigene, tägliche Überleben an.
Als die Russen dann schließlich auch nach Pangerow gerieten, waren diese
weit weniger schrecklich als befürchtet. Offenbar war der Rausch der Gewalt
schon am Abklingen, oder es stimmt, was Bernhards damalige Wahrnehmung
mutmaßte. Dass nämlich von der kämpfenden Truppe weit weniger Gefahr ausging,
als von der ideologisch motivierten, zweiten Etappe mit den Polit-Offizieren
und den Beschaffungsbrigaden. Noch nachdem die
DDR schon gegründet war und die Rotarmisten quasi in den Stand der
Befreier erhoben worden waren, hielt sich der Hass der vorpommerschen
Bevölkerung auf diese spezielle Sorte Russen besonders hartnäckig. Auch
Bernhard hatte da schon seine spezifische Erfahrung gemacht.
Weil die Frühlingsboten nach dem strengen Winter doppelt stimulierend
wahrgenommen und die Zirbeldrüsen stärker reagierten, ließ auch das
unterbewusste Sicherheitsverhalten speziell der Kinder nach. Fast war der
ländliche Tagesablauf zur Normalität zurückgekehrt, nur dass Bernhard statt
dreißig, vierzig bloß noch ein paar registrierte Gänse zum Hüten hatte.
Verträumt saß er mit dem Rücken an
einer Kopfweide unweit des Bewässerungsgrabens, der zum Dorfteich führte. In
Momenten, da er sich unbeobachtet fühlte, holte er jetzt oft die silberne
Glashütten-Savonette seines Vaters hervor, ließ den Deckel aufspringen und
sprach zum Zifferblatt, wie er es im Angesicht seines Vaters nie getan hätte:
"Wieso konnte die Muhme mir aus der Hand, meine Zukunft sagen?
Wieso konnte sie aus ihren eigenen Händen nicht lesen, was ihr selbst
geschah?"
"Ich hab' doch für das Hannele alles getan. Sogar meine Ration
Sanddorn hat sie gekriegt. Bitte, bitte sei mir nicht mehr böse und lass Mammi
wieder lachen!"
Bernhard konnte nicht ahnen, dass der Deckel der Taschenuhr wie ein
Blendspiegel die Sonne direkt in die Augen eines russischen Straßenpostens
lenkte. Der fühlte sich provoziert und rannte auf den Knaben zu. Als er nah
genug heran war, schrie er:
"Uri, Uri! Davai, davai!"
Bernhard wollte aufspringen und davon rennen, aber da sah er, wie der
Posten bereits seinen Karabiner auf ihn anlegte:
"Uri, Uri! Davai, davai!", sagte der noch einmal sehr
nachdrücklich und streckte die Hand nach Bernhards Uhr.
"Das ist die Uhr von meinem Pappi!", schrie der Knabe, aber da
war sie schon in dessen Kasack
verschwunden. Bernhard war es egal, dass er die Gänse im Stich ließ. Er lief
neben dem untersetzten und krummbeinigen Kerl her, der ihm auf einmal trotz des
Gewehrs keine Angst mehr machte.
"Gib mir die Uhr zurück!"
Sie waren jetzt an dem Holzschott angelangt, das den Abfluss aus dem
Dorfteich regelte. Da steckte auch ein hölzerner Torfspaten im Modder. Ohne zu
überlegen, packte Bernhard den, riss ihn hoch und drosch mit aller Kraft, die
in seinem Knabenköper steckte, dem Russen auf den Rücken...
Die Gänse hörten auf zu schnattern, die Hunde bellten nicht mehr. Auf
einmal schien die ganze Welt verstummt. Gewalt gegen einen russischen Soldaten
- das bedeutete sofort zu vollstreckende Todesstrafe...
Bernhard blickte bestürzt auf das marode Holzteil in seinen Händen. Da peitschten
schon auf Russisch Kommandos über die Straße. Zwei Soldaten, die ebenfalls am
Ortseingang Wache schoben, packten den Knaben an den Armen und zerrten ihn in
die Mitte der Fahrspur. Alles ging so schnell und war so unwirklich, weil es so
gar nicht zur Heiterkeit des Frühlings passen wollte. Doch noch immer war die
Wut Bernhards größer als seine Angst. Die Empörung über das Unrecht überwog die
sichere Erkenntnis, dass er jetzt sterben müsse.
Der Rotarmist hob das Gewehr und zielte auf die Brust des Jungen.
Bernhard steckte in einem Wahrnehmungstunnel, sonst hätte er die Bremsen und
den Motor eines Fahrzeuges hinter ihm gehört.
"Stoi!"
Die helle, scharfe Kommando-Stimme registrierte er nur, weil der Mann,
der ihn erschießen wollte, plötzlich blass geworden, die Waffe sicherte und
ihren Lauf zu Boden senkte.
"Was ist hier los?" Ein großer blonder Offizier in Breeches
und Reitstiefeln blickte auf Bernhard herab und herrschte ihn in gutturalem
Deutsch an.
"Er hat mir die Uhr von meinem Vater weggenommen", sagte
Bernhard mit ersterbender Stimme und fing endlich an zu weinen, wie es einem
Kind seines Alters zustand.
Der große blonde Offizier hob Bernhard hoch und setzte ihn so auf seine
Unterarme, dass zwei ziemlich stattliche Brüste gegen seinen Bauch drückten:
"Wo ist dein Vater?"
"Er liegt auf dem Feld der Ehre", ahmte Bernhard den
Euphemismus der Erwachsenen nach, was seine Hilflosigkeit nur unterstrich.
"Du meinst tot. Als Soldat gefallen?"
"Ja!"
"Und das ist dein letztes Andenken?"
"Nein! Das ist wegen der Zeit. Damit ich sie nicht vergeude, weil
ich doch auf die Kleinen aufpassen muss. Und das Hannele ist ja schon tot und
die Muhme auch - obwohl ich alles versucht habe. Die Diphtherie." Es
sprudelte nur so aus Bernhard heraus, weil auf einmal erst die Todesangst
einsetzte.
"Muss ich jetzt sterben?"
Die mütterliche Fürsorge erhielt bei dem Wort Diphtherie einen spürbaren
Dämpfer, und der weibliche Offizier stellte den Knaben schnell wieder auf den
Boden.
"Nein! Das musst du wohl nicht."
Die Frau ging auf den Posten zu und stellte ihn offenbar mit knapper,
befehlsgewohnter Stimme zur Rede. Obwohl sie ihren Untergebenen ohnehin schon
überragte, schien jener noch zu schrumpfen, als er kleinlaut die Uhr
aushändigte, und von den anderen beiden davon geführt wurde.
"Besser, du spielst nicht mehr mit ihr herum!"
Und mit einem 'davai, davai!' schwang sie sich wieder in den Führerstand
des Armeelasters. Weder seinen verhinderten Henker noch seine Lebensretterin
sah Bernhard jemals wieder.
Die wenigen, noch verbleibenden Wochen eines Menschenlebens im Krieg
machten Bernhard wie viele Kinder jener Jahrgänge zu einem ernsten, jungen
Menschen. Introvertiert, wortkarg, aber von einer scharfen Aufmerksamkeit
geprägt, glitt der Bauernsohn in den Nachkriegsjahren mit wachsender
Körperkraft und zunehmender Körperlänge durch ein spezielles
Raum-Zeit-Kontinuum. Die ideologisch geschulten
Lehrkräfte des 'neuen Deutschlands', die sein striktes Verhalten als
besonderes, linientreues Bewusstsein missverstanden, betrachteten ihn als
pädagogisch wertvolles Vehikel für ihre eigene eifernde Beflissenheit. In
Wirklichkeit war es aber so, dass es Bernhard einfach keine Mühe machte, die geforderten
Standards einzuhalten. Ob im Klassenzimmer oder auf dem Sportplatz, bei der FDJ
oder bei den Ferien-Einsätzen - er war das Idealbild eines jungen Pioniers und
wurde mit Auszeichnungen überhäuft. Und was er bei all dem tatsächlich dachte,
vertraute er bis zu Pubertät über das Zifferblatt seiner Uhr nur dem Geist des
Vaters an.
Denn im selbsternannten Arbeiter- und Bauernparadies passierte es, dass
die Kleiners bei der ersten übereilten Bodenreform ihr Land zunächst zu- und
dann wieder abgesprochen bekamen. Denn nichts anderes war die zwangsweise
Eingliederung in die LPGs, die Landwirtschaftlichen
Produktions-Genossenschaften doch gewesen - als rigorose Enteignung. Irgendwann
gegen Ende der 1950er hatte er einmal im Kino-Vorprogramm einen dieser unsäglichen
Selbstlob-Propagandastreifen zu den LPGs gesehen. Da wurden der Achtstunden-Tag
und der pünktliche Feierabend für die Bauern als revolutionäre Errungenschaft
gefeiert. Aus der flackernd erhellten Dunkelheit erschall ein einzelnes,
herzhaftes Gelächter und Beifallklatschen. Das war Bernhards erste und einzige
politische Reaktion in zehn Jahren als Bürger der DDR. Hatte er doch schon als
kleines Kind gelernt und erfahren, dass die natürlichen Abläufe den Stundenplan
auf einem Hof prägten, und dass der Ertrag einzig und allein vom Fleiß und
persönlichen Einsatz des Bauern und seiner ganzen Familie abhing. Die
agronomische Planlosigkeit der sozialistischen Planwirtschaft hatten dann im Falle des Verzugs immer wieder - der
Leistungsbilanz wegen - die jungen Pioniere durch Ferienverzicht mit
freiwilligem Ernte-Einsatz ausbaden dürfen.
Aber zu diesem Zeitpunkt existierte ja die Bauernfamilie Kleiner schon
nicht mehr. Obwohl ihm alle offiziellen Stellen schon aus propagandistischem
Interesse die höhere Schule und ein Studium nahe gelegt hatten, begann Bernhard
nach dem frühen Tod der Mutter 1953 das Maurer-Handwerk zu erlernen. Er war
1950 mit der depressiven Mutter und dem weiterhin kränkelnden Bruder nach
Strausberg gezogen, wo der KPD-Opa, der inzwischen SED-Genosse geworden war,
Wohnung und Aufgabe gestellt bekommen hatte.
Der SPD-Opa hatte kurz davor die Erkenntnis nicht überlebt, dass die
Ostdeutschen von einem Faschismus in den nächsten geraten waren. Als bei einem
ländlichen Sportfest, an dem sein Enkel aussichtsreich teilnehmen sollte, vor
den Wettkämpfen riesige Plakate mit den Konterfeis von Otto Grotewohl (einem
ehemaligen SPD-Mann) und Walter Ulbricht auf den Sportplatz getragen worden
waren, hatte er sich dermaßen in Rage
und Sauerstoffmangel geredet, dass er noch auf der Tribüne einem Herzinfarkt
erlegen war.
Als Beherrscher seiner eigenen Zeit und Wahrer der privaten Räume in
einer gänzlich entprivatisierten Gesellschaft begann Bernhard in den
Folgejahren systematisch Kraft und Körper zu kultivieren. Das hatte fast schon
etwas Metaphysisches, denn die jungen Aspiranten wurden kaserniert,
drangsaliert und in einer Form ausgebeutet, wie es selbst der kapitalistische
deutsche Klassenfeind in diesem Stadium der zweigeteilten Geschichte, im
„Wirtschaftswunder“, bei Lehrlingen nicht mehr gewagt hätte. Bernhard überstand
diese ersten vierundzwanzig Monate seiner Lehre, weil er jeder einzelnen
Erfahrung an Demütigung und Kasteiung eine Bedeutung beimaß, die ans Rituelle
grenzte. Die Steine und 'die Spur der Steine' als Metapher wurden zu seiner
Bestimmung - seiner Lebenslinie.
Wenn er später nach der Wiedervereinigung den von den DDR-Bonzen so
geschmähten und 23 Jahre lang gebannten DEFA-Film von Frank Beyer mit Manfred
Krug aus dem Jahr 1963 immer und immer
wieder ansah, dann liefen dem harten Bernhard die Tränen herunter. So nah kam
die Handlung dieses Streifens seinen eigenen Erlebnissen.
Schon im dritten Jahr hatte er sich auf seine Weise einen Sonderstatus
erarbeitet. Als Lehrling bereits mehrfach für vorbildlichen Arbeitseinsatz
ausgezeichnet, wurde er nun unter den Erwachsenen schon mit 18 zum
"Arbeiter des Monats" gekürt. Die ihm in verschiedenen Brigaden und
Kombinaten vorgesetzten Poliere erkannten und förderten seine besondere Neigung
und Hinwendung zu historischem Mauerwerk. Sie verstanden eine seiner wenigen,
flapsig hingeworfenen Bemerkungen nur zu gut, auch wenn sie sich selbst nicht
trauten, dieser ideologisch zuzustimmen:
"Der Plattenbau macht die Maurer platt!"
Als sei er eine Art Reaktionsbeschleuniger gewesen, passierten
merkwürdige Dinge in den Brigaden und Kolonnen, denen sich Bernhard anschloss.
Sein konzentriertes Zupacken erhöhte schleichend das Arbeitstempo in seinem
Umfeld. Seine inneren – seit der Kindheit stetig präzisierten – Zeitvorgaben
wurden nun auf das Tagwerk eines Maurers ausgerichtet. Den Verantwortlichen in
den Kombinaten fiel das direkt erst auf, als die von Bernhards Arbeitseifer
betroffenen Genossen damit begonnen hatten, ihn auszugrenzen.
Und dann entpuppte er sich auch noch als Schlaumeier und widersprach
einem vorgesetzten Polier und KPD-Veteranen.
Es ging um einen kleinen Glockenturm an einem der historischen Gebäude
von Stralsund, der bei dem einzigen Bombenangriff im Oktober 1944 zunächst
unbemerkt in Mitleidenschaft gezogen worden war. Erst als eine parteinahe
Institution Anspruch wegen mangelnder Büroräume auf den gesamten Gebäudekomplex
angemeldet hatte, entdeckte man bei der allgemeinen Sanierung die feinen
netzartigen Risse und die dadurch bedingte Einsturzgefahr des Türmchens.
Besonders die Bedrohung durch die Tonnenschwere Glocke forderte eine radikale
Lösung, weil mit einem entsprechenden Kran durch die Enge nicht heranzukommen
war.
Denkmalschutz - noch dazu als Erinnerung an
das glorreiche kapitalistische Wirken der Hanse – war ja nicht gerade eine
Stärke der SED-Genossen. Also beschlossen sie, auf Vorschlag des Poliers eine rasche
gezielte Sprengung, von der die Bevölkerung erst hören würde, wenn es bereits
gekracht hätte.
Bernhard war ein noch nicht einmal zwanzigjähriger Geselle, als er
seinen Einwand wagte. Wieso man in einer Hafenstadt mit Werften und
Stahlverarbeitung sei, wenn man deren Wissen nicht anwendete? Bernhard konnte
unheimlich schnell und präzise zeichnen, und so entstand innerhalb von ein paar
Minuten, was ihm durch den Kopf geschossen war:
Er zeichnete dem Türmchen ein stählernes Rohr-Korsett, das zugleich
Stütze für die Schienen einer von einer Werft geliehenen Laufkatze sein sollte.
Die Laufkatze würde die Glocke in beinahe gleicher Höhe versetzt auf ein Podest
im bereits sanierten oberen Stock des Hauptgebäudes transportieren. Dort würde
sie für die Dauer der Maurerarbeiten im Inneren des Türmchen-Korsetts abgestellt.
Der Polier tippte sich, den Blick streng auf Bernhard gerichtet,
mehrmals hart an die Stirn:
„Und womit willste det allet bewejen, wenn wa noch nich ma nen Kran hia
rin bekommen.“
„Wie die Pharaonen - mit Muskelkraft und schiefen Ebenen!“
Der begleitende Architekt war nach statischen Berechnungen von Bernhards
Idee begeistert, und wenn es im real existierenden Sozialismus eine Tugend gab,
dann war es die durch Fehler der Planwirtschaft generierte
Improvisationsfähigkeit. Laufkatze, Rohre und Schienen zu beschaffen, erwies
sich dann als weitaus leichter, als das Überwinden der menschlichen Barrieren.
Die Bauarbeiter und Maurerkollegen sollten erst ohne Murren ihre Körperkräfte
einsetzen, als Bernhard den stärksten von Ihnen beim Ziehen der Laufkatze zum
Duell herausgefordert und den Zweizentner-Mann mit scheinbarer Mühelosigkeit
übertroffen hatte.
Die Arbeit erwies sich im wahrsten Sinne des Wortes als der Mühe wert,
weil sie nur eine Woche länger erforderte, als Sprengung, Abtransport des
Schutts und Schließen der Baulücke dies getan hätten. Die ganze Brigade bekam
zwei Tage Sonderurlaub. Polier und Architekt wurden eigens belobigt. Bernhard
jedoch wurde an seinem zwanzigsten Geburtstag das rote Bändchen mit dem
Silbernen Stern an die Brust geheftet, das ihn als „Held der Arbeit“
auszeichnete. Seine Jugend und die im Verhältnis dazu besonders hoch erscheinende Prämie von 10 000 Mark waren natürlich Anlass
die Propaganda-Trommel kräftig zu rühren und jede Menge Neider auf den Plan zu
rufen.
Fortan galt er natürlich als Muster-Genosse und Streber, was ihn noch
weiter isolierte. Der staatlich verordneten Gleichmacherei waren Neid und
Missgunst keinesfalls erlegen, und ein Kolonnenführer, dem man widerspricht,
vergisst zuletzt.
Im Sommer 1957 fand sich Bernhard in quasi einsamer Mission und mit dem
hinter seinem Rücken kreierten Spitznamen „Ruinen-Bernd“ auf der schönen Insel
Rügen wieder. Doch was insgeheim vielleicht von den lieben Genossen als Strafversetzung
ausgeheckt worden war, sollte der „Freimaurer“ rückblickend als die schönsten
Jahre in der DDR empfinden.
5. Kapitel
Der Lenz
Es gibt Menschen, bei denen fällt es selbst den gläubigsten
Christenmenschen schwer, weiterhin an die Existenz eines göttlichen Plans zu
glauben. Und selbst agnostische Moralisten zweifeln bei solchen Individuen an
der Gerechtigkeit jener höheren Macht, der sie sich insgeheim oft anvertraut
haben.
So lange diese Menschen nicht als Diktatoren oder Verbrecher aus ihrem
Umfeld heraus treten, lässt man sie in mitunter eitel pharisäerhafter Selbstbespiegelung gewähren oder nimmt ihr Tun
fatalistisch hin. So wie ein Bauer einen Hagelstrich aus heiterem Himmel auf
sein reifes Kornfeld über sich ergehen lassen muss.
Genau so ein Mensch war Lorenz Meester.
Nun könnte man für die Art, mit der dieser durchs Leben ging und als
beinahe Hundertjähriger immer noch geht, diverse soziologische Aspekte als
Entschuldigung für seine Handlungsweisen aufführen:
Durch zwei Weltkriege traumatisiert, Entsagungen überkompensierend,
Verlustängste durch Raffsucht verdrängend und Liebesmangel durch hemmungslose
Promiskuität ausgleichend – doch nichts trifft wirklich zu. Mag sein, dass
sich irgendein Dazugehörigkeitsgefühl
durch seine diffuse Geburt im Grenzbereich zwischen den Reichen des Deutschen
Kaisers und denen der Benelux-Monarchen nicht ausprägen konnte. Aber selbst daraus
zog er noch einen Vorteil. Denn er entging im Status selbst gewählter
Staatenlosigkeit hüben wie drüben der Einberufung.
Darf man sich so einen Opportunisten, Kriegsgewinnler. Schieber,
Anlagebetrüger und Urkundenfälscher als wahren Kotzbrocken vorstellen? - Man
darf nicht! Denn Zeit seines Lebens belehrten einen Erscheinungsbild und Auftritt dieses Charakter-Chamälions
anscheinend eines anderen. Und so sitzen die heute da, die er am meisten
ausgenutzt und ausgebeutet hat und leisten resigniert mit hasserfüllten Herzen
eine Art Altenpflege, obwohl der vermeintliche Greis noch immer rüstig genug
ist, um alle Puppen konzentriert an jenen Fäden tanzen zu lassen, die er noch
ganz allein, und ohne zu zittern, fest in seiner Hand hält.
Keiner - außer seinen italienischen Opfern, die ihn respektvoll mit Don
Lorenzo anredeten – benutzte jemals seinen wirklichen Vornamen. Als er in diese
Geschichte trat, war er bereits „der Lenz“. Was das Ergebnis eines Slogans war,
den er für alle möglichen und unmöglichen Dienstleistungen schon vor der
Währungsreform verwendet hatte:
„Der Lenz ist da!“
1954, als die Deutsche Nationalelf Fußball-Weltmeister geworden und das
Deutsche Wesen demzufolge am Genesen war, saß der Lenz für eine vergleichsweise
harmlose Urkundenfälschung sechs Monate Gefängnis ab. Sie waren nicht zur
Bewährung ausgesetzt worden, weil er zwei Jahre zuvor eine Vorstrafe wegen
organisierten Schmuggels an der Deutsch-Niederländischen Grenze kassiert hatte.
Es war der verzweifelte Versuch, dieser Haftstrafe zu entgehen, der ihn
in diese Geschichte führte. Die Urkundenfälschung hatte er im Zusammenhang mit
einer Wohnhaus-Ruine begangen, die im Dunstkreis eines Klinik-Neubaus in Köln
Lindenthal stand und erheblichen Veräußerungsgewinn versprach. Im noch absolut stabilen
Souterrain dieses Hauses wohnte unter beinahe menschenunwürdigen Bedingungen
eine Frau Körber mit fünf Kindern und wartete auf die Heimkehr ihres Mannes aus
russischer Kriegsgefangenschaft. Die mussten natürlich raus.
Als der gefälschte Räumungsbescheid wegen Einsturzgefahr aufflog und
neben dem Straf- auch ein Zivilverfahren drohte, heiratete der gerade von
seiner dritten Frau geschiedene Lenz die älteste Tochter dieser Frau in einer
Blitzaktion, obwohl die erst 17 war. Er hätte sonst vielleicht auch noch gestehen müssen, dass er
sich das junge Ding schon gefügig gemacht hatte, als sie noch erheblich unter
16 gewesen war.
Halt! Keine voreiligen Schlüsse! So anrüchig die Rahmenbedingungen für
diese Eheschließung auch gewesen sein mochten, es handelte sich aus dem
Blickwinkel der 17jährigen tatsächlich um eine Art Liebe, die – aufgrund der
Unerschütterlichkeit, mit der diese zum Ausdruck gebracht wurde - auch der
47jährige im Laufe der Jahrzehnte zögerlich zu erwidern begann. Noch heute sind
beide im wahrsten Sinne des Wortes zusammen und haben vor kurzem Goldene
Hochzeit gefeiert.
Die Ehe blieb jedoch kinderlos, was wohl daran lag, dass Lenzens Kinder
aus den anderen Ehen bei der Trauung bereits wesentlich älter waren als die
neue Braut. Heute ist von denen nur noch eine 72jährige Tochter übrig, die ihre
Stiefmutter auf dem Weg zur Erbschaft als mehr oder weniger störend empfindet…
So kam es also, dass der Lenz bereits Trautes Schwager war, als Bernhard
in dem anderen Deutschland begann, der Spur der Steine zu folgen. Seinem
Naturell entsprechend, hatte Meester nämlich bereits ein Auge auf Traute
geworfen, ehe er begann, bei Hannelore überhaupt sexuell auf „seine Kosten“ zu
kommen. Die Schwestern waren aber auch zu unterschiedlich:
Hannelore war in den Augen des Nimmersatts so etwas wie ein pralles
Marzipan-Schweinchen. Er konnte nur dosiert von ihr naschen, wollte er nicht
Gefahr laufen, sich die Seele zu verkleben. Bei Traute, die noch auf langen
Stelzen unter einem knochigen Hinterteil herumstakste wie das frisch geborene
Fohlen eines teuren Rennpferdes, musste der Lüstling nur heimlich mit den Augen
den leicht nach außen gebogenen Innenlinien der Oberschenkel nach oben folgen,
um sicher zu sein, was da in ein paar Jahren auf ihn warten würde…
Die Weichen hatte er ja schon unfreiwillig großzügig gestellt, indem er
die übrigen „Kellerasseln“ – wie er sie bei sich nannte - in eine geräumige
Etagenwohnung aus seinem Besitz umgesiedelt hatte. Als der neue Schwiegervater
von Lenz dann aus einem Lager hinter dem Ural nach Köln zurückkam, war er zu
überwältigt von der „guten Partie“, die seine Älteste gemacht hatte, um anderes
wahrzunehmen.
Er sah die im Vergleich zu früher deutlich verbesserten Lebensverhältnisse
der Seinen, nahm den leichten Fahrerjob, den sein Schwiegersohn ihm angesichts
des körperlichen Zustandes angeboten hatte und hörte im Übrigen nicht auf, den
Lenz zu loben.
Selbst als die Traditionszeitung der Domstadt, die damals noch trotz
ihrer eindeutigen Adenauer-Freundlichkeit investigativen und objektiven
Journalismus publizierte, den Lenz unter der Überschrift „Der Absahner“ an den
Pranger stellte, ließ Eddie Körber auf seinen Schwiegersohn nichts kommen.
Andeutungen seiner Zweitältesten, der Mann von Hannelore versuche immer wieder
an ihr rumzufummeln, überhörte er genauso geflissentlich, wie das Rumoren aus
dem Inneren seines Körpers.
Der charmante, großzügige und weltmännische Meester hatte es als seine persönliche Aufgabe
betrachtet, den zum Hänfling verkümmerten Schwiegervater wieder aufzupeppen. So
häufig standen die damals so begehrten Fresskörbe im Porzer Wohnzimmer, dass seine
Familie von neidischen Nachbarn schon die „Freß-Körbers“ genannt wurden. Mutter
Körber platzte innerhalb kurzer Zeit aus allen Nähten. Der durch die
Gefangenschaft beeinträchtigte Stoffwechsel ihres Mannes jedoch unterlag der
Gier, die erlittenen Hungerjahre möglichst in einigen Monaten ungebremster
Orgien aufzuholen. Eddie verstarb nach gerade mal siebzehn Monaten in Freiheit
am kollektiven Versagen seiner inneren Organe. Erst bei der Beerdigung wurde
dem Lenz eigentlich bewusst, dass sein Schwiegervater vier Jahre jünger gewesen
war als er. Er hatte ihn immer so wahrgenommen, wie er ihn gesehen hatte – als
Mann kurz vor dem Eintritt ins Rentenalter.
Einmal in die Öffentlichkeit geraten, ohne größeren Schaden zu nehmen,
fing der Lenz an, seine zwielichtige Berühmtheit zu genießen. Er begann seinen
Kleidungsstil zu wandeln und suchte immer häufiger die Nähe einflussreicher
Politiker. Im Habitus war er bald von jenen
kaum mehr zu unterscheiden, die er sich durch die eine oder andere kräftige
Spende gewogen machte. Zu Beginn der 1960er war Lorenz Meester ein festes Glied
im so genannten „Kölschen Klüngel“.
„Man kennt sich, man hilft sich“, pflegte der Lenz sein Idol Konrad
Adenauer gerne zu zitieren. Kein Zweifel, er war stadtfein geworden, und dafür,
dass er es bleiben konnte, sorgte seine Frau fürs Grobe, Gerda Janke.
Die sehnig elastische Fatalistin mit der kurzen, nach hinten gekämmten,
brünetten Bubikopf-Frisur war aus diffuser Herkunft 1950 an der Seite vom Lenz
aufgetaucht und von dort nicht mehr gewichen, obwohl sie da wohl kaum älter
gewesen sein konnte als Hannelore Körber bei der Hochzeit mit ihrem Chef.
Scharf geschnittene Züge von böser
Schönheit signalisierten den Männern in diesem Spielfeld von Geld und Macht,
dass sie es trotz der nur 160 Zentimeter Körpergröße hier mit einem
gefährlichen Sprengstoffpaket zu tun hatten. Wer sie verärgerte, bekam auch
Ärger mit dem Lenz – das war klar.
Im Kanon hatten sie den Lebensstil der
Wirtschaftswunder-Jahre assimiliert und traten nun als Erfolgsduo auf.
Hannelore hatte als erste Lektion begriffen, dass weder Eifersucht noch
Stutenbissigkeit etwas am engen Verhältnis von Gerda und Lenz ändern konnten.
Wenn es zum Skifahren nach Obergurgel ging, war Gerda dabei. Wenn sie an
Sommerwochenenden Geschäftsfreunde zu einer Rheinpartie mit dem neuen Riva-Boot
luden, brillierte Gerda als Femme fatale im Mini-Bikini.
Während Hannelore und Lenz quasi Blümchen-Sex zelebrierten, hielt Gerda
Janke ihren Körper für all jene Varianten fit, die der Lenz mit seiner
niedlichen Braut nicht praktizieren wollte. Hannelore, die zwar naiv, aber
keinesfalls blöd war, arrangierte sich nachdem sie nachts auf einer Reise
einmal heimlich vom Balkon ihres Hotelzimmers in das benachbarte der Sekretärin
gelugt hatte. Insgeheim war sie Gerda sogar dankbar, dass es ihr auf diese
Weise erspart blieb, diverse Körperpositionen, -Teile und – Öffnungen
darzubieten.
Hätte Gerda andererseits geahnt, dass der Lenz in Stellungen, bei denen
sie ihn nicht mit ihrem harten Blick fixieren konnte, detailliert an Traute
dachte, wäre es vielleicht zu einer Gewalttat gekommen…
Aber zu der kam es genau so wenig wie zu der „Menage à quatre“ – wie man
so etwas im immer noch frankophilen Cologne hätte nennen können. Denn auf
einmal war in aller Dunstkreis ein frisch „rübergemachter“ Beau aus der DDR
aufgetaucht, der die Traute hofierte, aber von Gerda derart angeschmachtet
wurde, dass die sich dem Lenz fortan im wahrsten Sinne des Wortes verschloss.
Hätte die Erläuterung der latenten lenzschen Liederlichkeit eines
besonderen Beispieles bedurft, so wäre dies der Fortlauf der Handlung in den
Jahren bis zur Hochzeit von Bernhard und Traute gewesen. Leute wie Lenz können
noch so reich und mit den tollsten Häusern und Frauen versorgt sein – sie
werden nie den Neid und die Missgunst los, wenn ein anderer ähnliches ohne ihre
ausdrückliche Hilfe schafft. Lenz fehlte ja auch das Gen des gönnen Könnens.
Bernhard hingegen war ein Typ, der niemanden brauchte, dessen
Geradlinigkeit im Gegenteil bei solchen Menschen, die ihn vom rechten Weg
abbringen wollten, als anhaltende Provokation empfunden wurde. Natürlich nahm
er die Aufträge, die ihm der Lenz auf diversen im Rheinland verstreuten
Baustellen zuschanzte, gerne an. Doch die Absichten, die damit verknüpft waren
ignorierte er. Er neutralisierte diese mit exzellenter, schneller und
verlässlicher Maurerarbeit. Dabei darf ruhig spekuliert werden, dass er das
häufige und vom Lenz gewollte Aufeinandertreffen mit Gerda genauso von
vornherein durchschaute wie die mit den Engagements einhergehende Trennung von
Traute…
In Lenz fand eine Implosion unbändiger Wut statt, als er im März 1970
nicht nur von dem Luftschloss in Ligurien und der Schwangerschaft von Traute
erfuhr. Das war der Höhepunkt unbequemer Niederlagen. Wen wunderte es da noch,
dass der Lenz auch ein schlechter Verlierer war:
Die von Bernhard nicht erhörte und dem Lenz gegenüber nun zugeknöpfte
Gerda hatte sich mit einem international operierenden Baulöwen aus Düren
eingelassen und ihn gleich geheiratet, nachdem sie an sich gegenseitig als
liebenswert eine unüberbietbare Skrupellosigkeit festgestellt hatten.
Bei eben diesem Bauunternehmer heuerte Bernhard auf Vermittlung der ihn
immer noch begehrenden Gerda als gut und nun korrekt und regelmäßig bezahlter
Bauleiter an, um seiner Familie die nötige Sicherheit zu geben. Sein erstes
Projekt war ein gigantisches Bauvorhaben in Süd-Spanien. Ein Führerschein war
nun unerlässlich, denn vor Ort wartete ein Dienstwagen. Auch ans viele Fliegen
musste er sich erst gewöhnen.
Der Lenz jedoch – nun über sechzig – wurde kein bisschen weise. Er
schnappte sich seine 30jährige Hannelore und reiste mit ihr nach Castellinaria,
wo er die Abwesenheit von „Don Bernardo“ nutzte, um sich mit Bargeldbündeln als
„Don Lorenzo“ zu etablieren. Als Bernhard erstmals Urlaub von seiner
Großbaustelle nehmen konnte und wieder nach Castellinaria kam, gehörte seinem
Schwager bereits ein Dutzend der aussichtsreichsten Häuser…
6. Kapitel
Wie die Steine aus der Spur gerieten
Bernhards wunderbare Jahre auf Rügen waren
auch die Zeit des Aufstiegs eines Mannes zum ganz großen Sportstar der DDR.
Gustav-Adolf Schur, genannt „Täve“, war durch seine Leistungen auf dem Rennrad
zu einem Vorreiter der kommenden Sport-Supermacht geworden und als erster noch
aktiver Weltmeister 1959 in die Volkskammer eingezogen.
Bernhard wurde nicht „Täves“ ultimativer Fan wegen der vielen Siege und
dessen tadelloser Haltung als Sportsmann, die später im Exil der Schriftsteller
Uwe Johnson (Mutmaßungen über Jakob) literarisch manifestiert hatte. Vielmehr
entdeckte er in der Geradlinigkeit des
politischen Athleten sehr viel von seiner eigenen Einstellung zum selbst
ernannten Arbeiter- und Bauernparadies:
Wenn einer an einer Sache grundsätzlich mitarbeiten will, auch wenn
einem da Auswüchse sauer aufstoßen, dann muss er dort, wo er anpackt, das Maul
aufmachen. Das tat der „Täve“ (übrigens auch noch als er nach der
Wiedervereinigung bis 2002 als sportpolitischer Sprecher für die PDS im
Bundestag saß), und deshalb schwang sich Bernhard quasi solidarisch aufs
Rennrad.
Man hatte den „Ruinen-Bernd“ als Einzelkämpfer mit der Maurerkelle
überall auf der Insel zu aufgelassenen Herrenhäusern und Villen geschickt. Die
SED und ihre diversen Unterorganisationen hatten auf einmal auch einen enormen
Bedarf an Schulungszentren sowie Sport- und Erholungsheimen. Zum Teil waren die
so entlegen, dass er bei Eiseskälte und ohne bereits wieder funktionierende
Installationen regelrecht in ihnen kampieren musste.
– Er war also mit seinen verqueren politischen
Ansichten erst einmal aus dem Weg. Denn ohne fahrbaren Untersatz war er
deutlich isoliert von Kollegen, die seine Ansichten hätten teilen können. Aber
als Held der Arbeit mit 10 000 Mark in der Tasche kam er trotzdem schneller an
so einen Renner – wie ihn der „Täve“ fuhr - als der Rest der Bevölkerung. Der musste
bei den nun durch die spontane Nachfrage provozierten Engpässen der
VEB-Fahrradproduktion zum Teil erst einmal Bezugsscheine für einfachste
Drahtesel erwerben. Bernhard jedoch erhielt sein Velo, das bis ins Detail dem
seines Idols entsprach, direkt von der elitären Sportgeräte-Schmiede im Umfeld
der Leipziger Sportfakultät und war mit ihm wieder zurück in der
Polit-Agitation.
Von da an sah ihn die Inselbevölkerung egal ob bei Gluthitze, bei steifem Wind oder splittrigem Frost zu
diversen Baustellen über das kupierte Gelände Rügens düsen. 30 Kilometer nach
dem Frühstück von seiner nun festen Unterkunft in Gustow zur Arbeit und abends auf Umwegen über die Genossen zurück
waren keine Seltenheit. Aber jetzt war ihm zu Raum und Zeit auch die Kraft
gegeben. Und die wuchs noch mit jedem geradelten Kilometer.
Dem Streckenschwimmen, seiner zweiten Leidenschaft, frönte er, so bald
die Wassertemperatur der Ostsee im Sund über 16 Grad lag. – Auch da
interessierten ihn die übrigen Wetterbedingungen dann nur beiläufig.
Er war zu einer testosteronträchtigen, nahtlos gebräunten Augenweide für
Freunde der Körperkultur mutiert, als er sich für den Juli 1960 zum
Sundschwimmen anmeldete. Das älteste deutsche Langstrecken-Schwimmen über 2,3
Kilometer von Rügen über den Strelasund nach Stralsund hinüber schien ihm der
richtige Test für sein neues, ganz persönliches Kontinuum zu sein. Er hatte
sich lediglich vorgenommen, die Strecke in etwa dreißig Minuten zu schaffen.
Wie er dann unter den tausend Mitschwimmern abschnitt, war ihm eigentlich egal,
denn er war ja kein registrierter Wettkampfschwimmer – eher ein
Gentleman-Sportler.
Für ihn wurde dann nach einem mühelosen Schwimmspaß über die
spiegelglatte Meerenge tatsächlich eine Zeit von 30 Minuten 22 Sekunden
registriert, was ihn vor allem wegen seiner richtigen Selbsteinschätzung durchaus befriedigte. Er konnte nicht ahnen, dass
ihn seine sportliche Leistung nach der Urkundenverteilung bei der abendlichen
Tanzveranstaltung in eine neue, gänzlich andere Dimension seines Lebens stoßen
würde.
Bernhard hatte – kaum zu erstem Geld gekommen – in dem spießigen Umfeld
des DDR-Alltags begonnen, ein besonderes Augenmerk auf gute und Stil sichere
Kleidung zu legen. Ausgerechnet der KPD-Opa war hierfür die Initialzündung
gewesen, denn der organisierte von Strausberg aus auf höhere Anweisung Reisen
zwecks Meinungs- und Gedankenaustausch im Sinne der Sozialistischen
Internationalen. Es lief im Wesentlichen darauf hinaus, dass ausgewählte und
verdiente deutsche KP-Veteranen auf Einladung nach Italien oder Frankreich verbracht
wurden, um sich vor Ort einen Eindruck davon zu verschaffen, wie die Genossen
unter den kapitalistischen Bedingungen – beispielsweise denen des italienischen
Wirtschaftswunders - ihre Ziele verfolgten. Auf Gegeneinladung sollten die
italienische Socii und die französischen Copains sich dann
propagandaträchtig darüber vergewissern, wie viel toller dies unter den
Paradigmen des real existierenden DDR-Sozialismus funktionierte – oder auch
nicht.
Die Berichte des Großvaters über den „Spaghetti-Kommunismus“ eines
Palmiro Togliatti oder über den sozialistischen Jungstar Enrico Berlinguer
hatten bei Bernhard wohl erstmals die (häufig wohl auch genetisch veranlagte)
Sehnsucht nach dieser Leichtigkeit des Lebens im Süden aktiviert; die Sehnsucht im goethischen
Sinne nach „dem Land, wo die Zitronen blühen“ war es jedenfalls nicht. Die
abgebildeten Genossen der PCI in ihrem Parteiblatt „L’Unita“, das dem KPD-Opa
wegen der Berichte über seine Reisegruppen gelegentlich geschickt wurde,
machten einen so gänzlich anderen Eindruck als die stets verknöcherte Riege der
DDR-Führung. Berlinguer wurde in seinem Charisma eindeutig von der lässigen
Eleganz seiner Kleidung gestützt, was selbst im miesen Druckraster zu erkennen war.
Kleider machen Leute. Dieser alte deutsche Spruch hatte in der DDR
völlig an Bedeutung verloren. Selbst die halbstarke und aufmüpfige DDR-Jugend, die sich in „Röhrenhosen“
genannte VEB-Jeans zwängte und sich Haartollen im Elvis-Stil kämmte, wirkte
irgendwie hilflos uniform. Das wollte Bernhard nicht. Er fand, Sozialismus und
Schick mussten sich nicht ausschließen, und sein Handwerk sollte ihn erst recht
nicht daran hindern, schnieke auszusehen.
Ein Freund von der Berufsschule hatte sich in Strausberg als Schneider „selbständig“
gemacht. Zu dem ging er und zeigte ihm die Fotos aus dem italienischen
Parteiorgan. Der „baute“ zuzüglich eigener Ideen die Anzüge, Hosen und Jacken
der italienischen Genossen nach und
wurde dadurch, dass die intellektuelleren Führungskreise später bei ihm
schneidern ließen, einer der wenigen erfolgreichen „privaten Unternehmer“ der
DDR…
Mag sein, dass Bernhard mit seinem Auftritt bei der Siegerehrung und
dem, was diesem folgte, so eine Art Anschub-Marketing für den Freund geleistet
hatte: Jedenfalls sprang er bei der Siegerehrung mit einem federnden Satz blond
und braun gebrannt in einem stahlblauen, zu seinen Augen passenden Maßanzug, auf
die Bühne. Es war die zweite Begegnung mit Otto Dudenhove.
Dudenhove war nicht nur Volkskammer-Abgeordneter, sondern er war als so
eine Art „Capo di tuti Capi“ für alle Bau-Kombinate in Mecklenburg zuständig.
Und der zu diesem Zeitpunkt natürlich
dort noch unbekannte Mafia-Ausdruck, der Bernhard später so geläufig werden sollte,
passt in der Nacherzählung wahrlich am besten, weil Dudenhove seinen geplanten
Aufstieg ins Politbüro durchaus mit den Mitteln eines Paten bestritt.
Charakterlich ein echter Eisbär mit entsprechendem Raubtier-Instinkt
schaffte es sein oberflächlicher Charme immer wieder, dass es seine Opfer erst
vor Angst fror, wenn er sie schon auf einer Eisscholle zum Verspeisen isoliert
hatte. Bernhard sollte es genau so ergehen. Die Eisscholle für Bernhard im übertragenen
Sinne des Wortes war Dudenhoves Töchterchen Käthe, die an diesem Abend Medaillen, Urkunden und Küsschen verteilte.
So lange war es noch nicht her, dass Bernhard „Held der Arbeit“ geworden
war, und die Tatsache, dass er zeitlich als bester nicht organisierter Schwimmer an die Spezialisten heran
geschwommen war, bot daher dem Politiker Gelegenheit zum Schwadronieren. -
Käthe und Otto wussten, wann sie Klasse vor sich hatten, die sie für ihre Ziele
nutzen konnten.
Während Otto also mehr blumige Worte zu Bernhard Kleiners
sozialistischer Vorbildfunktion fand, als für die Leistung der eigentlichen
Sieger des Sundschwimmens, winkte er die Fotografen herbei. Die schossen ein
Foto von den sich freundschaftlich umarmenden Männern, an die sich Käthe
drückte, als seien die Drei da schon diese spontan von ihr geplante DDR- Vorzeigefamilie:
Der verwitwete Spitzenfunktionär, seine Tochter als Studentin in einem
Männerberuf und der potenzielle Schwiegersohn, ein Maurer bäuerlicher Herkunft
mit dem Stern eines Helden der Arbeit dekoriert – und ein Schwimmstar wider
Willen.
Bis dahin hatte Bernhard – einmal abgesehen von ein paar
Maurer-Jungen-Abenteuern mit Mädchen, denen man im natürlich
prostitutionsfreien Sozialismus als Gegenleistung Gefälligkeiten erweisen
musste - keine Ruhe gehabt, um Frauen
kennen zu lernen. Sich an einem Ort länger als nötig aufzuhalten, um einer Frau den Hof zu machen,
wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. Das sollte sich jetzt durch dieses
Mädchen ändern, denn Käthe war fest entschlossen, dem sozialistischen
Muster-Mannsbild Bernhard ein Kind zu machen.
Da Bernhard keine Ahnung von Frauen hatte und dem Phänomen der wahren
Liebe noch nicht begegnet war, hatte er natürlich auch erst recht keine Ahnung,
dass es zu deren edlem Ideal-Bild auch Varianten gab, die von Machtinstinkten
gesteuert wurden. Als ihm Käthe offen Avancen machte, war es um ihn geschehen.
Er verliebte sich in das mittelgroße Mädchen mit den streichholzlang
geschnittenen braunen Haaren, obwohl ihm der burschikose, knabenhafte Typ
eigentlich nicht so lag.
Käthe studierte Bau-Ingenieur in Rostock, und so wie Bernhard ein
Ideal-Mann nach DDR-Muster war, so entsprach Käthe der Vorstellung, wie Frau in
dem Arbeiter- und Bauernstaat zu sein hatte, wenn sie eine intellektuell gesteuerte
Führungsposition einnehmen wollte: eine linientreue Kaderideologin, die keiner
Aufgabe auswich, bei jeder Parteisitzung das Wort ergriff und sich gerade
soviel weiblichen Charme zugestand, dass sie auf Knopfdruck begrenzte Begierde
bei Kollegen auslösen konnte. Das geschah aber ausschließlich, damit sie ihre Ziele
leichter erreichen konnte.
Beim ersten Knutschen mit Bernhard dachte sie, um in Fahrt zu kommen, an
die Rundungen der etwas übergewichtigen Kommilitonin mit dem kantig slawischen
Gesicht, die das Zimmer im Studentenheim mit ihr teilte. Natürlich besaß sie
soviel Selbstkontrolle, dass sie dieser speziellen aber sicher
karrierefeindlichen Neigung niemals nachgegeben hätte. Es ist aber denkbar,
dass sie gerade deshalb sexuell so funktionell und offensiv bei Bernhard
vorgehen konnte, weil sie sinnlich eigentlich nicht bei der Sache war.
Bernhard merkte davon zunächst vor allem deshalb nichts, weil er umgarnt
und umsorgt wurde wie seit dem Tod seiner Mutter nicht mehr. Und auch die
Tatsache, dass ein so wichtiger Mann wie Otto Dudenhove ihn nicht nur wegen der
Liaison mit seiner Tochter wichtig nahm, gab ihm ein gutes Gefühl.
Dass der Funktionär ihn wieder nach Stralsund holte, weil er den jungen
Mann um sich haben wollte, ihn zudem in „seine Kreise“ einführte, schmeichelte beider
Eitelkeit. Bernhard stellte sich nicht einen Moment die Frage, wieso ihm
Dudenhove, in dessen Macht es ja gestanden hätte, nicht gleich Arbeit und Quartier im nur hundert Kilometer
entfernten Rostock vermittelt hatte. War es doch so offenkundig gewesen, dass
Käthe und er ein Paar waren und schon bald auch ans Heiraten dachten…
Aber dann war eben wieder „politischer“ Alltag. Die Tageszeitungen mit
den Aufmachern über den schwimmenden Helden der Arbeit waren beim Altpapier und
drohten in Vergessenheit zu geraten. Das konnte der Propaganda-Profi Dudenhove
natürlich nicht zulassen. Er sorgte also dafür, dass sein Schwiegersohn in spe
als „Fachberater“ kaum noch von seiner Seite wich. Er spielte dabei bewusst mit
dem Kontrast zwischen dem zivilen und dem handwerklichen Erscheinungsbild
seines Protegées und verschaffte sich mit diesem Trick selbst Kompetenz. Denn
tatsächlich hatte Dudenhove von den meisten Dingen am Bau keine Ahnung.
So wie Bernhards Fixstern der „Täve“ war, so hatte sich Otto Dudenhove
einen Mann als Orientierung für seine Karriereplanung erwählt, der etwa gleich
alt und noch smarter bei der Auslotung und Erschließung persönlicher
Geldquellen im real existierenden Sozialismus war als er selbst. Sie hatten
Berührungspunkte, weil der Mann als Vertreter des Außenhandels auch in einer
übergreifenden Baukommission saß: Alexander Schalck-Golodkowski.
Der aalglatte Karrierist, dessen Doppelspiel zwischen beiden deutschen Staaten
auch nach der Wiedervereinigung (wohl auf höhere Beeinflussung) bis heute nie
vollständig ausgelotet werden konnte, war eindeutig charismatisch, kleidete
sich da aber eher noch unvorteilhaft. Dudenhove, der sich von Bernhard bald die
Adresse des Strausberger Schneidermeisters hatte geben lassen, reichte die
flugs an sein Idol Schalck weiter, und es darf angenommen werden, dass die
beiden darauf hin eine Art geschäftliches Interesse aneinander pflegten. Jedenfalls
häuften sich in persönlichen Gesprächen mit Bernhard Sätze wie: Der Genosse
Schalck-Golodkowski hat das gesagt. Der Alex meint dies. Der Golo glaubt das…
Derweil radelte Bernhard an jedem freien Wochenende die hundert
Kilometer zu Käthe nach Rostock. Anfangs noch mit einem Rucksack, in dem die
„Ausgehkleidung“ verstaut wurde. Aber nachdem der DKP-Opa begonnen hatte, von
seinem Taschengeld aus Italien Felgen, Reifen, Naben, Zahnkränze und
Übersetzungen solcher Edelmarken wie Colnago und Campagnolo für seinen
radnärrischen Enkel mitzubringen, war Bernhard die Idee zu seiner „Zauberkiste“
gekommen.
Noch heute rätselt er, ob ihn schon da eine gewisse Ahnung dazu
getrieben hatte, die fehlerhafte rundeckige Aluwanne, die er bei einem
Zulieferbetrieb abgestaubt hatte, wasserdicht zu machen. Jedenfalls schuf der
Schrauber und Bastler Bernhard mit den zwei ausrangierten Rädern Leipziger
Bauart und einem zurechtgebogenen Lochblech-Profil als Deichsel einen
ultraleichten Radanhänger, der mit einer Persenning komplett abgedeckt werden
konnte. Die Konstruktion lief so leicht und verteilte den Druck trotz Zuladung
derart gut, dass es in der Ebene kaum zur Verlangsamung des Fahrtempos kam.
Bernhard hätte mit so einem „Buggy“ im Westen ein Vermögen machen können, zumal er bis zum Frühjahr 1961 noch diverse
Verbesserungen an seiner Erfindung vorgenommen hatte. Dann aber sollte die „Zauberkiste“
über Nacht eine gänzlich andere Bedeutung bekommen.
Schlag auf Schlag hämmerte das Schicksal Bernhard da einen anderen Kurs ein.
Es begann damit, dass Käthe sich Ende April schwanger fühlte und, was das
Heiraten anging, aufs Tempo drückte. Doch die Euphorie, die Bernhard durch
diese Verkündigung beseelte, erhielt einen Dämpfer durch ein denkwürdiges
Besäufnis mit seinem Schwiegervater in spe.
Am Abend des 1.Mai nach diversen Feierlichkeiten am Tag der Arbeit
hatten die zwei nicht aufhören können und waren noch mit einer Flasche Wodka auf
Bernhards Bude versackt.
Es ist keine besondere Erkenntnis, dass sich nüchterne Charaktere im Stadium der
Trunkenheit anders offenbaren. Während Bernhard zu den Typen gehört, die ruhig
und bedächtig werden, löste das Feuerwasser bei Otto Dudenhove einen
unerwarteten Hang zu einer ansonsten gnadenlos kontrollierten
Extrovertiertheit. Nie hätte er sich das gestattet, wenn er sich seines
Schwiegersohns nicht schon so sicher gewesen wäre. Auf einmal verfiel er
nämlich genial in die nasale Fistelstimme Walter Ulbrichts und hielt eine
Ansprache, die bewusst und deutlich konspirativ nur für die Ohren Bernhards bestimmt
war:
„Maurer! Genossen in den Bau-Kombinaten! Es wartet eine große
vaterländische Aufgabe auf Euch. Die Partei, das Zentralkomitee und ich haben
gemeinsam mit unseren Genossen aus der glorreichen SU beschlossen, einen
Schutzwall gegen die permanenten US-imperialistischen Übergriffe zu errichten,
die sich vom Staatsgebiet der BRD aus auf die Souveränität unserer Deutschen
Demokratischen Republik richten.“
Hätte er die Augen geschlossen gehabt, Bernhard hätte die Sätze für eine
Original-Ansprache gehalten. So aber hatte er sie vor Schreck weit aufgerissen,
und lachen konnte er über diese perfekte Parodie auch nicht.
Zumal Dudenhove jetzt mit schwerer
Zunge zwar, todernst in seine eigene Sprache zurück fiel:
„Die Frontarbeit werden die Pioniere der NVA mit den russischen Genossen
leisten. Von uns im Hintergrund erwartet man, dass wir die Logistik
vorbereiten. Wenn du dich da mit einbringst, wirst du am Ende mehr sein als nur
ein Held der Arbeit. Du musst mir helfen, große Mengen Material von unseren
größeren Baustellen hier in Richtung Lübecker Bucht umzulenken. Ich brauche
dafür einen verlässlichen Genossen, der den Deckel möglichst lang auf dem Topf
halten kann und sich nach geeigneten Gebäuden umschaut, die mit wenig
Umbauarbeiten als Quartiere für das aufgestockte Grenzpersonal geeignet sind.“
Bernhard nickte versonnen, doch was der andere als kadertreue Zustimmung
interpretierte, war das Bejahen einer schlagartig nüchternen persönlichen Entscheidung,
die der „Freimaurer“ in Sekunden getroffen hatte. Er würde nicht helfen, die
Spur der Steine zu verändern. Er würde sich selber verändern – räumlich!
Am darauf folgenden Wochenende
versetzte er Käthe ohne Nachricht und kurbelte die etwa 270 Kilometer
Landstraße von Stralsund nach Strausberg zu Großvater und Bruder in knapp
sieben Stunden herunter. – Dabei hatte er bereits die gewisse, von
allgegenwärtiger Staatssicherheit gespeiste Paranoia als „schwere Last“ im
Rucksack seines schlechten Gewissens. Was, wenn Käthe nun tatsächlich schwanger
war?
Seine beiden letzten direkten Verwandten waren nicht wenig überrascht,
ihn so unvermittelt mit dem Rad auftauchen zu sehen. Und sie waren besorgt, als
er nach der gerade überstandenen Strapaze darum bat, sie mögen doch am Straussee
einen schönen Abendspaziergang machen.
Während sie zum Fischerkietz hinunterschlenderten, fiel Bernhard mit der
Tür ins Haus:
„Der Ulbricht will einen sozialistischen Menschenzoo aus uns machen. Er
will uns einmauern und einzäunen – angeblich um uns vor US-imperialistischen
Übergriffen zu schützen. Ich weiß nur nicht, wann und wo es losgeht. Ich bin aber
für Juli wohl schon diesbezüglich an die Lübecker Bucht abgestellt.“
Der linientreue SED-Opa machte einen weit weniger überraschten oder gar
abweisenden Eindruck als Bernhard erwartet hatte. Sein Bruder Robert allerdings
brach das kurze Schweigen als erster. Er, der nach dem 17. Juli 1953 und dem
Aufstand der intellektuelle Jugend 1956 trotz Jugendweihe und FDJ-Zugehörigkeit
nicht nur aufgrund seiner gesundheitsbedingten Zurückhaltung bei Aktivitäten
manch Demütigung zu schlucken gehabt hatte, war längst ideologisch von der
Linie abgerückt:
„Das ist Verrat an der Idee. Da siehst du Opi, was du immer nicht
wahrhaben wolltest. Wir leben im tiefsten Faschismus.“
Bernhards Großvater machte einen gelassenen Eindruck und reagierte gar
nicht empört auf den Angriff seines jüngeren Enkels:
„Ich nehme an, es geht noch diesen Sommer los, denn ich habe dieser Tage
die Mitteilung bekommen, dass es ab Juli keine Reisen mehr zu oder gar
Einladungen für ausländische Genossen aus dem Westen geben soll. Für Juni steht
noch eine Reise nach Mestre an, die venezianischen Genossen werden vierzehn
Tage später zum Gegenbesuch erwartet. Dann soll auf höhere Weisung erst einmal
Schluss sein mit unserer Beteiligung an Treffen der Sozialistischen
Internationale außerhalb des Warschauer Paktes.“
„Dann müsst ihr raus!“
Bernhard wusste, dass sein Großvater, der nach dem Tod der Mutter ihr Vormund
gewesen war, seinen kleinen Bruder schon einige Male als Unterstützung auf die
Reisen hatte mitnehmen dürfen, wenn Schule und später das Studium dies zuließen.
„Ich weiß nicht. In meinem Alter alles aufgeben?“
„Denk an Robert und sein krankes Herz. Was hat der als Bruder eines
Republikflüchtlings zu erwarten. Noch dazu, wenn der ein Held der Arbeit
war?...“
„Das heißt, du willst hier auf alle Fälle weg, wo du es dir doch gerade so
gut eingerichtet hast?“
„Ich habe mir geschworen, dass ich nie wieder frieren will und momentan
ist mir ganz eisig kalt ums Herz.“
Es gab eine Schwester des verstorbenen SPD-Opas in Kerpen bei Köln.
Bernhard empfahl ihnen, sich da hin zu wenden und drückte dem Großvater 4000
Mark von seiner Prämie in die Hand. Dann tranken sie noch ein paar wehmütige
Gläser Bier in einer traditionellen Fischerkneipe, deren Gemütlichkeit der
Resopal- und Plaste-und-Elaste-Sozialismus noch nichts hatte anhaben können.
Im Morgengrauen war er ohne Abschied, aber mit der Hoffnung zurück
geradelt, die beiden im anderen Deutschland wohlbehalten wieder zu treffen –
mit oder ohne Käthe.
Mitte Juni bekam Bernhard eine in Strausberg abgestempelte Postkarte.
Auf einer persönlich unterschriebenen Autogramm-Karte von Berlinguer, die der
Großvater wohl in einem Anfall von Galgenhumor umfunktioniert hatte, stand in
der krakeligen, nur von nahen Verwandten zu entziffernden Schrift:
„ Vinceriamo! Wegen des bevorstehenden Feiertages erwarten wir auch
viele unserer westdeutschen Genossen. Salve Enrico.“
Das war das vereinbarte Zeichen, dass der Großvater und Robert dazu
entschlossen waren, sich am 16. Juni von ihrer Reisegruppe abzusetzen. Das
bedeutete auch, dass Bernhard an diesem Tag, beziehungsweise in der Nacht zum
„Tag der Deutschen Einheit“ seine bis ins Detail geplante „Ausbürgerung“
antreten würde.
Und zwar ohne schlechtes Gewissen. In einigen vorsichtig und taktisch
klug geführten Gesprächen mit Käthe hatte er erfolgreich ausgelotet, dass die
fanatische Beziehung seiner Freundin zur DDR die vermeintliche Liebe zu ihm
erheblich überwog – nein, eigentlich klar ausschloss. Diese bittere Erkenntnis ging einher mit Käthes Geständnis, dass sie
zwischenzeitlich längst wieder ihre Regel gehabt hätte. Anfang Juni war die
Gefühlskälte zwischen ihnen spürbar so groß geworden, dass Bernhard einen
bewusst mit Käthe herbei geführten Streit als inszenierten Abgang und Ausrede
geplant hatte, - falls er bei seiner Republikflucht erwischt würde.
Was dann tatsächlich ablief, ist ein aus Bruchstücken zusammen gesetztes
Mosaik aus Spekulationen. Bis weit in die 1990er beharrte Bernhard darauf, er
habe die DDR wegen eines „Kavaliersdeliktes“ verlassen. Obwohl er
Stasi-Übergriffe da schon nicht mehr fürchten musste, ließ er sich detailliert
weder über die Fluchtroute noch über die drei Monate aus, die er brauchte, um
in Kerpen wohlbehalten wieder mit dem Großvater und seinem Bruder zusammen zu
treffen.
Da er auf seinem Rennrad samt „Zauberkasten“ dort eintraf, liegt die
Vermutung nahe, die Flucht sei radelnd und schwimmend erfolgt. Das beharrliche
Schweigen darüber war aber möglicher Weise auch aus Sicherheitsgründen derart
in Fleisch und Blut übergegangen. Nach und nach trafen in Kerpen nämlich
Genossen im Geiste ein; also andere „Freimaurer“, die mit Bernhard in
verschiedenen Kombinaten und Kolonnen malocht hatten. Das Schlupfloch, durch
das sie „rüber gemacht“ hatten, hielt zumindest bis zum Frühsommer 1962. Da war
es auf Initiative von Bernhard schon zur Gründung des „Bullenklosters“ gekommen:
Seine sieben „konspirativen“ DDR-Kollegen, Bruder Robert und Willy
Granzow, der sich fortan verbat, KPD- oder SED-Opa genannt zu werden, zogen mit
Bernhard in ein Appartementhaus vom Lenz, bei dessen Bau er gewissermaßen schon
als Polier gewirkt hatte.
Aber da hatte ja schon die wirklich
große, wahrhaftige und einzige Liebe seines Lebens Besitz von Bernhard
ergriffen.
7. Kapitel
Traute
Die, die nur nach dem Äußeren eines Menschen gehen, machen es sich oft
bei ihren Beurteilungen wissentlich zu leicht. Das Vorurteil, eine Frau müsse
nur gut genug aussehen, um Erfolg und Glück im Leben zu haben, hält sich sogar
bei intelligenteren Menschen. Traute Körber war, bis sie sich endlich die Liebe
ihres Lebens erarbeitet hatte, das Opfer multipler Vorurteile:
Vorurteil 1: Wer einmal im Keller gehaust hat, bleibt meist auch ein
Kellerkind - also sozial unterste Schublade.
Als Familie Körber 1943 in Köln ausgebombt und ins Bergische Land auf einen Bauernhof umgesiedelt
worden war, musste die dreijährige Traute an der Hand ihrer älteren Schwester
Hannelore schon große Strecken auf eigenen Füßen zurücklegen. Die Mutter schob
den Kinderwagen mit den anderthalb jährigen Zwillingen Rolf und Renate und
einen Bauch vor sich her, aus dem in zwei Monaten Tochter Nummer vier schlüpfen
sollte: Vielleicht das Abschiedsgeschenk von Eddie Körber, der kurz nach seinem
finalen Zeugungsakt auf möglicher Weise nimmer Wiedersehen an die Ostfront
geschickt worden war.
Die Demütigungen, die die Stadtkinder bis ein Jahr nach Kriegsende dort
von der Landbevölkerung erfuhren, waren nichts gegen die Wohnverhältnisse und
den Hunger, den sie trotz fleißiger Erntearbeit zu erleiden hatten. Der Bauer
hatte ihnen eiligst den muffigfeuchten Unterbau einer Scheune frei geräumt.
Plumpsklo und Pumpe zum Waschen lagen auf der anderen Seite vom Hof.
Um die Versorgungsverhältnisse ihrer Kleinen bisweilen ein wenig zu
verbessern, ließ Mutter Körber es zu, dass der Bauer ihr gelegentlich im Stall
oder, in einem vermeintlich unbeobachteten Moment bei der Pause von der
Feldarbeit die Röcke über den Hintern hochschlug. Was er dann machte, kannten
die beiden großen Mädchen, die mehrfach spionierten, von Hengst und Stute auf
der Weide.
Durch eine Fehlmeldung kurz vor Weihnachten 1946 hieß es, sie könnten in
ihre alte Wohnung zurück. So hoffnungsfroh waren sie gewesen, von dem Bauernhof
fort zu kommen, dass sie eine Rückversicherung gar nicht in Erwägung zogen. Zu
sechst standen sie mit ihrer armseligen Habe und löchrigen Klamotten vor ihrem
einstigen Wohnhaus, das allerdings immer noch so aussah wie nach dem
Bomben-Einschlag. Ein Zahlenverdreher bei der Straßennummer hatte sie zum
zweiten Mal obdachlos gemacht.
Bis 1947 lebten sie folglich in einer zum Massenquartier
umfunktionierten Kaserne. Sie teilten die Stube mit einer Kriegswitwe, die zwei
kleine Buben hatte. Das Zusammenleben war ein Alptraum. Hygiene und
Privatsphäre konnten nur mit erheblichem Kraftaufwand bei der Selbstdisziplinierung
erreicht werden. Die beiden Frauen vermochten immerhin jedoch im Wechsel einer
bescheidenen Erwerbstätigkeit nachzugehen.
Mutter Körber hatte dabei Glück im Unglück – oder umgekehrt? Sie fand
Arbeit bei einer Änderungsschneiderei, die in einem ehemaligen Textil-Geschäft
von den Eigentümern im eigenen Haus betrieben wurde. Bei dem Haus war nur der
Dachstuhl zerstört. Weil sie sehr fleißig war und bei Überstunden nicht murrte,
machte ihr der Arbeitgeber den Vorschlag, es sich mit ihren Kindern und den
dort noch vorhandenen, nicht so ramponierten Möbeln, unter dem unbeschädigten Teil des Speichers
gratis häuslich einzurichten. Damit begann eine fünfjährige nahezu sklavische
Abhängigkeit der Körbers, in der das Textilgeschäft wieder auferstand und das Dach mit den Körbers drunter sowie Etage
um Etage wieder saniert wurde, ohne dass sich jedoch deren Lebensverhältnisse sonderlich
verbesserten. Dann erst flohen sie aus Verzweiflung in das Souterrain, aus dem
sie der Lenz dann „befreite“
Hannelore und Traute wurden trotz des Altersunterschiedes zusammen
eingeschult. Die britische Besatzungsmacht hatte sich alle Mühe gegeben, das
Deutsche Bildungssystem zu entnazifizieren und wieder auf ein gewisses Niveau
zu bringen. Damit die Schüler nicht gezwungen waren, wegen der permanenten
Nahrungssuche in diesen chaotischen Verhältnissen die Schule zu schwänzen,
wurden sie von den Tommys mit einem Mittagsessen – meist Suppe oder Brei – zum
Besuch des Unterrichts regelrecht angelockt. Damit Mutter Körber ungestört
durchschuften konnte, nahmen die beiden großen Mädchen die drei kleinen
Geschwister einfach mit in den Unterricht und Teilten den Inhalt aus den zwei
Kommissbüchsen durch fünf. Niemand erhob Einwand dagegen, obwohl die mangelhaft
ausgestatteten und kaum geheizten Klassenzimmer der Notschulen ohnehin
hoffnungslos überfüllt waren…
Vorurteil 2: Außergewöhnliche Intelligenz bahnt sich von selbst ihren
Weg.
Obwohl sich Traute im Gegensatz zu Hannelore mit ihren Leistungen aus
den unüberschaubaren Klassen stets nachhaltig heraus hob, reüssierte sie nicht.
Die Lehrer, die vor allem auch wegen der hohen sozialen Kompetenz, die Traute
von Beginn an entwickelt hatte, nicht müde wurden, Empfehlungen für das
Gymnasium und ein späteres Studium auszusprechen, fanden kein Gehör.
Hannelores frühe Hochzeit war ebenso kontraproduktiv wie die wenigen
Monate väterlicher erzieherischer Begleitung.
Eddie Körber hatte selbst am eigenen Leib verspürt, dass er durch die
Heirat seiner Töchter einen Status einnahm, den Leute aus seinen Kreisen sich
nie und nimmer hätten erarbeiten können. Warum sollte Traute dann unnütz die
Zeit auf der Schule verplempern?
1954 war Traute immer noch auf der Volksschule und alles hatte darauf
hingedeutet, dass sie dort auch ihren Abschluss gemacht hätte. Wenn es im Leben
des Lenz aus menschlicher Regung eine Handlung gegeben hat, die in der Folge zu
etwas Gutem führte, dann war es sein Beharren, Traute müsse zumindest die
Mittel- und danach eine Handelsschule besuchen. Die edle Tat wurde später
allerdings von Traute selbst als Akt der alternativen sexuellen Langzeitversorgung
enttarnt. Meesters Büro in Porz lag nur um die Ecke von den beiden avisierten
schulischen Einrichtungen, und er selbst bestand darauf, sich persönlich um
Trautes Fortkommen zu kümmern. Neben der Überwachung der Hausaufgaben sollte
sie so auch gleichzeitig in den Vorzug kommen, alle fürs Büro von der Pieke auf
zu lernen…
„Dat Jerda, dat Aas“, hatte natürlich den Braten als erste gerochen und
machte sich einen Spaß daraus, ein ums andere Mal ihrem Sex- und
Geschäftspartner auf die vor
vorfreudiger Geilheit bis auf den Boden feudelnde Zunge zu treten. Und
zwar so, dass es immer richtig weht tat.
Vorurteil 3: Schönheit muss nicht arbeiten.
Da war aus dem Gör, das langgliedrig und dürr
war wie eine Gottesanbeterin plötzlich mit gerade einmal sechzehn eine hoch
aufragende Schönheit geworden, die selbst angebetet wurde. Selbst der freche
kleine Bruder, der sich immer über ihre Länge lustig gemacht hatte, verstummte.
Gerade hatte er noch gemeint, wenn Traute jemals Männer abbekommen wolle, müsse
sie wohl zwei aufeinander stellen, da rannten die Kerle ihnen bereits die neue
Bude in Porz ein. Aber war Traute darüber glücklich?
Ein Freund vom Lenz, der es in den wenigen Jahren zum Besitzer mehrerer
großer Friseur-Salons gebracht hatte, spannte die überragende Traute gratis als
Modell und Repräsentantin seiner neuesten Haarkreationen ein. Was Traute noch
mehr zu einem Hingucker machte. Das wiederum blieb nicht ohne Folgen auf ihr
soziales Umfeld. War sie mit Freundinnen zum Tanztee, stürzten sich die Jungs
allein auf sie, was den anderen Mädchen unbeabsichtigt das Gefühl gab,
Mauerblümchen zu sein.
Was tat Traute in ihrer angeborenen sozialen Fürsorge? Sie wurde den
Galanen gegenüber unwirsch und abweisend, damit ihre Freundinnen besser zum
Zuge kamen. Sie selbst blieb von da an stoisch hocken, was wiederum als
unnahbare Arroganz ausgelegt wurde.
Intellektuell unterfordert, zu Höherem befähigt, aber nicht erkannt und
unnahbar schön glitt die Göttin in eine Isoliertheit ab, in der sie aber nach
indischem Vorbild sechs Arme benötigt hätte, um die flinken zielstrebigen Hände
von Schwager Lorenz Meester abzuwehren. Der Lenz hatte doch so gar nichts
frühlingshaftes, war er doch erkennbar nun schon ein Mann in den Fünfzigern.
Kaum aus der Handelsschule nahm Traute also eine Lehrstelle an, die sie,
so weit es ging, aus der Reichweite dieser Fänge brachte. In Königsdorf begann
sie eine Lehre als kaufmännische Gehilfin für Im- und Export. Paradoxer Weise
bekam sie die Stelle, weil sie im Büro vom Lenz so gut aufgepasst hatte,
dass sie gleich als vollwertige Kraft
eingesetzt werden konnte. Es brauchte ihr ja kaum jemand noch etwas beizubringen
…
Man
stelle sich die ersten Begegnungen zwischen Bernhard und Traute am besten
folgender Maßen vor:
Aus dem Meer der allmorgendlich zur Arbeit schwappenden Köpfe auf den
Bahnsteigen des Königsdorfer Bahnhofs ragten zwei Leuchttürme, die ihre
Strahlen über allem kreisen ließen: Stadteinwärts Bernhard mit seinen Attitüden
eines englischen Landjunkers und langem, sonnegebleichten Blondhaar sowie dem
gepflegten Oberlippenbart, der sein stets gebräuntes Gesicht markant kontrastierte.
Und auf dem gegenüberliegenden Perron ankommend schwebte die der Garbo so
ähnliche Gottheit mit wöchentlich wechselnden, tollkühnen Frisuren, wie man sie
nur von den Titelbildern der FÜR SIE oder der Constanze kannte.
Am Anfang streiften sich die Strahlen lediglich oder kreuzten sich
bestenfalls. Aber eines Morgens verhakten sie sich kurz, und von da an warteten
alle anderen vergebens, noch einmal von beider Glanz beschienen zu werden.
Erst zehn Sekunden, dann zwanzig und
schließlich eine volle Minute ertranken sie nun täglich - immer noch durch die
Bahngleise getrennt - gegenseitig in ihren Augen. Dann wechselte Bernhard
endlich mutig auf ihre Seite und
erwartete sie. Bewusst eine Verspätung in Kauf nehmend, artig unter Wahrung
aller Anstandsregeln, sie im Gespräch auch formell siezend, begleitete er
Traute erstmals zu ihrer Firma.
Obwohl der direkte Augenkontakt die Initialzündung war, ist das keine
Liebe auf den ersten Blick gewesen, die da zwischen Traute und Bernhard ihren
Lauf nahm. Sie gingen ins Kino, wo sie zunächst einmal zögerlich Händchen
hielten, aber sich noch nicht zu küssen wagten. Sie verabredeten sich am
Samstagabend zwar zum Tanzen und gingen beim Slow auch auf Tuchfühlung,
aber den ersten Kuss tauschten sie erst nach acht Wochen bei einem
Sonntagsspaziergang am Rheinufer. Es war der Kuss seines Lebens, behauptete der
71jährige Bernhard und dabei schwammen seine Augen immer in etwas mehr
Flüssigkeit als sonst.
An diesem Sonntag war Traute schon 22 und noch Jungfrau. Bernhard war 25
und verdrängte schlagartig die nun scheinbar schon so weit zurück liegenden
Exzesse mit seiner lesbischen DDR-Braut. Er wartete noch zwei Monate, bis er
Traute vorsichtig fragte, ob sie nach dem Tanzen noch zu ihm in sein
Appartement im „Bullenkloster“ käme…
Diese Behutsamkeit, manchmal sogar Langsamkeit, bei den gemeinsamen
Schritten, sollte ihr weiteres Leben prägen. Wieder einmal war Bernhard in
einem Zeittunnel autarker Wahrnehmungen unterwegs, und dass seine Partnerin
dies akzeptierte, gab ihm eine veränderte, aber noch stärkere Selbstsicherheit.
Traute fand Bernhard auch in seinen Maurerklamotten äußerst attraktiv,
aber den Kick versetzte ihr dieser Mann immer aufs Neue, wenn er in seinen
Maßanzügen vor ihr stand. Lag es nun an Bernhards DDR-Vergangenheit, die ihn
sichtlich reifer erscheinen ließ, oder auch an Trautes reservierter Schönheit,
dass die zwei die stürmischen 1960er in einem Kokon erlebten. Klar hörten sie
Beatles und Rolling Stones und manchmal twisteten sie sich auch die Seele aus
dem Leibe, aber sie waren doch eher die Cliff-Richard-oder Paul-Anka-Typen. Zu ihrer Lebenshymne wurde jedoch Percy Sledges
“When a Man Loves a Woman“. Sie wurde natürlich auch bei ihrer Hochzeit 1966 gespielt.
Was hatte die beiden abgehalten, schon früher zu heiraten? Sie waren
doch einander so sicher. - Die Welt war
es nicht. Da kam die Kuba-Krise. Dann wurde Kennedy ermordet. Aber gleichzeitig
erhob sich Köln immer noch nachhaltig aus seinen Trümmern. Banken,
Versicherungen und Spekulanten überboten sich im Hochziehen gigantischer
Verwaltungsgebäude. - Mittendrin der Lenz als eine Art Neunauge im Kölschen
Klüngel, der sich überall parasitär festsaugte und den Versuch nicht aufgab,
den „Beschäler von Traute“ (so nannte er Bernhard verächtlich vor Dritten) auf
die dunkle Seite hinüber zu ziehen. Aber da Bernhard nur wenig von seiner
Vergangenheit preisgegeben hatte, ahnte der Lenz nicht, dass Bernhard der
Umgang mit Dunkelmännern durchaus vertraut war. Zudem konnte es sich der permanent
sich selbst überhöhende Meester wohl nicht vorstellen, dass er die „Fünfte
Kolonne“ in den eigenen Reihen hatte. Mag sein, dass Gerda Janke zunächst aus
einer Art Eifersucht die Annäherung des Lenz an Traute immer wieder geschickt
sabotierte. Aber da die rasant verstreichenden Jahre ihre Kinderlosigkeit
besiegelten, wuchsen ihr Bernhard und Traute mehr und mehr ans Herz. - Wobei
ihr langer Blick auf Bernhards männliche Attribute recht häufig nicht unbedingt
etwas mit mütterlicher Zuneigung zu tun hatte.
In der Praxis sah das so aus: Wann immer der Lenz etwas ausgeheckt
hatte, um Bernhards Geradlinigkeit zu erschüttern oder ihn in Folge nicht ganz
koscherer Vorgehensweisen von sich abhängig zu machen, steckte Gerda das der
Traute.
Der Lenz musste lernen, dass es, jenseits seiner Ränkespiele, eine
unerschütterliche Aufrichtigkeit gab, gegen die ihm kein Mittel gegeben war.
Das gefiel ihm nicht. Und es gefiel ihm noch weniger, dass dieser, sein neuer
Schwager, immer nur einen kontrollierten Schritt davon entfernt war, seinem
durchaus vorhandenen Temperament wie einen Vulkan ausbrechen zu lassen.
Im Frühjahr 1967 überraschte er im Baubüro zu einer Großbaustelle am
Kaiser-Wilhelm-Ring seinen Schwager dabei, wie er gegenüber Gerda Janke in
einem Streit handgreiflich wurde. Er ahnte doch nicht, dass das einmal „part of
the Game“ war. Gewalt gegen Frauen aktivierte bei Bernhard ganz kurze
Reizleitungen. Dass hatte nichts damit zu tun, dass Gerda dem jungen Paar eine
echte Vertraute geworden war. Jede andere Frau in dieser Lage hätte die gleiche
ungebremste Reaktion bei Bernhard ausgelöst:
Er zerrte den Lenz an seinen Jackett-Aufschlägen aus der Baracke an den
Rand der Baugrube für die dreistöckige Tiefgarage. Eine falsche Bewegung, und
der Lenz wäre fünfzehn Meter tief gefallen:
„Wie wär’s, wenn du dir mal einen gleich
starken Gegner suchtest? Ich schau mir das ja schon eine ganze Weile an und ich
weiß auch, dass du mich nur für einen rüber gemachten DDR-Trottel hältst. Aber
sollte ich noch einmal erleben – vor allem bei Gerda und Traute – dass du eine
unserer Damen nur berührst, dann hast du keinen Schwager mehr, der dich gerade
noch vor einem Fehltritt bewahrt. Dann hast du einen Unfall!“
Eine Stunde später lag Bernhards Kündigung auf dem Tisch, und irgendwie
war von da an auch klar, dass beide wohl keine echten Freunde mehr würden.
8. Kapitel
Eine Art Zauberberg
Später sollte Bernhard einmal gestehen, dass er sich nie und nimmer auf
sein italienisches Luftschloss eingelassen hätte, wenn er auch nur geahnt
hätte, doch noch Vater zu werden. Die durch die alleinigen Versorgerpflichten
bedingte höhere Verantwortung als Bauleiter war allerdings zweischneidig.
Einerseits war der Kredit für Italien im Nu getilgt, andererseits ging der
weitere Ausbau in Castellinaria nur sporadisch im knapp bemessenen
Urlaub voran. Manches musste jetzt mit italienischen und aus der Heimat über
die Adria geflohenen albanischen Bauarbeitern fortgeführt werden, sollte das
Haus nicht wieder in den Ruinenzustand zurück fallen.
Klar waren die vier ligurischen Freunde auch da wieder zur Stelle, aber
immer konnten sie die jeweiligen Vorhaben auch nicht beaufsichtigen. Der Lenz,
der die Zeit genutzt hatte, um im Ort zu Ansehen und Akzeptanz zu kommen,
spielte nun in Bernhards Abwesenheit immer
häufiger die Karte des fürsorglichen Schwagers aus. Da die Schwestern
immer noch – so sie dort zusammen waren – einen liebevollem Umgang miteinander
pflegten, war es bei den ligurischen Familienmenschen keine Frage, dass das Tun
der beiden Schwäger ebenso von den Familienbanden motiviert war.
Auf einmal fanden die Kleiners aber bei ihrer Rückkehr den ehemals
großzügigen Eingangsbereich ihres Hauses durch eine massive Mauer halbiert
wieder. Sie war während ihrer Abwesenheit eingezogen worden, weil der Lenz der
deutschen Arztfamilie, der er das unmittelbar an die Mauer grenzende
Nachbarhaus zu einem vielfachen Gewinn verkauft hatte, auch einen Eingang von
der Gasse haben wollte. Praktischer Weise war der Bauschutt des Umbaus dafür im
kleinerschen Garten gelandet…
Lucca, der im ganzen Haus des deutschen Doktors edelste Fliesen verlegt
hatte, war gar nicht auf die Idee gekommen, die Anweisungen des Schwagers Don
Lorenzo in Frage zu stellen und Bernhard von diesem „Umbau“ zu berichten.
Allerdings war er durch eine
anderweitige Motivation auch arg abgelenkt. Weil die die Arbeiten überwachende
Arztgattin vor allem einen Blick auf Luccas schneidige Erscheinung geworfen
hatte, unterhielten die beiden in engster deutsch-italienischen Freundschaft
über nahezu ein Jahrzehnt eine leidenschaftliche Sexbeziehung. Der ganze Ort
nannte den alten Eingang des Anwesens, der zum Garten führte, folglich auch „La
porta di Lucca“. Es konnte passieren, dass Lucca erst unten durch diese Tür in
die Campagna entschlüpfte, wenn der aus Deutschland angereiste Doktor
oben bereits vom beschwerlichen Aufstieg schnaufend seine Koffer in die
geraubte Diele stellte.
Klar, dass zwischen Bernhard und Lenz – da konnten sich die Schwestern
mit weiblicher List noch so sehr ins Zeug legen – die Tür zueinander für eine
lange Zeit schwer ins Schloss gefallen war. Was den Lenz nicht sonderlich
anfocht, denn er zog sein Ding durch. Am Ende der Siebziger sprach er, im
Gegensatz zu Bernhard nicht nur fließend Italienisch, sondern hatte, bis auf
ein Schmuckstück von Terrassen-Villa mit Gärten, Pool und Einlieger-Wohnung,
das er für sich selbst behielt, alle oberflächlich renovierten Ruinen, die in
Castellinaria ihm gehört hatten, verkauft; meist an betuchte Alltagsflüchtlinge
aus Deutschland und den Benelux-Staaten.
Bernhard meinte, der Lenz habe dabei mehr als eine Million Mark
steuerfreien Reingewinn gemacht. Damit er die Bebauungs- und
Spekulationsfristen von fünf Jahren auch parallel einhalten konnte, hatte er
mit Gratisurlauben Familien-Mitglieder als Strohmänner- und –Frauen gewonnen. Auch
die Körber-Zwillinge und selbst ihre mittlerweile gassenbreite Mutter, die nie
und nimmer mehr dort hochgekommen wäre, waren so eine gemessene Frist pro forma
Hausbesitzer in Castellinaria gewesen, wagten aber nicht, vom Lenz vor dem
Verkauf einen Bonus für ihr Zurücktreten zu verlangen.
Die Raffgier und Konsumstärke der neuen Bewohner dieses
mittelalterlichen Wehrdorfes hatten aber auch positive Auswirkungen; vor allem
auf die Infrastruktur. - Einmal abgesehen davon, dass der Ort vielleicht ein
Jahrzehnt später gar nicht mehr zu retten gewesen wäre.
Den endlich asphaltierten Serpentinen vom Capoluogo hinauf folgte bald auch ein geteertes, steiles
Sträßchen des neu gegründeten Konsortiums durch die Oliventerrassen zum höher
gelegenen oberen Dorfrand. Das erleichterte Transporte und Lieferungen und trug
ein wenig dem nun rasant wachsenden Bedarf an Parkplätzen Rechnung.
Die kleinen heimischen Bauunternehmen, bei denen der Impresario meist
Maurer und Architekt – beziehungsweise Geometra - in Personalunion war, konnten auf einmal Leute
einstellen und mussten nicht mehr zeitweise in andere Regionen Italiens
ausweichen. Diese völlig ungewohnte Vollbeschäftigung
sorgte sogar dafür, dass, selbst bei der lausigen Steuermoral der
Einheimischen, ordentlich Geld bis hin in
die Gemeindekasse floss. Erstmals wurde von der Commune im Tal oben in Castellinaria auch Geld für
Schönheitsreparaturen ausgegeben.
Bernhards Weg nach Ligurien war von einem bestimmten Gefühl motiviert
gewesen, das treffend in der italienischen Denkweise und Bedeutung als la
nostalgia bezeichnet werden konnte. Er war keinesfalls schwermütig und
konnte sich im doppelten Sinne sogar größte Lasten aufbürden. Es war auch nicht
so, dass er süchtig war nach einer gewissen Leichtigkeit des Daseins. Es war
wohl die Sehnsucht nach einer gewissen archaischen Existenz in den
Aggregatszuständen des Lebens, die er auf den Großbaustellen Europas immer mehr
aus dem Blick verlor.
Die neuen residenti aus den Bildungs- oder Wohlstandseliten nordeuropäischer
Gesellschaften hingegen hatten vordergründig meist andere Beweggründe für den
Kauf ihrer meist schon vorrenovierten Häuser: Sie schufen sich damit ein
Statussymbol und pflegten etwas, das sie für das dolce far niente
hielten – zumindest die nicht mit dem Gelderwerb befassten Angehörigen.
So entstanden in den Achtziger und Neunzigern des vergangenen
Jahrhunderts dort oben, aber auch in ähnlichen Dörfern der anderen Täler, zeitgeistige
Karikaturen von Thomas Manns Zauberberg. Enklaven des Denkens und Verhaltens,
die die Natur und das Naturell der unmittelbaren Umgebung nur soweit mit
einbezogen, wie die eigene Wahrnehmung das zulassen wollte. Da Neid, Missgunst
oder treudeutsche Werte jeweils im Reisgepäck verstaut wurden, entstand so
etwas wie eine italienische Schein-Existenz. In Wahrheit mutierte Castellinaria
zu einer Enklave Wohlstands-Europas, während die RAF und die Brigate Rosse
ihr Terrorwerk verrichteten, der kalte Krieg seiner absoluten Eiszeit entgegen
frostete und allenthalben die Umweltzerstörung fortschritt. Wer wollte, konnte
- so er sich es eingerichtet hatte – dort ganzjährig auf der Sonnenseite des
Lebens Gott einen lieben Mann sein lassen. Aber es gab keinen Gott in
Castellinaria oder besser gesagt, er hatte sich von dort eine Auszeit genommen.
Und das, obwohl Generationen dieses kleinen, an einen Felsgrat geklammerten
Bergnestes in den tausend Jahren seiner Existenz, um ihn zu preisen, auf einer Grundfläche
von etwa vier Fußballfeldern, nicht weniger als drei Kirchen und zwei Kapellen
errichtet hatten…
9. Kapitel
Das Deutsche Wesen
Mit la nostalgia, dieser Sehnsucht nach nicht zu
konkretisierenden Wunschzuständen des Lebens, ist das so eine Sache: Der
Nostalgiker muss schon etwas erlebt haben, um dieses Sehnen und Wähnen
wenigstens halbwegs ausrichten zu können. Immer jedoch bleibt das am Ende ganz
individuell. So hatten vermutlich, die die sich in den 1970ern und in den folgenden
Jahrzehnten aus dem Norden Europas in Castellinaria ansiedelten, anfänglich
vorrangig die „italienischen Momente“ im Sinn; die Sonne, das Meer, den Duft
von Orangen und Zitronen, die einzigartige Landschaft und die urwüchsige Küche.
Aber im detaillierten Spektrum der erlebten Realität traten dann schon die
Eigenheiten hervor.
Bernhard wollte bloß der Scholle nahe sein auf seinen Wanderungen am
Meer und in den Bergen, sowie möglichst nie wieder frieren müssen. Der Lenz
wollte – nachdem er alle wirtschaftlichen Ziele an der ligurischen Küste
fristgerecht erreicht hatte – mit einem Minimum an Aufwand das Maximum an Macht
auf seinen neuen Lebensraum ausüben. Traute lebte nur noch für ihren Sohn und
den einzigartigen Terrassengarten mit Klarblick auf Korsika. Frau Doktor (la dottoressa)
Dröse, Bernhards Nachbarin, wollte mit Lucca ewigen Sexurlaub von ihrem Mann. Aber
selbst der Frömmste kann nicht in Frieden leben, wenn es dem Nachbarn nicht gefällt.
Wenn das persönliche Etappenziel der Sehnsucht dort am Rande des Himmels
erreicht war, stellte sich bei den Pilgern und Emigranten nicht etwa ein
grenzenloses Gefühl der Zufriedenheit und des Wohlbefindens ein, sondern es
trat alsbald ein Mangelgefühl auf. Es fehlte ihnen derart zunehmend am
„Deutschen Wesen“– dass auch die wenigen Skandinavier und Holländer kurioser
Weise von diesem Vakuum teutonischer
Lebensart profitierten. In dem Maße, in dem die Deutschen im mittelalterlichen
Ligurien heimisch wurden, wollten sie natürlich auch, dass der Sindaco
und die Comune nach dem deutschen Reinheitsgebot funktionierten, wenn es
um Übertretungen von Bauvorschriften, vernachlässigter Wasserversorgung,
Müllabfuhr und elektrotechnische Nachrüstungen ging. Die armen Bürgermeister
und ihre an Gemächlichkeit gewöhnten Administratoren, begannen das „Deutsche
Wesen“ und seine Beharrlichkeit zu fürchten. Ganz besonders dann, wenn seine
Protagonisten wegen mangelnder Beschäftigung und Langeweile den Faktor Zeit
unbegrenzt ausspielten…
Da war - als ein typischer Vorreiter – der Polier Peter Häubel, dem Bernhard Kleiner im
Büro auf einer Baustelle in Portugal gegenüber gesessen hatte. Der Kahlkopf mit
rutschigem Gebiss und kurzen Beinen stammte aus einer sauerländischen Bauernfamilie.
Sein gedrungener Körper war zum Ausgleich mit endlos langen Armen ausgestattet,
die tüchtig zupacken konnten,
Als Bernhard ihm – dem bei der Hof-Erbfolge
daheim zu kurz Gekommenen - erzählte, dass in den Valle d’Olio für wenig
Geld viele landwirtschaftliche Nutzflächen (Fasce) zu erwerben seien,
konzentrierte sich die Sehnsucht des Schrats fortan darauf: Nämlich mit Leib
und Seele das zu werden, was ein Einheimischer dort seit dem Krieg partout
nicht mehr gerne sein wollte; - ein in der Hitze schuftender, vom Ertrag seiner
Scholle kaum leben könnender, ligurischer Bergbauer. Zu erste Oliventerrassen gesellten
sich im Schweiße von Häubels Angesicht nach und nach ein Weinberg, Zitronen-
und Orangen-Haine sowie Gemüsegärten – alle natürlich mit bis dahin noch nie
erreichten Muster-Erträgen.
Häubel
schien im Erfolgsrausch seiner agricoltura die ganze Kommune auf einmal
umarmen zu wollen. Er war auch der erste, der die residenza und einen
Ausländerpass beantragte. Er trat als neuer „Ölbaron“ jedem Konsortium bei, das
ihn aufnahm, aber er war auch bei den legendären sagre, den
ausgelassenen Dorffesten mit Tanz und Völlerei, ein emsiger Mitorganisator.
Kurz, er bemühte sich – selbst in der Sprache - einheimischer zu sein als die
Einheimischen und merkte dabei nicht, wie jene ihn zwar gerne ausnützten, aber
keinesfalls in ihre Herzen ließen.
Unerwiderte Liebe geht gerne verschlungene Wege, und so ließ Häubel
seine Fürsorge verstärkt dem Zauberberg angedeihen, an dessen Aufgang er in
strategisch einflussreicher Position als selbsternannter Concierge vom Lenz ein
großes Haus mit Garten erworben hatte. Nur Eingeweihte entgingen seiner
Wachsamkeit, indem sie lieber die schwierige Straße zum oberen Ortsrand in Kauf
nahmen.
Kaum ein Neuansiedler oder Kaufinteressent, der seinen aufdringlichen
Belehrungen, Warnungen oder Ermahnungen entgehen konnte. Ja selbst völlig
arglose Touristen und Bergwanderer wurden oft ungefragt Opfer seiner
detaillierten Vorträge oder gar erzwungener Führungen. Sie kamen immer
häufiger, weil sie von Castellinaria (da ein Autor vom anderen abschrieb) in
vielen Reiseführern gelesen hatten und sich das malerisch auferstandene
Dörfchen nur ansehen wollten,
Da er zudem ein gläubiger und praktizierender Katholik war, schritt Häubel
auch gerne gut sichtbar in vorderster Reihe bei den mannigfaltigen
Bergprozessionen mit. Alsbald rief sich
der umtriebige Umgetriebene gewissermaßen selbst zum Erfinder und
Fremden-Bürgermeister von Castellinaria aus. Da dauerte es natürlich nicht
lange, bis der, der sich ebenfalls – bislang unangetastet - in dieser Position
sah, zu einem seiner leidenschaftlichsten und hinterhältigsten Feinde wurde:
Der Leibhaftige selbst, der listige Lenz.
Aber das transferierte Deutsche
Wesen gedieh auch noch auf dem Humus anderer, sich stetig anreichernder
Erkenntnisse. Eine davon: Luftschlösser taugen nicht zum Schaffen von
Dynastien, weil es Kronprinzen und
-Prinzessinnen an vergleichbarer Nostalgie und Wahrnehmungsfähigkeit fehlt. In
Castellinaria selbst wurden ja keine Kinder mehr geboren. Die verbliebene
einheimische Bevölkerung hatte ihren abgewanderten,
bevölkerungspolitischen Beitrag längst geleistet oder war schlichtweg zu alt,
um sich zeugend noch einmal ans Werk zu machen. Die nordeuropäischen Damen im
gebärfähigen Alter hingegen ließen ihre teutonischgermanischen Eizellen
vielleicht dort oben vom Ambiente stimuliert befruchten. Doch zur Niederkunft
suchten sie die Kreissäle daheim auf.
Sebastian Kleiner – wohl die unbestrittene Nummer Eins auf dieser besonderen
Zeugungsliste – kann als exemplarisch für diesen eigenartigen
Generationen-Konflikt dienen:
Traute nutzte das Vorschulalter ihres Sohnes und die langen Aufenthalte
Bernhards bei Bauvorhaben auf der Iberischen Halbinsel, um Sebastian so viele
italienische Momente fürs Leben mitzugeben wie nur irgend möglich. Der Knabe
wuchs in diesem herrlich abenteuerlichen und autofreien Ambiente mit dem
Maximum an Sonne, Wärme und Sinnlichkeit auf, aber er hatte – außer wenn Sie
mit dem Bus ans Meer hinunter fuhren – keine gleichaltrigen und wenn dann nur
sporadische Spielgefährten. Der Vater fehlte ihm dabei gar nicht mal so sehr.
Denn sobald des Autofahrens mächtig, fuhr Bernhard in Barcelona auf die Fähre
nach Genua und war so vermutlich mehr verlängerte Wochenenden (durch den langen
Schlaf an Bord auch völlig entspannt) präsent, als ihm dies in Deutschland
möglich gewesen wäre.
Kaum waren die Kleiners zwecks Einschulung von Sebastian in eine Wohnung
bei Düren gezogen, passierte aber etwas Unerwartetes. Sebastian, braugebrannt
und randvoll mit italienischen Impulsen fuhr auf seine neues Umfeld total ab.
Durch sein annähernd perfektes Italienisch wuchs ihm eine besondere Rolle bei
der Integration der Gastarbeiter-Kinder in seiner Klasse zu, und er erfuhr,
dass es wichtiger als alles andere war, eine Horde gleichaltrigrer Freunde zu
haben, mit denen er selbst bei schlechtestem Wetter spielen konnte. Das war es!
Sehnsüchte, da gesättigt, mussten nicht länger befriedigt werden. Für Sebastian überwog – den Eltern
fast unverständlich – das Deutsche Wesen. Je älter er wurde, desto schwerer
wurde es für Traute und Bernhard, den Knaben dazu zu bewegen, sich mit ihnen in
den Schulferien immer wieder auf die lange Reise in den Süden zu begeben. Nach
der Pubertät kam es deswegen sogar einmal zu einer handgreiflichen
Auseinandersetzung, aber das Verhärtete die Fronten diesbezüglich nur.
In solchen Momenten fand er tröstenden Unterschlupf bei Mutter Körber,
die genau das richtige Rezept für derlei Missstimmungen hatte: Fernsehen bis
zum Einschlafen und Fastfood bis zum Abwinken. Traute und Bernhard, selbst immer
noch Aufsehen erregende statuarische Erscheinungen, übernahmen ihren
Hoffnungsträger nach jedem Aufenthalt bei seiner Oma einige Kilo schwerer. Als
er 1987 ein 1,0 Abitur hinlegte, war Sebastian bereits ein wachsbleicher 120Kilo-Schwabbel, dessen Leben sich – als
sei die Reife-Note Vorgabe – fortan nur noch um Einsen und Nullen drehte. Das Programmieren und Entwickeln von
Computern war dem Junior derart zum Lebensinhalt geworden, dass seine
gramgebeugten Erzeuger befürchteten, die grüne Schrift jener Screens hätte für
immer seine Haut verfärbt.
Sebastian war das, was die Szene bald einen „Nerd“ nennen sollte. Er
schaffte es aber dennoch, seine Eltern irgendwie stolz zu machen. Nicht nur,
dass er sein Studium autark, selbst finanziert und ohne Umweg über die
Bundeswehr in Rekordzeit durchzog. Er war, als er seinen Doktor magna cum laude
machte, auch sonst schon ein gemachter Mann. Anhand eines deutsch-italienischen
Übersetzungsprogramms, das er als Semester-Arbeit eingereicht hatte, war ihm
die Idee zu grundsätzlicher Software auf dem Gebiet der Spracherkennung
gekommen. Sein Vater indes sprach – nach bald dreißig Jahren „residenza“
immer noch kaum mehr als sein
Baustellen- und Menükarten-Italienisch
Sebastians äußere Langsamkeit stand im krassen Gegensatz zu der rasenden
Geschwindigkeit seiner Gedanken und Ideen im Cyberspace. Wer so wollte, konnte
das Wesen Castellinarias und damit seine Abneigung als das genaue Paradoxon zu
dieser Konstellation sehen.
Berthold hingegen, der den Zauberberg immer noch zwecks Broterwerb
verlassen musste, hatte gerade deshalb die notwendige Perspektive, genau in
diesem Wandel mit Weile die Magie Castellinarias zu erkennen: Er sah, wie sich zwar
das Umfeld rapide nach jeder Abwesenheit verändert hatte. Er erkannte aber
auch, dass hier das Wahre immer noch das Virtuelle ausstechen konnte.
Der Blick vom Tal hinauf mochte im Vergleich
zu seiner allerersten Momentaufnahme noch unverändert geblieben sein, wie die
unmittelbare Atmosphäre in den engen Gassen. Doch Castellinaria war auf wundersame Weise
errettet worden. Einmal abgesehen davon, dass alles neu gepflastert worden war
und das Ambiente sich harmonisiert hatte. Die prägenden Häuserzeilen waren nun
alle saniert und zum teil recht niedlich hergerichtet worden. Aber dadurch,
dass die Autos fehlten und die Logistik noch nach Körperkraft verlangte, schien
die Zeit immer noch langsamer zu vergehen als unten am Meer.
- Der Zauberberg trog, wie Zauberberge dies nun einmal zu tun pflegen.
Die fiktiven „mannschen Protagonisten“ konnten noch isoliert mit
intellektueller Egozentrik in Parabeln dräuende „Zeitläufte“ reflektieren. Die
realen „Luftschlosser“ von Castellinaria erlebten hingegen die Serpentinen vom
und ins Tal tatsächlich wie das Zeittor bei „Stargate“. Und wenn sie von ihren
Terrassen den Blick nicht nur auf das Meer schweifen ließen, sondern senkrecht
hinunter richteten, konnten sie ihn auch nicht mehr vor den Veränderungen
verschließen.
In dem Maße wie das „grüne Gold“, das unverschnittene Olio extra
vergine aus den Valle d’Olio,
quasi ohne EU-Subventionen unbezahlbar
wurde, krochen die Industriezonen Werksgelände um Werksgelände flankiert von
gigantischen Einkaufszentren das Impero-Tal hinauf. Namhafte
Olivenöl-Weltmarken, die am alten Hafen von Oneglia Jahrhunderte produziert
hatten, verschwanden oder beugten sich nach und nach den billigen Verschnitt-Diktaten
durch Granulat-Importe aus Nordafrika. Neue Eu-Richtlinien machten das möglich.
Die Ernte-Handarbeit auf den historischen Terrassen mit unter den Bäumen
ausgelegten Netzen und den Klöppelstangen, sowie der mühevollen und auch
gefährlichen Schlepperei von vollen Körben über steile Terrassen-Trittsteine
blieb die alte. An bezahlte Erntehelfer war längst nicht mehr zu denken, und
Ende des Jahrtausends konnte dieses Weltkulturerbe der UNO auch nur noch vor
dem Überwuchern bewahrt werden, weil die Europäische Gemeinschaft
Beschnitt-Prämien auslobte.
Aber damit noch nicht genug der kuriosen Paradoxen: Je mehr die
Bergbauern oben wirtschaftlich am Stock gingen, suggerierten unten im Tal
clevere Geschäftsleute ursprünglichen Gaumengenuss auf Konserve, indem sie die
vermeintliche Romantik eben jenes Berufsstandes auf Flaschen und Gläser zogen.
Aziende Agricole schossen wie die berühmten ligurischen Steinpilze, die nun
immer häufiger aus Rumänien importiert werden mussten, aus den aufgelassenen zu
Bauland mutierten Ölterrassen. Für den Export ins sehnsüchtige Nordeuropa gab
es Pesto im Minigläschen, Peperoncini mit Ricotta gefüllt
und marinierte Funghi Porcini zu Preisen pro Einheit, mit denen eine
ligurische Bauersfrau ihre ganze Riesensippe auf gleiche aber besser und frisch
zubereitete Weise ein ganzes Jahr versorgt hätte. Schlaumeier zogen von einem
dörflichen Ölmüller (frantoio) zum anderen, kauften den Mosto
billig auf und füllten ihn im Rahmen der Richtlinien gestreckt in mit
Goldfolien kaschierte und fantasievoll
etikettierte homöopathische Fläschchen. Natürlich zu entsprechenden Preisen,
die bis zu 500 Prozent Gewinn ermöglichten.
Wo so eine Gewinnspanne lockte, durfte natürlich einer beim Mitmischen
nicht fehlen: Lorenz Meester war einer der Ersten, der die Nordlichter mit
selbst erfundenen „original
altligurischen“ Fantasieprodukten küchennostalgisch versorgte. Wobei die
Marke, die er schuf, von seinem bösartigen Humor zeugte. Die hieß angelehnt an
das Lateinische - die Metapher doppeldeutig abwandelnd - „tavola rasa“, was
natürlich im Italienischen nicht wirklich Sinn machte. Ihm jedoch gefiel seine
Assoziation:
Denn wenn die Leute zwischen Garmisch und
Großenbrode nach telefonischer Akquise und Postversand seine Genussmittel auf
ihren Tisch stellten, hatte der Lenz sie wirklich im übertragenen Sinn
ordentlich rasiert: Normal eingelegte Zwiebeln, Pilze, Schoten, Wildschweinstücke
und dergleichen – noch nicht einmal von besonderem Geschmack – unterschieden
sich von den gängigen Industrie-Produkten in den Regalen der großen Supermärkte
nur durch ein Stück nostalgisch bedrucktes Kunstleinen, das von einem
grünweißroten Band auf den Deckeln festgezurrt war; – und natürlich einem Preis
der um die Hälfte höher war…
Ganz seinem Stil treu bleibend, rührte der Lenz jedoch weder Koch- oder
Öltöpfe noch den kleinsten Finger. Er stellte eine seiner fasce für die
Ansiedlung des Betriebes zur Verfügung. Der eilfertige Bürgermeister einer
Gemeinde im benachbarten Tal hatte sie in freudiger Erwartung neuer
Arbeitsplätze zur Bebauung frei gegeben. Die übernahm gegen Beteiligung ein
kleiner ortsansässiger Bauunternehmer (Impresario), der endlich einmal
etwas Großes bauen wollte. Die Herstellung und Logistik für Marke und Produkte
gingen gegen Tantieme zu Gunsten Meesters an eine Agrar-Genossenschaft. Die
Perspektiven entwickelten sich prächtig und der Lenz hatte wieder einmal ohne
großen Kraftaufwand eine Geldquelle, die prächtig sprudelte. Zumindest so lange
bis die erste rege Nachfrage die dem Lenz sattsam bekannte Gier beflügelte.
Seit einigen Jahren kann man diesen makellosen Musterbetrieb nun auf
einer Serpentine mit prachtvoller Aussicht bei gleichzeitiger Einsicht umfahren.
Drinnen sieht alles aus wie bei Dornröschen: Allerdings ohne Personal im
Tiefschlaf. Ansonsten scheint alles mitten im Produktionsprozess zum Stillstand
gekommen zu sein. In Momentaufnahme erstarrt steht ein einst ultra moderner
Betrieb seit bald einem Jahrzehnt unter Konkurs-Kartell und Gläubiger-Schutz.
Seine früheren Partner glauben immer noch an eine altersbedingte
Hinfälligkeit, wenn der Lenz angesichts dieses Themas einen unbändigen
Hustenanfall bekommt. Sie ahnen nicht, dass er sich tatsächlich ins Fäustchen
lacht. Der Hauptgläubiger ist natürlich er – ohne jemals jedoch selbst eine
Lira oder einen Euro riskiert zu haben. Der bald Hundertjährige wähnt immer
noch den Faktor Zeit auf seiner Seite…
In dem Maße, in dem beim Lenz die sexuelle Gier als Triebfeder seines
Schaffens nachließ – was sowieso unverschämt spät der Fall war – gewann der
pure Spaß an der Macht-Ausübung die Oberhand. Die Puppen an ihren Fäden nach
seiner Facon zappelnd agieren zu lassen, war ihm als Genuss auf seine alten
Tage bald wichtiger als das Studium seiner Konto-Auszüge.
Man könnte rückblickend meinen, gerade
das fortschreitende Alter hätte ihn gegen diverse Ängste zusätzlich resistent
gemacht, aber so war das nicht.
Bernhard hatte aus anerkennendem Respekt und
Toleranz eine Allianz mit Häubel geschlossen, ohne ihm allerdings jemals
freundschaftlich verbunden zu sein. Aber allein dieser Umstand offenbarte ihm,
dass der Lenz trotz ihres gestörten Verhältnisses so etwas wie Eifersucht auf ihn,
den eigentlich ungeliebten Schwager, projizierte. Das ging so weit, dass
Meester, um auch ein wenig schön Wetter bei Traute zu machen, Bernhard
zunehmend um großzügig belohnte Hilfestellung bei bautechnischen Aufgaben oder
der Verwaltung seiner Liegenschaften bat.
Bernhard Kleiner war ein großer Charakter. Er konnte Mitleid mit dem
Alten empfinden, ohne die in seinem Hinterkopf gespeicherte Wut der
Vergangenheit ad acta zu legen. Rachegefühle hegte er keine, aber er hatte sich
vorgenommen, seinen Schwager irgendwann auf elegante Weise in die gleiche
hilflose Ohnmacht zu versetzen, wie er sie hatte erleiden müssen. Er konnte
nicht ahnen, dass ihm dies auf recht heftige Weise abgenommen werden würde.
Er war zwar im Rang als Bauleiter die Treppe weit hinauf geklettert,
aber das hatte ihn nicht unabhängiger gemacht. Seit Sebastian in Aachen
studierte, waren seine Auslandseinsätze weniger, aber die Verantwortung auf den
Großbaustellen im Rheinland belastender geworden. Er schaffte die zusätzliche
Schufterei beim Urlaub in Castellinaria einfach nicht mehr.
Auch der gleichaltrige Häubel hatte noch genug neben seiner Landwirtschaft
zu tun.
Aber beide wollten die Eisen auch schmieden,
so lange die noch heiß waren. Sollte heißen, die letzten aussichtsreichen
Ruinen noch zu sanieren, um daraus Ferien-Appartements zwecks späterer Rentenaufbesserung
zu gestalten.
Häubel und er hatten sehr gute Erfahrungen mit zwei albanischen Brüdern
gemacht, die nach ihrer Flucht ein kleines Bau-Unternehmen bei Garlenda
gegründet hatten. Sie waren ehrlich, fleißig, in einem gewissen Maß
zuverlässiger als ihre ligurische Konkurrenz und vor allem nannten sie einen
Preis, und dabei blieb es dann. Selbst Bernhards Freund Lucca hatte sich im
Laufe der Jahre dieses nervende, scheibchenweise Nachfordern bei Baufortschritt
angewöhnt.
Die beiden deutschen Poliere bündelten also ihre Vorhaben mit den
restlichen vom Lenz zu einem guten halben Jahr Vollbeschäftigung für die „albanesi“.
Bernhard unterrichtete seinen Schwager der Fairness halber.
Lorenz Meester residierte zu diesem
Zeitpunkt schon in einer Villa auf dem Capo Berta, wie man sie nur aus
Hochglanz-Magazinen kennt. Zwei Hektar mediterraner Botanik in Hanglage über
dem Meer, mit einem großen Pförtnerhaus oben und einem Renaissancebauten-Ensemble
mit Pool-Terrasse über der steilen Klippe unten.
Das vordere Haus war lukrativ vermietet, Autos verschwanden in einer in
den Fels gesprengten Tiefgarage, und die mit einem Golfcart befahrbaren Parkwege
waren elektronisch gesichert und wurden von Videokameras überwacht.
Bernhard hatte schnell aufgehört, sich von diesem Ambiente einschüchtern
zu lassen. Er genoss vielmehr die angenehmen Seiten seiner „Altenpflege“, die
ihm zunehmend Freiräume im Anwesen seines Schwagers einräumte, ohne sich für
die gewaltigen Unterhaltskosten interessieren zu müssen.
Meester war überraschend schnell einverstanden gewesen mit der
Beauftragung der Albaner, so dass sich Bernhard anschließend in dem Riesenpool
einem ausgiebigen Schwimmtraining hingeben konnte. Der Pool war auf einer Ebene
mit Überläufen angelegt. Seine bis zum Rand
reichende Wasserfläche spiegelte vor, man schwämme im Süßwasser aufs offene
Meer hinaus. Noch einmal ordentlich Frieden und Ambiente tanken, dachte
Bernhard, bevor es am nächsten Tag mit dem Flieger wieder von Nizza nach
Köln/Bonn ginge…
10. Kapitel
Memento Mori
Die Gebrüder Besnik waren nur schwer zu verstehen. Das lag einerseits
daran, dass Sali und Milan so gut wie nicht redeten. Wenn sie aber mit anderen
redeten, dann geschah das in dem mit zischelnden S- und gaumigen Umlauten fast
wie Albanisch klingenden urligurischen Dialekt. In dem hieß das Feuer zum
Beispiel nicht fuoco sondern fögü. Es gehört zu den ungeklärten
Mirakeln der europäischen Wohlstands-Völkerwanderung, wieso die über die Adria
geflohenen albanischen Boat-People sich schon früh im ligurischen Appenin
ansiedelten und mit unfassbarer Geschwindigkeit dessen Dialekt, aber auch leidlich
das Italienische assimilierten. Lag es daran, dass die Ligurer unter den
italienischen Landsmannschaften die gleiche Außenseiter-Rolle spielten wie die
Albaner auf dem Balkan?
Erst ein deutscher Journalist, der in Castellinaria das Haus der „Francesa“
gegenüber vom Schloss nach der Jahrtausend-Wende gekauft hatte und die beiden vorübergehend
beschäftigte, sollte noch weit Wundersameres über die zwei mit ihrer kleinen
Baufirma herausfinden. Um zu verstehen, was in Castellinaria 1996 ablief, muss
jedoch auf dessen spätere Erkenntnisse vorgegriffen werden:
Die Annahme, dass die Besniks Brüder waren, rührte lediglich vom
Firmennamen her: Besnik Fratelli Imprese Edile nannte sich die. Dass sie
völlig unterschiedlich aussahen, wurde dadurch nie in Frage gestellt. Milan war
feingliedrig, klein und so dunkel, dass er auch als Palestinenser durchgegangen
wäre. Sali, dem sie auf den Baustellen den Beinamen „Il Mulo“ – das Maultier –
nachriefen, hätte gut und gerne mit wenig Maske Rübezahl oder Quasimodo
darstellen können. Er gab den zotteligen roten Riesen in gebückt schlurfender
Haltung unter Entfaltung gigantischer Körperkräfte derart überzeugend, dass ihm
ein anderes Signalement überhaupt nicht zuzutrauen gewesen wäre.
Tatsächlich aber waren die beiden so „ungleichen Brüder“ Cousins. Der
jüngere Milan war mit Sali in der Obhut dessen daheim zur traurigen Legende
gewordenen Mutter aufgezogen worden, bis er alt genug sein sollte, um als
letzter Überlebender seiner Sippe die Blutrache gegen eine andere Familie
fortzuführen. Sali wurde, um die „Schuld“ seiner Mutter abzutragen, von
albanischen Exil-Politikern erpresst, die die Spur vom Alt-Kommunismus
schnurstracks in die modern organisierte, grenzenlose Verbrechenswelt der EU
gewechselt hatten. So wie sich Sali am Bau auf die groben und Milan ergänzend
auf die feinen Arbeiten konzentrierte, so waren sie auch bei ihrer gut
getarnten Nebenbeschäftigung spezialisiert – nur umgekehrt. Milan war als
„Auftragsmörder“ für die groben, nassen Hits zuständig, während Sali nicht
einmal selbst Hand anlegte, denn er arrangierte gezielte Todesfälle aus
Alltagssituationen mit versteckten Risiken. Je nachdem, ob und welche Botschaft
die Auftraggeber mit ihren Morden übermitteln
wollten, wählten sie einen der Besniks. Und zwar so oft, dass das Baugeschäft
doch wohl mehr oder weniger Hobby oder Tarnung war.
Bernhard Kleiner und Peter Häubel waren wie alle ahnungslos, als sie sich für die anerkannte
Zuverlässigkeit der Beiden bei ihrem gemeinsamen Bauvorhaben entschieden. Und
der alte Lenz frohlockte, weil er sich irgendwie vorstellte, er könne die
albernen Albaner – wenn die deutschen Poliere erst einmal wieder daheim im
Einsatz waren – besser zu seinem Vorteil
herumscheuchen als die individualistischen Italiener.
Da nie ruchbar wurde, was in jenem Herbst tatsächlich passiert war,
bauen die Hintergründe auf einer Hypothese auf, was später tatsächlich den nachhaltigen
Wandel im „Prinzip Lenz“ bewirkt haben könnte:
Dessen Prinzip beruhte ja in der Vergangenheit darauf, dass die
Marionetten, deren Fäden er in der Hand hielt, willig in die Richtung
zappelten, die er vorgab. Sein Prinzip sah nicht vor, dass die Puppen ein
Eigenleben führten, die Fäden selbst verhedderten und am Ende gar noch
abschnitten. Der verschlagene, aber eigentlich im Sinne der körperlichen
Auseinandersetzung stets gewaltfrei operierende Lenz war noch nicht einmal
ansatzweise in seinem bisherigen Leben auf die Idee gekommen, jemand könnte ihm Paroli bieten und seine
schon rücksichtslose Vorgehensweise dann auch noch mit unverhohlener
Gewaltbereitschaft überbieten…
Sali und Milan hatten ungefähr vier Wochen von Sonnenauf- bis
Sonnenuntergang auf beiden Baustellen geschuftet, um die ständigen Sonderwünsche
zu erfüllen, mit denen der Lenz das Projekt Kleiner/Häubel bis zur Schlechtwetter-Periode im November
ins Hintertreffen bringen und somit torpedieren wollte.
„Il Mulo“ machte seinem Spitznamen alle Ehre. Selbst nach viermaligem
Umsetzen zweier nicht tragender, rund drei Zentner schwerer Ziersäulen und dreimaligem
Umgestalten des dazu gehörigen Treppenaufgangs mit massiven historischen
Trittsteinen fuhr er noch immer nicht aus der Haut. Den immer dreisteren
Anweisungen Meesters kam er äußerlich derart stoisch und stur nach, dass der
Deutsche dann bei der massiven Reaktion der beiden aus allen Wolken fiel.
Der Unfall, der dem Lenz eines Abends widerfuhr, erzeugte – kausal für
Dritte kaum in Zusammenhang zu bringen - einen deutlichen Klimawandel in Castellinaria.
Der Journalist erzählte Bernhard Kleiner erst nach dem gewaltsamen Tod Salis 2004 den Ablauf dieser Begebenheit. Die perfide Wirkungsweise
des „Arrangierens“ wird an diesem nicht tödlichen Beispiel exemplarisch
veranschaulicht. Er wunderte sich nur, dass Kleiner sich überhaupt nicht
empörte, sondern sardonisch Lächelte. Aber Goerz kannte ja den Lenz weder
persönlich noch wusste er, dass jener der nicht gerade geliebte Schwager
seines neuen Freundes war.
Gerade waren die Besniks also in diesem Spätherbst 1996 nach der Arbeit
in der Abenddämmerung mit ihrem alten Kipplaster auf die lange abschüssige
Gerade der Konsortiumsstraße zum Capoluogo hinunter eingebogen, als sich
auch der Lenz mit seinem schicken Mercedes-Geländewagen talwärts begeben
wollte. Milan, der am Steuer saß, winkte und bedeutete Meester, dass er ihm
noch einmal etwas zu sagen habe. Er bremste, stellte bei laufendem Motor die
Handbremse fest und stieg mit einer Blaupause aus dem Führerhaus. Da das Licht
zu deren Studium nicht mehr ausreichte, forderte er den Alten auf, nach vorne
ins Scheinwerferlicht des Lasters zu treten. Während er nahezu unverständlich irgendein Problem schilderte,
war Sali auf der anderen Seite mit einer
Flasche eines speziellen Kriechöls in den Schatten geschlüpft und besprühte die
vier Bremsen des Benz mit einer auf Erfahrung beruhenden Menge.
Als Milan seine Blaupause wieder zusammen gefaltet hatte, war der abgelenkte
Lenz, der von allem nicht das Geringste verstanden und mitbekommen hatte, bereits leicht gestresst. Der Laster setzte
sich zügig in Bewegung und war schon fast an der ersten Spitzkehre, als der Alte
mit mehr PS als seiner Reaktionsfähigkeit gut tat, den schnell schrumpfenden
Abstand fast schon zu gefahren hatte. Er sah noch, wie die durch Baustaub beinahe blinden Bremslichter des Lasters kurz
aufleuchteten und dann sah er nichts mehr. Denn trotz ABS griffen die Bremsen -
für eben diesen einen, ausreichenden Moment verzögert - nicht. Der schwere „G“
krachte auf der abschüssigen Strecke weiter beschleunigend in die massive
Hinterachse, und die Kipplade des Lasters zerschlug die Frontscheibe. Der
Airbag öffnete sich Hundertstel von Sekunden vor dem einsetzenden Glashagel mit
lautem Knall. Für eine Minute war der Lenz geistig so alt und verwirrt, wie ihm
das eigentlich an Lebensjahren zugestanden hätte. Dann hatte er sich wieder
gesammelt und kochte vor Wut.
Doch die beiden Albaner riefen ungerührt, den eingeklemmten Greis
beobachtend mit dem Handy die Polizei und die Ambulanz aus Pontedassio. Beide
Bereitschaftswagen waren überraschend schnell mit Blaulicht und Martinshorn vom
Tal heraufgeprescht. Alles sollte doch seine Ordnung haben.
Der Alte wurde gegen seine Einlassungen und
Proteste zur Beobachtung nach Imperia in die Klinik gebracht. Das
Unfallfahrzeug konnte nur noch als Totalschaden sichergestellt werden (und
landete wundersam wieder wie neu Wochen später auf einer Fähre Richtung Osten).
An den Aussagen der Albaner, die dem
Hergang nach und dem Augenschein gemäß protokolliert wurden, gab es keinerlei
Zweifel.
Natürlich hätte eine kriminaltechnische Untersuchung zumindest eine
kleine Merkwürdigkeit auf den Bremsscheiben und
-Backen des nahezu fabrikneuen Fahrzeugs erbracht. Aber da bei Lorenz
Meester nach mehreren kräftigen Schlucken Grappa, die er sich zuvor gewohnheitsmäßig
gegen die abendliche Kühle auf der Baustelle aus seinem Flachmann genehmigt
hatte, ein zu hoher Alkoholwert im Blut festgestellt wurde, lag der Fall auch
so klar. Wer wollte da noch hören, wie der Lenz von irgendwie verzögert
funktionierenden Bremsen schwadronierte?
Die Albaner ließen dem Lenz gegenüber in der Folge keine weiteren
Zweifel mehr an den geänderten Machtverhältnissen aufkommen. Als ihr
Auftragsgeber wieder einmal in alte Verhaltensmuster zurück fallen und weitere
unsinnige Anweisungen geben wollte, griff ihm „Sali Rübezahl“ fürsorglich unter
beide Achseln hob ihn wie ein ungezogenes Kind vor sich auf Augenhöhe und
sprach:
„Memento mori, alter Mann! Das nächste Mal fährst du in den Tod.“
Womit er nicht nur Bildung offenbarte, sondern
auch die Tatsache, dass er mit für Sekundenbruchteile nicht blöde verstellten
Gesichtszügen in der Lage war, fließend Deutsch zu sprechen.
Dass der wieselflinke, geschmeidige Milan in den Folgejahren immer
wieder einmal im memento mori an allen Überwachungssystemen und
Alarmanlagen vorbei nachts das Schlafzimmer von Meester aufsuchte, beruht auf Hörensagen. Dass er
dann - zärtlich den Schalldämpfer seiner Beretta streichelnd - am Bett des
Deutschen saß, soll ihre weiterhin blühenden Geschäftsbeziehungen noch
gesteigert haben. Jedenfalls ließ sich der Lenz –auf einmal sein Alter
vorschützend – kaum noch in Castellinaria sehen.
Die
Bauarbeiten waren so pünktlich und tadellos fertig, dass genug Folgeaufträge
für die Besniks hereinkamen. Erstaunlicher Weise für Außenstehende wuchs die
kleine Firma der Albaner trotz ihrer stets manifestierten Tüchtigkeit nicht.
Was ihrem Kalkül entsprach. Da sie nicht gierig waren, wurden sie eben auch von
der heimischen Konkurrenz respektiert und niemand sah sich veranlasst, hinter
die Kulissen zu blicken
In jenem Herbst erinnerte die dem Luftschloss „übergeordnete Instanz“,
die ja von den meisten seiner Bewohner als ihr Gott dem dort so nahen Himmel zugeordnet
wurde, sehr nachhaltig daran, dass alle Menschen sterblich sind:
„La Francesa“ hatte einen zu spät erkannten Tumor in ihrer Gebärmutter. Doktor
Dröse der sich selbst nie an Verbote gehalten hatte, die er seinen Patienten
gerne auferlegte, starb während der Sprechstunde. Dicke Zigarren und Cognac
nach zu fettem Essen hatten seinem ersten, gleich tödlichen Herzinfarkt durch arrogantes Ignorieren rechtzeitig und deutlich an sich selbst
diagnostizierter Signale den Weg
bereitet. Überraschender Weise trauerte seine sich immer noch jung fühlende
Witwe derart heftig, dass sie Lucca nicht mehr in ihr Bett lassen und eine
lange Auszeit von Castellinaria nehmen wollte. Um Dinge daheim zu regeln.
Deshalb verkaufte sie ihr Haus, ohne dass die Sache mit dem „geraubten Stück Flur“
zuvor bereinigt worden wäre.
Peter Häubel, ansonsten absolut schwindelfrei, kam auf dem Dach eines
Hochhauses in Bonn ins Schwanken und konnte gerade noch von seinem Bauherrn
daran gehindert werden, ohnmächtig in die Tiefe zu stürzen. Überraschend bei
seiner Umtriebigkeit und gänzlich unbemerkt war er schwer an Diabetes mellitus
erkrankt. Bernhard Kleiner, der kurz vor seinem Sechzigsten stand, hatte Stress
bedingt zwei schwere Autounfälle, die er nur durch Glück überlebte. Normaler
Weise sagt man ja jenen, die erst spät
den Führerschein gemacht haben, ein ruhigere und umsichtigere Fahrweise nach. Im
Prinzip war das auch bei Bernhard so. Aber vier Bauvorhaben in drei Städten mit
immerhin dreihundert Wohneinheiten
mussten koordiniert und beaufsichtig werden. Er, der sein Leben lang körperlich in Bewegung gewesen war, hatte seit
der Wiedervereinigung meist nur noch im Auto oder im Baubüro gesessen. Das nahm
sein Kreislauf natürlich übel, und die Blutdruck-Werte rauschten in abnorme
Höhen.
Aber das Handtuch warf er, weil die Büros der Baufirma komplett
international vernetzt auf Computer umgestellt werden sollten. Ausgerechnet
sein Sohn Sebastian hatte diesen ungemein lukrativen Auftrag ergattert. Es lag
auf der Hand, dass „Jerda, dat Aas“ – die Tante ehrenhalber quasi - dabei ihre
Hände im Spiel hatte. Sie schmiss den Baukonzern mittlerweile nahezu alleine, weil ihr
Göttergatte nur noch zum Golfen ging; angeblich zwecks Geschäftsanbahnungen.
11. Kapitel
Das Spiel der Spekulanten
War der Lenz durch sein Unwesen doch so etwas wie ein Katalysator für
Castellinaria gewesen – oder eher eine Art Reaktionsbeschleuniger?
Indem er sich nicht ganz freiwillig von
dem Burgberg zurückzog, öffnete er den Wegelagerern, die an den Geldflüssen des
neuen Europas lauerten, jedenfalls ein weiteres Feld. Eine zweite, diesmal viel
breitere Invasionswelle von Spekulanten rollte nun auf die höher gelegenen
Bergdörfer Liguriens zu. Sie erfasste vor allen auch das durch die neue
Schnellstraße im Tal dem Meer näher gerückte Castellinaria
Das Jahrzehnt der Habgier hatte zur Jahrtausendwende und bis zum
Anschlag auf die Twintowers des World Trade Centers einen sich selbst
erhöhenden Menschenschlag von Gewinnlern, Spekulanten und Raffern in die
schönsten Regionen des alten Europas geschwemmt. Sie nutzten vor allem die Gier
der Neureichen, die ihr langes kommunistisches Darben hinter dem Eisernen
Vorhang mit einer Art Hochgeschwindigkeitskapitalismus wett zu machen hofften.
Über Nacht waren die in der Lage, jeden Preis für aufgestaute mediterrane
Träume zu bezahlen.
Das westliche Ligurien, das nach den beiden Weltkriegen irgendwie im
Windschatten diverser Wirtschaftswunder weitgehend unbeschadet ausgeharrt
hatte, geriet nun auf einmal auf die Landkarte spekulativer Begehrlichkeiten.
Die Toskana war zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend abgegrast. Die Cote D’Azur
- vor allem zwischen Nizza und Menton –
durchbrach bereits die ökologisch vertretbare Bebauungsdichte, also schwappte
das Geld nun ins Hinterland von Bordighera und Sanremo und begann den
küstennahen Blumen- und Gemüsegürtel in Richtung Imperia zu verdrängen.
Der große Rahmen der Veränderung war beispielhaft am alten Hafen von Imperias Ortsteil Oneglia fest zu machen:
Im Jahr 2000 vermittelte er noch den morbiden Charme des
Industrie-Zeitalters. Wie Urzeittiere standen die auf Schienen beweglichen
Riesenkräne an den Kais und die Gleise des Güterverkehrs führten noch direkt zu
ihnen hin. Gebraucht aber wurden beide kaum noch. Große Frachter legten schon
längst nicht mehr an. Den kleinen Kümos, die Oliven-Schrot zum Verschneiden des
ligurischen Öls aus Nordafrika herüber
brachten, reichten die zwei restlichen Kräne…
2007 lagen bereits die ersten Millionen-Jachten Bug voraus am Pier.
Angedockt an ultra modernen
Versorgungseinheiten und mit unmittelbarem Blick auf die renovierte und in
vielen neuen Farben erstrahlende historische Häuserfront, in der die
einfacheren Appartements nun ab 300 000 Euro aufwärts kosteten. Eine
wunderschöne „zona divertimento“ war
aus dem alten Hafen geworden und veränderte das vergnügliche Leben in dieser
Stadt, die bis dahin eher das hässliche Entlein im Reigen der ligurischen
Küstenorte war.
Der kleinere Rahmen der Veränderung wurde 600 Meter höher rund ums Kastell
von Castellinaria gezogen: Allerdings vollzog sich der Wandel der Zeit dort mit
mehr Zeit beim Wandeln. Denn je länger es dauerte, desto mehr Gewinn versprach
bei den rasant steigenden Preisen unten das umsichtige Engagement oben. Auch die restlich
verbliebenen Ruinen des Ortes erfuhren daher nun nach und nach ihre Wiederauferstehung
als kapriziöse Wohnobjekte. Wobei gar nicht mehr zählte, ob die Gemäuer einst
jemals als Wohnraum für Menschen gedacht gewesen waren. Ehemalige Tierställe,
Speicherräume für die Olivennetze und die leeren Glasflakons avancierten über
Nacht zu romantisch rustikalen Ferienwohnungen. Ja sogar der örtliche Ölmüller,
der Frantoio, gab sein verwinkeltes, mittelalterliches Bogengewölbe auf,
um einem aufstrebenden Künstler stilvoll und preislich absolut überzogen
Wohnung und Atelier zu bieten.
Gegen die neuen Bauherren hatte vergleichsweise sogar der Lenz noch
einen gewissen Ethos bei der Renovierung gehabt. Die Devise der neuen
Spekulaten war es, schnell zahlungsbereiten Sonnen-Sehnsüchtigen eine Art
potemkinsches Dorf vorzugaukeln. Wie sehr sich die Geschichte im zaristisch russischen
Sinne wiederholte, sollte das vorläufige Ende dieser Geschichte noch zeigen.
Eines Tages war nach Jahren der Abwesenheit „la Dottoressa“, die Dröse
also, wieder mit einem schicken Mann an der Hand zur Piazza hinauf gestöckelt. Sie
hieß jetzt allerdings nicht mehr Dröse,
sondern Gogel. Aber der Spitzname „la dottoressa“ blieb ihr noch eine Zeit
lang, obwohl sie nie eine Uni von innen und „akademische Grade“ allenfalls auf
diversen Liebeslagern beim Ausüben seltener Körperstellungen erworben hatte. Das
alte Prinzip „was du dir erheiratest, musst du dir nicht erarbeiten“ hatte sie jedenfalls
erneut mit zusätzlichem, krisenfestem Wohlstand versorgt. Zu dem trug nämlich
ihr neuer, fast ein Jahrzehnt jüngerer Prinzgemahl mit der Kaltschnäuzigkeit
einer just beendeten internationalen Banker-Karriere bei.
Patrik Gogel sah die Piazza und das hufeisenförmige Ensemble rund um die
Fontana, und sein Midas-Blick verwandelte es vor seinem geistigen Auge in pures
Gold: die Rudimente vom Castell mit dem gegenüber liegenden Haus der
„Francesa“, die Metzgerei aus dem vorvorigen Jahrhundert samt Zerwirkgewölbe
und die dazwischen gequetschte Kapelle. Innerhalb von Sekunden hatte er die
Summe im Kopf, die er noch herausschlagen würde, selbst wenn er seiner Königin
quasi als Abfallprodukt auch wieder eine neue, hochherrschaftliche Residenz –
diesmal aber am Meer - kaufen würde.
Die ehemalige „dottoressa sesso“ jedenfalls war nun voller
Inbrunst und Leidenschaft Bankiersgattin Gogel. In Erkenntnis eigener
fortschreitender Reife hatte sie sich, um den Altersunterschied auszugleichen, in
diesen Jahren einen gewagten Farb-Code verschrieben. Eine Vorliebe für den
Farbton Purple sollte visuell das anregen oder erregen, was die unsichtbaren
und immer noch reichlich verschütteten Botenstoffe nun nicht mehr so hergaben.
Obwohl sie dazu auch noch signalisierte, vollen Körper-Einsatz leisten zu
wollen, blieb allen außer Patrik Gogel nicht verborgen, dass das ganze immer
mehr zu einer Parodie auf Laszivität geriet.
Halt, das stimmt nicht ganz. Johannes Goerz, der sie ja nicht von früher
kannte und - gleich alt – die Tragik nachlassender sexueller Attraktivität am
eigenen Leib nachvollziehen konnte, fuhr vom ersten Blick voll auf sie ab. Er
nannte sie unpassend My Purple Heart,
schenkte ihr CDs von Deep Purple und ein Video von „Jimmy plays Monterey“ auf
dem Hendrix die lange Version von Purple Haze zum Besten gab. Die purplefarbene
Gel-Frisur, die langen, künstlichen Finger- und Fußkrallen sowie dazu passend
Lippenstift und hauchzarte Jeans aus Satin oder Saffian im gleichen Farbton
lösten bei dem Journalisten auch noch ganz andere vorpubertäre Reaktionen aus.
Gogel, der Goerz aus gemeinsamer beruflicher Vergangenheit kannte, boten
diese jedenfalls die Initialzündung für
ein Bomben-Geschäft. Er nutzte das Überreizen seiner welkenden Venusfalle,
indem er sie noch einmal zu voller Blüte anstachelte. Obendrein hatte Frau
Gogel aber nicht nur ein Händchen, oberflächliche Verschönerungen an der
eigenen Person vor zu nehmen. Was sie mit wenigen Tricks aus dem Haus der „Francesa“
bis zum Ablauf der Spekulationsfrist gemacht hatte, war innenarchitektonische
Bauernfängerei vom feinsten. Goerz, der die Trennung von seiner Familie gerade
hinter sich hatte und dessen offene Wunden eines über Nacht von Geschäfts- und
Vertragspartnern brutal herbei geführten Buyouts nicht verheilen wollten, war
zudem ein willfähriges Opfer.
Er war einen Sommer lang von Port Bou an der spanisch-französischen
Grenze nach Porto Venere am Ende der Cinque Terre entlang des Mittelmeers gereist, um sich in
selbstmitleidiger Larmoyanz einen Platz zu suchen, an dem er sterben wollte.
Als ihn Gogel am Handy erreichte, war er schon dabei, unverrichteter Dinge in
eine Heimat ohne Heim zurückkehren:
„Suchen Sie immer noch ein Haus im Süden?“
„Ja. Allerdings wollte ich gerade aufgeben.“
„Wo sind Sie denn im Moment?“
„In Porto Venere am Hafen. Preise haben die hier!“
„Was wollten Sie denn anlegen?“
„Na ja, maximal 300 000 Mark. -
Renovierung und Umbauten inklusive!“
„Bei unserem Haus könnten Sie ohne weiteres sofort einziehen.“
„Wieso wollen Sie denn verkaufen?“
„Meine Frau will unbedingt einen Garten. Ein älterer Herr verkauft sein
Haus hier am Ortsrand - eine Gasse weiter. Wir wären Nachbarn. Schauen Sie
sich’s an! In weniger als drei Stunden könnten wir hier auf unserer Terrasse
bei einem eiskalten Vermentino den Sonnenuntergang genießen. Mit dem
Preis werden wir uns dabei sicher einig.“
„Wo sind Sie denn?“
„In Castellinaria oberhalb von Imperia. Mitten in einem Kastell umgeben
von endlosen Olivenhainen. Es wird Ihnen die Sprache verschlagen.“
„Castellinaria? Heißt das nicht sinngemäß Luftschloss? – Wenn das mal
kein böses Omen ist…“, lachte Goerz mit
überzogener Heiterkeit.
Gogels Kalkül ging auf. Die spektakuläre Aussicht von seiner Terrasse
über vier Täler und ein Dutzend noch
tiefer gelegene Bergnester knockte Johannes Goerz an. Der Anblick von
Frau Gogel jedoch schickte ihn sinnbildlich auf die Bretter. Diese
kaschierende Verplankung der Terrasse hatte die Purple Lady eigenhändig frisch
schwarzbraun lackiert, um davon abzulenken, wie marode der Freisitz in
Wirklichkeit war. Das Schwarzbraun kontrastierte obendrein genial ihre
Purple-Aura.
Anfang September saßen sie schon zu Dritt beim Notar, wo 150 000 Mark –
der verbriefte und später ermittelte, tatsächliche
Wert – in Form von registrierten Bankschecks über den Schreibtisch gingen. Als
der Notar kurz mal auf Toilette ging, ließ Gogel weitere 140 Tausender in seinem
Aktenkoffer verschwinden. Goerz hatte sie ihm, in der Auffassung ein gutes
Geschäft gemacht zu haben, nach tolerierter, alter italienischer Steuer-Sitte bar - und für
Gogel natürlich schwarz - mitgebracht.
Am 11. September flogen die
Flugzeuge ins World Trade Center. Am 12. November kam ein Kälte-Einbruch und es
begann zu regnen; vier Tage wie aus Eimern. Die angeblich neue Gasheizung gab
ihren Geist auf. Wasser brach über die Terrasse und das Treppenhaus ins
Esszimmer und riss die halbe Decke samt der Verschleierung aus billigem Samt
mit sich. Ein Wasservolumen von einem Dutzend randvoller Badewannen musste aus
dem Stockwerk geschöpft werden. Von den ungezählten Litern, die in die neunzig
Zentimeter dicken Trockenmauern eingedrungen waren ganz zu schweigen. Aber
dabei konnte Johannes Goerz auch entdecken, dass die dekorativ gebogenen und
ziselierten, schmiedeisernen Vorhangstangen unter den Saal hohen Decken in
Wirklichkeit an den Enden gold lackierte, schwarz angemalte Armiereisen waren.
Zu Weihnachten gab es passend auch noch ein sakrales Erlebnis. Als der
Journalist im Rundgewölbe seines Arbeitszimmers ein Regal aufhängen wollte,
brach eine Teller große, vielschichtige Scholle Putz aus der Wand. Dahinter
trat deutlich ein altes Fresko mit christlichen Motiven ans Tageslicht. Der
Journalist war kein Experte, wie alt und wichtig es sein mochte. Aber italienische
Denkmalschützer, die seine mittelalterliche Bruchbude nach geltendem Recht auf
seine Kosten okkupieren konnten, bis die Provenienz gesichert war, wollte er sicher
nicht konsultieren. Der Hand eines heiligen Mannes folgten unter seinen wütenden
Hammerschlägen ein Stück Heiligenschein, der Turm einer brennenden Kirche,
sowie ein Fluss mit Kähnen drauf. Und von
der Gewölbedecke fielen einige Engel aus einem überputzten, blauen
Himmel oder ließen brüchig Federn. War das in den Anfangsjahren des Gemäuers
vielleicht die Hauskapelle gewesen? Ein vermutlich unwiederbringlicher Schatz
ging da Schlag auf Schlag verloren. Selbst den erklärten Agnostiker Johannes Goerz überkam bei seinem Tun und
aller Wut auf die Gogels massiv das schlechte Gewissen.
Und dann galt ab 1. Januar 2002 der Euro…
12. Kapitel
Euros Gnaden
Und
dann galt ab 1. Januar 2002 der Euro und sorgte für einen Wertewandel sowie
höchst unterschiedliche Wahrnehmungen bezüglich seiner wirtschaftlichen
Wirkung. Das traf sicher überall in Europa zu, war aber auf dem Zauberberg von
Castellinaria mit seinem verlangsamten Raum-Zeit-Kontinuum und den höchst
persönlichen Perspektiven seiner Bewohner geradezu exemplarisch. Durch den
Nationen-Mix war hier quasi ein Musterzoo oder besser ein Reservat für
unterschiedlichste Wirtschaftswesen europäischer Herkunft entstanden. Je
nachdem in welchen Biotopen sie aufgewachsen waren, gediehen sie jubelnd oder
verkümmerten seelisch; jedwedes aber eigentlich ohne ersichtlichen Grund:
Bernhard Kleiner war bedingt durch seinen Lebenslauf Vertreter einer
raren, gegen diese Anwandlungen immunen Spezies. Das galt auch für die
steinalten, immer schon hier angesiedelten „Gewächse“, die sich
landwirtschaftlich selbst versorgten. Sie suchten höchsten bei schwersten
Krankheitsfällen niedere Gefilde auf oder wurden meist erst nach weit über 80
Jahren harten Lebens im Sarg auf den Friedhof ins Tal gebracht.
Die Gogels hatten zwar noch das Haus mit Garten gekauft, es aber sofort,
nachdem sie es wieder in bewährter Manier dekoriert hatten, an eine Agentur zur
Vermietung weiter gegeben. Im Übrigen aber waren sie gleich über die nur noch
in den Köpfen vorhandene Grenze nach Frankreich entwischt und hatten von den
Gewinnen in Castellinaria eine Villa auf dem Cap d’Ail zwischen Monaco und Nizza erstanden. Bevor der
Rest der Welt begriff, dass der Euro bald nicht mehr heimlich in Gedanken
umgerechnet zu werden brauchte, kauften sie diese von verängstigten Amerikanern
in Dollar auf der Basis von Franc-Umrechnung. 2007 sollten sie (wieder einmal
fristgerecht und hübsch dekoriert) die Villa in Euro zur gleichen Summe verkaufen
und das taten sie dann auch gleichermaßen bei dem Haus in Castellinaria.
Natürlich bekam Johannes Goerz seine vermeintlichen Nachbarn niemals
mehr zu Gesicht, um ihnen zumindest einmal die Meinung zu sagen. Der Journalist
gehörte also schon wegen seines baufälligen Domizils und der Tatsache, dass er nun
weitgehend vom „Eingemachten“ leben musste, ganz sicher zu denen, die Gefahr
laufen würden, zu verkümmern. Er entwickelte jedoch für das Phänomen des
Euro-Wertwandels ein Ursachenschema, mit dem sich außer ihm auch andere
Europa-Depressive gedanklich aus dem schwarzen Loch hätten hieven können: Das
Pizza-Theorem.
Das Pizza-Theorem zeigte einerseits die Machtlosigkeit des Individuums,
machte ihm andererseits aber auch deutlich, dass es zumindest nicht allein von
den Wirtschaftsmächten verarscht wurde – dass das Volk als Volkswirtschaft
demnach immer noch die Chance gehabt
hätte, zurück zu schlagen:
Der Euro war im März/April 2002 für die Italiener immer noch so
ungewohnt, dass die Kaufhäuser und Laden-Ketten die Waren (zum Teil bis heute)
auch noch mit Lire auszeichneten. Restaurants gestalteten ihre Menükarten nach
diesem Vorbild, um zu suggerieren: Schaut her, nichts hat sich durch die neue
Währung geändert. Aber der Euro war für den kleinen Mann eben ein schleichendes
Gift. Drehbuchschreiber von Verschwörungsthrillern könnten rückblickend
vielleicht einen Zusammenhang zwischen der Euro-Einführung, „Nine Eleven“, Börsen-Crash, „America at War“ und dem damit
verbundenen Angriff auf den Irak konstruieren. Tatsache war, dass das beidermaßen
in Friedenskundgebungen und Kriegshandlungen engagierte Berlusconi-Italien mehr
damit zu tun hatte, die regenbogenfarbenen „Peace“-Flaggen auf die Balkons zu
hängen, als Preise zu kontrollieren.
Der kleine Riss im Damm gegen den
„Teuro“ wurde durch eine Pizza-Kette verursacht. Die Schallgrenzen für Pizze
lagen 2001 zwischen 6000 und 9000 Lire (etwa sechs bis neun Mark). Heimlich
hatte sich im April der Euro-Preis für die „Margherita“, die nur mit
Mozzarella, Tomaten und Basilikum belegte in der Regel billigste Version, mit
3,90 Euro von der alten Einstiegsmarke entfernt. Als sie erstmals die
Vier-Euro-Grenze überschritt, schlugen die Italienischen Verbraucherschützer
angesichts der Preissteigerung um 25 Prozent innerhalb dreier Monate erstmals
Alarm und riefen zum landesweiten Boykott von Pizzerien, Pizza-Bäckereien und -Lieferanten auf.
Das funktionierte. Ein Wochenende lang aß Italien nur selbst gemachte
oder tiefgekühlte Teigfladen. Es rutschte jedoch nur die Margherita unter die
frühere Marke zurück. Die nicht so leicht typologisch zuzuordnenden übrigen Pizza-Kreationen
mogelten sich weiter auf die Neun Euro zu oder schlichen sich im Jahr darauf
gar schon darüber. Im Frühjahr 2008 kostete die Durchschnittspizza bei gleichem
Lohn-Niveau und EU-weit geringeren
landwirtschaftlichen Erzeuger-Preisen mit Neun Euro nach nur fünf Jahren um
jedenfalls 100 Prozent mehr.
Das Theorem hätte übrigens ohne weiteres auch auf Deutschland als
Schweinsbraten- oder in Österreich als Kaffeehaus-Theorem angewendet werden
können… Der 1000Lire-Steh-Espresso war auf wundersame zwei Euro geklettert,
aber da hatte dieses Genussraucher-Volk auch schon ohne jeglichen Widerstand
und vor allen anderen EU-Mitgliedsstaaten die härtesten Restriktionen gegen
Tabakqualm akzeptiert…
Bernhard Kleiner wusste zunächst mit Johannes Goez, dem neuen,
streitbaren Bewohner Castellinarias nichts anzufangen. Ihm fiel auf, dass dieser
sich jedoch sehr schnell in seinem Umfeld zurechtfand, weil er ungeachtet
seiner geringen Sprachkenntnisse auf die Einheimischen zuging und ihnen
sichtlich bemüht zuhörte wie ein Therapeut oder Seelsorger. Goerz signalisierte
ihnen – anders als der beflissene Peter Häubel - dass er mit ihnen leben, aber nicht um jeden
Peis dazu gehören wollte. Man zollte ihm wohl gerade deshalb schnell Respekt.
Dieser wuchs auch, weil der Journalist für Dienstleistungen und
Reparaturen sein Geld strikt im inneren Zirkel der Gemeinde ausgab, selbst wenn
er sich dafür manche Unzuverlässigkeit (zunächst durchaus bewusst) einhandelte.
Aber irgendwann erträgt auch der dickste Nacken keine weiteren Schläge mehr.
Der von ihm engagierte Baumeister war mitten
im totalen Sanierungs- und Umbau-Chaos in Folge eines Herzinfarktes von der
Leiter gepurzelt. Dadurch geriet dessen „banca di favore“, die
Gefälligkeitsbank, in Schieflage. Mit den Lebensgeistern des „impresarios“
waren nämlich auch 15 000 per Handschlag a conto übergebene Euro entfleucht.
Und unmittelbar darauf stellte sich heraus, dass die Baugenehmigung für eine
Säulenreihe, die eine marode Mauer an der Dachterrasse nach Maßgabe des
Verstorbenen ersetzen sollte, beim „Sindaco“ nicht eingeholt worden war. Das bedingte eine Anzeige wegen Verstoßes
gegen den mittlerweile sehr strengen Denkmalschutz. Eine neue, kostenpflichtige Vermessung für das
Katasteramt zuzüglich eines stattlichen Bußgeldes wurde fällig.
Bernhard Kleiner war ein harter Mann, und nichts von dem, was seinem Landsmann
widerfuhr, hätte ihn jemals emotional tangiert. Doch als er den Fleischberg
eines Morgens heulend und zusammen gesunken durch die offene Haustür an seinem
Küchentisch sitzen sah, trat er ungefragt und auch besorgt von der Piazza in
dessen Haus.
Goerz wischte sich verschämt die geröteten Augen und versuchte sich an
einem Grinsen:
„Ich gebe auf. Dieses Haus schafft mich. Das ist eine Sparbüchse ohne
Boden. Und jetzt das!“
Er wies auf die vor kurzem frisch gestrichene Küchendecke. Dort breitete
sich zügig ein pechrabenschwarzer Fleck aus. Irgendwie war das ablaufende
Wasser aus der Wanne des darüber liegenden Bades seit Jahren unbemerkt in einen
stillgelegten, zu zementierten und total verrußten Kaminabzug geraten.
Jahrhunderte Olivenholz-Befeuerung mussten sich in ihm abgelagert haben. Jetzt
hatte sich das seit wohl geraumer Zeit zusickernde Wasser einen Weg durch die
Hohlräume der Mauern gebrochen.
Dies also war der Moment, in dem der legendäre „Ruinen-Bernd“ seine
Wiedergeburt feierte, und es war auch der Beginn einer eigentümlichen
Männerfreundschaft. Zwei vom Leben unterschiedlich geschundene Alpha-Wesen
gingen zunächst eine Symbiose ein, die sicherlich keiner von beiden noch ein
paar Jahre zuvor für möglich gehalten hätte. Der eher Manuelle und der ans
Dominieren gewöhnte Delegierer – konnte das gut gehen?
Instinktiv spürte Goerz die einfach strukturierte Kompetenz und den unerschütterlichen
Mut zum Anpacken bei dem zehn Jahre Älteren und lieferte sich erstmals in
seinem Erwachsenen-Leben einem anderen Menschen vorbehaltlos aus.
Dank Euros Gnaden sollte dies eine der besten Entscheidungen seines
Lebens werden. Mit castorpschem, naivem Staunen nahm er in den kommenden
Monaten die Urkraft wahr, die von diesem Zauberberg ausgehen konnte, wenn man
sich nur bewusst auf ihn einließ. Es schien auch, als wolle jener seine
Bewohner erst prüfen, ehe er sie dauerhaft als Bewohner duldete.
Schutthalden, Trümmer im Haus, Deckenkonstruktionen,
die nicht hielten, was sie versprachen – das alles hätte den alten Johannes an
den Rande eines Nervenzusammenbruches geführt. Jetzt war es ihm wurscht, wenn
er sich einen Abend mal staubverkrustet und stinkend zum Schlafen niederlegte,
weil das Wasser abgestellt bleiben musste. Jetzt war ihm auch egal, dass sein
ramponiertes Vermögen stetig schrumpfte wie die von Signora Elza auf blitzenden
Blechen zum Ausdörren auf dem Dach gegenüber ausgelegten Tomaten. Jeden Morgen trat er mit breiter Brust auf die Piazza oder seine
über allem schwebende Terrasse, umarmte das einzigartige Panorama und sog die
vom Meer aromatisierte, frische Bergluft wie befreit in seine Lungen. Sein
Leben hatte als Ruinen-Bauherr einen neuen Orientierungspunkt, und diese
Zielsetzung riss sein Umfeld mit.
Milan Besnik war der erste, der Johannes Goerz in einer Mischung aus
Respekt und Baustellen-Kumpanei mit seinem zukünftigen Spitznamen „Don
Giovanni“ ansprach. Kleiner hatte die beiden Albaner in kleiner Nachbarschaftshilfe
engagiert, weil diese neben ihrer erwiesenen und erprobten Zuverlässigkeit als
einzige nicht mit dem Euro ihre Preise eins zu eins angehoben hatten. Er ahnte
ja nicht, was Johannes Goerz bald erfahren sollte, aber seiner Verschwiegenheitspflicht gehorchend, noch Jahre für sich behalten musste:
Die „Sterbenachhilfe“ in Euroland war bei
zunehmender Zwielichtigkeit derart gefragt, dass die zwei das Schuften am Bau,
schlicht als einen, die Nerven
beruhigenden Ausgleichssport
betrachteten. Den meist ausländischen Bauherren fielen dabei die immer häufigeren
partiellen Abwesenheiten des einen oder anderen Besnik nicht wirklich auf. Dass
auf einmal Sali Besnik häufig allein auf seiner Baustelle schuftete, führte
beispielsweise Johannes Goerz darauf zurück, dass nur der titanische Rotschopf
so mühelos dazu in der Lage war, die Tonnen von Schutt durch das winkelige
Anwesen nach draußen zu schaffen.
Als auch „Il Mulo“ ihn zum ersten Mal mit „Don
Giovanni“ ansprach, fühlte sich der Journalist gruselig amüsiert an die Szene
in „Der Pate I“ erinnert. Die, in der der Killer Clemenza Don Corleone seine
Aufwartung macht und in gutturalem Dialog seine tödlichen Anweisungen empfängt.
Wie sollte „Don Giovanni“ da schon ahnen, wie treffend diese Assoziation noch
werden würde?
Und dann hatte Goerz beim gemeinsamen Schleppen einer schweren Säule in
Folge von Pressatmung einen kurzen Herzstillstand, der den Exil-Albaner aus
seiner zementierten Rolle zwang. Mit der kühlen Routine eines promovierten
Kardiologen, der er im früheren Leben tatsächlich gewesen war, holte er seinen
Bauherrn aus dem Jenseits zurück. Zog sich nach erfolgreicher Wiederbelebung
aber nicht so schnell zurück, dass jener bei dem Rübezahl nicht die Sachkompetenz und die damit kurz einher
gehende Veränderung seines Habitus feststellen konnte…
Ausgerechnet beim Lebensretten hatte Sali Besnik seine Tarnung
aufgegeben. Das Schicksal schrieb die besten Sketche. Diese Geschichte erschien dem einst so
investigativen Journalisten zu kurios, als dass man sie hätte erfinden können.
Und er brauchte nicht weiter nachzuhaken. Einmal regelrecht entlarvt, schien
der Enttarnte nur darauf gewartet zu haben, seiner aufgestauten Seele die
Schleusen zu öffnen. Dass Besnik dies in fließendem Deutsch mit nur
geringfügigem Akzent tat, war schon bald kein erstaunlicher Begleitumstand
mehr. Besnik hatte vor dem Fall der Mauer seinen Facharzt an einer ostdeutschen
Uni-Klinik gemacht. Als Spielball einer blutrüstigen, postkommunistischen
Europa-Geschichte war er erzwungener Maßen zu dem geworden, was er nun war.
Johannes Goerz hielt die gesamten Hintergründe für eine geplante große
Enthüllungsgeschichte lange unter Verschluss. Was womöglich auch damit zusammen
hing, dass Sali einige Wochen, nachdem die Renovierung von Goerzens Haus
endlich abgeschlossen war und der Deutsche mit seinen Nachforschungen bei einigen
der geschilderten, mysteriösen Todesfälle begonnen hatte, ertrunken aus einem
Stellnetz vor dem Capo Berta gefischt wurde. In seinen Lungen fanden die
Pathologen allerdings kein Meerwasser, sondern Marmorkleber. Kurze Zeit später
war dann auch Milan samt dem kleinen Bauhof bei Garlenda verschwunden.
Bernhard Kleiner waren die stimmungsmäßigen Veränderungen seines neuen
Freundes nach dem euphorischen Zwischenhoch durchaus nicht verborgen geblieben,
aber so sicher war er sich, dass Goerz ihm eines Tages erklären würde, was
geschehen war, dass er nicht neugierig war. Noch waren sie beim Umgang
miteinander zur Sicherheit distanziert beim Sie geblieben.
Kleiner
hatte den neuen Bekannten genauestens studiert. Ihm war aufgefallen, dass dessen
augenscheinliche Interesselosigkeit im näheren Umfeld in erster Linie den
deutschen Landsleuten auf dem Zauberberg galt. Bei den Italienern war das
anders. Lucca, Enzo und die anderen mit Bernhard in die Jahre gekommenen Spießgesellen
der ersten Zeit in Castellinaria hatten „Il Rullo“, die Dampfwalze, sofort
in ihr Herz geschlossen. Sie nannten Goerz wegen seiner bisweilen
plattmachenden Herzlichkeit ihnen gegenüber und natürlich auch wegen seiner
Figur so. Bernhard beschrieb Traute die Art, wie Goerz, sich so schnell auf
neue Bekannte oder alte Antipathien einstellte, als sie einmal an der Kasse im
Supermarkt standen:
Die Kassiererin zog Produkt um Produkt stoisch über das Scannerfenster.
Erst wenn eines keinen Signalton von sich gab, widmete sie ihre Aufmerksamkeit
ganz individuell dieser Ware. Dann tippte sie die Zahlen des Strichcodes ein
und schickte sie auf dem Laufband hinterher. Manche Produkte - meist selten
ausgewählte aber auch besonders neue wurden dann per Aufruf durchs Mikrofon
ausgezeichnet an die Kasse nachgeliefert. Die nicht derart standardisierten
Stücke gingen in einen besonderen Korb. Bernhard wies auf das Scan-Fenster:
„Ich glaube Goerz macht das mit Menschen genauso. Er scant sie und
bevorzugt die, die nicht gleich per Strichcode ihren Euro-Preis zu erkennen
geben. Wir sind wohl bei ihm in diesem Sonderkorb gelandet. Anders wäre das in
unseren unterschiedlichen Preisklassen ja kaum zu erklären.“
13. Kapitel
Die Rückkehr der Enkel
„Ich komme einfach nicht an!“, sagte Johannes Goerz und schaute über den
erleuchteten Kirchturm der Nachbargemeinde auf das vom Mond beschienene Meer
hinunter. Offenbar recht große Wellen, die der Scirocco vor sich her schob,
ließen es mit ihren streifigen Schatten von dort oben, wo sie saßen, wie ein
Teller aus gehämmertem Silber erscheinen.
„Ich komme einfach nicht an - in diesem so genannten Dritten Leben. Ich
erkenne, das Privileg hier sein zu dürfen. Ich sauge diese einzigartige
Schönheit in mir auf, aber anstatt es zu genießen, lasse ich zu, dass gerade in
solchen Momenten ein aberwitzig schlechtes Gewissen von mir Besitz ergreift.“
Bernhard Kleiners lange Beine baumelten wie die des Journalisten in
lässiger Fahrlässigkeit außen von der Zinne des Kastells über dem schwarzen
Abgrund, der sich an der Südostfront der Burgmauer erstreckte. Glühwürmchen
tanzten in der Tiefe. Er schmauchte seine Pfeife mit zerkautem Mundstück und
sagte gar nichts. Längst wusste er, dass sein neuer Bekannter ein komplizierter
und zerrissener Charakter war, dem mit seinem gesunden Menschenverstand kaum
beizukommen war. Indem er ihn aber schweigend und fest anschaute, wenn der eine
Pause machen wollte, ermutigte er den Jüngeren stets mit seinen Monologen
fortzufahren. Das klappte und war besser, als sich mit Traute via Satellit
deutsche Fernseh-Soaps anzusehen. Diese fortwährende Selbstzerfleischung war
eine Reality-Show – exklusiv und wegen beiläufig gewonnener Erkenntnisse
unbezahlbar. Er selbst war ja auch auf
Wichtigkeitsentzug gewesen, nachdem er die Großbaustellen seines Lebens auf
immer verlassen hatte. Er wusste, dass Verluste von Macht, Kraft, Sex und
anderer Antriebskräfte auch bei dem Journalisten seine Zeit brauchen würde,
aber er war sich nicht ganz sicher, ob Goerz - so wie er - den Stand der
Weisheit durch homöopathischen Genuss des noch Gewährten erreichen würde.
„Der Gogel hat mir außer der Bruchbude noch einen Spruch da gelassen.
Quasi ein Leitsatz aus seinen Management-Seminaren: Man merke sich: Die beiden
größten Arschlöcher in meiner Karriere sind mein Vorgänger und mein Nachfolger…“
„Ich habe übrigens meine Wohnung an den Enkel von Franco verkauft“, warf
Kleiner mitten in den unvollendeten Satz.
„Was hat das jetzt mit dem Spruch vom Gogel zu tun?“ hakte Goerz in
einer Mischung aus Erstaunen und Ungehaltenheit nach. Kleiner hatte ihn noch
nie unterbrochen, und schon gar nicht, indem er ein völlig anderes Thema
anschnitt.
„Nehmen Sie doch Castellinaria! Das ist eine über Jahrhunderte
andauernde Abfolge von Vorgängern und Nachfolgern. Aber die gegenwärtigen
Arschlöcher sind wir, die wir gedacht haben, wir könnten einfach ein fremdes
Stück Paradies kaufen und nach unseren Vorstellungen formen und verändern. Wie
sehr wir in die historische Nachfolge eingegriffen haben, ist mir gerade erst
durch diesen Spruch und das, was ich mit Francos Enkel erlebt habe, bewusst
geworden.“
„Sie sprechen in Rätseln. Don Bernardo!“
„Nun, die Wohnung, die ich seinem Enkel verkauft habe, hat einmal Franco
gehört. Er hat mir und Häubel das Haus zu Beginn der Achtziger verkauft, weil
seine Kinder nach Turin und Genua gegangen waren und von Castellinaria nichts
mehr wissen wollten. Unser Geld hat er – genügsam wie er immer war – für seine
ungeborenen Enkel bei der Ambrosiana angelegt. Stellen Sie sich das mal
vor. Damals haben sie die Italiener auf den Baustellen bei uns wegen ihres
ungebremsten Kinderzeugens noch ‚Katzelmacher’ genannt…“
„Ja, so hieß doch auch ein Film von Rainer Werner Fassbinder…“
„…Und jetzt sind die bei den Geburtenraten in Europa das Schlusslicht.
Francos Töchter sind geschieden und haben gar keine Kinder. Einer der
beiden Söhne seines Sohnes ist jetzt bei Imperia Mare für die künftige
Hafen-Entwicklung zuständig. In den 26 Jahren seines Lebens war er vielleicht
dreimal hier oben, ansonsten durfte Franco, um seine Enkel zu sehen, nach Genua
reisen. Marco, der ältere der beiden Enkel, erinnerte sich also, dass sein
Vater häufig von einem zweiten Häuschen seines Großvaters gesprochen hatte und fragte
nach Jahrzehnten des Desinteresses Opa Franco, ob er dieses Häuschen als
Wohnung haben könnte, weil die Mieten am Hafen so absurd teuer seien. Franco erzählte
ihm, dass das Haus schon vor seiner Geburt verkauft worden sei. Dass er ihm
aber die Hälfte des damals angelegten Erlöses zugedacht habe.“
„Und da hat der sich riesig gefreut und Ihnen davon gleich die Wohnung
abgekauft?“
„Nein! Ganz im Gegenteil! Der hat seinen Opa wüst beschimpft. Er habe
ein Fundament der italienischen Kultur für centesimi an Ausländer
verhökert. Und seine Wut wurde fast zu einem Tobsuchtsanfall, als er
feststellte, dass das Geld vom Opa mit Zins und Zinseszins gerade dazu
ausreichen sollte, davon die Hälfte von der Hälfte des früheren Hauses zu
bezahlen. Er nannte mich einen Spekulanten, obwohl ich ihm sogar die Wohnung aufgrund meiner Freundschaft zu
seinem Großvater noch um 25 Prozent günstiger angeboten habe. Häubel und ich hatten ja in die Renovierung
neben dem Material und der Ausstattung einen Haufen eigene aber auch viele
Arbeitstunden der Albanesi gesteckt. Jeder von uns hatte Franco damals
15 000 Mark bezahlt und etwa die gleiche Summe in die durch die Teilung
entstandenen Wohnungen investiert. Lustiger Weise hatten auch wir beide die
Idee, diese dereinst mal unseren Enkeln zu überlassen…“
„Und?“
„Häubel hat ja welche. Unser Sebastian hat das
Thema Kinder längst abgehakt. Und was Sie erzählt haben, wird es doch auch bei
Ihnen keine geben. Die wenigsten der Deutschen hier oben – so sie überhaupt
Kinder hatten – haben Enkel, und da sich deren Eltern schon kaum mehr
interessierten, wird es von denen hier keine wirkliche Nachfolge-Generation
geben.“
„Luftschlösser taugen offensichtlich nicht für Dynastien“, Goerz
schüttelte in jäher Erkenntnis und ein wenig resigniert seinen Kopf und fuhr
dann fort: „aber waren wir denn blind in unserer Sehnsucht nach so einem Ort?
Wenn es so sein wird, dass unsere Kinder und Enkel im Globalismus nicht mehr
sesshaft werden können, weil sie für den Job vielleicht alle fünf Jahre oder
öfter wieder an einen anderen Ort müssen, dann wäre doch so eine Zufluchstätte
eine tolle Alternative.“
„Ja, schon. Aber sie wäre eben keine Heimat oder nur ein Ersatz für sie.
So etwas wie ein Elternhaus hat keine Bedeutung mehr, so bald es in dessen
Umfeld nicht mehr genügend Jobs gibt. Im Prinzip ist das so, wie es hier oben
war. Francos Generation hatte schon keine Perspektive mehr als Bergbauern. Also
haben die meisten damals Castellinaria verlassen, um ihr Glück anderswo zu
suchen. Wenn meine Generation Deutscher nicht die Sehnsucht nach den
italienischen Momenten gehabt hätte, wäre das hier oben alles verfallen. Klar
haben wir die alten Gemäuer für vergleichsweise lächerliche Summen gekauft.
Aber niemand zählt ja die Arbeitsstunden und die Kosten für das Material
zusammen, die wir all die Jahre in die Restaurierung gesteckt haben, ohne dafür
Subventionen für den Denkmalschutz einzustreichen…“
„Nein, die Enkel sehen natürlich nur die Preise, die sie sich meist mit
normalen Jobs nicht leisten können – selbst wenn sie Opas wie Franco haben.“
„Fünf der Häuser, die verkauft wurden, seit Sie das Haus der Francesa
übernommen haben, sind nicht mehr an Nordeuropäer gegangen, sondern als
Investments für Ferienwohnungen an Immobilien-Firmen aus Turin und Mailand.“
„Februar und März war der Ort tatsächlich so ausgestorben, dass ich mir
hier wie in einer Geisterkulisse vorgekommen bin, aber das war auch irgendwie
mystisch und schön.“
„Es werden also andere Nachfolger kommen, aber bis dahin sind wir die
Arschlöcher. Ich sage es ungern – obwohl wir ja auch zum Wohlstand der Gemeinde
beitragen – baut sich hier erstmals in all den Jahren eine unterschwellige
Feindseligkeit auf. Die Enkel-Generation weint einem verlorenen Paradies nach,
dass ihre Eltern verlassen haben und in dem ihre Großeltern erst einen
verbesserten Status erfuhren, als wir dessen Verfall gestoppt haben.“
„Dürfen wir ihnen das denn verübeln?“
„Nein, natürlich nicht! Man muss sich ja nur vorstellen, das wäre mit
einem unserer historischen Dörfer daheim passiert – beispielsweise durch
Japaner. Oder einfacher: Wir erinnern uns daran, was die vermögenden Wessies
nach der Wiedervereinigung an Luxussanierungen und Spekulationen allein in
Dresden, Leipzig und Weimar mit Unterstützung der Treuhand durchgezogen haben.“
Goerz bewegte eine Weile schweigend seinen mächtigen Schädel mit der
Einsteinmähne hin und her. Dann grinste er schüchtern wie ein Schuljunge, der
seinen Lehrer in einer Mischung aus Respekt und Erkenntnis um einen Gefallen
bitten will:
„Ich weiß, wir haben in Deutschland die Sitte, dass die Aufforderung zum
vertraulicheren Du vom Älteren auszugehen hat. Wir beide - glaube ich - lassen
uns mit dem Duzen wohl auch aus einem gewissen Misstrauen heraus immer noch
mehr Zeit als andere. Aber ich möchte hier und jetzt etwas zum Ausdruck
bringen, was mir schon seit einiger Zeit klar ist. - Bernhard Kleiner, Sie haben einen
außergewöhnlichen Charakter und Sie sind ein inspirierender Quell der Weisheit.
Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mir das Du anböten.“
14. Kapitel
Wieder Warten auf die Russen
Im Frühjahr 2008 saß Bernhard Kleiner auf seinem Lieblingsplatz, der
Zitronenlaube auf der Zinne im Garten, und wartete zum zweiten Mal in seinem
Leben auf die Russen. So viel war seit jenem denkwürdigen Abend passiert, an
dem er Goerz das Du angeboten hatte. Sie waren wirklich noch bessere Freunde
geworden. Einem geheimen, unausgesprochenen Regelwerk folgend, rückten sie sich
nie zu nah auf die Pelle. Aber beide sprangen ohne zu Zögern auf und ließen
alles stehen und liegen, wenn es galt, Hilfe zu leisten oder für ein ernstes
Gespräch bereit zu stehen.
Sie waren zum Fischen aufs Meer hinaus gefahren, hatten am Haus herum
gebastelt und herrliche Abende beim Kochen und Weinverkosten verbracht.
Goerz hatte Kleiner endlich die Geschichte
von Sali Besnik erzählt, und Kleiner die das Bild ergänzenden Dramen mit seinem
Schwager Lenz geschildert. Sie hatten gemeinsam diverse Kämpfe mit der
regionalen Kataster-Bürokratie ausgefochten, weil seit deren Umstellung auf
Computer kaum einer noch auf Anhieb sagen konnte, wofür und wie viel Steuern zu
zahlen waren.
Für zwei milde Winter und angenehm temperierte Frühlings- und
Sommerperioden führten Sie das einst erträumte Leben von Edelrentnern. Aber
dann war Bernhard von einem medizinischen Routine-Check in der Heimat nicht
gleich zurückgekommen.
Krebszellen in seiner Prostata hatten vollkommen unbemerkt bereits
derart metastiert, dass er direkt aus der Praxis auf den Operationstisch geschickt worden war. Der Totaloperation
folgte eine langwierige Chemo, die nur ein Mann von seiner Willenskraft und
Athletik derart stoisch und äußerlich
unversehrt wegstecken konnte.
Goerz hatte sich – als ob der Sensenmann
synchron arbeiten wollte – bei seinen Recherchen ungeahnt ebenfalls in
Todesgefahr sowie aus dem Seelischen Gleichgewicht gebracht. In der Folge
musste er sich der schwersten Depression seines Lebens erwehren. Ein im
Nachhinein lächerlich dramatisiert erscheinender Selbstmordversuch mit seinem
Boot schlug fehl. Und so schämte er sich unendlich, als er seinen tapfer
kämpfenden Freund in wirklich tragischer
Lebenssituation unverzagt wieder traf.
Innerliche Verletzlichkeit nach außen nicht zulassend, gingen die beiden
fortan in einer rüden Knarzigkeit und einem überzogenen Galgenhumor miteinander
um. Goerz, der Literaturbeflissene, hätte
das als „hemmingwaysche Macho-Scheiße“ eigentlich verachten sollen. Aber
es half ihnen über die Anflüge von Hilflosigkeit hinweg
Dass er sich unten herum neu orientieren musste, und dass der
Harnblasen- und Schließmuskelbereich bei diesem Treppauf Treppab erniedrigend
zum Versagen gezwungen wurde, muss für Kleiner in den Monaten der
Rekonvaleszenz die Hölle gewesen sein.
Goerz, jeglicher Behinderung anderer gegenüber verkrampft, überwand sich
erstaunlicher Weise. Er überspielte zunehmend die eigene Unsicherheit im Umgang
mit dem Freund, indem er ihn vielleicht mehr antrieb, als gut war. Das zwang
ihn dann, Kleiner immer wieder einzubremsen.
Weil der kaum, dass es ihm besser ging, wie früher gewohnt, zupacken wollte. Wenn er Bernhard gar nicht mehr Herr wurde, petzte
er das unverfroren Traute, die mittlerweile wie eine Schwester für ihn war. Ja ihm
Gelang es sogar, dass Don Bernardo nach geduldigem Zureden einen knorrigen
Spazierstock aus poliertem Olivenholz als Absicherung gegen Fehltritte akzeptierte.
Eigentlich machte dieser Stock erst den wahren Don aus Kleiner. Denn
fortan erteilte und verteilte er Belehrungen und Hinweise bautechnischer Art,
indem er mit diesem auf Schwachstellen, Pfusch oder versteckte Mängel deutete.
Das gab ihm irgendwie eine Respekt einflößende Distanz.
Indem er niemanden mehr zur Seite schob, um immer gleich selbst Hand
anzulegen, wuchs ihm sogar noch mehr
Kompetenz und Souveränität zu.
Der knotige Stock wäre aber beinahe auch noch zur Schlagwaffe geworden, als dieser
Junge Mann im schwarzen Designeranzug begann, mit seinem Klemmbrett durch die
Gassen zu spazieren.
Der Schweizer Jungmann in Diensten einer diffusen Touristik- und
Immobilien-Holding schwadronierte mühelos vielsprachig durch die historischen
Gemäuer und machte Angebote, die eigentlich niemand ablehnen konnte. Er war
bestens orientiert über Besitzverhältnisse, Nutzungszeiträume und die Standards
bei der Ausstattung diverser Häuser. Er wirkte wie der Frontsänger einer Boygroup
mit seiner Gelfrisur und den blondierten Haarspitzen, und gerade die etwas
älteren Nordeuropäerinnen verspürten bei seinem Scharwenzeln ein Prickeln in
tot geglaubten Körperregionen. Neben den unausgesprochenen, von
Testosteronfülle begleiteten Versprechungen war aber auch das rein
geschäftliche Angebot verlockend:
Verkauf des Anwesens zu einem Preis erheblich über aktuellem Marktwert
und geknüpft an ein noch fünf Jahre geltendes, Gratis-Wohnrecht für insgesamt
jeweils acht Wochen pro Jahr; allerdings außerhalb der Hauptsaison-Monate.
Als Traute dem smarten Jüngling erstmals die Tür aufmachte, war sie
zuerst äußerst abweisend und misstrauisch, aber angesichts der jüngsten Ängste,
die sie um ihren Bernhard ausgestanden hatte, war ihr das Ganze doch des
Überlegens wert. Zumal Traute – was sie Bernhard bislang verschwiegen hatte – auch
einen Grund hatte, die ihnen noch verbleibenden gemeinsamen Tage in
Castellinaria als gezählt zu betrachten:
Weil sie sich so gefreut hatte über die quasi normalen Werte ihres
Mannes hatte sie auf der Sagra zu Ehren der Santa Madalena auf dem
Dorfplatz des Capoluogo hemmungslos Masurka getanzt. Franco hatte
sie mit seinem großen Professorenkopf den Takt vornickend, herumgewirbelt, was
seine Schweißdrüsen hergaben, - sein Deo allerdings nicht hielt. Aber wer wird
schon die Nase rümpfen, wenn die Live-Band unermüdlich schmalzt und die
Juniluft selbst um Mitternacht noch dreißig Grad hatte? Zudem entspannte der
eiskalte Vermentino Trautes immer noch außerirdische Schönheit. Die
fortgeschrittene Osteoporose der Garbogöttlichen allerdings ließ sich nur bis
zur ersten längeren Pause betäuben. Den Wallfahrerweg hinauf nach Castellinaria
schaffte sie im Morgengrauen nur, weil sie zu beschickert war, um die Schmerzen
zu spüren. Den restlichen Sommer jedenfalls konnte sie ihre liebgewordene
Gartenarbeit nur noch unter unmenschlichen, heldinnenhaft unterdrückten Schmerzen verrichten. Was
letztlich auch dazu führte, dass sie immer häufiger das verlockende Angebot des
Schweizer Akquisiteurs zur Sprache brachte.
Don Bernardo von neuer Lebenskraft beseelt, wollte von alldem nichts
wissen und geriet in der Folge derart in Wut, dass er dem jungen Mann eines
Tages auflauerte und ihn wild seinen Olivenholzstock schwingend über die Piazza
trieb. Der Charmebolzen, derlei rüde Reaktionen bislang bei seiner
erfolgreichen Akquise nicht gewohnt, ließ vor Schreck Klemmbrett und
Präsentationsmappen fallen. Goerz sammelte alles ein, ging aber weder
dazwischen, noch ergriff er Partei, denn schon auf den ersten Blick erkannte
er, dass hier etwas ganz Großes im Werden war.
Goerz nötigte die beiden Streithähne auf die Steinbank an der Fontana.
Gab das persönlich vertraulich wirkende Klemmbrett als erstes zurück.
Allerdings nachdem er schon registriert hatte, dass einer der Ersten auf der
Liste der Verkäufer Francos Enkel Marco war. Eine der Mappen hatte er für sich
behalten und begann, sie zu studieren. Nicht ohne vorher mit einer herrischen
Geste jedweder weiteren Gemütsäußerung der Kampfhähne Einhalt zu gebieten.
Der Profi erkannte nicht nur die perfekte Präsentation, sondern auch den
genialen Ansatz hinter der Idee:
Auf dem Deckblatt war ein Screenshot von Google Earth zu sehen. Er war
mit einem Graphikprogramm derart brillant nachbearbeitet, dass Goerz in der
Draufsicht von Castellinaria deutlich auch seine Dachterrasse samt Schirm und
Markise erkennen konnte. Don Bernardos hängender Garten wirkte aus der
Satelliten-Perspektive so spektakulär wie in natura. Als Goerz ihm das zeigte,
schien sich die wütende Spannung für einen Moment zu lösen.
Auf den folgenden Seiten wich die Google-Darstellung immer mehr einem
architektonischen Relief-Plan vom zukünftigen „Castello in Aria“. Die großen
Häuser des Ortes wurden außenarchitektonisch vereinheitlicht als Residenzen
hervorgehoben, die kleineren als Ferien-Appartements. Die im Privatbesitz
verbleibenden Häuschen der Einheimischen, die nicht verkaufen wollten, waren
mit Personaggio betitelt, Personal!
– Es würde also auch um neue Arbeitsplätze gehen, und wohl deshalb hatte
auch die Gemeinde ohne Widerstand ihr Legat am Anwesen der ehemaligen
Klosterschule abgetreten. Die hatte ja mangels Kindern seit den 1970ern immer nur leer gestanden. Das
Atrium mit Kreuzgang und den hohen
Schlafsälen sowie den beiden Spielplätzen an der Burgmauer firmierte auf den
Prospektseiten bereits als künftiges Kulturzentrum mit Galerien und Bühnen für
Musik- und Theater-Darbietungen. In Standaufnahmen von Computer-Animationen
wurden die Gassen mit elektrischen Golf-Carts
befahren. Sämtliche Unstimmigkeiten an den Fassaden waren virtuell bereits
angeglichen. Das galt vor allem für die frischen Farben aller Häuser, die im
Plan einzigartig harmonierten und ganz besonders für das Castello.
Goerz sah den Hinweis auf eine interaktive Webside und bat die beiden
Männer über die Piazza spontan in sein Arbeitszimmer, wo er seine Computer
online hatte:
Die virtuelle Fahrt durchs Dorf samt Anreise – oder sollte man besser
sagen Anflug – war noch spektakulärer. Der Cyber-Hubschrauber hob am neuen –
hier digital schon fertig gestellten - Jachthafen zwischen Oneglia und Porto
Maurizio ab, umrundete den mittelalterlichen Kirchberg und kletterte hoch über
den Monte Aquarone und das Imperotal, um die Totale über die Valle d’Olio zu
öffnen. Im Landeanflug auf den Heliport
des zukünftigen „Castello in Aria“ nahmen die Cyberspace-Reisenden zur
Kenntnis, dass der Ort hier schon von einem Par-3-Neunloch-Golfplatz umgeben
war. In der Realität würde der wohl nur von einem fanatischen Freak mit grenzenlosen Finanzen aus den Fasce
und Oliven-Terrassen heraus gegraben werden können. Aus den beiden Spielplätzen
der Klosterschule war eine römisch anmutende Pool- und Spa-Landschaft geworden…
Am Hubschrauber-Landeplatz oberhalb und ein wenig abseits des Ortes in
einer rundum geschützten Bodenfalte (sie wurde Lardo - also Speck - genannt,
weil dort vor Zeiten ausgewilderte
Hausschweine lebten) wurden die Gäste der Webside mit einem Golf-Cart zum
Einchecken ins Schloss gebracht. Es diente hier als stilvolles
Verwaltungszentrum vor dem das animierte Daten-Ebenbild des jungen Schweizers
einen kleinen Einführungsvortrag hielt. Als die Fahrt dann weitergehen sollte, stoppte
Goerz sie per Mausklick. Sein Blick verharrte auf dem Haus der Francesa
– also seinem.
Dort hatte die Text-Einblendung das
„Zentrum für Werbung und Kommunikation“ angesiedelt.
„Das ist mein Haus“, bellte er empört in Richtung des Schweizer Smartys.
„Das wissen wir. Wir wissen auch, dass es Ihnen wirtschaftlich nicht so
gut geht, und der Job wäre ideal für Sie bis ins hohe Alter. Sie bräuchten
nicht zu verkaufen und wir zahlten Ihnen noch dazu Büro-Miete…“
„Also mir reicht es jetzt“, knurrte Kleiner und verließ wechselweise
wachsbleich und wutrot werdend das Haus seines Freundes. In der stets zur
Piazza hin offenen Tür drehte er sich noch einmal um und sagte ganz leise und
eisig:
„Ihr könnt kaufen, wen und was ihr wollt. So lange ich hier lebe,
bekommt ihr mein Haus nicht!“
Goerz indessen war bestürzt, dass er zu so einer drastischen Aussage
spontan nicht fähig gewesen wäre. Die Verlockung, doch noch einmal im Leben
wichtig zu sein und für den Austrag hier oben auch noch bezahlt zu werden,
drang in seine Nervenbahnen wie ein schleichendes Gift. War nicht „in den
Stiefeln zu sterben“ immer eine seiner Visionen gewesen?
Offenbar weil er sich nicht sofort auf dessen Seite geschlagen hatte,
war das Verhältnis zwischen Johannes und Bernhard - unausgesprochen zwar – in
den restlichen Sommer- und Herbstwochen belastet. Kleiners Stimmung wurde
natürlich nicht besser, als er erfuhr, dass auch Häubel sein Anwesen am unteren
Ortseingang verkauft hatte. Der Sindaco hatte ihm das Baurecht
auf einer seine Fasce eingeräumt,
und die Holding würde ihm zum Selbstkostenpreis dort eine Villa hinbauen, so
dass noch ein ordentlicher Teil des Verkaufserlöses für die Enkel übrig bleiben
sollte. Außerdem war ihm das exklusive Recht angeboten worden, mit seinen und
den Produkten anderer, einheimischer Bauern einen Bioladen an der Piazza zu
betreiben.
Die größtmögliche Wut und das absolute Stimmungstief lösten jedoch bei
Bernhard Kleiner die weiteren Recherche-Ergebnisse seines Journalisten-Freundes
aus.
Der touristische Multi - so hatte Goerz herausgefunden - wurde von einem
Konsortium namhafter Schweizer Banken getragen, die aber offenbar wiederum nur
die Geldmacht eines in London ansässigen russischen Oligarchen kaschieren
durften. Der trat natürlich zunächst nicht einmal annähernd selbst in
Erscheinung. Goerz kam nur drauf, weil er im Laufe früherer, letztendlich lebensbedrohender Recherchen
schon einmal auf die Namen zweier auch in diesem Umfeld wieder beteiligter
Institute gestoßen war. Das eine war eine Art Islamische Bank für Wiederaufbau
mit Firmensitz in einem der Vereinigten Emirate und das andere ein Private Equityfund,
der auf Grand Cayman in der Karibik ansässig war. Trotz oder gerade wegen der
internationalen Immobilien-Krise und der Liquiditätsengpässe selbst größerer
Banken wurden in diesem Dreieck während der folgenden Monate Liegenschaften mit
massiven Geldmitteln aus sehr diffusen Quellen aufgekauft und bisweilen zu Spottpreisen übernommen. Da
wunderte es doch, weshalb man in Castellinaria so großzügige Angebote machte.
Das letzte, was Bernhard Kleiner von Goerz erfuhr, bevor er zur
Kontrolle seiner PSA-Werte nach Düren zurückkehrte, war der Fakt, dass in einem
in Liechtenstein geführten Kontroll-Gremium als Chairman ein Name auftauchte,
der dazu beitrug, seinen Gesundheitszustand schlagartig zu verschlechtern:
Lorenz Meester – der Lenz…
Dann kam Ende November 2007 der Anruf:
„Es geht zu Ende“, fiel Bernhard bei Goerz gleich mit der Tür ins Haus.
„Sie haben Metastasen in meiner Leber und der Bauchspeicheldrüse gefunden. Sie
sagen zwar, dass der Krebs in meinem Alter sehr langsam voran schreite, aber
haben mir doch empfohlen, ohne Hast meine Dinge zu ordnen.“
Johannes Goerz hielt den Atem an und kämpfte mit den Tränen. Ihm fehlten
die Worte – wie immer in solchen Situationen.
„Hallo? Bist Du noch dran?“
„Ja, natürlich! Ich bekomme nur gerade keine Luft.“
„Hör zu! Außer Dir und Traute weiß niemand, wie krank ich bin. Die
Russen haben mir eine Carta bollata geschickt. In diesen Vorvertrag soll
ich meine preislichen Vorstellungen eintragen. Der Boss selbst will mein Haus
für sich. Kannst du das begreifen? Mein zusammengestückeltes Gemäuer für einen
Mann, der sich unten am Meer die exklusivsten Paläste im Dutzend aus der
Westentasche kaufen könnte.“
„Vielleicht steht es auf einer Goldader“, versuchte Goerz gequält zu
scherzen.
„Nun, ich werde das Sergei Ibrahimowitsch schon persönlich fragen, bevor
ich unterschreibe.“
Da saß Bernhard Kleiner nun im Frühjahr 2008, also fast genau vierzig Jahre nachdem er Castellinaria
erstmals betreten hatte, in seinem Garten und wartete auf die Russen. Seit
Februar surrten die ersten elektrischen Golf -Carts durch die Gassen. Goerz
hatte ihn vom Flughafen in Nizza abgeholt. Er war ohne Traute gekommen. Nachdem
die Entscheidung zum Verkauf erst einmal gefallen war, hatte sie beschlossen, das
Luftschloss nie wieder zu betreten, da es ihr sonst vermutlich das Herz
zerrissen hätte. Der angekündigte lange Abschied von Bernhard war allein ja
schon schwer genug zu verkraften.
Beat Aufdemblatten, der junge Schweizer, hatte Bernhard persönlich bis
vor seine Haustür chauffiert. Nicht ohne voller Stolz auf die Steigkraft des
Carts hinzuweisen, die sogar den steileren Bereich der Treppen mit den neuerdings
seitlich zementierten Fahrspuren meisterte. Der Respekt des Mannes vor Kleiner,
den er jetzt auch wie die Einheimischen mit „Don Bernardo“ ansprach war
offenkundig gewachsen, seit bekannt geworden war, dass sich der Capo di
tutti Capi im Anmarsch befand, um mit persönlicher Inbesitznahme sein
neuestes Projekt zu adeln.
Anhand der Vorberichterstattung des Regionalfernsehens ließ sich
irgendwie auch erahnen, was den Tycoon zu seinem Kontrastprogramm in den Bergen
veranlasst haben könnte. Seit einer Nacht lag am alten Pier von Oneglia
längsseits – nicht Bug voran – die Jacht
„Yekatarina II“, mit der Ibrahimowitsch jüngst einen arabischen Kronprinzen als
Spitzenreiter bei privat genutzten Bruttoregistertonnen ausgestochen hatte. Dieser schwimmende Palast
bot natürlich mehr als jede Strandvilla. Selbst der Helikopter auf dem
Achterdeck fehlte nicht. Wie doch Reality selbst Virtuallity noch übertreffen
kann…
Wieso sich Johannes Goerz jedoch so schnell aus dem Staub gemacht hatte,
ahnte Kleiner nicht. Er wolle bei diesem Ausverkauf nicht dabei sein, hatte
ausgerechnet der geseufzt, der vor kurzem noch Feuer und Flamme für eine
berufliche Aufgabe in diesem neuen Luftschloss gewesen war. Aber Johannes hatte
schon die ganze Zeit, seit er Kleiner abgeholt hatte, irgendwie herumgedruckst.
Als hätte er etwas auf dem Herzen und fände nur nicht den Mut, es
auszusprechen.
Der Oligarch kam im T-Shirt, Jeans und ausgefransten
Converse-Turnschuhen. Er war auf eine
sprungfedernde Art athletisch und doch feingliedrig. Sein spärliches Haar war
kurz geschoren und wurde schon grau, obwohl er kaum älter als vierzig sein
mochte. Er wirkte eher wie ein smarter Vertrauenslehrer als ein Milliardär. Mit seiner Entourage in Nadelstreifen, die den
wichtigsten Notario Imperias geleitete, sprach er gutturales Englisch. Er
war sichtlich erstaunt, als ihn Don Bernardo in seinem leidlich noch
vorhandenen DDR-Pflichtfach-Russisch willkommen hieß.
Auf dieser privaten und hier exklusiven Sprachbrücke begegneten sich die
zwei so unterschiedlichen Menschen wie einsame Wanderer, die im unwegsamen
Gelände unterwegs zu konträren Destinationen waren. Bernhard auf seinen
Olivenholzstock gestützt, nahm dabei überraschend eine deutlich arrogantere
Haltung ein.
„Ja, wir Exilrussen vergessen doch immer wieder, dass ihr Großdeutschen
jetzt gerne mit Moskaus Mächtigen in unserer Muttersprache parliert. Sie
stammen ja auch wirklich aus der DDR – nicht so wie Kanzlerin Angela, die nur
so tut.“
Bernhard bot dem Käufer seines Hauses einen Platz in der Zitronenlaube
an, nachdem er ihn über die diversen Ebenen seines Hauses auf die hängenden
Terrassen von Trautes Garten geführt hatte. Neben Vermentino und Kaffee bot er
Limonade an, die er aus dem selbst gepressten Saft eigener Zitronen angesetzt
hatte. Ibrahimowitsch, der Informierte, bat allerdings um Trautes legendären,
selbst gemachten Limoncello von dem Beat Aufdemblatten ihm vorgeschwärmt hätte.
Bernhard fühlte sich nach der kleinen dialektischen Spitze des Russen
bemüßigt, ihm seinen Werdegang in einfachem Russisch kurz zu schildern.
„Brauchst du nicht Gospodin Tovarish, Held der Arbeit!“ Das Russische
Herr Genosse kam eindeutig ironisch rüber, das Folgende mit einer freundlichen
Eisbären-Kälte und in besserem Deutsch als es Vladimir Putin spricht:
„Der KGB hatte eine Akte von dir, und auch als Republikflüchtling und
Fluchthelfer konnte man über dich in den Stasi-Akten der Bürthler-Berhörde
manches nachlesen. Bist du wirklich mit einer von einem Fahrrad angetriebenen
Badewanne über die Lübecker Bucht abgehauen? Du hast wirklich Nerven was? Pass
auf, ich habe Kaviar und Wodka mitgebracht. Lass uns das mit dem Notario und
dem Verkauf schnell hinter uns bringen. Dann schicke ich meine Leute fort und
du erzählst mir gemütlich, wie das war, als du damals hier hochgekommen bist.“
Bernhard verzichtete darauf, dem Käufer seines Hauses Bedenken
hinsichtlich seiner befallenen Leber und
Bauchspeicheldrüse zu bekunden. Da er sich nicht lumpen lassen wollte, stellte
er – nach dem der Papierkram und die Computerbuchung auf ein Schweizer Konto
wireless online erfolgt war - einen Krug giftgrünen Mosto, einen
Bauern-Taleggio, eine Sorpressa so dick wie ein Unterschenkel und selbst
gebackenes Brot von Signora Elza auf die raue Platte seines steinernen
Gartentisches. Während er erstmals seit den Zeiten mit Dudenhove wieder mit gehäuftem
Esslöffel Kaviar konsumierte, beobachtete er andererseits mit großem Vergnügen,
wie der Oligarch lieber Mosto aufs Brot träufelte und sich damit begnügte,
nur ein wenig Salz drauf zu streuen, bevor er es in mehr als sättigenden Mengen
verschlang.
Die Sonne war schon hinter dem Ort verschwunden, als sich Ibrahimowitsch
verabschiedete. Wieder einmal gab es Anlass, über die wundersame Wirkung von
wirklich gutem Wodka zu staunen. Sie hatten zwei Flaschen intus, doch sie
lallten und torkelten nicht, was ja immer gerne als Klischee russischer Gelage
kolportiert wird. Sie waren zwar alkoholisiert, aber dadurch eher bei
geschärftem Verstand, als der Jüngere sein Schlusswort sprach, und der Ältere
ihm aufmerksam lauschte:
„Eines Tages, wenn die Zahl meiner Feinde unüberschaubar geworden sein
wird, ist das hier oben meine Fluchtburg. Dann mag ein startbereiter Jet
jenseits des Ginster-Passes in Albenga stehen und mein Schiff, das 200 Tage
offshore operieren kann, mag im Hafen liegen. Aber die Dinge, die zählen,
stehen dann hier auf dieser Steinplatte mit dem unverbaubaren Blick aufs Meer.“
‚Jeder
hat so sein Luftschloss, und wer weiß schon, was so eines kosten kann?’, dachte
sich Bernhard und schwieg in Erkenntnis seines eigenen, vierzigjährigen Traumes.
15. Kapitel
Blühende Landschaften
Nachdem Franco die ganz persönlichen Sachen der Kleiners, die
vereinbarungsgemäß nicht im Haus verbleiben sollten, mit seiner Ape zur
Spedition nach Chiusavecchia hinunter gebracht hatte, suchte Bernhard Johannes
Goerz auf. Der saß in Gedanken versunken auf der Steinbank an der Fontana und
schien ihn zunächst gar nicht wahr zu nehmen. Also setzte er sich, wie er es
gewohnt war, schweigend daneben und wartete geduldig.
Nach einer Viertelstunde etwa, begann
der Freund ungewohnt stockend und mit brüchiger Stimme:
„Wir haben nicht viel geredet in jüngster Zeit… Ich möchte noch eine
Menge von dir wissen… Aber du solltest auch von einer ziemlichen Wende in
meinem Leben erfahren. Wenn ich dich nur zum Flughafen fahre, bleibt uns dafür
nicht mehr genügend Zeit. Ich sage es frei heraus – ich tauge nicht für Besuche
am Sterbebett. Das pack’ ich nicht. Mir ist klar, dass das mein purer Egoismus
ist, wenn ich dich gerade jetzt noch um einige gemeinsame Tage bitte. Was
hältst du davon? Anstatt zu fliegen, fahre ich dich heim…?“
Und so machten sie es. Aber einmal ausgesprochen, dass es noch so viel
zu bereden gäbe, verliefen die ersten dreihundert Kilometer weitgehend in
merkwürdig angespanntem Schweigen. Erst als sich hinter Bellinzona die
Autobahnen zum Gotthard und St. Bernhard gabelten, geriet Goerz mit seinen
Hintergedanken unter Zugzwang:
„Warst du eigentlich jemals wieder in der Gegend, in der du geboren
wurdest? Warst du überhaupt schon in den neuen Bundesländern?“
„Nein, das wollte ich nie, und es hat sich auch beruflich nie ergeben.“
„Was hältst du davon, wenn wir das jetzt nachholen? Ich habe sie nämlich
auch gemieden, und mir war eigentlich nie richtig klar, warum.“
„Ich weiß nicht. Traute hat ja schon so komisch reagiert, als wir sie
wegen der Heimfahrt angerufen haben. Bis zur nächsten Chemo wäre allerdings
noch eine Woche...“
„Wir nehmen den Bernardino! Und
wenn du es dir doch noch anders überlegst, dann könnten wir von Chur aus
immer noch in Richtung Basel fahren.“
In den Schluchten der Via Mala bog Johannes von der Schnellstraße auf
die alte Trasse ab und hielt einem unbewussten Timing folgend in einer
Parkbucht. Sie stiegen aus, und er führte Bernhard auf einem nicht gesicherten
Trampelpfad zu einem glatten Felsen, der wie eine Kanzel über der Schlucht
hing. Aus alter Gewohnheit ließen die beiden erprobt Schwindelfreien ihre Beine
wieder einmal über einem Abgrund baumeln. Einige hundert Meter senkrecht unter
ihnen gurgelte der immer noch junge Rhein und ließ seinen smaragdgrünen Schwall
nach den Schnellen weißgold in der Nachmittagssonne aufschäumen. Derart sich
wuchtig windend, den Redefluss plötzlich stauend, um ihn dann wieder einem
Katarakt gleich auf Bernhard
herunterprasseln zu lassen, schilderte der Journalist sein Leben – das alte und
das, welches erst kurz vor Weihnachten, zum jüdischen Chanukka, begonnen hatte:
Er sprach von den Urängsten, seiner lebenslangen Paranoia, von einer
Zeit, da sich sein Verstand wirklich schon verabschiedet hatte, von seinen
Selbstmordversuchen, von den vielen Freunden, die gestorben waren und die ihn
beinahe unfähig, neue Freundschaften einzugehen, zurück gelassen hätten. Und
dann dieses Legat seines Hausarztes aus Kindertagen, das ihn reich gemacht, aber
aufs Neue in den Verfolgungswahn getrieben habe. Dass das Geld und die
hochbrisanten Unterlagen des Mossad nun auf der gleichen Bank lägen, derer sich
Ibrahimowitsch wie eines Supermarktes bediene. Und dass er, als er bei dem
neuen Resort-Namen von Castellinaria die Initialen gesehen hätte, sofort an die
CIA und diverse Merkwürdigkeiten in seinem Lebenslauf gedacht habe. Aber am
meisten irritiere ihn die verzweifelte Gottsuche, die ausgerechnet ihn, den
bekennenden Agnostiker, bei all dem in jüngster Zeit überkommen habe.
Als Goerz verstummt war, begann Bernhard Kleiner wundersam befreit wirkend zu lachen:
„Weißt du, was ich getan habe, als ich über die Lübecker Bucht geflohen
bin? Ich, der reformierte Kommunist und Held der Arbeit auf Republik-Flucht?
Ich habe das Vaterunser gebetet im Rhythmus des Kurbeltretens. Und weißt Du,
was ich jetzt mache, da ich hinüber muss? Ich gehe an keiner katholischen
Kirche vorbei, ohne als evangelisch getaufter Atheist eine Kerze für Traute,
Sebastian und mich anzuzünden. Hast du das nicht mal gesagt? Wenn die Nutten
alt werden, gingen sie in die Kirche...?
„Nein, das war Hemmingway.“
„Na, macht nix, passt aber gut. Komm, lass uns blühende Landschaften
gucken fahren!“ Dann holte er sein Handy heraus und sprudelte nur so voller
Glück über, als er Traute seine ja eigentlich von Goerz manipulierte
Entscheidung verkündete. – Auf Johannes
wirkte er auf einmal wie ein in
Feierlaune zu schnell eingegossenes Champagnerglas.
Die blühenden Landschaften, durch die sie in moderatem Tempo glitten und
zu denen sie, wenn sie schweigen wollten, Händel, Vivaldi und Telemann hörten,
waren nicht die, die Dr.Kohl versprochen hatte. Der Mai hatte nur dafür
gesorgt, dass es so aussah. Dennoch wurde ihnen bewusst, dass es „kein schöner
Land zu dieser Zeit“ geben konnte. Das frische Grün, blühende Kastanien und die
hoch stehende Sonne kaschierten viele der krasseren Kontraste. Je weiter sie
nach Norden vorstießen, desto mehr wurde ihnen nach Brahms zumute und umso häufiger
mischte sich in die Hochstimmung, die sie eben noch beseelt hatte, eine
Melancholie, die sie leicht lächelnd und mit wiegendem Kopfschütteln
akzeptierten. Hatten beide recht daran getan, die Heimat für die Sehnsucht nach
dem Süden zu verdrängen?
Sie hatten sich vorgenommen irgendwo zwischen Nürnberg und Bayreuth die
Autobahnen zu verlassen, um dann auf Wunsch Bernhards in Leipzig zu
übernachten. Goerz war alles recht, denn ab der Grenze zu Thüringen war ja für
ihn alles Neuland. Bernhard hatte 1958 am Ortsrand von Leipzig geholfen,
Plattenbauten hoch zu ziehen. Er jubelte in der sanierten Altstadt wie ein
lahmer Pilger, der nach dem Besuch in Lourdes wieder gehen konnte. Sie hatten
sich Zimmer im Leipziger Hof genommen und waren sofort los gestreunt wie zwei
Twens auf Stadteroberung. Alle Hinfälligkeit, die ja ohnehin nur von Bekannten
bei ihm zu erahnen gewesen wäre, war schlagartig von Bernhard abgefallen:
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie das hier vor fünfzig Jahren
ausgesehen hat. Verdreckt, bröckelig die alten Fassaden. Löchrig und verworfen,
die Plätze und Gehwege. Und jetzt schau dir diesen Naschmarkt an! Was für ein
einzigartiges Ensemble! Als hätte es den Krieg und diese grauen Jahre der
Freudlosigkeit danach nie gegeben. Alle, die jetzt wieder auf einmal in
DDR-Nostalgien schwelgen wollen, sollte man übers Knie legen.“
Der Abend war lau genug, dass sie lange draußen sitzen konnten. Goerz,
der sich vorgenommen hatte, möglichst reserviert zu bleiben, ließ sich von
Bernhards Begeisterung anstecken. Vor ein paar Wochen hatte Minister Per
Steinbrück erstmals seit der Wiedervereinigung einen ausgeglichenen
Staatshaushalt angekündigt. – Tedeschi sonno tinanici!
Da sie weiter auf Landstraßen blieben und sich in Richtung Strausberg
östlich von Berlin orientierten, kamen sie bei der Weiterfahrt am nächsten Tag
dann aber auch in Sachsen-Anhalt und später im Brandenburgischen durch Orte,
die vom Soli offenbar kaum etwas abbekommen hatten. Verödete Straßendörfer und
allenthalben baulich vernachlässigte Anwesen wirkten auch im schönsten Licht
und in duftender Luft nicht romantisch.
Bernhard zeigte Johannes Goerz in Strausberg den Fischerkietz, wo der
KPD-Opa, sein Bruder und er damals ihre Flucht abgesprochen hatten. Dann drängte
er darauf, mit der S-Bahn nach Berlin hinein zu fahren. Und das war etwas
gewesen, was Goerz in jedem Fall eigentlich hätte vermeiden wollen. Selbst als
die Mauer schon gefallen war, hatte er Berlin, wenn er zu Messen musste, nie
anders bereist als irgendeine andere Insel seiner journalistischen Destinationen.
Den Gedanken an Berlin als Hauptstadt hatte er zwar zugelassen, aber
nicht den Umstand, dass man diese dann auch ohne Behinderung auf dem Landwege
erreichen konnte. Und schon gar nicht gefiel ihm die Idee, einfach mit
öffentlichen Verkehrsmitteln vom Osten der Stadt mitten ins Zentrum dieses urbanen Molochs zu
fahren. Aber das hatte einen andren Grund: Er bekam nämlich in ihnen regelmäßig
seine unkontrollierbaren Panik-Anfälle. Der gleiche Mann, der seine Beine, ohne
nachzudenken, über gähnende Abgründe hängen lassen konnte oder nachts bei schwerer
See mit seinem Fischkutter hinausfuhr, mutierte in einer S-Bahn oder Metro zu
einem schwitzendes Nervenbündel, das hyperventilierend an den Rand einer Ohnmacht
geriet.
So war Goerz bereits vorgeschädigt, als sie zwischen Alexanderplatz,
Brandenburger Tor und Potsdamer Platz herummarschierten. Das ICC, das
Internationale Kongresszentrum, war bei seinem letzten Besuch noch von
herausragender Architektonik gewesen. Jetzt wirkte es inmitten all dieser
Gigantomanie wie eine Schildkröte, die eingeschüchtert Kopf und Gliedmaßen
eingezogen hatte. Und genauso ging es Goerz.
Zwei Jahre Castellinanria hatten ihn offenbar untauglich gemacht für
eine Weltstadt. Er dachte an den Börsencrash in den ersten Monaten des Jahres,
an die Talfahrt des Dollars und die möglicher Weise in einem Jahrzehnt noch
nicht ausgestandene internationale Immobilienkrise. Plötzlich glaubte er
physisch zu spüren, auf welch brüchigen Fundamenten diese protzige
Klarsichtarchitektur der für die dummen Menschlein im Nebel operierenden
Globalisten stehen könnte. Aber er machte seiner Angst nicht Luft. Zu sehr war
sein Freund in Begeisterung gefangen, als dass er ihm diese Impressionen seiner
letzten Tage durch Spökenkiekerei hätte verderben
wollen.
Sie hatten noch eine Bootsfahrt auf der
Spree gemacht, bei der sich auch der Journalist wieder an die schönen Seiten
der Hauptstadt heran denken konnte, weil Puls und Atemfrequenz sich langsam
wieder normalisierten. Aber das war dann der Grund, weshalb sie den Kummerower
See erst bei Einbruch der Dämmerung erreichten.
Das Hotel Gravelotte, das sie ansteuerten, ließ dennoch erahnen, dass
sie nun wiederum in einer blühenden Landschaft angekommen waren.
Die Schönheit der Mecklenburgischen Schweiz mit ihrer Seenplatte hatte
sich innerhalb von nicht einmal zwei Jahrzehnten zum großdeutschen
Tourismus-Spektakel gewandelt, das wurde ihnen am nächsten Morgen klar. Auch
dass die italienische Aussicht auf mehr (Meer-) Sonne wohl unverhältnismäßig
ihren Preis hat. Sie hatten für 60 Euro ein schmuckes kleines Ferienhaus gehabt,
weil das Haupthaus durch eine Tagung belegt war, und zahlten für Abendessen und
Frühstück zusammen noch einmal den gleichen Betrag. In Porto Maurizio hätten
120 Euro bei ihrem Lieblingsrestaurant gerade einmal für ein – wenn auch
üppiges - Abendessen gereicht…
Nachdem sie die Peene am nächsten Morgen überquert hatten und den Wagen
in Generalrichtung Oder lenkten, ertranken sie derart in der Schönheit dieser
Landschaft, dass sie zweimal an der Abzweigung nach Pangerow vorbei fuhren. Die
Topografie in ihrer Gesamtheit hatte sich nur unwesentlich verändert, aber im
Detail sind 60 Jahre für die Natur doch viel Zeit. Und dann kam natürlich noch
ein Effekt hinzu, den die Kinderperspektive in der erwachsenen Gegenwart fast
immer ereilt: Alles kommt dem Betrachter überraschend viel kleiner vor.
Das von einer Umgehungsstraße in den Windschatten des Fernverkehrs
gedrängte Pangerow hatte sich nicht
wirklich verändert. Touristisch zu „ab
vom Schuss“ gelegen, war es das Zeilendorf der Armenhäusler-Landwirtschaft
geblieben – gerade durch seine zusätzliche LPG-Vergangenheit.
Als sie den Wagen am Dorfweiher parkten, um zu Fuß nachzusehen, ob das
Elternhaus von Bernhard noch stünde, trat niemand heraus, um sie nach ihrem
Anliegen zu fragen. Hie und da zuckten Vorhänge und ließen erkennen, dass der
Ort doch noch bewohnt war. Alles war gepflegt, ließ aber die von touristischem
Geld ermöglichte Niedlichkeit anderer Orte vermissen, durch die sie gefahren
waren.
Bernhards Geburtshaus war von einem einfallslosen Gemeindebau aus den
sechziger oder siebziger Jahren halb verdeckt, aber es stand noch. Als er es
sah, schwammen Bernhards Augen in Tränen. Wie hatten sie nur alle in diese Kate
hineingepasst, die jetzt allenfalls noch als Abstellschuppen diente? Manche
Scheiben in den kleinen Sprossenfenstern waren blind, einige hatten einen
Sprung, die meisten fehlten jedoch ganz. Als hielte ihn ein unsichtbarer
Strahlenschild davon ab, näher heran zu treten, fror die lange Silhouette von
Bernhard erst ein, um dann deutlich sichtbar zusammen zu schmelzen. Als er sich
gebeugt abwandte, sah ihm Johannes Goerz zum ersten Mal seine 71 Jahre wirklich
an. Jemand zog hinter dem eigenen Brustbein langsam ein Rasiermesser durch sein
Innerstes.
Auf dem Weg zum Auto bogen sie links auf den Pfad entlang des kleinen
Kanals ein, den ausladende Trauer- und vereinzelte Kopfweiden säumten. Der
Schott vom Weiher ließ nur einen kleinen Schwall Wasser überlaufen. Ein
rostiger Torfspaten steckte tief in der Erde. Das gute Dutzend Enten und ein
lässiger Schwan beäugten sie, wie dies eben Tiere tun, die genau wissen, dass
ihnen niemand nachstellt. In einiger Entfernung hingegen erklang warnendes
Gänse-Geschnatter.
Bernhard hatte sich - wohl einer Erinnerung folgend – an eine gewaltige
Kopfweide gelehnt und schaute über den Dorfweiher, der ihm in Kindertagen wie
ein respektabeler See vorgekommen war. Goerz wagte es nicht, sich zu ihm zu
setzen, weil er in diese spürbare Sphäre
nicht einzudringen wagte.
Aber Bernhard wollte ihn einbeziehen. Er blinzelte gegen die Sonne zu
ihm hoch und sprach diesen Satz, der in Goerz auf immer nachhallen sollte:
„Wenn ich gewusst hätte, wie schnell sie verrinnt und wie knapp sie am
Ende sein würde, hätte ich mir mehr Zeit genommen…“
Dann glitt in einer fließenden Bewegung seine rechte Hand rein und raus
aus der Jackentasche und sein Arm holte aus, um die silberne Taschenuhr von
Vater Kleiner ohne einen Moment des Zögerns mitten in den Weiher zu werfen. Das
ging so schnell: Goerz hätte keine Chance gehabt, ihn davon abzuhalten.
Bernhard und Johannes thematisierten diesen Akt nicht. Ohne sich
abgestimmt zu haben, aber in stiller Übereinkunft lenkte der Journalist den
Wagen in Richtung Stralsund. Ein erneutes Beispiel, dass Kohls Visionen
überwiegend in den Städten und den touristisch verwertbaren Regionen der neuen
Bundesländer Realität geworden waren. Sie glitten auf der neuen Brücke über den
Strelasund und tauchten ein in die beinahe unwirklich erscheinende
Postkartenlandschaft Rügens.
Das einstige Quartier des „Ruinen-Bernd“ in Gustow war zu einer
schmucken Pension geworden, die von einem jungen Pärchen aus Braunschweig geführt
wurde; wie sich herausstellte war die junge Frau die Enkelin von Bernhards
früherer Wirtin. Die Zimmer waren einfach, aber dennoch von einer stilvollen Gemütlichkeit.
Bernhard gab nicht nur vor, unendlich müde zu sein und ging sofort zu
Bett.
Johannes Goerz las am nächsten Morgen in der Lokalzeitung, während er
mit dem Frühstück auf seinen Freund wartete. Er schüttelte ungläubig den Kopf über
den Beitrag eines Kollegen. Der hatte den jüngst vom BKA geäußerten Verdacht aufgegriffen, die
Italienische Mafia benütze hochwertige, touristische Liegenschaften an der
Ostsee, um Geld zu waschen und um sich neue Wirkungskreise an den nun nach
Polen hin offenen Grenzen zu erschließen. Der Autor führte Beispiele von
Schutzgeld-Erpressungen, Prostitution und Autoschiebereien an, die Bernhard
nicht so recht zum Gesehenen passen wollten. Aber das war ihm ja vor Jahren an
der sizilianischen Küste vor Taormina auch so gegangen.
Die mädchenhafte Wirtin war leise an seinen Tisch getreten:
„Ihr Freund ist übrigens schon vor zwei Stunden zu einem Ausflug aufgebrochen.
Er hat sich das Rad von meinem Mann ausgeliehen, um an den Sund zu fahren.
Stimmt es, dass er mal beim Sundschwimmen nur eine halbe Stunde gebraucht
hat? - Diese Nachricht soll ich Ihnen
geben.“
Bernhard öffnete den offenbar aus einer Rügener Werbemappe stammenden
Umschlag für Anfragen:
Lieber „Don Giovanni“!
Vielen Dank für diese schöne Reise. Das war ein guter Einfall von
Dir! Heimat ist nun mal Heimat.
Ich bin zum Schwimmen im Sund. Mal sehen, ob ich es noch hinüber
schaffe…
Bis bald
Dein
Bernhard
Am 10. Mai 2008 hatte die Ostsee im Strelasund eine Temperatur von 14
Grad. Der Seewetterbericht verzeichnete eine - selbst für dieses stürmische Frühjahr -
außergewöhnlich starke Strömung.