Eigentlich hätte auch eine laienhafte
Betrachtung von Johannes' Krankheitsbild Anflüge von Paranoia als durchaus
angebracht erscheinen lassen. Wieso sie ihn nicht bei An- und Rückrufen aus der
DDR befielen, bleibt ein Rätsel. Wäre sein Bewusstsein wirklich auf dem Weg zu
einer multiplen Persönlichkeit gewesen, wäre das nur so zu verstehen, dass der
nach Freundschaft und Harmonie lechzende Geist von Johannes pragmatisch davon
ausging, dass, wer nichts zu verbergen habe, auch ohne Arg gegenüber
Ausspähenden sein könne.
Weitere drei Jahre, in denen sie sich wegen
der Abstinenz von Johannes gegenüber sportlichen Großereignissen nur noch
sporadisch sahen, telefonierten Ronny und er mindestens einmal im Monat
ausführlich. Ronny hatte es mittlerweile zu einem „Studioleiter Sport“ beim
DDR-Fernsehen gebracht. Johannes war trotz seines bedenklichen geistigen
Zustandes auf seinem zweiten beruflichen Standbein als Medienberater in
Organisationen vorgedrungen, die öffentlichkeitswirksam von Spitzenpolitikern
und Wirtschaftsbossen beaufsichtigt wurden.
Ronny Pietsch hatte bei der ersten Begegnung
mit Johannes in Kolin zwanzig Jahre zuvor ausgesehen, als sei er gerade aus
einem Gemälde des Biedermeier-Malers Philipp Otto Runge gestiegen. Sein
puppenhaft ovales Gesicht wurde von zwei teakholzfarbenen Kulleraugen
beherrscht und von dem damals als Antwort auf die westlichen Langhaar-Frisuren
in der DDR so populären, halblangen Prinz-Eisenherz-Schnitt umkränzt.
Bei der Nordischen Ski-Weltmeisterschaft 1987
war Ronny allerdings bereits fast kahl. Unter seinen Augen hingen schwere,
depressiv schwarze Tränensäcke. Und in seinen einst so gütigen Puppenaugen
lieferten sich eine Warm- und eine Kaltfront unter Entladung heftiger
Gewitterblitze eine atmosphärische Schlacht, als er aus ansonsten heiterem
Himmel seinen Überraschungsangriff auf Johannes startete:
Johannes war gerade aus der Sitzung eines Kuratoriums gekommen, dem unter
anderem der damalige Bundespräsident und einige Spitzenvertreter des Sports
sowie deutsche Industrie-, Wirtschafts- und Medien-Tycoons beigewohnt hatten.
Nun wartete die Presse auf Statements. Dabei hielt sich Johannes wie immer im
Hintergrund und sorgte nur dafür, dass jeder mit seinen Fragen oder Aussagen
zum Zuge kam. Ronny war ungewöhnlich nah an ihn herangetreten und raunte ihm
zu:
"Mit deinen Kontakten solltest du
wirklich etwas tun, was die beiden souveränen deutschen Staaten in diesen
Zeiten des Umbruchs auf eine zentrale Rolle in Europa und der Welt
vorbereitet."
"Was soll denn bei euch souverän sein -
das Breitband-Doping?
"Mach dich nur lustig, aber die DDR ist
der Schlüssel zur Harmonisierung. Meine Vorgesetzten würden gerne einen
Medien-Beratungsvertrag mit dir abschließen. Du machst für unsere Seite genau
das, was du hier auch tust. Hältst dich im Hintergrund, analysierst und
gewichtest Quellen, informierst über Trends und Wandel im Denken und kassierst
auf die Schnelle zweitausend im Monat steuerfrei."
Kurioser Weise war die erste innere Reaktion
bei Johannes nicht Empörung, sondern eine absolute Fassungslosigkeit über die
Spießigkeit dieses Angebots. Zwar war der Begriff des IM, des informellen
Mitarbeiters der Staatssicherheit, im Hüben noch nicht so momentan wie später
durch das Wirken der Gauck/Birthler-Behörde, aber Johannes wusste genau, was
diese Offerte bedeutete. Er wollte fast nicht glauben, dass jemand, der
ernsthaft nachrichtendienstlich tätig war, überhaupt annehmen konnte, er sei
bestechlich oder zum Landesverrat bereit, und wenn, „für eine vergleichsweise
derart lächerliche Summe“?!
Er drehte sich abrupt zu Pietsch um, maß ihm
mit einem Blick, von dem er wusste, dass er bisweilen eine Temperatur von minus
zwanzig Grad auslösen konnte, packte seinen DDR-Kollegen hart am Ellenbogen und
führte ihn einem der Staatssekretäre im Tross eines bayerischen Ministers zu.
"Das ist mein DDR-Kollege Ronny Pietsch.
Er hat ein paar interessante Ideen zur Harmonisierung des Miteinanders zweier
souveräner Deutscher Staaten."
Sprach's und ging wieder. Das letzte, was er
jemals von seinem einstigen Handball-Kameraden in natura sah und hörte, war ein
hilfloses Gestammel, das aus einem welken Puppengesicht in purpurroter Farbe
bröckelte...
Dann überschlugen sich die Ereignisse wieder
einmal im Monatsrhythmus. Michail Gorbatschow betrat die Weltbühne, prägte
Begriffe wie Glasnost und Perestroika, und gab ein paar Statements ab, die in
der Übersetzung in westliche Sprachen mehr nach Manifest klangen, als die
Russen, aber vor allem auch die des Russischen mächtige Altherren-Garde der
DDR-Spitze, sie verstehen wollten.
Im Sommer 1989 fragte ein
Menschenrechtsanwalt aus der Münchner Nachbarschaft bei Johannes an, ob er eine
vierköpfige Familie aus Weimar in seinem Haus unterbringen könnte, so lange die
Familie Goerz doch auf Auslandsurlaub sei und ihr Haus leer stünde.
Dann standen sie auch schon vor der Tür. Zwei
semmelblonde Teens, Junge und Mädchen, sowie ihre Eltern, ein noch junges
Lehrer-Ehepaar, das den Ungarn-Urlaub und die neue Löchrigkeit des einst
eisernen Vorhangs voller Ungeduld zur Vorteilswahrung vor der Wende genutzt
hatte. Tadellose Hüter des Hauses, die den Goerzschen Lebensstandard bald schon
für normal und ihnen zustehend betrachteten und die prompt wegen des guten
Betragens an die Schwägerin Batja mit ihrer riesigen Altbauwohnung
weiterempfohlen wurden. Dort allerdings übernahmen sie bereits zügig das
Kommando, breiteten sich aus und wichen erst - und dann auch nur recht zögernd
- aus diesem gratis Hotelbetrieb, als alle, die ihnen bis dato schon Obdach
gewährt hatten, für sie in verzweifelter Gemeinschaftsarbeit einen Job samt
Wohnung in Regensburg gefunden hatten. Keiner - auch der rührige
Menschenrechtler nicht - hörte jemals wieder etwas von dieser Familie. Im
Trubel nach Genschers Balkonrede in Prag, nach Schabowskis zerstreuter
Aufhebung der allgemeinen Ausreisesperre am 9. November 1989 und im Wettbewerb
mit den anderen Umsiedlern, die nun in die BRD strömten, war vielleicht auch
keine Zeit mehr, - schlicht Danke zu sagen.
Johannes ließ sich von der Euphorie, die den
Jahreswechsel zum neuen Jahrzehnt prägte, durchaus mitreißen, auch wenn er in
einem anderen Krieg eine Schlacht nach der anderen verlor, was eine komplett
neue Existenzgründung von ihm verlangte.
Im Zuge der Liberalisierung bei der Gründung
von privaten Rundfunk- und Fernsehsendern waren in den letzten Jahren immer
mehr Werbegelder in diese neuen Medien geflossen und schnürten kleinen
Zeitungen und Zeitschriften die Lebensfähigkeit ab. Die von seinem Büro
betreuten Titel verschwanden vom Markt oder wurden von Großverlagen geschluckt.
Aber die neuen Medien brauchten Sende-Inhalte, und so landeten sie schneller
beim Sport, als die Treuhandanstalt den Ausverkauf volkseigener Liegenschaften
betreiben konnte. Hier war die Wiedervereinigung ein Dorado, denn ohne
Medaillenregen kein Geldsegen, und da war im wahrsten Sinne des Wortes jedes
Mittel recht. Das hatte Johannes gleich erkannt.
Er kam dabei aus dem Staunen nicht heraus.
Offenbar mit Unterstützung von ganz oben fanden sich auf einmal die einst von
hüben bis aufs Messer sportpolitisch bekämpften Feinde, die im „staatssicheren
Blau“ an der Tartanbahn, im Schnee oder am Beckenrand gestanden hatten, in
bundeswichtigen Spitzenfunktionen des Sports wieder und sorgten ab Albertville
und Barcelona für Medaillenrausch und Übertragungsmillionen durchs Fernsehen.
Irgendwo in der Gauck-Behörde musste eine Art Bermuda-Dreieck für das
Verschwinden von sportbezogenen Stasi-Akten gesorgt haben. Oder waren sie nur
gut versteckt? Denn noch heute werden meist nur kleine Proforma-Opfer öffentlich geschlachtet, um investigativen
Arbeitsnachweis zu liefern.
Dabei waren schon Anfang der 90er mutigere
Kollegen als Johannes auf erstaunliche Differenzen zwischen den gehabten
persönlichen Wahrnehmungen und dem makellosen Auftritt neudeutscher Sportmacher
gestoßen. Aber sie wurden nieder gejubelt, denn Großdeutschland - wie es von
den ausländischen Sportberichterstattern nun auch gerne genannt wurde - erklomm
ja in nahezu allen Bereichen und Events Spitzenränge bei den Medaillenspiegeln.
Was macht der brave Sportjournalist lieber als im Dopingsumpf zu gründeln? - Er
schreibt über vermarktungsfähige Helden. Goldschreiben war längst Geldschreiben
geworden.
Johannes war da keine Ausnahme. Ganz im
Gegenteil! Um überleben zu können, war er an mancher Generalreinigung sogar
selbst beteiligt. Er tröstete sich mit der zweifelhaften Metapher, dass er in
diesem Wind des Wechsels ja nur ein ganz kleines Blättchen gewesen und mal hier-
und mal dahin geweht worden sei.
Beim Golfspielen - ja man spielte jetzt
ultimativ Golf in deutschdeutschen Management-Kreisen - wurde ihm einmal ein
Volkswirt im Flight zugelost, der beruflich die traurige Aufgabe hatte,
rettenswerte DDR-Betriebe aus so gut wie aussichtsloser Position vor dem
Ausschlachten zu retten. Dr. Christoph Kaltz tröstete Johannes bei der Pause
nach dem neunten Loch, bei der jener
sein schlechtes Gewissen erleichtern wollte, indem er, der Volks- und Betriebswirt von seinen
Gegnern, den Anwälten rücksichtsloser Kaufinteressenten, berichtete. Die führen
in Stuttgart, Frankfurt oder Düsseldorf mit 500er Mercedes am Flughafen vor, um
in Leipzig, Dresden oder Rostock in einen Trabi oder Wartburg umgestiegen aufzukreuzen.
- Um Volksnähe zu dokumentieren, die ihnen das Abzocken und Verwerten der
Liegenschaften umso leichter machen sollte. Dr. Kaltz nannte sie „Eine-Mark-Anwälte“,
weil sie mit Vorliebe symbolische Kaufpreise aushandelten; mit der Vorgabe
sanieren zu wollen. In Wirklichkeit ging es eher darum, potenzielle "blühende Landschaften"
platt zu machen, um darauf ein weiteres Einkaufszentrum hoch zu ziehen.
Marianne
Birthler war schon seit Oktober 2000 mehr als ein Jahr im Amt, als
Johannes endlich über sich und Ronny
Pietsch Akten-Einsicht wagte. Aber das hätte er sich auf den ersten Eindruck
sparen können. Über Pietsch, der inzwischen im "Neuen Osten" ebenso
gehasster wie gefeierter Chefredakteur der gelber als gelben PLUSIllu geworden
war, stand kein Wort in den Akten. Und was wirklich ein Witz war: Ein bereits
ungestraft als IM und Doppelagent
enttarnter Kollege und einstiger Förderer von Johannes - mit einer auf
Tennisball-Größe geschrumpften Leber und so gut wie blind - stand in dieser
Wendehals-Gazette als Chefreporter mit einigen 70 immer noch im Impressum. Unbehelligt
und geachtet statt geächtet erfand jener so hinreißende Titelgeschichten wie
"Krokodil beißt Liebhaber aus dem Bett". Der Mann hieß Hark van
Nytorf und hatte den Lebensweg von Johannes mehr als einmal gekreuzt.
Es dauerte beinahe bis zum Ende von Johannes'
zweitem Leben, um doch noch etwas Licht in die deutsch-deutsche Vergangenheit
der beiden so ungleichen "Freunde" zu lassen. In einem der
beiläufigen, früheren Gespräche, die Johannes im Rahmen seiner Recherchen mit einem
einstigen Paniksyndrom-Therapie-Gefährten, dem Haupt-kommissar Peter Kühn vom
LKA Bayern, führte, hatte dieser einen
weiblichen Daten-Nerd vom BKA erwähnt. Eine Deutschamerikanerin, die auf eigene
Initiative eine Suchmaschine über Stasi-Opfer und -Mitarbeiter programmierte.
Kühn vermittelte daher indirekt einen online-Chat zwischen den beiden.
Ursel Odmeet, Ex-Hackerin,
Ex-Pullach-Angestellte, Ex-Mitglied einer berüchtigten Gilde, jetzt
erfolgreiche Daten-Freischaffende hinter den Screens der Republik räumte ein,
dass sie ausgehend von der Gegenwart bislang nur bis 1980 gekommen sei. - Über
die 70er könne sie noch so gut wie nichts herausfinden, und außerdem lebe sie
im Erfolgsfall von ihren Recherchen; pro Aktentreffer 250 Euro. Johannes
schrieb aus seinem immer noch funktionierenden Gedächtnis in Stichpunkten eine E-Mail mit einer Zusammenfassung von
seinen Treffen, Telefonaten, beruflichem und privatem Austausch seit Kolin - in
der Hoffnung bei den frühen Kontakten ergäben sich Stichworte, die zu einem
späteren Zeitpunkt zu Treffern führen könnten. Und so war es dann tatsächlich.
Zehn Tage, nachdem er Odmeet (draußen treffen? - kurioser Name
für jemanden, den man nur im Internet kontaktieren konnte) zugesagt hatte, war
Johannes 1.250 Euro ärmer, aber um einige traurige Erkenntnisse sowie einen
äußerst spannenden Aspekt seines Lebens reicher.
Zuerst wollte Johannes gar nicht glauben,
dass es um ihn ging. Aber das geht vermutlich jedem so, der auf einmal einst
als geheim eingestufte Akten über sich selbst zu lesen bekommt:
„IM Kreisläufer“ war in Odmeets Suchmaschine
hängen geblieben, weil Johannes in seinem Mail-Briefing erwähnt hatte, dass
Pietsch von seiner Therapie gewusst hatte. Die schlecht zusammenpassenden
Begriffe Handball und Therapie schafften den Durchbruch. Von da an erweiterte
jeder ergänzende Suchbegriff die Wahrscheinlichkeit, dass aus „IM Kreisläufer“
seit 1984 „IM Therapeut“ geworden war, und unter den nicht wenigen, die Pietsch
ausgeforscht hatte, traf nur ein Profil auf Johannes zu: Das trug den Decknamen
"Janus".
Janus, der römische Gott mit den zwei
Gesichtern, der Gott der Tür, der Gott des Gestern und des Morgen, aber auch
der Gott zwischen Frieden und Krieg.
Eigentlich hätte Johannes geschmeichelt sein müssen, wenn „IM Therapeut“
nicht jedes Detail ihrer Treffen weitergereicht und dabei das eindeutige Bild einer schizoiden Persönlichkeit
kolportiert hätte.
Im Prinzip fand Johannes durchaus seine These
bestätigt, dass, wer nichts zu verbergen hat, auch für Schnüffler nicht viel
hergibt. Hatte er wirklich als junger Mensch eine derartige Masse an
Belanglosigkeiten, Allgemeinplätzen und politisch gefärbten Seelenblähungen von
sich gegeben - verquickt mit einem naiven Weltbild und meist recht
zweifelhaften populistischen Interpretationen?
Zwei Textdokumente erschütterten jedoch die
eher süffisante Konsumation, die Johannes der "Sicht der anderen" bis
dahin beimaß: Ein „IM Absolut“ hatte „IM Therapeut“ ein Treffen von Janus und
"profilierten" Amerikanern auf den Bahamas gemeldet. „IM Absolut“ war
in dem Bericht so nah dran wie das vierte Blatt am Glücksklee, und wer die
Lieblings-Wodkamarke von seinem journalistischen Ziehvater und Gönner kannte, der brauchte kein Markus Wolf zu sein,
um zu erkennen, dass der real existierende journalistische Doppel-Agent einmal
mehr zugeschlagen hatte. Und zwar in einer Weise die Janus einen
nachrichtendienstlichen Wert zumaß, der nur einem verschlagenen Säuferhirn und
Geschichtenerfinder entspringen konnte. Aber dadurch erhielt eine andere
Passage ein ganz persönliches Gewicht für Johannes.
„IM Therapeut“ hatte von ihrem
"Versöhnungstreffen" in Sarajevo berichtet und eine persönliche
Stellungnahme der nachrichtentechnischen Berichterstattung angehängt - was dem
Verlauf der bisherigen Berichte nach ungewöhnlich war:
Meiner
Ansicht nach ist Janus in einer dramatischen seelischen Verfassung. Er hat mir
ein Krankheitsbild geschildert, das Auffälligkeiten wie bei einer Behandlung
mit X-10-Sion aufweist. Zeitlich könnte die Verabreichung mit einem in den
Unterlagen erwähnten Aufenthalt auf Jamaika 1982 erfolgt sein. Die Wirkung
hätte jetzt ihren Höhepunkt erreicht. Das hieße, Aussagen von Janus wären bis
1987 höchst zweifelhaft, weil nicht klar wird, welcher Persönlichkeit sie
entsprechen...
Mit unrhythmisch
klopfendem Herzen und verkrampftem Pylorus wählte Johannes die Nummer von Peter
Kühn. Er meldete sich gar nicht erst korrekt, weil er wusste, dass sein Freund
nicht nur aufs Display schaute, sondern auch unheimlich schnell schaltete:
"Was weißt du von X-10-Sion?"
Er
sprach es, wie er es las, nämlich Icks Bindestrich Zehn Bindestrich Sion.
"Hat die Odmeet also geliefert. Das
kannst du nur aus Insider-Akten haben.
Es
spricht sich aber bei Insidern Ixtenschon - also wie das englische Wort für
Erweiterung. Das Sion steht für Sensual Interfearence On Neurons. Das X und die
Zehn symbolisieren die Darreichungsform. Zehn Microliter der zehnten
Konzentration. Da kannst du dir vorstellen, was für ein Teufelszeug das ist.
Viel mehr weiß ich allerdings nicht. Das ganze ist ein wenig legendär.
Angeblich ist es ein Devirat aus LSD und einer Essenz, die aus irgendeinem
pflanzlichen Nervengift gewonnen wird. Während des Vietnamkrieges kam ein
Ausgangspräparat zum Einsatz, das aber sofort wieder verschwand. Die Amis
hatten es da aber schon an befreundete Dienste zum Experimentieren
weitergegeben. Der Mossad soll es bei der Jagd auf den „Schwarzen
September" in weiter entwickelter Form angewendet haben. Es steht zu befürchten,
dass mittlerweile auch eine Reihe zwielichtiger Organisationen über das Zeug
verfügt. Offiziell inoffiziell ist es aber ein "Excalibur". So werden
bei uns nicht unbedingt wirklich wirksame Waffen bezeichnet, um die sich meist
nur Legenden ranken, wie um das Schwert von König Artus eben. Wenn du
verstehst, was ich meine. Soll ich mal für dich nachfragen?"
"Bitte unbedingt. Mich interessieren vor
allem Symptome nach der Anwendung - sofern sie bekannt sind."
Er
las Kühn noch die Anmerkung von „IM Therapeut“ vor und verabschiedete sich dann
mehr als beunruhigt. Die eigentlich austherapierte Angst stieg wieder die
zugeschnürte Kehle hoch.
Zwei Tage später vibrierte das Handy von
Johannes in der Hemdbrusttasche und pfiff die vertraute Kennmelodie von Rififi.
Auch Kühn meldete sich nicht mit seinem Namen oder einer Höflichkeitsfloskel,
sondern fiel gleich mit der Tür ins Haus:
"Ich habe jemanden für dich gefunden.
War nicht einfach, als ich erzählte du wärst ein Schreiberling. Ist sehr
misstrauisch der Mann. Er ruft dich um Punkt halb von einer Telefonszelle an.
Erst lässt er es dreimal klingeln, bevor er auflegt, dann zweimal. Beim dritten
Anruf gehst du gleich ran. Keine Namen! Keine verwertbaren Bezeichnungen! Du
hast bei einem vierten Anruf Zeit für zwei Nachfragen rein persönlicher Natur,
aber du solltest nichts Persönliches preisgeben."
Genauso ging der unbekannte Anrufer vor. Er
sprach manierliches Deutsch mit einem deutlich amerikanischen Akzent. Der war
aber so operettenhaft, dass er auch Tarnung sein konnte:
"Extension ist eine Weiterentwicklung
von LSD. Die halluzinogene und kurzzeitige Wirkungsweise werden durch zwei
Pilzgifte und spezielle irreversible MAO-Hemmer so verlängert, dass sie die
Persönlichkeit des Anwenders für einen kontrollierbaren Zeitraum verändern
sollte. Also bei Elite-Einheiten im Kampf das Bewusstsein in punkto Wachsamkeit
und Vorahnung schärfte, aber auch den Mut zum Risiko erhöhte. Vorausgesetzt es
wurde von den Betreffenden selbst unter Vorsichtsmaßnahmen bewusst eingesetzt.
Ein paar böse Buben fingen aber sehr bald an, Extension ohne Wissen der
Personen zu verabreichen. Durch Einritzen der Haut wie bei einer Polio-Impfung.
Dann gerieten schon durch falsche Nahrungsaufnahme - Rohmilchkäse, bestimmte Fischeiweiße, ja allein durch das
Trinken von simplem Tüten-Kakao oder gut ausgebaute Weinen die Dinge bisweilen
so außer Kontrolle, dass nicht nur die Gefahr von Schizophrenie bestand,
sondern auch von Krebs- oder schweren Stoffwechsel-Erkrankungen. Ich hänge
jetzt auf!"
Es
läutete gleich wieder. Der Anrufer war vermutlich in einer Post oder an einem
Bahnhof, wo er willkürlich von Telefon zu Telefon zu Telefon gehen konnte.
Johannes hielt sich an die Anweisungen und stellte seine erste Frage sofort:
"Gab es Fälle, in denen die Wirkungen
sich psychotisch in Anfällen über sieben Jahre und mehr hinzogen?"
"Ja."
"Sind harmlosere Folgeschäden,
Kammerflimmern und erweiterte Vorhöfe sowie ein metabolisches Syndrom."
"Ja! You're just a poor guy."
Die dritte Frage sprach Johannes in
ein Handy, das keine Verbindung mehr hatte. Keine persönlichen Dinge - hatte es
ja geheißen.
"Warum ich?"
In diesem Moment nahm sich Johannes viel vor.
Er wollte nun Dinge endlich zu Ende recherchieren. Ob das seine Schreibblockade
beenden würde, war zwar fraglich, aber es saßen ja jetzt so viele exzellente
Schreiber auf der Straße, die von neutraler Warte aus texten könnten.
Gerade war ja auch wieder eine heftige
Diskussion über Kurt Tucholskys Satz "Soldaten sind Mörder"
entbrannt, weil deutsche Soldaten wieder mitmischten in global gelenkten und
eben nicht virtuellen "Killer-Spielen". Ausgesandt von Politikern, die
sich Beifall heischend gleichzeitig nicht zu blöd waren, der Jugend solch
schändliches Tun am Computer zu verbieten. Johannes beschloss einmal mehr, dem
Wesen des Tötens auf die Spur zu kommen.
Erstaunlicher Weise empfand er gegenüber
Pietsch und dessen „Chefreporter“ eher Mitleid und absolut kein Verlangen nach
Vergeltung. Aber einen Schrecken wollte er ihnen schon einjagen, als er die Leser-Hotline der PLUSIllu anrief,
über die als neuste Geschmacklosigkeit "Alltagsreportagen" von selbst
ernannten Leser-Reportern in denunzierendem Stil samt Handy-Fotos durchgegeben
wurden:
"Ich möchte nur Herrn Pietsch persönlich
sprechen!"
"Herr Pietsch ist in einer Konferenz,
aber Sie können auch mir alles melden!"
"Nehmen Sie bitte Ihren sicher
bildschönen Kopf, stecken Sie ihn durch die Tür zum Konferenzsaal und sagen Sie
Ihrem Chefredakteur und seinem Geschichten-Erfinder, der Gott mit den zwei
Gesichtern stecke in der Leitung. Ich warte!"
Die Leitung war nicht tot, sondern bimmelte
blechern einen Song von „Tokio-Hotel“:
"Pietsch."
"Janus!"
"Johannes?"
"IM Therapeut alias IM
Kreisläufer?"
Für einen Moment genoss Johannes das
seufzende Einatmen. Dann legte er ohne
Erwartung eines Rückrufes auf.
Der Wind des Wechsels schien Johannes eher in
eine endlose Flaute geführt zu haben.