Samstag, 26. Oktober 2013

Der Wind des Wechsels

  Eigentlich hätte auch eine laienhafte Betrachtung von Johannes' Krankheitsbild Anflüge von Paranoia als durchaus angebracht erscheinen lassen. Wieso sie ihn nicht bei An- und Rückrufen aus der DDR befielen, bleibt ein Rätsel. Wäre sein Bewusstsein wirklich auf dem Weg zu einer multiplen Persönlichkeit gewesen, wäre das nur so zu verstehen, dass der nach Freundschaft und Harmonie lechzende Geist von Johannes pragmatisch davon ausging, dass, wer nichts zu verbergen habe, auch ohne Arg gegenüber Ausspähenden sein könne.
  Weitere drei Jahre, in denen sie sich wegen der Abstinenz von Johannes gegenüber sportlichen Großereignissen nur noch sporadisch sahen, telefonierten Ronny und er mindestens einmal im Monat ausführlich. Ronny hatte es mittlerweile zu einem „Studioleiter Sport“ beim DDR-Fernsehen gebracht. Johannes war trotz seines bedenklichen geistigen Zustandes auf seinem zweiten beruflichen Standbein als Medienberater in Organisationen vorgedrungen, die öffentlichkeitswirksam von Spitzenpolitikern und Wirtschaftsbossen beaufsichtigt wurden.
  Ronny Pietsch hatte bei der ersten Begegnung mit Johannes in Kolin zwanzig Jahre zuvor ausgesehen, als sei er gerade aus einem Gemälde des Biedermeier-Malers Philipp Otto Runge gestiegen. Sein puppenhaft ovales Gesicht wurde von zwei teakholzfarbenen Kulleraugen beherrscht und von dem damals als Antwort auf die westlichen Langhaar-Frisuren in der DDR so populären, halblangen Prinz-Eisenherz-Schnitt umkränzt.
  Bei der Nordischen Ski-Weltmeisterschaft 1987 war Ronny allerdings bereits fast kahl. Unter seinen Augen hingen schwere, depressiv schwarze Tränensäcke. Und in seinen einst so gütigen Puppenaugen lieferten sich eine Warm- und eine Kaltfront unter Entladung heftiger Gewitterblitze eine atmosphärische Schlacht, als er aus ansonsten heiterem Himmel seinen Überraschungsangriff auf Johannes startete:
  Johannes war gerade aus der  Sitzung eines Kuratoriums gekommen, dem unter anderem der damalige Bundespräsident und einige Spitzenvertreter des Sports sowie deutsche Industrie-, Wirtschafts- und Medien-Tycoons beigewohnt hatten. Nun wartete die Presse auf Statements. Dabei hielt sich Johannes wie immer im Hintergrund und sorgte nur dafür, dass jeder mit seinen Fragen oder Aussagen zum Zuge kam. Ronny war ungewöhnlich nah an ihn herangetreten und raunte ihm zu:
  "Mit deinen Kontakten solltest du wirklich etwas tun, was die beiden souveränen deutschen Staaten in diesen Zeiten des Umbruchs auf eine zentrale Rolle in Europa und der Welt vorbereitet."
  "Was soll denn bei euch souverän sein - das Breitband-Doping?
  "Mach dich nur lustig, aber die DDR ist der Schlüssel zur Harmonisierung. Meine Vorgesetzten würden gerne einen Medien-Beratungsvertrag mit dir abschließen. Du machst für unsere Seite genau das, was du hier auch tust. Hältst dich im Hintergrund, analysierst und gewichtest Quellen, informierst über Trends und Wandel im Denken und kassierst auf die Schnelle zweitausend im Monat steuerfrei."
  Kurioser Weise war die erste innere Reaktion bei Johannes nicht Empörung, sondern eine absolute Fassungslosigkeit über die Spießigkeit dieses Angebots. Zwar war der Begriff des IM, des informellen Mitarbeiters der Staatssicherheit, im Hüben noch nicht so momentan wie später durch das Wirken der Gauck/Birthler-Behörde, aber Johannes wusste genau, was diese Offerte bedeutete. Er wollte fast nicht glauben, dass jemand, der ernsthaft nachrichtendienstlich tätig war, überhaupt annehmen konnte, er sei bestechlich oder zum Landesverrat bereit, und wenn, „für eine vergleichsweise derart lächerliche Summe“?!
  Er drehte sich abrupt zu Pietsch um, maß ihm mit einem Blick, von dem er wusste, dass er bisweilen eine Temperatur von minus zwanzig Grad auslösen konnte, packte seinen DDR-Kollegen hart am Ellenbogen und führte ihn einem der Staatssekretäre im Tross eines bayerischen Ministers zu.
  "Das ist mein DDR-Kollege Ronny Pietsch. Er hat ein paar interessante Ideen zur Harmonisierung des Miteinanders zweier souveräner Deutscher Staaten."
  Sprach's und ging wieder. Das letzte, was er jemals von seinem einstigen Handball-Kameraden in natura sah und hörte, war ein hilfloses Gestammel, das aus einem welken Puppengesicht in purpurroter Farbe bröckelte...

  Dann überschlugen sich die Ereignisse wieder einmal im Monatsrhythmus. Michail Gorbatschow betrat die Weltbühne, prägte Begriffe wie Glasnost und Perestroika, und gab ein paar Statements ab, die in der Übersetzung in westliche Sprachen mehr nach Manifest klangen, als die Russen, aber vor allem auch die des Russischen mächtige Altherren-Garde der DDR-Spitze, sie verstehen wollten.
  Im Sommer 1989 fragte ein Menschenrechtsanwalt aus der Münchner Nachbarschaft bei Johannes an, ob er eine vierköpfige Familie aus Weimar in seinem Haus unterbringen könnte, so lange die Familie Goerz doch auf Auslandsurlaub sei und ihr Haus leer stünde.
  Dann standen sie auch schon vor der Tür. Zwei semmelblonde Teens, Junge und Mädchen, sowie ihre Eltern, ein noch junges Lehrer-Ehepaar, das den Ungarn-Urlaub und die neue Löchrigkeit des einst eisernen Vorhangs voller Ungeduld zur Vorteilswahrung vor der Wende genutzt hatte. Tadellose Hüter des Hauses, die den Goerzschen Lebensstandard bald schon für normal und ihnen zustehend betrachteten und die prompt wegen des guten Betragens an die Schwägerin Batja mit ihrer riesigen Altbauwohnung weiterempfohlen wurden. Dort allerdings übernahmen sie bereits zügig das Kommando, breiteten sich aus und wichen erst - und dann auch nur recht zögernd - aus diesem gratis Hotelbetrieb, als alle, die ihnen bis dato schon Obdach gewährt hatten, für sie in verzweifelter Gemeinschaftsarbeit einen Job samt Wohnung in Regensburg gefunden hatten. Keiner - auch der rührige Menschenrechtler nicht - hörte jemals wieder etwas von dieser Familie. Im Trubel nach Genschers Balkonrede in Prag, nach Schabowskis zerstreuter Aufhebung der allgemeinen Ausreisesperre am 9. November 1989 und im Wettbewerb mit den anderen Umsiedlern, die nun in die BRD strömten, war vielleicht auch keine Zeit mehr, - schlicht Danke zu sagen.   
  Johannes ließ sich von der Euphorie, die den Jahreswechsel zum neuen Jahrzehnt prägte, durchaus mitreißen, auch wenn er in einem anderen Krieg eine Schlacht nach der anderen verlor, was eine komplett neue Existenzgründung von ihm verlangte.
  Im Zuge der Liberalisierung bei der Gründung von privaten Rundfunk- und Fernsehsendern waren in den letzten Jahren immer mehr Werbegelder in diese neuen Medien geflossen und schnürten kleinen Zeitungen und Zeitschriften die Lebensfähigkeit ab. Die von seinem Büro betreuten Titel verschwanden vom Markt oder wurden von Großverlagen geschluckt. Aber die neuen Medien brauchten Sende-Inhalte, und so landeten sie schneller beim Sport, als die Treuhandanstalt den Ausverkauf volkseigener Liegenschaften betreiben konnte. Hier war die Wiedervereinigung ein Dorado, denn ohne Medaillenregen kein Geldsegen, und da war im wahrsten Sinne des Wortes jedes Mittel recht. Das hatte Johannes gleich erkannt.
  Er kam dabei aus dem Staunen nicht heraus. Offenbar mit Unterstützung von ganz oben fanden sich auf einmal die einst von hüben bis aufs Messer sportpolitisch bekämpften Feinde, die im „staatssicheren Blau“ an der Tartanbahn, im Schnee oder am Beckenrand gestanden hatten, in bundeswichtigen Spitzenfunktionen des Sports wieder und sorgten ab Albertville und Barcelona für Medaillenrausch und Übertragungsmillionen durchs Fernsehen. Irgendwo in der Gauck-Behörde musste eine Art Bermuda-Dreieck für das Verschwinden von sportbezogenen Stasi-Akten gesorgt haben. Oder waren sie nur gut versteckt? Denn noch heute werden meist nur kleine Proforma-Opfer  öffentlich geschlachtet, um investigativen Arbeitsnachweis zu liefern.
  Dabei waren schon Anfang der 90er mutigere Kollegen als Johannes auf erstaunliche Differenzen zwischen den gehabten persönlichen Wahrnehmungen und dem makellosen Auftritt neudeutscher Sportmacher gestoßen. Aber sie wurden nieder gejubelt, denn Großdeutschland - wie es von den ausländischen Sportberichterstattern nun auch gerne genannt wurde - erklomm ja in nahezu allen Bereichen und Events Spitzenränge bei den Medaillenspiegeln. Was macht der brave Sportjournalist lieber als im Dopingsumpf zu gründeln? - Er schreibt über vermarktungsfähige Helden. Goldschreiben war längst Geldschreiben geworden.
  Johannes war da keine Ausnahme. Ganz im Gegenteil! Um überleben zu können, war er an mancher Generalreinigung sogar selbst beteiligt. Er tröstete sich mit der zweifelhaften Metapher, dass er in diesem Wind des Wechsels ja nur ein ganz kleines Blättchen gewesen und mal hier- und mal dahin geweht worden sei.
  Beim Golfspielen - ja man spielte jetzt ultimativ Golf in deutschdeutschen Management-Kreisen - wurde ihm einmal ein Volkswirt im Flight zugelost, der beruflich die traurige Aufgabe hatte, rettenswerte DDR-Betriebe aus so gut wie aussichtsloser Position vor dem Ausschlachten zu retten. Dr. Christoph Kaltz tröstete Johannes bei der Pause nach dem  neunten Loch, bei der jener sein schlechtes Gewissen erleichtern wollte, indem er,  der Volks- und Betriebswirt von seinen Gegnern, den Anwälten rücksichtsloser Kaufinteressenten, berichtete. Die führen in Stuttgart, Frankfurt oder Düsseldorf mit 500er Mercedes am Flughafen vor, um in Leipzig, Dresden oder Rostock in einen Trabi oder Wartburg umgestiegen aufzukreuzen. - Um Volksnähe zu dokumentieren, die ihnen das Abzocken und Verwerten der Liegenschaften umso leichter machen sollte. Dr. Kaltz nannte sie „Eine-Mark-Anwälte“, weil sie mit Vorliebe symbolische Kaufpreise aushandelten; mit der Vorgabe sanieren zu wollen. In Wirklichkeit ging es eher darum,  potenzielle "blühende Landschaften" platt zu machen, um darauf ein weiteres Einkaufszentrum  hoch zu ziehen.
   Marianne Birthler war schon seit Oktober 2000 mehr als ein Jahr im Amt, als Johannes  endlich über sich und Ronny Pietsch Akten-Einsicht wagte. Aber das hätte er sich auf den ersten Eindruck sparen können. Über Pietsch, der inzwischen im "Neuen Osten" ebenso gehasster wie gefeierter Chefredakteur der gelber als gelben PLUSIllu geworden war, stand kein Wort in den Akten. Und was wirklich ein Witz war: Ein bereits ungestraft als IM und Doppelagent  enttarnter Kollege und einstiger Förderer von Johannes - mit einer auf Tennisball-Größe geschrumpften Leber und so gut wie blind - stand in dieser Wendehals-Gazette als Chefreporter mit einigen 70 immer noch im Impressum. Unbehelligt und geachtet statt geächtet erfand jener so hinreißende Titelgeschichten wie "Krokodil beißt Liebhaber aus dem Bett". Der Mann hieß Hark van Nytorf und hatte den Lebensweg von Johannes mehr als einmal gekreuzt.
  Es dauerte beinahe bis zum Ende von Johannes' zweitem Leben, um doch noch etwas Licht in die deutsch-deutsche Vergangenheit der beiden so ungleichen "Freunde" zu lassen. In einem der beiläufigen, früheren Gespräche, die Johannes im Rahmen seiner Recherchen mit einem einstigen Paniksyndrom-Therapie-Gefährten, dem Haupt-kommissar Peter Kühn vom LKA Bayern, führte, hatte  dieser einen weiblichen Daten-Nerd vom BKA erwähnt. Eine Deutschamerikanerin, die auf eigene Initiative eine Suchmaschine über Stasi-Opfer und -Mitarbeiter programmierte. Kühn vermittelte daher indirekt einen online-Chat zwischen den beiden.
  Ursel Odmeet, Ex-Hackerin, Ex-Pullach-Angestellte, Ex-Mitglied einer berüchtigten Gilde, jetzt erfolgreiche Daten-Freischaffende hinter den Screens der Republik räumte ein, dass sie ausgehend von der Gegenwart bislang nur bis 1980 gekommen sei. - Über die 70er könne sie noch so gut wie nichts herausfinden, und außerdem lebe sie im Erfolgsfall von ihren Recherchen; pro Aktentreffer 250 Euro. Johannes schrieb aus seinem immer noch funktionierenden Gedächtnis in Stichpunkten  eine E-Mail mit einer Zusammenfassung von seinen Treffen, Telefonaten, beruflichem und privatem Austausch seit Kolin - in der Hoffnung bei den frühen Kontakten ergäben sich Stichworte, die zu einem späteren Zeitpunkt zu Treffern führen könnten. Und so war es dann tatsächlich.
  Zehn Tage, nachdem  er Odmeet (draußen treffen? - kurioser Name für jemanden, den man nur im Internet kontaktieren konnte) zugesagt hatte, war Johannes 1.250 Euro ärmer, aber um einige traurige Erkenntnisse sowie einen äußerst spannenden Aspekt seines Lebens reicher.
  Zuerst wollte Johannes gar nicht glauben, dass es um ihn ging. Aber das geht vermutlich jedem so, der auf einmal einst als geheim eingestufte Akten über sich selbst zu lesen bekommt:
   „IM Kreisläufer“ war in Odmeets Suchmaschine hängen geblieben, weil Johannes in seinem Mail-Briefing erwähnt hatte, dass Pietsch von seiner Therapie gewusst hatte. Die schlecht zusammenpassenden Begriffe Handball und Therapie schafften den Durchbruch. Von da an erweiterte jeder ergänzende Suchbegriff die Wahrscheinlichkeit, dass aus „IM Kreisläufer“ seit 1984 „IM Therapeut“ geworden war, und unter den nicht wenigen, die Pietsch ausgeforscht hatte, traf nur ein Profil auf Johannes zu: Das trug den Decknamen "Janus".
  Janus, der römische Gott mit den zwei Gesichtern, der Gott der Tür, der Gott des Gestern und des Morgen, aber auch der Gott zwischen Frieden und Krieg.  Eigentlich hätte Johannes geschmeichelt sein müssen, wenn „IM Therapeut“ nicht jedes Detail ihrer Treffen weitergereicht und dabei das eindeutige  Bild einer schizoiden Persönlichkeit kolportiert hätte.
  Im Prinzip fand Johannes durchaus seine These bestätigt, dass, wer nichts zu verbergen hat, auch für Schnüffler nicht viel hergibt. Hatte er wirklich als junger Mensch eine derartige Masse an Belanglosigkeiten, Allgemeinplätzen und politisch gefärbten Seelenblähungen von sich gegeben - verquickt mit einem naiven Weltbild und meist recht zweifelhaften populistischen Interpretationen?
  Zwei Textdokumente erschütterten jedoch die eher süffisante Konsumation, die Johannes der "Sicht der anderen" bis dahin beimaß: Ein „IM Absolut“ hatte „IM Therapeut“ ein Treffen von Janus und "profilierten" Amerikanern auf den Bahamas gemeldet. „IM Absolut“ war in dem Bericht so nah dran wie das vierte Blatt am Glücksklee, und wer die Lieblings-Wodkamarke von seinem journalistischen Ziehvater und Gönner  kannte, der brauchte kein Markus Wolf zu sein, um zu erkennen, dass der real existierende journalistische Doppel-Agent einmal mehr zugeschlagen hatte. Und zwar in einer Weise die Janus einen nachrichtendienstlichen Wert zumaß, der nur einem verschlagenen Säuferhirn und Geschichtenerfinder entspringen konnte. Aber dadurch erhielt eine andere Passage ein ganz persönliches Gewicht für Johannes.
  „IM Therapeut“ hatte von ihrem "Versöhnungstreffen" in Sarajevo berichtet und eine persönliche Stellungnahme der nachrichtentechnischen Berichterstattung angehängt - was dem Verlauf der bisherigen Berichte nach ungewöhnlich war:
   Meiner Ansicht nach ist Janus in einer dramatischen seelischen Verfassung. Er hat mir ein Krankheitsbild geschildert, das Auffälligkeiten wie bei einer Behandlung mit X-10-Sion aufweist. Zeitlich könnte die Verabreichung mit einem in den Unterlagen erwähnten Aufenthalt auf Jamaika 1982 erfolgt sein. Die Wirkung hätte jetzt ihren Höhepunkt erreicht. Das hieße, Aussagen von Janus wären bis 1987 höchst zweifelhaft, weil nicht klar wird, welcher Persönlichkeit sie entsprechen...
  Mit unrhythmisch klopfendem Herzen und verkrampftem Pylorus wählte Johannes die Nummer von Peter Kühn. Er meldete sich gar nicht erst korrekt, weil er wusste, dass sein Freund nicht nur aufs Display schaute, sondern auch unheimlich schnell schaltete:
 "Was weißt du von X-10-Sion?"
Er sprach es, wie er es las, nämlich Icks Bindestrich Zehn Bindestrich Sion.
  "Hat die Odmeet also geliefert. Das kannst du nur aus Insider-Akten haben.
Es spricht sich aber bei Insidern Ixtenschon - also wie das englische Wort für Erweiterung. Das Sion steht für Sensual Interfearence On Neurons. Das X und die Zehn symbolisieren die Darreichungsform. Zehn Microliter der zehnten Konzentration. Da kannst du dir vorstellen, was für ein Teufelszeug das ist. Viel mehr weiß ich allerdings nicht. Das ganze ist ein wenig legendär. Angeblich ist es ein Devirat aus LSD und einer Essenz, die aus irgendeinem pflanzlichen Nervengift gewonnen wird. Während des Vietnamkrieges kam ein Ausgangspräparat zum Einsatz, das aber sofort wieder verschwand. Die Amis hatten es da aber schon an befreundete Dienste zum Experimentieren weitergegeben. Der Mossad soll es bei der Jagd auf den „Schwarzen September" in weiter entwickelter Form angewendet haben. Es steht zu befürchten, dass mittlerweile auch eine Reihe zwielichtiger Organisationen über das Zeug verfügt. Offiziell inoffiziell ist es aber ein "Excalibur". So werden bei uns nicht unbedingt wirklich wirksame Waffen bezeichnet, um die sich meist nur Legenden ranken, wie um das Schwert von König Artus eben. Wenn du verstehst, was ich meine. Soll ich mal für dich nachfragen?"
  "Bitte unbedingt. Mich interessieren vor allem Symptome nach der Anwendung - sofern sie bekannt sind."
Er las Kühn noch die Anmerkung von „IM Therapeut“ vor und verabschiedete sich dann mehr als beunruhigt. Die eigentlich austherapierte Angst stieg wieder die zugeschnürte Kehle hoch.
  Zwei Tage später vibrierte das Handy von Johannes in der Hemdbrusttasche und pfiff die vertraute Kennmelodie von Rififi. Auch Kühn meldete sich nicht mit seinem Namen oder einer Höflichkeitsfloskel, sondern fiel gleich mit der Tür ins Haus:
    "Ich habe jemanden für dich gefunden. War nicht einfach, als ich erzählte du wärst ein Schreiberling. Ist sehr misstrauisch der Mann. Er ruft dich um Punkt halb von einer Telefonszelle an. Erst lässt er es dreimal klingeln, bevor er auflegt, dann zweimal. Beim dritten Anruf gehst du gleich ran. Keine Namen! Keine verwertbaren Bezeichnungen! Du hast bei einem vierten Anruf Zeit für zwei Nachfragen rein persönlicher Natur, aber du solltest nichts Persönliches preisgeben."
  Genauso ging der unbekannte Anrufer vor. Er sprach manierliches Deutsch mit einem deutlich amerikanischen Akzent. Der war aber so operettenhaft, dass er auch Tarnung sein konnte:
  "Extension ist eine Weiterentwicklung von LSD. Die halluzinogene und kurzzeitige Wirkungsweise werden durch zwei Pilzgifte und spezielle irreversible MAO-Hemmer so verlängert, dass sie die Persönlichkeit des Anwenders für einen kontrollierbaren Zeitraum verändern sollte. Also bei Elite-Einheiten im Kampf das Bewusstsein in punkto Wachsamkeit und Vorahnung schärfte, aber auch den Mut zum Risiko erhöhte. Vorausgesetzt es wurde von den Betreffenden selbst unter Vorsichtsmaßnahmen bewusst eingesetzt. Ein paar böse Buben fingen aber sehr bald an, Extension ohne Wissen der Personen zu verabreichen. Durch Einritzen der Haut wie bei einer Polio-Impfung. Dann gerieten schon durch falsche Nahrungsaufnahme - Rohmilchkäse,  bestimmte Fischeiweiße, ja allein durch das Trinken von simplem Tüten-Kakao oder gut ausgebaute Weinen die Dinge bisweilen so außer Kontrolle, dass nicht nur die Gefahr von Schizophrenie bestand, sondern auch von Krebs- oder schweren Stoffwechsel-Erkrankungen. Ich hänge jetzt auf!"
Es läutete gleich wieder. Der Anrufer war vermutlich in einer Post oder an einem Bahnhof, wo er willkürlich von Telefon zu Telefon zu Telefon gehen konnte. Johannes hielt sich an die Anweisungen und stellte seine erste Frage sofort:
  "Gab es Fälle, in denen die Wirkungen sich psychotisch in Anfällen über sieben Jahre und mehr hinzogen?"
  "Ja."
  "Sind harmlosere Folgeschäden, Kammerflimmern und erweiterte Vorhöfe sowie ein metabolisches Syndrom."
  "Ja!  You're just a poor guy."
  Die dritte Frage sprach Johannes in ein Handy, das keine Verbindung mehr hatte. Keine persönlichen Dinge - hatte es ja geheißen.
  "Warum ich?"

  In diesem Moment nahm sich Johannes viel vor. Er wollte nun Dinge endlich zu Ende recherchieren. Ob das seine Schreibblockade beenden würde, war zwar fraglich, aber es saßen ja jetzt so viele exzellente Schreiber auf der Straße, die von neutraler Warte aus texten könnten.
  Gerade war ja auch wieder eine heftige Diskussion über Kurt Tucholskys Satz "Soldaten sind Mörder" entbrannt, weil deutsche Soldaten wieder mitmischten in global gelenkten und eben nicht virtuellen "Killer-Spielen". Ausgesandt von Politikern, die sich Beifall heischend gleichzeitig nicht zu blöd waren, der Jugend solch schändliches Tun am Computer zu verbieten. Johannes beschloss einmal mehr, dem Wesen des Tötens auf die Spur zu kommen.
  Erstaunlicher Weise empfand er gegenüber Pietsch und dessen „Chefreporter“ eher Mitleid und absolut kein Verlangen nach Vergeltung. Aber einen Schrecken wollte er ihnen schon einjagen, als  er die Leser-Hotline der PLUSIllu anrief, über die als neuste Geschmacklosigkeit "Alltagsreportagen" von selbst ernannten Leser-Reportern in denunzierendem Stil samt Handy-Fotos durchgegeben wurden:
  "Ich möchte nur Herrn Pietsch persönlich sprechen!"
  "Herr Pietsch ist in einer Konferenz, aber Sie können auch mir alles melden!"
  "Nehmen Sie bitte Ihren sicher bildschönen Kopf, stecken Sie ihn durch die Tür zum Konferenzsaal und sagen Sie Ihrem Chefredakteur und seinem Geschichten-Erfinder, der Gott mit den zwei Gesichtern stecke in der Leitung. Ich warte!"
  Die Leitung war nicht tot, sondern bimmelte blechern einen Song von „Tokio-Hotel“:
  "Pietsch."
  "Janus!"
  "Johannes?"
  "IM Therapeut alias IM Kreisläufer?"
  Für einen Moment genoss Johannes das seufzende  Einatmen. Dann legte er ohne Erwartung eines Rückrufes auf.

  Der Wind des Wechsels schien Johannes eher in eine endlose Flaute geführt zu haben.

Freitag, 25. Oktober 2013

L'Ultima

  Manche Journalisten und Schriftsteller beschäftigen sich vor allem aus Narzissmus mit dem Gedanken, den genauen Zeitpunkt des eigenen Todes selber festzulegen. Die Inszenierung des eigenen, bewusst herbei geführten Ablebens gehört zum Dogma des "publish or perish" wie die Schreibblockade und die schon mal auf Probe im Kopf zu recht gelegte Dankesrede. Für den Fall, dass das Bemühen doch eines Tages mit einem großen Preis ausgezeichnet wird, möchte man ja nicht plötzlich wortlos dastehen.
  Johannes dachte in den Momenten seiner Entscheidung natürlich anders! Er hatte in seinem Leben eine Reihe spektakulärer Kollegen-Abgänge zu verkraften gehabt. Am Ende blieb aber immer häufiger der Zorn auf die Eitelkeiten und die Rücksichtslosigkeit gegenüber den Hinterbliebenen. Eine Zeit lang war der souveräne, ruhige und logisch begründete Abgang des Fernsehjournalisten Dieter Gütt die Messlatte für die eigenen Überlegungen gewesen. Doch dann gewann bei ihm die Erkenntnis Oberhand, dass ein Freitod sauber und spurlos stattzufinden habe. Auf keinen Fall ein Seppuko! Und schon gar nicht ein Szenario, das jemanden, der einen vielleicht doch geliebt hätte, vor den Kopf stieße.
  Atze Volling, der Schussredakteur eines Magazins, für das Johannes in den Siebzigern erotische Kurzgeschichten geschrieben hatte, zum Beispiel: Der gebürtige Berliner, dem böse Zungen nachgesagt hatten, er sei so akkurat gewesen, dass er selbst eine Bahnsteigkarte redigiert hätte, hatte sich  offenbar die Überbewertung der Sexualität in den Texten, die er tag ein, tag aus zu bearbeiten hatte,  zu sehr zu Herzen genommen. Als er mit sechzig die ersten Potenzstörungen zu erleiden hatte, teilte er seinen Kollegen mit, er werde Schluss  machen:
  "Leute, jetz haik'n Platt'n. Det war's denn!" Er ging in ein Antiquariat, kaufte sich ein Anatomie-Buch, vermass seinen Brustkorb genau und markierte ihn mit einem Kugelschreiber. Die Punkte rund ums Herz verband er mit Linien. Dort, wo sie sich kreuzend bündelten, setzte er dann die "Nullacht" auf, die er seit seiner Zeit als "Pimpf" aus den letzten Tagen des zweiten Weltkriegs behalten und liebevoll gepflegt hatte. Ein Blutbad! Seine 25 Jahre jüngere Freundin, die in letzter Zeit eigentlich ganz dankbar gewesen war, dass sie nicht mehr so oft ran musste, fand ihn so - und landete für eine Weile mit Horrorvisionen und Schuldgefühlen in der Psychiatrie.
  Eine nahe Freundin von Johannes geriet sogar unter den Verdacht unterlassener Hilfeleistung. Ihr Mann, ein Kollege (und - wie Johannes diese Spezies Männer zu nennen Pflegte - ein typischer Schwanzlängenvergleicher) aus der Sportjournalistenszene hatte sich nach dem Frühjahrsputz im Garten kurz in den Keller verabschiedet, um die Gartenmöbel hoch zu holen. Als er nicht gleich wieder  kam, war seine Frau in der Annahme, er habe noch etwas zu reparieren, auf ein paar Glas Wein zum Tratschen mit der Nachbarin nach nebenan gegangen. Als sie ihn später fand, hatte er sich mit einem alten Gartenschlauch um den Hals kopfüber die Kellertreppe hinunter gestürzt - das lose Ende am Geländer befestigt. Ausgerechnet er, der aus allem einen Wettkampf gemacht hatte und nicht müde geworden war, mit seinen Siegen zu prahlen, beschwerte sich in seinem Abschiedsbrief, er habe den Konkurrenzdruck unter den Kollegen nicht länger ertragen...
  Nur einmal hatte Johannes bei dem Freitod eines Berufsgenossen geheult wie ein Schlosshund. Karl Gerhardt, ein Agentur-Journalist, mit dem sich Johannes bei den Olympischen Spielen in Montreal einen Schreibtisch im Pressezentrum geteilt hatte, war nicht länger mit seinem Doppelleben klar gekommen. Er hatte heimlich neben der langweiligen und nur zu oft anonymen  Agentur-Berichterstattung einen Roman über einen Schafkopf-Weltmeister aus dem bayerischen Plattling geschrieben. Eine Mischung aus Reportage und Sittengemälde, das im Laden nicht sonderlich, bei den Kritikern jedoch sehr erfolgreich war. Johannes hatte es aber dessen ungeachtet für eines der besten Stücke zeitgenössischer Deutscher Literatur gehalten. Gerhardt hatte in der Folge vor allem mit bayrischen Kollegen seine Probleme, aber auch mit beruflicher Eifersucht. Da saß nun inmitten all der verqualmten Hemdsärmeligkeit der Wochenend-Zeilenschinder einer, der zu einer Syntax in der Lage war, die ihnen allen unerreichbar erscheinen musste und nahm ihnen womöglich Aufträge weg. Gerhardt stürzte sich von der Mangfall-Autobahnbrücke. Er hinterließ zwei kleine Kinder, eine Frau und fünfzig vorsignierte Lese-Exemplare vom "Schafkopf-Weltmeister".
  Wann immer Johannes an seine Erlebnisse mit Tobi dachte, wuchs die stille Würde dieser Zeremonie zu "seinem" Szenario: Gewissermaßen ein letztes Boot besteigen und auf dem Strahl des Vollmondes auf nimmer Wiedersehen in die endlose Nacht. Keiner hätte Mühe mit der Bestattung, niemand wäre traumatisiert - und es brauchte auch keinen Bruder, der ihn in einem Koffer bis zum rechten Zeitpunkt mit sich herum schleppte. Er bestimmte ihn ja selbst.
  Seit er nach Italien übersiedelt und seine Ehe nach fast 40 Jahren gemeinsamen Lebens in die Brüche gegangen war, besaß er ein richtiges für das Fischen auf dem offenen Meer taugliches  Boot mit Steuerhaus, Kajüte und Echolot. Er hatte es in Voraussicht "L’Ultima" getauft.
  Zwölf Wochen nach der "Nacht der Entscheidung" schaltete er bei Vollmond die Positionslichter an, startete den Diesel, schluckte 100 Milligramm Valium mit einem preisgekrönten Rosso Superiore von Dolceaqua und glitt hinaus auf das vom Erdtrabanten erhellte Mittelmeer. Der Tank war voll. Auf 1200 Touren mit Fangfahrt-Geschwindigkeit würde er mindestens 48 Stunden auf  Südsüdwest schippern - da hätten aber die nicht ganz zu fixierenden Konter-Muttern an der Welle, die er nie halbwegs dicht bekommen hatte und der Mangel an Insulin in seinem Körper schon längst ihren ergänzenden Beitrag geleistet...
 Eine kleine Abschiedsbotschaft hatte er sich allerdings nicht verkneifen können. Einen kryptischen Text als Bildschirmschoner an seinem Computer, aber den würden nur die verstehen,für die er gedacht war:
   
                                              More to come!?
                                                    
                                      No more cum!
                                                              
                                                                     Come no more!



Sonntag, 20. Oktober 2013

Boris

  Zwischenzeitlich hatte sich Kühn immer noch nicht gemeldet, und Johannes war auf der anderen Baustelle seines Lebens nichts anderes übrig geblieben, als den Gremien  seiner Kunden klar zu machen, dass er den von Geyer vorgelegten Vertragsentwurf in keinem Punkt akzeptieren könne. Noch immer rissen ihn aber unkontrollierbare Racheträume aus dem Schlaf. Lemmleins Ermahnungen und Vorschläge zur Selbsttherapie hatten nicht lange vorgehalten. Er war auf dem besten Wege, neuerlich Schaden an seiner Seele zu nehmen.
  Die Reise in seine Geburtsstadt Hamburg trat Johannes nach Ostern gemeinsam mit Lemmlein an. Im Windschatten des Kirchenkriegers,  der ihn, den Agnostiker, als interessierten Journalisten im Umfeld der EKD-Tagung einführte. Der Agnostiker dachte jedoch gar nicht daran, sich mit den Tagungsthemen auseinander zu setzten, schließlich hatte er doch die strittigsten Thesen verfassen helfen...
  Stattdessen machte er der Witwe Grau seine Aufwartung, die ihn ohne Vorbehalte empfing, als er sagte, er arbeite an einem Manuskript über seine Kinderjahre mit  vier Hamburger Schulkameraden, zu dem auch Wolfgang Lindau gehört habe. Frau Grau residierte in einer Villa an der Alster unweit des Uhlenhorster Fährhauses. Eine Hausdame ließ Johannes ein und führte ihn in einen prächtigen Wintergarten, der trotz des kalendarisch gerade beendeten Winters den Blick auf einen hie und da bereits kräftig blühenden absolut laubfreien und penibel auf das Früjahr vorbereiteten Park öffnete.
  Ein Flügel war diagonal zu einer offenen, pfirsichfarbenen Sitzgarnitur platziert. Eine ganze Reihe Fotografien in Silberrahmen unterschiedlichster Größe standen so auf dem Musikinstrument, dass unschwer zu erkennen war, dass niemand mehr auf ihm spielte. Die Fotos zeigten in erster Linie eine junge Frau - vermutlich die Tochter des Hauses bei verschiedenen Anlässen und Sportaktivitäten. Von Wolfgang Lindau alias Wolf Grau war keines dabei. Da die Witwe Grau ein absolut zurückgezogenes Leben führte, hatte Johannes nur eine ungefähre Vorstellung wie sie aktuell aussah. Da sie - zwar nicht so reich wie die Witwen Springer und Mohn - als heimliche Giga-Investorin aber eine gewisse Finanzmacht war, kursierte ein ziemlich pixeliges Porträt von ihr in Witwenschwarz (herauskopiert aus einem Agenturfoto von der Beerdigung) bei den diversen Finanz-Portalen im Internet. Deshalb war sie auf den restlichen Aufnahmen auch unschwer zu identifizieren. - Genauso - Johannes stockte dabei der Atem - wie der Mann in meist verliebter Paar-Pose an ihrer Seite: Privat-Bankier Hartmut Geyer.
  "Sie vermissen da sicher ein Foto von Wolfi!"
  Die überraschende Stimme hinter ihm hatte einen freundschaftlich charmanten Klang im Timbre einer jungen Frau.  Johannes drehte sich um und war von dem offensichtlich inszenierten Auftritt sofort gefangen. Sie war mit einem Arm voller langstiliger Schnittblumen vom Garten durch eine Tür des Wintergartens getreten. Der Schnitt ihres farblich zu den Blumen passenden Kaschmir-Jumpsuits war so offenkundig einfach wie unbezahlbar. Die blonden glatten Haare reichten rundum mit einer leichten Rolle nach innen bis zum Kinnwinkel und waren so geschickt getönt, dass sie dem hauchzart geschminkten Gesicht der Mittfünfzigerin samt dem nur von einer dünnen Perlenkette geschmückten faltenlosen Hals die Attitüde gaben, die zu der Mädchenstimme passte. Aber seine aus Instinkt absolut gespannte Reaktion machte Johannes sofort klar, dass er das besonders gefährliche Exemplar einer "Mata Hari" vor sich hatte. Entsprechend verkrampft und so flach, dass er unter einer geschlossenen Tür hindurch gepasst hätte, fiel denn auch sein Begrüßungsscherz aus. Er hob eines der offenkundigen Tochter-Fotos vom "Steinway" hielt es hoch in seinen Blick und meinte vergleichend:
  "So lang kann diese Aufnahme ja nicht her sein."
  "Eine Sache, die man als reiche Witwe sofort lernt, ist es, auf derart plumpe Schmeicheleien mit einem sofortigen Abbruch des Gespräches zu reagieren. Wollen Sie gleich wieder gehen, oder versuchen Sie es noch einmal mit einem besseren Einstieg."
  "Wie oft haben Sie Wolfgang auf diese Weise ausgeknockt?"
  "Obwohl Wolfi sehr berechenbar und eher schnörkellos agierte, war er nicht leicht zu treffen. Sie wissen ja, seine Nehmerqualitäten sind legendär gewesen. Er steckte einige Treffer weg und kam plötzlich mit einem einzigen Haken, der alles beendete - auch in unserer Ehe. Wenn einem das passiert war, blieb der später lieber in der Deckung und ging weiteren Kämpfen aus dem Wege."
  "Wenn Sie so von Ihm reden - also weshalb stehen dann hier keine Fotos?"
  "Sie kennen vermutlich den Witz, weshalb Boxer so beliebte Ehemänner sind, mit denen es niemals langweilig wird?"
  "Weil sie nach jedem Fight anders aussehen???"
  "Wolfi hat zwar nie eine wirklich entstellende Zeichnung zurückbehalten. Aber als er nicht mehr Gewicht machen musste, bekamen seine Züge sogar etwas Weiches. Er war kein schöner aber zum Schluss sicher ein interessant aussehender Mann. Niemand sollte seinen halb verwesten Ehepartner identifizieren müssen. Ich kann seither jedenfalls kein Bild mehr von ihm betrachten, ohne dass sich die Szene in der Gerichtsmedizin davor schiebt. Wenn Sie in Erinnerungen schwelgen wollen - ich habe unten im Garten-Souterrain alle Fotos und Pokale chronologisch geordnet ausgestellt."

  Obwohl es so streitsüchtig begonnen hatte, verlief das übrige Gespräch in zunehmend entspannterer und bisweilen vertrauter Atmosphäre. Johannes wandte die Fragetechnik der konzentrischen Kreise an, und sie blieb brav innerhalb der Zirkel, die er immer mit stetig engeren Radien versah, aber sie war auf der Hut. Als er wissen wollte, wieso Kleeblatt Stefan immer noch  in U-Haft saß, obwohl er doch sicher gegen Kaution freikommen könne, wurde sie sehr einsilbig und meinte nur:
  "Ich glaube er schützt sich selbst, indem er drinnen bleibt, bis es zu einer Verhandlung kommt. – Wenn überhaupt! Oder er deckt noch jemanden aus anderen Sphären. Stefan war Wolfis Vertrauter - absolut nicht meiner - wie gerne behauptet wird, und Wolfi hatte ja auch alte Freunde, von denen ich  regelrecht Gänsehaut bekam."
  Natürlich machte Johannes nicht den Fehler, sie in diesem Zusammenhang auf Geyer anzusprechen oder anzudeuten, dass sie einander kannten und geschäftlich gerade unangenehm zu tun hatten. Johannes wusste nur zu gut und kannte sie auch von diversen gesellschaftlichen Anlässen, dass Geyer in dritter Ehe mit der Haupt-Anteilseignerin der Bank verheiratet war, deren Generalbevollmächtigter der "Latefundis"-Schatzmeister war. Aber der Hafer stach ihn doch, als er Marita Grau fragte, ob an den Gerüchten etwas dran sei, dass sie durch ihre Investition verhindern wolle, dass die Hamburger Hafenbetreiber GmbH bei ihrer Umwandlung in eine AG mit ihren Aktien an die Börse ginge:
  "Das hat doch wohl nun gar nichts mit Ihrer Kindheitsgeschichte zu tun, Herr Goerz. Sie werden verstehen, dass ich zu diesem heiklen Thema nur so viel sage. Wolfi war sehr daran gelegen, dass der Hafen, in dem sein Vater noch Schauermann war, hanseatisch-kaufmännisch bleibt und nicht zum Spielball von Hedgefonds oder Heuschrecken wird. Diesem gewissermaßen letzten Wunsch nach seiner Vorarbeit trage ich durch mein Engagement Rechnung."
 
  Auch im Rotlichtmilieu lösten die Flügelschläge von Johannes in den nächsten beiden Nächten wohl erste kleinere Turbulenzen aus. Was bei den meist stickigen,  und in zweierlei Hinsicht dunklen Etablissements, in die er sich begab, an sich schon an ein Wunder grenzte. Jedenfalls nahmen die durch jahrelange Paranoia sensibilisierten Nerven Folgebewegungen wahr, die ihm letztlich bei seinem Streifzug vorauseilten. Aber da hatte er große Teile dieses dreidimensionalen Mosaiks schon zusammengesetzt.
  Die Mohren-Michels, die Tschetschenen-Tscharlies die Wok-Willies oder wie die ethnischen Gruppen der Rentner-Luden auf Alt-Kietzisch noch genannt wurden, hatten jedenfalls derart an Einfluss verloren, dass sie mit modernen Investment-Denken kaum noch in Zusammenhang gebracht werden konnten. Aber sie „klönschnackten“ gerne wie die Weiber vom Fischmarkt. Vor allem von der Zeit, als sie selbst noch mehr Einfluss gehabt hatten. Und wenn man es geschickt anstellte, dann rutschten sie in Mutmaßungen hinüber, die die aktuellen Vorgänge betrafen. Auf je zehn Einheiten Klönschnack kam eine Portion Wahrheit:
  "Weissu, Altä? Mit die Dearns, die die Osties pro Woche tauschen, häv we früa de ganze Reeperbahn vollgestellt. De Jongs mit de Strippen inne Hand sitzen nu in Blankeneese. Do wet fortält, dat de de Kohle in Fonts waschen tun un so.“
  Wer die Details als geübter Rechercheur zusammenführte, erhielt ein zunehmend beängstigendes Bild. Johannes wollte das Egdius Lemmlein möglichst vor seinem Knastbesuch bei Stefan  eingedenk des "intelligenten Spielens“ in den Kinder-Tagen als Parabel nahe bringen:
  Nach dem Tod von Wolf Grau, der irgendwie den Nimbus seiner flinken Fäuste schützend über ihn gehalten hatte, war Stefan Berger-Steingräber im Hamburger Monopoly wohl zunehmend seiner gewohnten Umgebung in Schlossallee und Parkstraße entrückt. Er hatte immer häufiger die Etablissements in Bad- und Turmstraße und ihre billigen, auf nur kurzes intensives Verweilen ausgerichteten Hotels aufgesucht. Senatoren sind halt auch nur Menschen. Wer es von Kind auf sauber und geordnet hatte, entwickelt vielleicht eine gewisse Sehnsucht nach Schmuddel und sexuellem Kuddelmuddel. Als einer der jedoch in Kommissionen für Stadtplanung und Entwicklung saß, hätte er die Gefahr für seine Integrität  erkennen müssen, und er riskierte gleichzeitig auch seinen hanseatischen Kaufmannsruf, der für das traditionelle Nobel-Warenhaus, das seine Frau Sabine nun führte, unabdingbar war...
  Stefan war ganz offenbar in eine komplizierte Falle getappt, die sein politisches Leben, für dessen Ende ja in Hamburg allein schon der bloße Verdacht reichte, trotz aller Verdienste irreparabel beschädigt hatte. Nun ging es um die Rettung seiner Ehe, seiner Ehre, seines Geschäftes und nicht zuletzt auch neben der Existenz um das nackte Leben selbst. Offenbar fühlte er sich da in „Santa Fu“ noch am sichersten, denn irgendjemand erpresste ihn mit zwei Aufzeichnungen auf DVDs, drinnen zu bleiben. So wurde zumindest von verschiedensten Seiten gemunkelt.
 
  Dadurch, dass mit Ausnahme der Auftraggeber für seine Ermordung, jeder in der Hansestadt immer noch davon ausging, der Tod von Wolfgang Lindau sei ein Selbstmord in Zusammenhang mit Insider-Spekulationen im Hafen gewesen, bot sich ein infinitesimales Rechenspiel an. Ein Witz, denn ausgerechnet wegen seines Unvermögens in diesem mathematischen Kapitel war Johannes ja von der Schule geflogen. Er versuchte es dennoch.
  Wie hatte doch sein alter Mathe-Lehrer Gaitsch das "Infinitesimale" für die Doofen erklärt:
  "Du stehst vor einer Reihe Männer, in der sich jeweils Brüder paarweise nebeneinander eingeordnet haben und zwar vom ersten beginnend jeweils rechts. Wenn du also annimmst, dass Nummer fünf in der Reihe Meyer heißt, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass der Mann zu seiner Rechten -also Nummer sechs - auch Meyer heißt. Mit dieser Annahme kannst du prima rechnen."
  Johannes konnte das nicht, weil er an seiner Privatschule mit einem hohen Anteil an Scheidungskindern allein zwei Brüderpaare gekannt hatte, die unterschiedliche Nachnamen hatten.…
  Welcher der Hechte im Karpfenteich der potentiellen Hafen-Investoren hatte kurz vor oder rasch nach Lindaus Tod die Art seiner Beutenahme drastisch  verändert? War gar ein Hecht hinzugekommen? Das Techtelmechtel zwischen Geyer und Marita Grau war finanzpolitisch und gesellschaftlich explosiv, für Insider in seiner Kursbeständigkeit aber verlässlich berechenbar. Weshalb sollten die beiden die  Vorarbeit von Stefan und Wolfgang also nicht wie gehabt fortführen?
  Aber bei denen hatte es natürlich eine Anstandspause nach dem Tod des Ex-Champs gegeben, und es hatte ja auch gedauert mit den Verdächtigungen gegen Stefan Berger-Steingräber. Zufälliger Weise war das obendrein genau der Zeitraum gewesen, in dem die Grenzen des Freihafens enger gezogen wurden.
  "Il Mulo" war Albaner gewesen, lag es da nicht nahe, dass Albaner seine Auftraggeber waren? Andererseits hatte das Maultier seine deutsche Existenz der untergegangenen DDR zu verdanken gehabt. Waren gar deren alte Seilschaften nach Osten involviert? Er brauchte jemanden mit genauesten Kenntnissen der heutigen Hamburger Verhältnisse
  Johannes hatte all die Jahre drei Dutzend junger Menschen zu Journalisten ausgebildet. Eine davon, eine echte "Wadlbeißerin" - wie man im Süden sagt - war auf dem "Affenfelsen" an der Alster gelandet und residierte jetzt als Ressortleiterin in einem neuen Verlagshaus mit Blick auf den Freihafen, das "Objekt der Begierde".
  Sylla Streit war in den goldenen Achtzigern "sein Mädchen" gewesen. Energisch, zielstrebig, ehrgeizig und absolut loyal hatte sich das winzige Persönchen in sein Vertrauen gearbeitet, und als sie der Liebe wegen nach Hamburg wollte, hatte er ihr mit gutem Gewissen einige Türen geöffnet. Zweimal hatten sie sich noch zu Treffen der "Ehemaligen" gesehen. Dann wurde noch einige Male telefoniert, bis der Kontakt  - wie üblich in dieser hektischen Branche - in den Neunzigern ganz abgerissen war.
  Sie trafen sich aus Zeitmangel zum Mittagessen in der riesigen lichtdurchfluteten Kantine des beeindruckenden Gebäudekomplexes.
  Sie sprang ihn mittendrin wie das Mädchen von damals aus vollem Lauf an und rief trotz der vielen Kollegen: "Mensch Boss, das ist so toll, dich mal wieder zu sehen!"
  Johannes konnte sie immer noch an ausgestreckten Armen mit in der Luft baumelnden Beinen zur Begutachtung auf Augenhöhe von sich halten, aber er brach das alte Spielchen sofort ab. Denn das schickte sich ja nicht. Die erfolgreiche Kollegin hatte ihre sportliche Ballett-Figur und das Federgewicht zwar behalten, aber - da zeit ihres Lebens uneitel - war sie in Ehren ergraut. Nur noch einzelne Fäden der drahtigen, blauschwarzen Haarpracht von einst durchzogen ihre strenge Duttfrisur.
  "Du musst gar nicht so gucken. Ich bin vor ein paar Wochen 52 geworden. Hast du ganz vergessen, dass wir nur sieben Jahre auseinander waren?"
  Sie hatte nur eine knappe Stunde Zeit, und auch Johannes würde  am nächsten Tag abreisen müssen, denn er hatte  auch noch so einiges vor. Der "streitbaren Sylla" reichte aber bereits ein Briefing von knapp zehn Minuten, um nahtlos in Tratsch und Klatsch über ihre Familien und ehemalige Kollegen hinüber zu wechseln. Während beider Streifzug durch mehr als zwei Jahrzehnte, bei dem sie gleichzeitig essend und trinkend vierzig Minuten lang die Hand von Johannes festhielt, mutierte er geduldig zum Linkshänder. Was ihm aber ganz und gar nicht missfiel, weil ihre Herzlichkeit wie über ein Ladekabel durch den rechten Arm heilsam in seine Seele strömte.
  Wie hätten sie beide nur die Reporterwelt aus den Angeln gehoben, wäre das Internet schon derart verfügbar gewesen. Eine Stunde, nachdem sie sich mit viel Hoffnung für häufigere Treffen in der Zukunft getrennt hatten, war sein Laptop im Hotel am Dammtor per Mail schon reichlich mit Informationen im PDF-Format versorgt worden.
  Johannes war so mit Ausfiltern von Suchbegriffen für diverse Suchmaschinen und Markieren, Kopieren sowie Ordnen von Textbausteinen beschäftigt, dass er die Zeit vollkommen vergaß und auch das Klopfen an der Tür des Hotelzimmers beinahe überhörte. Draußen stand ein deutlich gebeugter Kirchenriese. Johannes hatte - egoistisch auf seine Angelegenheiten konzentriert - verschwitzt, dass sein Freund heute seinen großen Auftritt gehabt hatte und fühlte sich bei dem deprimierenden Anblick sofort schuldig:
  "Mann, tut mir leid. Ist wohl nicht gut gelaufen? Ich weiß, ich hätte dabei sein sollen - zumindest bei der Presse-Konferenz."
  "Nein, nein. Das war absolut perfekt, dass du nicht da warst. Du hättest mit deinen Detailkenntnissen, die du ja gar nicht hättest haben können, womöglich nachgehakt."
  "Also, was ist passiert?"
  "Wir sind Papst! Das ist passiert! Die Hype um den Ratzi vor allem bei den jungen Menschen während seines Deutschlandbesuchs zum Weltjugend-Tag. Die überwiegende Mehrheit des Rats hat meine Thesen ausdrücklich begrüßt und hält sie für verfolgenswert, aber nicht zu diesem Zeitpunkt. Man hat in der EKD Angst, das könne als provokanter Profilierungsversuch missverstanden werden. Dann haben sie unisono festgestellt, dass ich von der Nähe und der Historie her aus seiner Kardinalszeit am leichtesten in dieser Angelegenheit Kontakt zu ihm aufnehmen könnte. Kannst du dir das vorstellen? Ausgerechnet ich soll nach Rom, um diesen Erzkonservativling mit meinen Ideen vertraut zu machen, Der wird wegen mir die Inquisition neu starten, mich von ‚Opusdei’ jagen und mich mitten auf dem Petersplatz verbrennen lassen."
  "Was für eine Story! Sei doch stolz. Das ist so irre, da kannst du gar nicht verlieren."
  "Es tut mir leid, aber den Besuch bei deinem Freund in Fuhlsbüttel, den muss ich auf ein anderes Mal verschieben. Ich fliege noch heute Abend zurück nach München. Ich fürchte, wir werden uns nicht allzu oft sehen in nächster Zeit."
  "Das fügt sich. Ich wiederum habe eine Fülle an neuen Informationen, die es ratsam machen, alles auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Was ich bisher herausbekommen habe, deutet darauf hin, dass Berger-Steingräber sich selbst so eine Art Schutzhaft verordnet hat."
 
  Den kurzen Moment der Leere, der dem Weggang des Freundes folgte, füllte Johannes mit einem Arbeitspensum, wie in seinem besten Tagen. Er studierte Kursverläufe, machte sich schlau, was alternative Investments sind. Las diagonal eine Doktorarbeit über die "Bedeutung von Freihäfen für Waren-Termin-Geschäfte" und verfluchte seine Ignoranz. Selten genug hatte er bislang die Wirtschaftsteile der Zeitungen konsultiert. Er hatte aber so eine Ahnung, dass er dieses in Zukunft ändern würde müssen, wenn er das retten wollte, was im möglichen Trümmerhaufen seiner Firma an Verwertbarem vielleicht noch übrig blieb.
  Ein interner Bericht der hanseatischen Finanzdirektion - weiß der Himmel wie die Streit in der Kürze der Zeit an dieses absolut nicht für Außenstehende gedachte Papier  gekommen war - machte den Schattenkrieg um die besten Ausgangspositionen beim Hafenpoker deutlicher als geahnt. Es offenbarte, was da an eigentümlichen Geldmengen in die Waagschalen geworfen wurde:
  Um das Bild vom Karpfen-Teich wieder aufzugreifen. Es sah so aus, als seien ein paar der dicksten Fische paradoxer Weise Lockvögel der Fahnder. Also gab es im Vorfeld schon einen Anfangsverdacht?
  Gegen vier Uhr früh kannte Johannes die wichtigen Hechte alle beim Namen. Nur zwei waren in dem besagten Zeitraum deutlich hyperaktiv gewesen. Ein wirtschaftlich sehr dicker und ein kleiner aber offenbar kenntnisreicher: Der große war möglicher Weise der Grund für das Interesse der Finanzbehörden. Ein europäischer Arm eines Geldinstituts aus Riad, das übersetzt "Großislamische Kasse für Wiederaufbau"  hätte heißen können, hier aber französisch als S.A. Caisse Orientale de la Réparation auftrat. Der kleine Hecht klang schon vom Namen her wie ein Witz: "Heavy on Wire GmbH&Co KG". Hinter allen Hechten standen Namen, die sich gesammelt wie ein Auszug aus dem Who-is-Who der deutschen Wirtschaft und der mit ihr verbundenen Politiker-Riege lasen. Zwölf von 23 Namen kannte Johannes, weil sie auch bei seinen PR-Kunden - "Latefundis", der Stiftung "Soziales Wohnen" oder „Eigenheim für Alle“ - in Vorständen, Kuratorien oder Beiräten saßen. Die restlichen waren bestimmt nützlich, wenn  es galt, in Behörden oder Landesregierungen mit dringenden Anliegen voran zu kommen.
  Dass der neue Präsident der „Latefundis“ bei seiner Wichtigkeit für den panarabischen Baumarkt auf deren Homepage im Wirtschaftsbeirat der besagten Aufbaukasse aufgeführt war, konnte nicht weiter verwundern. Aber der Name des geschäftsführenden Kommanditisten von "Heavy on Wire" löste bei Johannes wechselhafte Gefühle aus: Boris Barylli - der Stacheldraht-König mit dem Hausboot auf dem Dach.
  Augenblicklich machte die virtuelle Kamera seiner Erinnerung eine Fahrt durch das abenteuerliche Hausboot. Johanns konnte sogar für einen Augenblick wieder das süsslich herbe Malzbier aus der Holsten-Brauerei schmecken, das ihm der Staatenlose bei seinen Besuchen mit dem Vater immer vorgesetzt hatte. Aber ging das, dass der noch am Leben und aktiv war? Walter Goerz und Boris Barylli waren in etwa gleich alt gewesen. Der Vater, der nun ja schon fast zwanzig Jahre tot war, wäre doch im übernächsten Jahr schon hundert geworden...
 
 
Am nächsten Morgen um neun Uhr:
  "Heavy on Wire - guten Morgen!"
  "Ja, hier spricht Johannes Goerz. Ich hätte gerne Herrn Boris Barylli gesprochen."
  "Wenn Sie keine andere Nummer von ihm haben, ist Herr Barylli für Sie nicht zu sprechen."
  Johannes wiederholte seine Legende, er schreibe an einem Manuskript über eine Kindheit in Hamburg und da gehörten seine Erlebnisse mit dem Vater Barylli nun mal hinein, das würde doch der Sohn wohl verstehen...
  "Herr Barylli hat keine Kinder, -  und der Vater von ihm? Da dürfte es sich wohl um eine Fehlkalkulation von Ihnen handeln."
  "Wie alt ist denn Ihr Herr Barylli?"
  "Das geht Sie nichts an!"
  "Also, der Herr Barylli, den ich gekannt habe, der müsste heute die 90 schon hinter sich haben. Wenn er geistig noch auf der Höhe ist, dann erzählen Sie ihm, der Junge, der auf seinem Hausboot dafür gesorgt hat, dass die Cutty Sark ihren Großmast verlor, würde ihn gerne wieder sehen und mit ihm über alte Zeiten plaudern. Ich bin aber leider nur noch heute in der Stadt."
  Irgendwie war die Telefonistin beeindruckt, denn sie schien sich Notizen zu machen und wiederholte akkurat seine Handynummer.
  Zehn Minuten später, er war gerade beim Verlassen des Hotels erklang die Rififi-Melodie in seiner Brusttasche:
  "Johannes min Jong! Wat ne schoine Übäraschung! Wo steckst du?" sprach ihn ohne Geplenkel eine überraschend jung klingende Stimme an.
 "Ich stehe direkt vor dem Hotel am Dammtor. Toll, dass das mit dem Schnack von der Cutty Sark geholfen hat, Herr Barylli."
 "Rühr dich nich vonn Fleck. In fifteen Minunten wirst du abgeholt, Un lass das man mit den olln Härn Barylli. So oll bin ich man nich!"
  Der auberginefarbene  Bentley mit den gelben Saffianleder-Polsterungen trug Johannes wie auf lautlosen Schwingen auf der Elbchaussee hinaus bis zu den Kapitänsvillen auf dem Hochufer von Oevelgönne, wo ihn ein strammer Wind mit Nieselregen empfing. Sie hielten vor einem Backstein-Anwesen mit weißem Säulenportal. Eine blutjunge Frau, zu deren Üppigkeit die knapp sitzende strenge Zofen-Livree irgendwie nicht passen wollte, öffnete ihm Wagenschlag und Eingangstür, führte ihn durch eine kapellenartige Halle zum Gegenportal und wies auf die breiten Treppen, die gestaffelt zu drei unterschiedlich geformten Fischbassins zum Parkrand hinunterführten.
  "Boris gucken Fische. Kommen gleich", sagte die Zofe in slawisch gefärbtem Deutsch.
  "Ich gehe ihm entgegen", meinte Johannes, als er den kleinen Mann am untersten, dem größten und rechteckigen Bassin entdeckte. Im nu war er durch eine der Verandatürme im Freien und trappelte schnell die etwa hundertfünfzig Stufen hinunter. Dieser Blick! Unten schlich ein Riesenpott im Schlepp die Elbe hinunter auf die Nordsee zu. Das alles hatte er schon mal erlebt. Freude und Trauer - er fühlte beide zugleich. Und als sich der zwerghafte Mann behände umdrehte, weil er die Schritte gehört hatte, sah Johannes aus der Distanz den Mann, dem er vor fünf Jahrzehnten zum letzten Mal begegnet war. Dem Schein nach unverändert. Im Januar war Rita, die Mutter von Johannes,  mit 87 einen erlösenden Tod gestorben, nachdem die Erhaltungsmedizin die einst so stattliche Frau zu einem faltig-knochigen Ersatzteillager mit Herzklappen, Schrittmachern und Stents hatte verkommen lassen. Wie konnte der liebe Gott nur so unterschiedliche Gene verteilen? Und für einen Augenblick überkam ihn sogar die Vorstellung, welche kleine langlebige Menschengattung entstanden wäre, hätten sich die beiden kinderlosen Kleinwüchsigen Sylla Streit und Boris Barylli zur Zeugung vereint.
  "Bischa man 'n ganz schoinen Brockn worn!"
  "Hast du in den Bassins Wasser aus Jungbrunnen - Onkel Boris?"
  Sie schlossen sich in die Arme, wie ein dicker, großer Vater einen vielleicht Zwölfjährigen umfängt. Aus der Nähe waren dann doch schon Spuren des Alters zu erkennen, die ein chirurgisch meisterliches Lifting und ein geschickt färbender Friseur auch nicht hatten aufhalten können.
  "Die Dame aus deinem Büro wollte mir dein Alter nicht verraten. Mein Vater ist schon bald zwanzig Jahre tot. Ich dachte immer, ihr wart vom gleichen Jahrgang..."
  "Hej waman doch feer Joa ältä. Wa'n bangich foinen Mann dien Olln!"
  Der also 94jährige wies die Treppen hinauf und meinte, die Fische hätten ihn in Form gehalten. Dreimal am Tag 168 Stufen rauf und runter, bei jedem Wetter, das ließe er sich nicht nehmen, schließlich seien seine Fische gemessen am Risiko und Arbeitsaufwand die beste Investition, die er je gemacht habe.
  Erst da nahm Johannes die stattlichen im schwarzen Wasser besonders bunt leuchtenden Exemplare der Edel-Koys war, die dem kleinen Mann beim Gang rund ums Becken folgten wie Schoßhunde. Johannes hatte durch den  Film "Der Fischer und seine Frau" von Doris Dörrie in etwa eine Ahnung, was Koys dieser Größe Sammlern wert sind.
  Der Alte brannte darauf, den Beweis für seine Fitness anzutreten, und strebte zügig die Treppe zum mittleren, dem ovalen Becken hoch. Hier schwammen Koys, die um die Hälfte kleiner waren, als die im unteren Becken. In dem kreisrunden unter der Terrasse, waren sie klitzeklein. Alle hatten aber bereits die Angewohnheit entwickelt, ihrem "Herrchen" zu folgen, wenn er sich am Beckenrand  bewegte.
  Barylli zeigte in das flache Becken:
  "Kannst dich man nich erinnern, dat du da drin biena ersoffen bist, as du so'n Steppke wast." Barylli hob die flache Hand etwa fünfzig Zentimeter über die Platten, was irgendwie komisch wirkte. Aber dann begann er zu erzählen und hörte nicht mehr auf.
  Den Eltern von Johannes waren nach ihrer Flucht mit den beiden Mädchen von den Engländern zwei Kammern neben der Waschküche im Souterrain dieser ehemaligen Reeder-Villa als Quartier zugewiesen worden. Rita hatte für die Tommys als Wirtschafterin gearbeitet. Johannes war im Blankeneeser Krankenhaus zur Welt gekommen und hatte seine ersten beiden Jahre hier verbracht. Kaum dass er richtig laufen konnte, wäre er in diesem Becken auch schon fast ertrunken, hätte Boris nicht sein Fehlen bemerkt und ihn gerade noch rechtzeitig herausgezogen. Boris hatte, während Walter Goerz durch einen schnell behobenen Irrtum im ehemaligen KZ Neuengamme noch interniert war, auch den Goerz-Damen mehr oder weniger das Leben gerettet. Rita bekam zum Lohn in Pfund-Sterling auch Nylonstrümpfe, Zigarettenstangen, Schokolade und Brandy, die Boris als heimlicher Schwarzmarkt-König in lebenswichtige andere Güter umtauschte. Ob Boris bei Rita wohl auch für hormonellen Ausgleich gesorgt hat? Rita stand auf den kleinwüchsigen, dunkel pelzigen, orientalischen Teppichhändler-Typ.
  Als sie den Zeitraum gemeinsamer Erinnerungen erreichten, wechselten sie vom Foyer ins Arbeitszimmer von Barylli hinüber, wo er ihm die Cutty Sark als stattliches Buddelschiff in einem eigenen Erker präsentierte:
  "Kiek ma. Den Mast steht ja wieda!"
  Johannes war das Modell des Tee-Clippers als etwa sechsjähriger Junge viel größer als heute erschienen. Er erinnerte sich an seine Heulerei, als Boris ihm die Illusion von Zauberei geraubt und gezeigt hatte, wie man an Fäden durch den Hals der bauchigen Flasche auf dem Rumpf, der in bemalten Gipswellen schwamm, die Masten errichtete. Als Johannes die Prozedur wiederholen sollte, war ihm der Großmast abgebrochen.
  Johannes musste von sich so gut wie nichts erzählen, denn er erfuhr von Boris erstmals, dass sein Vater bis zu seinem Siechtum Ende der 80er jedes Jahr ausführliche Briefe über den Fortgang der Familie geschrieben hatte und gleichermaßen von Boris über dessen weiteres Leben informiert worden war. Dass Boris von all dem Geld, das ihm der Stacheldraht eingebracht hatte,  voller Sentimentalität und viel zu teuer 1991 diese stark renovierungsbedürftige Reeder-Villa gekauft und dafür sein Dach-Hausboot aufgegeben hatte, das durfte Walter Goerz ebenso wenig erleben wie die Wiedervereinigung.
  Johannes, der merkte, wie der Alte trotz aller Euphorie nun doch langsam müde wurde, wollte noch am gleichen Tag mit dem ICE zurück nach Frankfurt. Deshalb lenkte er höflich das Gespräch in die Nähe der Hinweise, die er über "Heavy on Wire" erhalten hatte.
  Er fragte ganz unverblümt, wieso Boris Barylli, trotz seines hohen Alters und der Tatsache, dass er eigentlich keine eigenen Nachkommen habe, immer noch mitmische? Was er sich von seinem Engagement für die Zukunft des Hamburger Hafens verspräche? Denn aller tollen Gene zum Trotz werde er die nur noch ansatzweise miterleben können. Und wieso er gerade in dem Moment besonders in die Öffentlichkeit getreten sei, als mit Wolfgang Lindau alias Wolf Grau ein anderer Verfechter mit Freitod ausgeschieden sei?
  Auf einmal sprach dieser Alberich des Freihafens bedächtiges Hochdeutsch:
  "Dein Schulfreund Wolfgang Lindau hatte wirklich eine interessante Lebenslinie. Einmal hatten dein Vater und du ihn zu mir mitgenommen, weil ihr anschließend zu dem Schiff am Nachbarkai schauen wolltet, wo sein Vater als Schauermann beim Löschen der Ladung mitarbeitete. Wir kleinen Menschen entwickeln eher ein Gefühl für einander als ihr großen. Später habe ich dann keinen seiner Kämpfe hier in Hamburg verpasst. Ich muss sagen, ich war ein echter Fan von ihm, vielleicht sogar mehr. Zumindest bis die schweren Jungs und die leichten Mädchen ihren Einfluss auf ihn verstärkten. Als er nach Jahren der Abwesenheit nach dem nie und nimmer verschobenen Kampf als Wolf Grau wieder hier auftauchte, habe ich ihn zunächst gar nicht wahrgenommen. Erst als er bei mir mit diesem Senator, der auch in Eurer Klasse war, vorstellig wurde, begriff ich das Lindau und Grau dieselben waren.
  Da war ja dann auch schon klar, dass Wiedervereinigung und EU die Bedeutung des Freihafens verändern würden... Du fragst. wieso ich mich für diesen stinkenden, feuchten und lauten Lebensraum so engagiere? Von 1945 bis 1990 war der die einzige feste Heimat, die ich je hatte. Ein Staatenloser wird in diesem Feuchtbiotop zum reichen Mann. Sollte der dann nicht für den Erhalt einer vielleicht dann sogar schöneren Heimat kämpfen? Der Wolfi hat das genau so gesehen, und der Berger-Steingräber hat die Docklands in London so genau studiert, dass er für hier ein fehlerfreies und sozialeres Konzept entwickelt hatte. Ich musste mich ja nicht wegen irgendetwas fürchten, deshalb habe ich nach Wolfis Tod ein paar Schaufeln bei meinem Engagement nachgelegt."
  Beim Abschied drückten sich die Zwei noch einmal unbeholfen und äußerten die Hoffnung, dass Johannes bei künftigen Besuchen in Hamburg nicht ins Hotel ginge, sondern bei ihm wohnte.
  "Sag mal, wo wurdest du eigentlich geboren Onkel Boris?"
  "In Tirana. Wieso?"
  "Weil ich glaube, dass jemand mögliche Spurensucher auf eine falsche Fährte lenken will." Dass Johannes wusste, dass Wolfgang Lindau nicht freiwillig aus dem Leben geschieden war, verschwieg er dem wundersamen Mann, der ihm plötzlich wieder so nah gekommen war, dass er sich für seinen heimlich gehegten Verdacht, der ihn eigentlich hierher geführt hat, sehr schämte.
 

  Im ICE nach Frankfurt bekam Johannes einige Schlagzeilen der papstfreundlichen Yellowpress mit. Sie hatten die EKD ordentlich beim Wickel, aber die seriöseren Kollegen aus dem überwiegend evangelischen Hamburg nahmen Egidius Lemmlein ausdrücklich in Schutz. Der "Leitbulle der Synode" habe zwar etwas zwischen die Hörner bekommen, aber er sei eindeutig der Mann, der den Dialog voranbringen könne. Egidius hatte sich in die Öffentlichkeit begeben und zunächst einmal überlebt.
  Was man von Johannes nicht sagen konnte. Am nächsten Morgen fand er eine Aktennotiz vor, dass ihn der Präsident der „Latefundis“ gleich nach seiner Ankunft zum Gespräch bitte. Dieses, das dritte während Heeremanns erster Amtszeit, dauerte gerade einmal fünf Minuten, und man sah ihm an, wie sehr er das Kopfabschlagen genoss. Er sei der Sprecher für alle Gremien bei dem Beschluss, dass man die Zusammenarbeit mit Johannes und seinem Büro nicht fortsetzen wolle. Die Anwälte sollten sich darüber einigen, zu welchem vorgezogenen Zeitpunkt und für welche Abstandszahlung die Trennung möglichst bald über die Bühne gehen könne. Im Übrigen alles Gute.

  Johannes verließ die Wallstatt ungerührt und aufrechten Ganges. - Aber nur weil er nicht zu Boden sah. Das Loch, das sich da auftat, war tiefschwarz und drohte ihn zu verschlucken, sobald er den Kopf nur ansatzweise senken würde