Samstag, 31. August 2013

Pete

   

Als die Nachricht vom Beinahe-Big-Bang bei Los Angeles im Januar 1994 um die Welt gegangen war, hatte er die Reise dorthin schon absagen wollen, aber einer der größten Unterhaltungskonzerne der Welt hatte ihn nur so zum „Kennenlernen“ eingeladen und ein Firstclass-Roundticket geschickt, mit dem er auf dem Rückweg noch zwei Termine in Montana und Alberta erledigen konnte, ohne noch einmal selbst groß für Flüge in die Tasche greifen zu müssen.

 Eine Woche später  fuhr Johannes in Los Angeles unpassend entspannt an den Trümmern des San Fernando Freeways vorbei. Das jüngste, sehr heftige Erdbeben hatte die massige Autobahn-Überbauung aus wuchtigem Beton wie Waffelbruch zerlegt. Johannes hatte sich vorsorglich im Flughafen-Drugstore mittels Vorlage seines Passes eine Wochenration Prozac gekauft. 

  Der Fahrer des mit getönten Scheiben ausgestatteten, schwarzen Cadillacs, Bernhard Kornacher, war als Vierzehnjähriger 1956 mit seinen Eltern aus München nach Kalifornien gekommen und arbeitete seit Mitte der sechziger Jahre in der „Maintenance“ für die Funparks als eine Art technischer Hausmeister. Vor ein paar Jahren war er selbständiger Leiter dieser Abteilung geworden; - also eigentlich zu hochrangig, um den Fremdenführer zu geben. Aber das Management wollte damit offenbar die „Wichtigkeit“ des Gastes zum Ausdruck bringen. Bernie, wie Johannes ihn gleich schon bei der Begrüßung nennen sollte, tat sich mittlerweile schwer mit der Deutschen Sprache, aber die bayrische Klangfärbung – auch seines Amerikanischen – war unüberhörbar. Wie alle Auswanderer in erster Generation wurde er nicht müde, schon nach ein paar Meilen die Vorzüge seiner Heimat ungefragt zu preisen. Johannes kannte das. Mitunter kam es ihm so vor,  als seien diese Leute von irgendeinem schlechten Gewissen als eine Art  „Fahnenflüchtige“ getrieben, das sie - vor allem seit der Wiedervereinigung -  zu solchen Vorträgen nötigte.
  Als Bernie jedoch erzählte, wie das Erdbeben mitten durch seinen Pool am Bungalow in Santa Anna einen dreißig Zentimeter breiten Riss gezogen hatte, in dem alles Wasser verschwunden sei, erwachte der an solchen Schicksalen interessierte Journalist in Johannes. Er erfuhr, dass das Haus der Kornachers selbst nicht betroffen gewesen sei, dass der nicht erdbebensicher konstruierte Pool aber nicht zu reparieren war und auch die Versicherung nicht zahle. 30 000 Dollar müsse er jetzt aufbringen, es sei denn, er schütte alles zu.
  Erstaunlicher Weise war das riesige Wasserareal der „Guesthouse-Area“, in der Johannes abgesetzt wurde, von so einem Schaden nicht betroffen. Andere Gäste des Konzerns saßen entspannt in ausladenden Liegestühlen vor ihren Häusern und steuerten mittels kleiner Konsolen Modellyachten oder Ozeandampfer en Miniature über die von einem zentralen Club-Pavillon beherrschte Wasserfläche. Eine kleine Welt der Harmonie und des Wohlseins wie in einem der Sciencefiction-Filme, mit denen der Konzern so erfolgreich war. Die Welt draußen lag in Trümmern hier im elitären Privaten war sie heil geblieben. Johannes fröstelte es eigentümlich, obwohl milde Frühlingstemperaturen herrschten.
  Er musste das vom Prozac noch verstärkte Timelag nicht vorschieben. Man sah es ihm an, und Bernie hatte schon mehrfach heimlich auf seine Uhr geschielt. Es war schön längst nach fünf. Er wollte heim zu dem, was von seinem Pool oder seinen sonstigen American Dreams noch übrig geblieben war.
  Als Bernie ihn am nächsten Morgen zu einer Sightseeing-Tour hinter den Kulissen des Imperiums abholte, hatte Johannes einen durch zwei Einschlafwhiskys samt Jetlag verstärkten Prozac-Kater. Er warf jedoch keine weiteren Pillen nach und ließ es auf mögliche Mini-Entzugserscheinungen ankommen. Ein schwerer Fehler, denn Bernie fuhr ihn mit einer Art Golf-Cart mitten hinein ins kaum beleuchtete Räderwerk einer noch nicht eröffneten Erlebniseinheit, die den Park-Besuchern spektakuläre Szenen einer Serie von populären Abenteuer-Filmen „erfahrbar“ machen sollte. – Im Prinzip war das die Chaos-Uhr, die er vor kurzem noch Nacht für Nacht erträumt hatte, und das vermeintliche Déjàvu  verursachte einen Schüttelfrost, der kaum noch zu beherrschen war und eher einem epileptischen Anfall gleichkam. Die Kiefer von Johannes klapperte so heftig aufeinander, dass Bernie das durch den Baulärm wahrnahm und sich besorgt erkundigte, was denn los sei. Johannes beruhigte ihn mit Hinweisen auf Akklimatisation und Zeitumstellung, stürzte aber gleichzeitig mit seiner Seele jene Achterbahn hinunter, die ja noch gar nicht in Betrieb war.
  Als sie wieder am Tageslicht im Warmen waren, ging es Johannes zwar wieder besser, aber da piepste der Sprechfunk und dann sprach eine nölende Stimme zu Herbie, er solle seinen Gast sofort zum Meeting in den Pavillon bringen und selbst beim Personal-Chef vorbeifahren. Herbie reagierte sehr besorgt und diese Stimmung schien sich sofort auf das gesamte Umfeld zu übertragen. Als sie vor einer Stunde auf das Gelände gefahren waren, hatten selbst die Statisten in den Comic-Kostümen  „Hi, Herbie, have a nice day!“ geschrieen und mit ihren Riesenhänden gewunken. Andere vom Staff hatten den Cart angehalten, den Gast begrüßt und ein paar persönliche Sätze gewechselt. Jetzt schien die Zwei im anderen Teil des Geländes niemand mehr zu beachten.
  Der Zeitplan sah vor, dass am späten Vormittag das Meeting mit den Leuten aus der Exekutive stattfinden sollte. Dann war ein Mittagessen mit dem Boss der Bosse im „Las Brisas“ angesetzt und nachmittags sollte Herbie ihm zu Shopping oder sonst einer Kurzweil herumfahren, ehe Johannes am sehr frühen nächsten Morgen den ersten Flug nach Denver nehmen würde.
  „So long“, sagte Herbie, “ich hole Dich um 15 Uhr vom „Las Brisas“ zum Shopping ab.“
  Da Johannes nicht genau wusste, was man von ihm wollte, stellte er sich eines der üblichen Meetings mit  Kreativen vor, in dem man abcheckte, was er draufhatte und wie er für das eine oder andere Projekt in Europa einzusetzen wäre. Das „Las Brisas“ kannte er schon von einer Restaurant-Vorstellung, die er mal gemacht hatte. Da würde er in dem Blazer mit den Goldknöpfen, den er zu der senffarbenen Gabardine-Hose samt weißem Polohemd trug, genau passend gekleidet sein…
  Er erlebte drei große Überraschungen. Das war kein Meeting, sondern ein Sechsaugen-Gespräch in einem fensterlosen, klimatisierten und sämtlichen Schall schluckenden Raum im tiefsten Inneren des Pavillons. Seine beiden Gesprächspartner trugen selbstverständlich dreiteilige Nadelstreifen-Anzüge.
Aber für die größte Verblüffung sorgte der Umstand, dass der Ältere von beiden sofort aufsprang und ihn in die Arme schloss, als sei er ein lang verschollener Freund. Vielleicht hätte Johannes nicht so ein dummes Gesicht gemacht und spontaner reagiert, wenn die morgendlichen Erlebnisse ihm nicht so zugesetzt hätten. Aber Pete, sein ehemaliger Tennis-Gegner von den Bahamas, war ein Routinier. Er sprach noch im Stehen wie bei einem Bühnen-Dialog auf den eiskalt wirkenden dritten Mann im Raum ein und schilderte ihm quasi - einen Sprecher bei den Sportnachrichten karikierend - in präziser Kürze den Spielverlauf des Matches, das mehr als ein Jahrzehnt her war.
  „Dieser Mann war ein wahrer Gentleman. Er hatte einen Aufschlag wie Roscoe Tanner und einen Topspin wie Borg, aber er verzichtete darauf, mich vorzuführen. Es war ihm ganz offensichtlich peinlich, auf diese Art zu gewinnen.“
  Jetzt drehte Johannes den Routine-Spieß um. Sein für den Job absolut katastrophales Namensgedächtnis ließ ihn wieder einmal im Stich, was ihm auch bei seinen Incentives öfter passierte. Also legte er sportkameradschaftlich schwer seinen rechten Arm um die Schultern des etwas kleineren Mannes und schielte auf den Firmenausweis, den jeder jederzeit offen sichtbar am Revers zu tragen hatte. Peter McDougal GCPEF. Also Pete, der Privatbankier, das Offshore-Finanz-Genie. Er hatte damals seinen Nachnamen wohl gar nicht erst erfahren.
  „Sie müssen wissen, unser Pete hier hätte ohne seine Verletzung das Match alleine entschieden. Ich war der schlechteste Mann auf dem Platz und hatte nur eine Angst,  - dass ich einen Teil des Dinners hätte zahlen müssen.“
  Er streckte dem Unbekannten die Hand hin: „Johannes Goerz. Nice to meet you!“ Dann drehte er sich gelassen in den anderen Mann hinein, schob ihn auf Armeslänge an den Schultern haltend, en wenig von sich fort und meinte: “So good to see you!“
  Was er sah, war in der Tat beeindruckend. Das Leben hatte es ganz offensichtlich gut mit Pete gemeint. Im Gegensatz zu Johannes hatte er kein Gramm zugenommen. Obwohl in etwa zehn Jahre älter, wirkte der von Natursonne gebräunte Banker objektiv jünger als er selbst. Während der andere Mann im Raum seine Staffage wie ein Korsett trug, strahlte McDougal die lässige und unerschütterliche Eleganz eines karibischen Mannes aus, der seine Schäfchen im Trockenen hat. Er hätte so gerne erfahren, wie es ihm so ergangen war, seit er versucht hatte, Johannes die Sache mit den „Luft-Aktien“ zu erklären… Aber Gregory Rafferson bestand darauf, dass sie zügig zur Sache kämen. Der Mann war so ausgezehrt, dass Johannes ihn für sich unmittelbar assoziierend  „Greg Raffzahn“ nannte, aber er wollte ja nett sein. Also fragte er den Mann auf gut Glück nach seiner Marathon-Zeit. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte der Anflug eines stolzen Lächelns über das für einen Mann von Mitte dreißig viel zu faltige Gesicht, als er lakonisch sagte:
  „3:02,21 letztes Jahr in Boston, in sechs Wochen knacke ich dort die drei Stunden!“
  „Wow“, meinte Johannes und hängte Henry Thoreaus Elite-Formel “born to succeed“  wie beiläufig an eine Kunstpause. Das mit dem Streicheln der Eitelkeit hatte wieder einmal geklappt.
   Eine Minute später war klar, wieso dieser Raum ausgewählt worden war. Sie saßen in einem dieser multimedialen Showrooms, wie sie der Laie nur aus James-Bond-filmen kannte. „Raffzahn“ hatte einen Knopf gedrückt, das Licht war gedimmt worden und die Klimaanlage passte sich suggestiv den rundum an den Wänden gezeigten Szenen an. Die verschiedenen, männlichen und weiblichen Stimmen, die das Gezeigte kommentierten, kamen aus allen Richtungen und wurden von stimulierenden Soundtracks getragen – kurz, der Begriff „virtuell“ erhielt in diesem vorher eher engen Raum eine schier grenzenlose Dimension.
  Der Inhalt der Präsentation wirkte auf Johannes im Rückblick wie eine Prognose mit hundertprozentiger Trefferquote. Auf der „Alm der Steuerhinterzieher“ hatten sie vor ein paar Tagen und doch eine technologische Ewigkeit her einen Feinkosthändler des Jetsets noch mit einer Handy-Attrappe hereinlegen können – so neu und ungewohnt waren die kleinen tragbaren Telefone noch. In diesem Szenario war das „Cellular“ quasi schon Vergangenheit und wurde mit einer neuen Bandbreite von Anwendungsmöglichkeiten gezeigt. Johannes selbst hatte gerade erst damit begonnen, sich mit Internet und Intranet gedanklich zu befassen. Das World Wide Web war vor kurzem - nämlich 1993  - aktiviert worden, hier war jedoch bereits von Glasfaser-Hochleistungskabeln, Routern und Ladezeiten und Quantitäten im XXXL-Format die Rede, die für ihn absolut utopisch klangen, wenn er an das Zeitlupentempo dachte, mit dem manche Seiten sich bei seinem Computer noch aufbauten.
  Vor einigen Wochen hatte Johannes seine Grafikerinnen und ihre Apple-Workstations mit einer Software ausgestattet, die die gesamte Druckseitengestaltung am Bildschirm ermöglichen sollte, aber in vielen Anwendungen noch hakte. QuarkXpress 3,2. war weit davon entfernt, bedienerfreundlich zu sein und barg verhängnisvolle Risiken, wenn man sich blind darauf verließ. In dieser Präsentation waren QXP und die Konkurrenzprodukte Aldo Freehand und Pagemaker quasi schon alte Hüte. Ihre Weissagung war eine Zusammenführung von TV und PC mit nur einer drahtlosen Bedienungskonsole und einem in der Wohnungswand integrierten Bildschirm innerhalb der nächsten anderthalb Jahrzehnte; spekulative „Future view“?
  Unmerklich hatte Johannes unter der Fülle an Informationen immer hektischer geatmet. Als der etwa halbstündige Reizhagel auf seine Synopsen vorüber war und das Licht wieder anging, war seine Klaustrophobie so unerträglich, dass er mit einem „Scjusme“ aufsprang und auf den Boardwalk des Pavillions hinauslief, um erst einmal tief ein und auszuatmen. Pete war hinter ihm her, aber er winkte alle Bedenken fort, indem er auf Timelag und Klima verwies wie am Morgen bei Bernie. In Wahrheit hatte ihn die Erkenntnis erschüttert, dass das, was er bislang in seinen Albträumen erlebt hatte, wohl längst von anderen bewusst erdacht worden war…
  „Raffzahn“ hatte sich zu ihnen gesellt und  sie dann zu einem separaten kleinen Tisch auf einer Veranda im Schatten geführt, auf dem Drinks und Hors D’Oeuvre  standen.
  „Sie werden sich sicher fragen, Johannes, warum wir Sie hierher eingeladen haben. Pete war daran nicht ganz unschuldig, aber ausschlaggebend waren einige Leute, die bei Ihnen auf Veranstaltungen waren und die auch mit uns in der einen oder anderen geschäftlichen Beziehung stehen.“
  Pete, der Geldmann, mischte sich ein:
    „Wie lange wirst Du mit Deinem kleinen Laden in der Welt, die Dir eben beschrieben wurde, überleben? Das Outsourcing wird nicht von seinen Kindern, sondern von den großen Medienkonzernen gefressen. Die haben doch längst selbst begriffen, dass sie das synergetische Vernetzen von Produktionen mit reduziertem Personal aber gleichzeitiger, völliger Rechtekontrolle selber machen können. Und selbst  wenn Du mehr schlecht als recht im Geschäft bleibst, wirst Du Deinen Fähigkeiten damit gerecht? Was holst Du raus? 200 000 Mark? Wie wäre es mit fünfmal so viel ohne Personalbelastung und Investitionsdruck in Dollar?“
  „Schauen Sie, Mr. Gorz! Sir! Mit der Digitalisierung und den geradezu unbegrenzten Lade- und Manipulationsmöglichkeit von geistigem Eigentum, von Nutzungs- und Urheberrechten kommt der Rechte-Verwertung vor allem im Merchandising und bei den Lizenzen ein Stellenwert zu, der weltweit eigene vorausschauende Firmen-Profile erfordert. Wie ich Ihnen ja nicht lange darzulegen brauche, sind wir beim Global-Game die Bestimmer, aber wir Amerikaner tun uns nach wie vor schwer, als Kosmopoliten anerkannt zu werden. Wir wissen sehr genau über Sie bescheid. Wo immer Sie auf der Welt aufgetreten sind, fiel es Ihnen mit Ihrer sozialen Kompetenz nicht schwer, Zugang zu erhalten. Morgen reisen Sie nach Montana und machen sich zum Affen für einen Kunden, der vielleicht schon längst ohne Sie plant. Wie Sie ja wissen haben wir eine deutsche Showgröße unter Vertrag. Was der in der Öffentlichkeit macht, hätten wir gerne von Ihnen hinter den Kulissen. Bringen Sie uns einfach gewisse Leute an einen Tisch, die wir dann davon überzeugen können, mit unseren Rechten und Lizenzen zu handeln – oder sich zumindest daran zu beteiligen.“
  „Du kannst Dein Leben ja sogar so weiter führen und hättest das Erfolgshonorar bei uns auf den Caymans als Rückversicherung in Form eines steuerfrei wachsenden Vermögens“, ergänzte Pete, der ihn als künftigen Kunden offenbar schon verbucht hatte.
  Johannes schaute auf die Wasserfläche hinaus, wo gerade ein Modell-Kreuzfahrtschiff volle Pulle über eine kleine Segelyacht gebrettert war, nur weil ihre beiden in den Liegestühlen dösenden Lenker nicht aufmerksam genug Abstand gehalten hatten. Er beschloss spontan die Symbolik dieser Havarie als Zeichen zu deuten. Die Tatsache, dass man ihn möglicher Weise ausgespäht hatte, machte ihm weit weniger zu schaffen, als die Gier, die sie jetzt in ihm aktiviert  hatten. Aber was war das mit seinem Kunden, den er in ein paar Tagen treffen sollte? Bei Honoraren in solchen Größenordnungen konnten die doch nahezu jeden bekommen, der ein mehr Erfolg versprechendes Profil  vorzuweisen hatte. Die Sache musste einen Haken haben, aber er hatte ja mittlerweile auch dazu gelernt und würde sich hüten, eine spontane Stellung zu beziehen…
 
  Pete ließ es sich nicht nehmen, Johannes selbst zum Lunch in den Pazifik-Badeort zu chauffieren. Er benützte dazu aus dem „Promotional Carsupply“ des Konzerns ein Chevy 69 Camaro Cabrio in Purple und Weiß, das allein schon wegen seiner Chromteile aussah, als sei es gerade ausgeliefert worden. Bei jedem Ampel-Halt lösten sie damit derart Beifall und Jauchzer aus, dass an eine ernsthafte Unterhaltung kaum zu denken war. Dennoch erfuhr Johannes, dass Pete quasi nur noch Frühstücksdirektor und „außenpolitischer“ Berater der Grand Cayman Private Equitiy Funds GCPEF war. Er sprach von viel Geld aus dem Osten, das in den letzten Jahren an Einfluss auf ihre Geschäfte gewonnen hätte, weil die, die es brachten – aus welchen Gründen auch immer – im Ernstfall auch hohes Verlustrisiko tragen konnten. Johannes musste unwillkürlich an die Sturmfahrt mit dem „Aquila Marina“ denken und das in seinem Bauch versteckte Schwarzgeld, als er ein wenig spöttisch meinte:
  „Wenn bei einer Investition von Euch im schlechtesten Falle siebzig saubere Cent von einem schmutzigen Dollar übrig bleiben, ist das immer noch ein Bombengeschäft für manche. Das als Steuer entrichtete Geld ist hingegen ein für alle Mal weg.“
  Johannes hatte das Erblühen zweier mit seinen Geschäftsfreunden konkurrierender Druck- und Verlagshäuser während des dramatischen Niedergangs des Anzeigengeschäftes der letzten Jahre im Verdacht mit solchen „neuen“ Geldern gearbeitet zu haben. Sie hatten zwecks Verdrängung jeweils im Herbst angeblich riesige Auflagen gedruckt, deren Rechnungen  sie von Finanzdienstleistern hatten bezahlen lassen. Ausgeliefert wurde jedoch nur die tatsächlich gedruckte, vermutlich viel kleinere Menge. Der virtuelle Rest wurde als Lagerbestand über den Wechsel des Geschäftsjahres steuerlich vorgehalten und wenn die Remission aufgerufen wurde  mit dieser verlustreich verramscht oder geschreddert. Mit Ausnahme der Anzeigenkunden und des Fiskus hatte jeder in der Nahrungskette am Ende gewonnen – vor allem aber der Finanzdienstleister der sauberstes Geld zurückbekam und an seine gefährlichen Kunden ausschütten konnte. Sollte sich so eine Rückzahlung verzögern, verfügten die über Hintermänner mit einem geradezu tödlichen Inkasso-System, das letztlich auch die absolute Diskretion sicherte… Aber Johannes hatte keine Lust, dieses ihm äußerst unangenehme Thema noch zu vertiefen. Stattdessen wollte er von Pete wissen:
  „Was erwartet mich? Wieso will der Boss der Bosse ein kleines Licht wie mich sehen? Was hätte ich ihm zu bieten, was er bei seinen unbegrenzten Möglichkeiten nicht über Headhunter und Personalberater anonym, jünger und vermutlich besser und unverbrauchter bekäme.“
  „Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Er ist ein Netzwerker mit einem mitunter unheimlichen Durst nach Details, die er unlöschbar abspeichert. Hör mal, wie dies blöde Computersprache sich schon in unseren Alltag einschleicht.“
  „Seit ich hier bin, habe ich das Gefühl, wie eine Marionette in einer Handlung herum zu zappeln, die ich nicht begreife.“
  „Du kannst doch ganz entspannt sein. Was hast du zu verlieren. Wenn nichts dabei rauskommt, hast du Reisekosten gespart und deinen Horizont erweitert. Wenn er irgendetwas weiß, was du nicht weißt, bist du morgen reicher als du es dir jemals erträumt hättest.“
  Pete verabschiedete sich auf der Auffahrtsrampe des „Las Brisas“:
  „Ich rufe dich heute Abend noch an, und in vierzehn  Tagen sehen wir uns in München. Ich weiß, du hast Zeit, also sag nicht, du wüsstest nicht, ob du da bist.“

  Es war ein Irrtum von Johannes zu glauben, dass ein Mann, den die aktuellen Forbes-Rankings mit einer diffusen, dreistelligen Millionen-Dollar-Summe Jahressalär an die Weltspitze der bestverdienenden Manager gestellt hatten, ihn mitten in einem derart populären Gourmet-Restaurant bewirten würde. Einer der Valets in grünweiß gestreiften Jockeyblusen führte ihn vom Restaurant weg auf einen betonierten Pfad an die Steilklippe heran, wo ihn zwei an Hulk Hogan erinnernde Bodyguards übernahmen. Der Mann, der federnd aufsprang sobald er sie hörte, sah allerdings nicht so aus, als bedurfte er irgendeines Schutzes. Er war so groß wie Johannes und hatte schon aus der Distanz von zwanzig Metern einen Blick drauf wie Clint Eastwood, wenn er den Dirty Harry mimte. Auch er war so austrainiert, dass sich Johannes deutlich minderwertig fühlte. Wenigstens war er diesmal passend angezogen, denn sein Gastgeber trug weiche beige Cordhosen und ein diagonal über die Brust geknöpftes Designer-Shirt. Über den Schultern hing nur zu Dekoration ein Sweater, denn es war angenehm warm und beinahe windstill. Als er zum Händeschütteln an ihn herantrat, sah Johannes die kleinen Falten in dem ansonsten glatt wirkenden Zügen eines ewigen Collegeboys, und auch die Haare waren nicht kalifornisch ausgebleichtes Blond, sondern weiß. Trotzdem war der Mann – was sein Charisma anging – keine Mogelpackung. Er hatte nur wenige Menschen getroffen, die in etwa an diese natürliche Autorität heranreichten.
  Sie standen in einer kleinen nach allen Seiten offenen Pagode, in der zur Klippe mit Blick auf den sonnenüberfluteten Pazifik ein festlicher Tisch für zwei eingedeckt war. In diskreter Entfernung hantierten bereits zwei Köche an einer mobilen Herd-Einheit. Es würde selbstverständlich nichts Aufgewärmtes geben. Johannes hatte sich vorgenommen, was auch kommen mochte, sich nicht beeindruckt zu zeigen. Dieses Vorhaben war schon mal fehlgeschlagen.
  „Das ist ein sehr schönes Pashmina-Hemd, das Sie da tragen.“
  „In Mode kennen Sie sich also auch aus – Johannes. Ich darf Sie doch Johannes nennen?“ Ich bin Robert.“.  Bei den Worten in völlig akzentfreiem Deutsch streckte er ihm nochmals die Hand hin.
  „Gerne Robert. Dann muss ich ja nicht so auf der Hut sein, wenn wir Deutsch reden.“ Johannes nahm sich vor, auf die gegenseitigen „Skills“ nicht einzugehen. Das zwang seinen Gastgeber nachzuhaken, wenn er etwas wirklich wissen wollte. So verhinderte man Smalltalk. Schon gar nicht würde er einem, der vielleicht besser Deutsch sprach als er selbst, Komplimente in dieser Richtung machen.
  „Was bringt Sie auf den Gedanken, Sie müssten an so einem schönen Tag und einem hoffentlich ordentlichen Lunch bei diesem Ausblick auf der Hut sein?“
  „Nur persönliche Erfahrung! 1979 nach einer anstrengenden Expedition im Himalaya habe ich ein paar Tage in einem Hausboot auf dem Dalsee im Kaschmir entspannt. Da kam ein Schneider mit Stoffen vorbeigepaddelt und bot mir seine Dienste an. Ich kannte Pashmina bis dahin nur als Schals. Die drei Hemden, die ich von ihm maßgeschneidert bekam, kosteten soviel wie ein im Laden gekauftes in Deutschland. Ich hatte sie sehr lange, und ich erhielt durch sie auch Anschauungsunterricht im Welthandel. Denn eine Woche später sah ich solche Hemden vorgefertigt bei den Malik-Brüdern im Cashmere Emporium am Connaught Place in Delhi. Da kostete das Stück so viel, wie ein Sikh-Taxifahrer, den ich gut kannte, dort im Jahr verdient.“ Die Kunstpause implizierte, dass Johannes sich also leicht vorstellen konnte, was das Hemd anderthalb Jahrzehnte später bei einem amerikanischen Designer gekostet haben mag. Er selbst hatte damals Schnitte von Christian Dior abkupfern lassen…
  Die ersten drei Gänge mit erlesenen Mini-Portionen verbrachten die beiden Männer wie Ringer im Griechisch-Römischen Stil. Johannes hatte sich quasi freiwillig in die passive Bodenlage begeben und achtete nur darauf, dass ihn sein Gastgeber beim Smalltalk über erlesene Genüsse nicht aushob oder gar aushebelte. Was angesichts der erlesenen Kreationen mit den dazu gereichten Weinen schwer genug war. Sie hatten ausgestochene Plätzchen aus Pumpernickel mit Tartar und Kaviar, die mit aromatisierter Crème Fraiche verziert waren. Dazu gab es ein Schlückchen Dom Perignon. Der Chef trug selbst eine von ihm hergestellte, rohe Gänseleber-Terrine auf, die mit lauwarmen Streuseln aus zerhackter Armagnac-Pflaume und Trüffeln bestreut war. Dazu gab es aus geeisten Gläsern einen Sauterne, der so ölig war, dass Johannes lieber nicht nach seinem Alter fragte. Der erste warme Gang bestand in edler Einfalt aus einer daumendicken Scheibe einer ungepellten roten Idaho-Kartoffel, auf der in exakter Kongruenz ein Langusten-Medaillon lag, über das beiläufig geschmolzene Safranbutter mit rotem Pfeffer rann. Der sehr nach viel Sonne schmeckende Chardonnay aus dem Napa-Valley passte glänzend, weil er den rein „amerikanischen“ Genuss dieses Ganges unterstrich.
  „Und, kommt Wolfgang ans ‚Aubergine’ heran? Er hat nämlich bei Witzigmann gelernt.“ Fragte Robert Phelps unvermittelt, in dem er leicht seinen Kopf in Richtung des Kochs ruckte.
  Das war ja nun auch Vergangenheit. Der begnadetste aller Köche hatte ja vor kurzem durch seinen Kokskonsum zwecks Stressabbau in der Münchner Schickeria seine Lizenz und das einzigartige Restaurant verloren. Seine Epigonen hatten ihn meist nur durch die Menü-Preise übertroffen, so dass Johannes seither aufgehört hatte, sein Geld so oft wie früher in deren Tempel zu tragen und stattdessen selber kochte, wenn es darum ging, ihm „wichtige Leute“ über den Gaumen zu beeindrucken. Deshalb lockerte Johannes mit der Antwort ein wenig seine passive Haltung:
  „Die Gier nach Genuss erzeugt  Preise, die das Genuine des Geschmacks oft zur Nebensache machen. Das ist hier nicht der Fall. Es ist aber auch ein Beweis gegen das Ammenmärchen, dass Geld nichts mit der Güte des Essens zu tun hätte. Auf der anderen Seite heißt allerdings wenig Geld nicht gleichzeitig kein Genuss. Nehmen wir Ihren reputierten Mondavi-Chradonnay hier  für vielleicht 25 Dollar vom Erzeuger und stellen ihn bei einer Blindverkostung neben den Sauvignon Blanc der bescheideneren Pedroncelli-Brüder vom Dry Creek für nur fünf Dollar. Ich wette, dass acht von zehn Testern letzterem den Vorzug gäben. Eine gute Languste hat ihren Preis, den man nur sparen kann, wenn man auf sie verzichtet. Geld bedingt eine Veränderung der Warte, von der man Werte betrachtet, das habe ich am eigenen leider immer schwerer werdenden Leib verspürt. Vor ein paar Jahren habe ich bei Fredy Girardet in Lausanne beispielsweise einen Dézaley ‚Clos des Abbayes’ zum Essen gehabt, an den ein Privatmann kaum herankommt. Auf Fürsprache bekam ich dann vier Kästen für 25 Schweizer Franken die Flasche. Noch nie hatte ich einen so teuren Wein für mich privat gekauft, aber ich wollte ihn ja unbedingt haben. Können Sie sich meine Enttäuschung vorstellen, als ich feststellte, dass diese für den Export bestimmten Flaschen Schraubverschlüsse hatten? Kein Risiko, dass eine Flasche korkt, aber auch kein Chichi beim Entkorken, Schnüffeln und vorweg Probieren. Die Qualität aller 24 Flaschen war exakt die gleiche, aber man hatte mich eines geldwerten Rituals beraubt. Schaut ein Mann wie Sie noch auf den Preis für irgendetwas?“
  „Ich bin weder ein Scrooge noch ein König Midas, und glauben Sie ernsthaft – Johannes - ein Mann in meiner Position könne sich halten, wenn er vergessen hätte, welche Farbe das  Geld hat.“
  „Nun Ja, – eure Dollarnoten sind mit Ausnahme der Zahlen und Präsidenten alle die gleichen „Greenbacks“, scherzte Johannes, der spürte, dass das Gespräch langsam in tückischeres Fahrwasser geriet.
  „Das ist ein schönes Beispiel. Als ich klein war, habe ich für Nickles und Dimes Tennisbälle aufgehoben. Es war etwas ganz besonderes, wenn ich mal eine Dollar-Note bekam. Die Leute habe ich mir übrigens sehr genau angesehen. Man kann nicht an der Höhe, sondern an der Art wie einer Trinkgeld gibt, sehr viel über den Charakter lernen. Ich war wegen meiner Leistungen Stipendiat, aber die Phelps waren immer solider amerikanischer Mittelstand, deshalb musste ich dazu verdienen.
Ich zog einen Party-Service auf, der sich bald bis zu den Eltern meiner reicheren Freunde von Back Bay, Beacon Hill und  rund um den Campus in Cambridge herumsprach. Ich bewirtete wichtige Leute und lernte sie dadurch auch kennen. Und ja, die Präsidenten und Zahlen änderten sich. Nach meinen drei akademischen Graden verkaufte ich den inzwischen zum Party-Catering gewachsenen Betrieb für eine  siebenstellige Summe und studierte noch drei Jahre Philosophie und Germanistik in Heidelberg.“
  „Beeindruckend. Aber ich meinte etwas anderes mit meiner Frage. Wenn Sie etwas wirklich wollten, könnten Sie jeden Preis zahlen. Der Wille des haben Wollens könnte dabei also unbeschadet ein Ausmaß annehmen, der den Sinn des Erreichens oder Besitzens zu einer absurden Nebensache machte.“
  „Was zählt, ist nur die eigene Leistung. Alles, was ich auf die von Ihnen beschriebene Art kaufen könnte, ist wie Sex gegen Geld - unbefriedigend. Sie haben ja viel über Sport geschrieben. Ein Skispringer, der die 200-Meter-Marke überflogen hat, wird nicht deshalb aufhören, weil er das Erreichen der 300 Meter für aussichtslos hält. Er hat auf einer selbst gebauten Schanze vielleicht mit zehn Metern angefangen und sich nach und nach gesteigert. Ich habe mal auf dem frei in den Himmel ragenden Anlaufturm der Skiflugschanze von Vikersund gestanden und zum ersten Mal Höhenangst gehabt. Keiner steigt wegen des Geldes dort hinauf und springt hinunter!“
  Sie konzentrierten sich für einen Moment schweigend auf ihre in ein Schweinenetz gehüllte komplett entbeinte knusprige Wachtel, die mit Datteln und jungen Zwiebeln gefüllt und deren Bratensaft mit ein paar Tropfen von einer Blutorange gefärbt und aromatisiert worden war. Simpel und göttlich.
  „Tut mir leid, wenn das nicht ‚comme il faut’ ist. Aber ich lasse keinen Tropfen von diesem Jus zurückgehen“, meinte Johannes und griff sich eine Scheibe von dem Brot, das bislang nur zur Dekoration auf einem Serviertischchen gestanden hatte und wischte wie ein armer Bauer seinen Teller blank. Dann griff er die Parabel von Robert Phelps wie ein interviewender Journalist wieder auf:
  „Sie sind der absolute Weltrekordhalter bei den Angestellten-Einkommen. Was kommt danach?“
  „Wenn Sie jetzt hier den Journalisten herauskehren, antworte ich mit meinem Standardsatz. Ich habe mein Gehalt nicht gefordert sondern erwirtschaftet. Markt und Leistung haben mich ausgewählt. Ob es unmoralisch ist, soviel Geld zu verdienen? Aus meiner Sicht wäre es unmoralisch, es nicht einzustecken. Schaut Euren Boris Becker an. Wenn er aufschlägt, setzt er das Räderwerk einer Milliarden-Wirtschaft in Gang. Er ist ein kleines Zahnrad in einem riesigen Uhrwerk. Ich bin auch ein kleines Zahnrad in diesem Uhrwerk. Mein Grundgehalt entspricht immer noch dem allgemeinen Standard, aber als ich den Konzern in einer Notsituation übernommen hatte, verlangte ich ein Prozent von den künftigen Gewinnen. Das kleine Zahnrad hat sich so positioniert, dass es ohne zu zerbrechen die großen Räder wieder zum Drehen brachte.“
  Johannes verzichtete darauf, davon zu erzählen, dass er von solchen Räderwerken träumte und nahm stattdessen gegen das erneute Déjàvu einen großen Schluck eines 1985er Zinfandl von den Ferrari-Carano Vineyards, der wie ein Riesenrubin im Glas funkelte.
  „Das wollte ich nicht. Sorry, ich wollte nicht über Geld mit ihnen reden. Ich denke, wie man es anstellt, es wird immer dazu führen, dass derjenige der Fragen dazu stellt, sich des Verdachtes von Neid und Missgunst aussetzt.“
  „Ich weiß, Sie können sich einfach keinen Reim darauf machen, wieso so ein Typ, der sich Ihrer Meinung nach alles und jeden sogar auf Firmenkosten kaufen könnte, so einen Typ wie Sie zum Lunch bittet.“
  „Ja, irgendwie sind mir diese Dimensionen hier unbehaglich.“
  „Das hat möglicherweise etwas mit Ihrer Wahrnehmungsfähigkeit in Bezug auf sich selbst zu tun. In unserer Branche haben wir es ja überwiegend mit extrovertierten Selbstdarstellern zu tun, denen das eigene Profil oft wichtiger ist als die ihnen anvertraute Aufgabe. Dann fällt natürlich jemand wie Sie auf, der überall Spuren hinterlässt, aber öffentlich nicht in Erscheinung tritt. Wissen Sie, wann ich zum ersten Mal von Ihnen gehört habe? – Das war so 1981/82. Ich hatte ja mit diesem Schweizer Verleger studiert, dem Sie indirekt immer die neusten Restauranttipps gegeben haben. Er hat diese natürlich zur Festigung seines Ruhmes als Kenner unter anderen natürlich auch an mich weitergereicht und dabei irgendwann Ihren Namen genannt. Als ich mit Pete McDougal in der „Grange Sur Lierre“ von Porge nach der VinExpo in Bordeaux zum Essen war, kolportierte ich die Beschreibung, die mir mein Studienfreund von Ihnen gegeben hatte, und Pete sagte ganz verblüfft, er habe vor einigen Wochen mit Ihnen auf den Bahamas Tennis gespielt. Einer meiner engsten Freunde in den USA ist der ehemalige Oberbürgermeister von Dallas. Der hat mir beim Golf als wir über deutsche Eigenschaften diskutierten, von einem deutschen Journalisten erzählt, der ihm  nach einem Bankett – um noch ein paar persönliche Worte zu wechseln – angeboten hatte, ihn nach Hause zu fahren. Der Mann habe gegen seine Empfehlung  - obwohl erst drei Tage in der Stadt – eine Route durch seine Stadt gewählt, die um zwanzig Minuten kürzer  war, als die die sein Chauffeur üblicher Weise über die Turnpikes wählte. Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass der Zweihundertpfund-Bursche so einen heiligen Namen hatte. Damit konnte ich ihm dann aushelfen. Wiederum zwei Jahre später rief mein Freund von einem Bürgermeister-Treffen der Weltmetropolen an. Sein Shanghaier Kollege habe ihm gerade eine lustige Geschichte von ‚unserem Johannes’ erzählt. - Ist das wirklich wahr, dass Sie Zhu Rongii vorgeworfen hatten der Kultschnaps und Nationalstolz „Mao Tai“ schmecke nach Möbelpolitur und dennoch nach einem donnernden Rülpser die ganze Flasche gelehrt haben???
   Johannes schwieg peinlich berührt. Er war mit dieser Geschichte nie hausieren gegangen.
  „Diese runden Tische, die Sie bei Ihren Incentives formieren. Da sitzen Leute dran, die für unsere Europapläne äußerst interessant sind. Mit ein paar haben wir ja auch schon Kontakt, und obwohl das alles Alpha-Tiere sind, schwärmen die teilweise von Ihnen, als seien Sie eine Art Guru. Wir wünschten uns, dass Sie für unsere künftigen Vorhaben  auch so eine Art Lobby schaffen. Greg und Pete werden Ihnen ein Anforderungsprofil faxen. Überlegen sie in Ruhe – Ich weiß, Sie wären für uns der Richtige!“
  Er sah mit eindeutiger Geste auf die Uhr:
  „Genießen Sie noch ihren Nachtisch und den Kaffee. Sie werden hier abgeholt. Wenn Sie mich entschuldigen, Johannes. Ich muss los. Zum Golfspielen mit unserem Actionstar. Wenn seine Muskeln nicht mehr mitmachen, will er unbedingt Gouverneur werden. Das wäre schon etwas. – Etwas, wobei wir ihm gut helfen können…“

  Es war, als hätte sich ein Schatten über die kalifornische Wintersonne gelegt, als Bernie Kornacher ihn abholen kam. Auf einmal war es, als reichte die Kühle des Humboldtstroms bis zu den Klippen von Las Brisas. Was ein untrügliches Zeichen für ein weiteres Beben hätte sein können. Dann registrierten seine sensiblen Seismographen für Seelen, dass das negative Odium von dem kalifornischen Bayern ausging. Irgendetwas hatte die robuste Vierschrötigkeit mehr erschüttert als der geborstene Pool.
  „Was ist mit Ihnen Bernie?“
  „Nichts! Was sollte sein?“
  Er stapfte mürrisch und wortlos zur schwarzen Limo und öffnete ihm die Tür zum Fond. Ein deutliches Zeichen, dass er nicht wollte, dass Johannes sich neben ihn setzte, um wie am Morgen zu ratschen. Johannes jedoch drückte die Tür zu, ohne einzusteigen und sah dem Mann forschend in Augen, die den ganzen Enthusiasmus des Vormittags verloren hatten:
  „Was ist los?“
  „Sie haben mich gefeuert. Einfach so. Nach bald dreißig Jahren. Ich krieg noch Schecks für zehn Terms als Abfindung. Das war’s dann. Alle unter vierzig wurden sofort übernommen. Alle Alten sind freigestellt. Heute ist mein letzter Arbeitstag.“
  Es hatte sich herausgestellt, dass die Funparks wegen der häufigen Erdbebenwarnungen im letzten Quartal des alten Jahres einen minimalen Rückgang im Vergleich zum Vorjahr zu verzeichnen hatten. Ein cleverer Controller, der nur von seinen Zahlen ausgegangen war, hatte den Vorschlag eingebracht, die Verluste dadurch wieder hereinzuholen, dass man die konzerneigene Maintenance samt Personalkosten und Absicherung gegen Betriebsunterbrechungen zu niedrigeren Preisen an eine neu zu formierende Wartungsfirma „outsourcen“ könne. Und so war es entschieden worden. Auf einmal war nicht mehr von der großen Familie die Rede gewesen. Nicht mehr von den spaßigsten Jobs der Welt… Es war klar, dass Johannes Bernhard Kornacher sofort aus der Verpflichtung entließ, ihn zum Shopping herum zu kutschieren. Er musste ja auch ohnehin weiterreisen und war ganz und gar nicht in Stimmung.  Stattdessen machte er einen langen Strandspaziergang, der bei einem Kaufhaus endete, das das ganze Jahr hindurch ausschließlich Artikel für Weihnachten verkaufte. Johannes musste an Heinrich Böll und seine Satire denken. Inmitten des „Ginglegebelles“ ertappte er sich dabei, wie er halblaut und gläsern die Stimme des böllschen Weihnachtsengels imitierte und „Friedeng, Friedeng“ flötete. Wenn die Wirklichkeit eine Satire innen überhole, wäre es Zeit, neue Wirklichkeiten zu schaffen. - Er würde den Verlockungen, durch „amerikanische Verhältnisse“ reich zu werden, widerstehen. Seine Entscheidung war in diesem Moment gefallen…

  Noch ehe ihn in aller Frühe am nächsten Morgen der vereinbarte „Wakeupcall“ erreichte, meldete sich Mutter Erde. Die Schränke sprangen auf, der Fernseher krachte aus seiner Halterung und das Bett machte einen Bocksprung, der das Adrenalin in Johannes Körper verteilte, als sei es mit Pressluft in den Kreislauf geschossen worden. Er hatte gerade geistesgegenwärtig die dicht beieinander liegenden Türrahmen der Diele erreicht, die bei Erdbeben am ehesten Schutz  boten, als der Spuk auch schon wieder vorbei war.
  Er hatte wie immer am Abend vorher gepackt, verzichtete daher wohlweißlich auf die Morgentoilette und stand fünf Minuten später außerhalb (!) des Foyers. Allein. Niemand schien durch den „Aftershock“ beunruhigt. Nicht der Concierge, der auf Johannes’ gequälten Scherz, ihm hätte auch ein einfacher Weckruf gereicht, nur müde grinste. Nicht der Fahrer, der ihn zum Flughafen bringen sollte, der völlig Verständnislos die Stirn runzelte, als Johannes ihn fragte, ob durch die Erdstöße möglicher Weise die Flüge beeinträchtigt würden. Alle übrigen Konzern-Gäste schienen sich einfach auf die andere Seite gedreht zu haben, um weiter zu schlafen.
Hatte er überreagiert?

  Sieben Stunden später und ein paar tausend Kilometer nordnordöstlich, bebte der Aftershock im Gemüt von Johannes immer noch nach, so dass er zunächst Mühe hatte, die einzigartige Landschaft Montanas auf sich wirken zu lassen. Nicht, dass er der bitteren Kälte unvorbereitet entgegen getreten wäre. Er war am Flughafen von Bozeman in seinen Daunen-Parka  mit Fuchskragen geschlüpft, hatte die Slipper gegen die „Sorelboots“ getauscht und einen Norweger-Pullover angezogen. Ihn fror von der Seele her und daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass alles gut funktionierte.
  Nach dem kalifornischen Frühlingstrubel war die menschenleere Winterhärte am Galatine-River sowohl ein Klima- als auch ein Kulturschock. Aber er erlebte sie aus dem Cockpit eines riesigen Ford-Geländewagens, als säße er in einer rollenden Festung. Die beiden Sioux aus Whitefish, die sein Incentive in einigen Wochen begleiten sollten, waren pünktlich gewesen und zeigten ihm die in einer Biegung des Flusses aufgestellten Winter-Tipis, in denen sich seine Gäste nach dem winterlichen Fliegenfischen aufwärmen und ihre Forellen über dem Lagerfeuer grillen sollten. Es war genau die Stelle, an der Brad Pitt in dem Film „Und in der Mitte entspringt ein Fluss“ die dicken Rainbow-Trouts herausgeholt hatte. Johannes hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst, dass Fliegenfischen ein Wintergimmick als Alternative zum Skifahren am Big Sky sein könnte.
  Zur Happy Hour im Lodge traf er das Geologenpaar, das von dort den Ausflug zum Old Faithfull in den Yellowstone Nationalpark führen sollte. Professor Dr. Greg Culver stand bezeichnender Weise hinter der Bar. Denn seit er in seiner kalifornischen Universität aus politischen Gründen seinen Lehrstuhl bei einer Neuausschreibung verloren hatte und nach Montana „geflohen“ war, verdiente er mit dem Mixen von Drinks weitgehend seinen Lebensunterhalt. Seine Frau, Dr. Norma Culver, verkaufte auf der anderen Seite der Lobby Indianer-Schmuck und anderes handgemachtes Kunstgewerbe. Um wissenschaftlich am Ball zu bleiben, leiteten sie Sommer-Seminare an der beliebten Uni von Bozeman, die überwiegend im Freien stattfanden und ihre Abenteuerlust befriedigten oder sie führten wissenschaftlich orientierte Reisegruppen wie die von Johannes. Auch das waren „amerikanische Verhältnisse“: Als Akademiker wie selbstverständlich einen fachfremden Brotjob zum Unterhalt der Familie auszuüben, ohne darüber die gute Laune oder den fachlichen Anschluss zu verlieren…
  „Na wie haben Sie die seismische Morgengymnastik unseres Planeten erlebt? Das waren ja immerhin Stöße bis 4,5.“
  „Ehrlich gesagt, mich beschäftigt immer noch, dass ich so ein Schisser gewesen bin. Es war so, als habe ganz L.A. einfach weitergeschlafen. Während ich mir vor lauter Angst noch nicht einmal die Zähne geputzt, geschweige denn  eine Dusche genommen habe.“
  „Glauben Sie nur nicht die Leute entlang des St. Andreas-Grabens oder des San Fernando Valleys hätten keine Angst. Nur, die Bedrohung wächst von Jahr zu Jahr und ist somit gewissermaßen alltäglich geworden. Jeder weiß, dass es beim Big Bang nur Gott und den Zufall gibt, wenn es ums Überleben geht.“
  Norma Culver ergänzte:
  „Das gilt für diese Gegend hier übrigens genauso, nur dass sie eben nicht so dicht besiedelt ist. Die Touristiker in diesem Teil Montanas haben viel investiert und halb Hollywood hat sich hier unterm Big Sky angesiedelt. Wenn die Stars nur ahnten, dass sie vom Regen in die Traufe übersiedelt sind, käme es hier zum totalen Zusammenbruch des Immobilienmarktes. Unsere fortlaufenden Studien ergeben einen sich für geologische Maßstäbe rapide ausdehnenden Eruptions-Zirkel, eine ‚Caldera’, unter dem Nordostrand des Yellowstone – also genau hier an der Grenze zwischen Montana und Wyoming. Jetzt kann man den Deckel nachrichtenmäßig noch einigermaßen auf dem Kessel halten, aber in spätestens zehn Jahren werden sich die wissenschaftlichen Prognosen und Warnungen überschlagen. Hier könnte es zu einer Magma-Explosion kommen, die das Erdklima und damit unseren gesamten Planten nachhaltig verändert…“

  Als Johannes zwei Tage später aufbrach, um seinen Auftraggeber zwecks zu leistender Anzahlungen und Vertragsunterzeichnungen in Calgary, im kanadischen Alberta, vom Flughafen abzuholen, packte ihn in den unheimlichen Weiten ein Einsamkeitsgefühl in bis dahin nie erlebter Stärke. Manchmal verging auf dem sechsspurigen Highway mehr als eine Viertelstunde bis er mal wieder ein anderes Fahrzeug zu Gesicht  bekam. Und noch etwas nagte in seinen Eingeweiden, als hätte er für eine Prüfung nicht genug gelernt: Die Gewissheit, dass er irgendetwas in den letzten Tagen überhört, nicht richtig gewichtet oder anders eingeordnet hatte, als es notwendig gewesen wäre.
   Erst als der erwartete Verlagsmanager nicht am Gate auftauchte, hallten die Worte von „Raffzahn“ Rafferson in ihm nach. ‚Er mache sich zum Affen für einen Kunden, der schon längst ohne ihn plane’. Seine Paranoia stieß sich mit Macht vom Boden des Bassins der Behaglichkeit ab, wo sie sich platt gemacht hatte wie eine Flunder und jagte wie ein Hecht an die Oberfläche. Was hatten die gewusst? War diese Reise ein Ablenkungsmanöver in einem Fait-à-complit gewesen? Er saß auf einem Berg von Vorlaufkosten und er war im ehemals wilden Westen – also nahm er symbolisch das Messer zwischen die Zähne und benützte mit einem gewissen höhnischen Grimm das Firstclass-Roundticket, um am nächsten Morgen wieder daheim zu sein. Dies waren die Momente, in denen Johannes immer am besten funktionierte…
  Während er in den Weiten Montanas über die bedrohlich wachsende „Caldera“ unter dem Yellowstone Nationalpark nachgedacht hatte, waren die tektonischen Platten der bundesdeutschen Medienlandschaft zunächst unmerklich und dann immer schneller in Bewegung geraten.
  War es wirklich der Geschäftsführer der zum Konzern gehörenden Druckerei gewesen, der dessen Untergang eingeleitet hatte, oder war es ein Masterplan nach dem dies alles passierte. Der Mann war spurlos mit mehreren Millionen verschwunden und ein Jahr später war ihm das ganze Geschäftsgeflecht, das sich immerhin mit seinen Umsätzen in den Top-Ten befunden hatte, in diese Spurlosigkeit gefolgt. Es sollte vier Jahre, sieben Monate und 21 Tage dauern, bis Johannes entkräftet aufgab, seine Außenstände einzuklagen. Zwar hatten alle Gerichte die Berechtigung seiner Forderung sofort erkannt, aber im Streit um die jeweilige Zuständigkeit derart lange verharrt, dass am Ende nur noch eine einzige Landesbank als mögliche Rechtsnachfolgerin auszumachen war. Die kündigte aber auch gleich an, schon aus Prinzip nicht vor einem BGH-Urteil zu zahlen…
  Natürlich hatte Johannes sofort als der Karren in den Dreck steuerte, mit den Amerikanern Kontakt aufgenommen. Aber als Pete nicht wie angekündigt kam und zwei Brüderpaare in den Folgejahren aus dem Nichts mit explosionsartig wachsenden Aktiengesellschaften den Rechtehandel begannen, der überwiegend aus überbewerteter Luft bestand, war Johannes klar, dass die amerikanischen Netzwerker sich für weniger zaudernde und jüngere Kandidaten entschieden hatten.
  Johannes nahm mit Erstaunen aber ohne Genugtuung Insiderinformationen zur Kenntnis, nachdem Banken auch den Untergang des eigentlich als unantastbar geltenden Medienmoguls Leo Kirch bereits initiiert hatten, und dass nach dem Ende des Jahrtausends offenbar unterschätzte Witwen mit cleveren Beraterstäben über zwei Drittel der deutschen Medienlandschaft herrschten. Gleichzeitig verloren viele Freunde, die mit den Aktien der „neuen Märkte“ jongliert hatten, große Teile ihres Vermögens. Johannes hatte hingegen wieder einmal große Teile seines Betätigungsfeldes verloren.
   Der Autoren-Journalismus war tot. Die Printmedien dümpelten dem baldigen Verfall entgegen, aber Fernsehen, Netzwerke und Telekommunikation boomten. Dieser Drang mit allem in die Öffentlichkeit zu treten, wenn es nur obskur, pervers oder absurd genug war, generierte so viele Opfer, denen geholfen werden musste.
   Johannes machte sich ein Jahr nach seinem fünfzigsten Geburtstag und erheblich angeschlagen  noch einmal daran, sein berufliches Leben neu auszurichten. Gerade glaubte er, es noch einmal schaffen zu können, da rasten die von Islamisten entführten Flugzeuge in die „Tempel der Habgier“…










Samstag, 17. August 2013

Edda

Johannes hatte geklopft. In den paar Sekunden, in denen er auf Antwort wartete, wurde ihm auf einmal klar, dass die Zeit der Prüfungen noch immer nicht vorbei war. Dass die Hoffnung, er hätte jetzt tatsächlich unbeschadet ins Leben der Erwachsenen eintreten können, eine Illusion war.

Das herrische „Heerrrreinnnn!“ hätte er für diese Erkenntnis gar nicht mehr benötigt.

Edda Gehring Personal-Planung stand an der Tür.

„Ah, der Herr Schreiberling!“, erkannte die robuste, ziemlich blondierte  Frau im weißen Kittel ohne Schwierigkeiten.  Er war ja - wie immer in seinem Leben – pünktlich zu dem Termin erschienen.
Sie ließ ihn vor dem Schreibtisch stehen.
„Dienstbuch und Fragebogen bitte!“
Kein Grüß Gott, keine überflüssige Floskel.
„Na gut, Sie sind Heimschläfer. Da bleibt es uns wenigstens erspart, ständig Ihre voll gewichste Bettwäsche wechseln zu müssen.“
Die Miene von Johannes verhärtete sich. In den vergangenen drei Jahren hatten sich die verschiedensten Vorgesetzten bemüht, ihre Machtansprüche an ihm ab zu arbeiten.
„Wir nennen uns hier beim Vornamen. Johannes ist ein bisschen unglücklich bei Ihrer dicken Nase.“
Sie kicherte in sich hinein: „ An der Nase des Mannes erkennt man seinen Johannes – Sie wissen schon.“
Johannes rührte sich nicht, verzog sein Gesicht  trotz schlimmster Befürchtungen um keinen Millimeter.
„Wir nennen Sie Herr Hannes – einverstanden?
„Nein, ganz und gar nicht Frau Edda!“
Sie schien den Anfang seiner Antwort nicht gehört zu haben, denn sie entgegnete sehr bestimmt:
„Ich bin natürlich Frau Gehring für Sie.“
Sie hatte sich aus ihrem Sessel hoch gewuchtet, als könne sie ihn mit ihrer stämmigen, rundlichen Figur und ihrem böse vorgerückten Doppelkinn beeindrucken. Sie war aber doch gute dreißig Zentimeter kleiner als er. Nicht, um sie einzuschüchtern, sondern um seinen Standpunkt klar zu machen, war er nah an den Schreibtisch heran getreten:
„Jemanden seien Namen zu nehmen, heißt, ihm seine Ehre zu nehmen!  Das stammt aus dem Handbuch der Unterdrücker! Wollen Sie mir meine Ehre nehmen Frau Gehring? Da lassen wir es doch besser bei Johannes Goerz. Einverstanden Frau Gehring?“
‚Kein guter Start’ durchzuckte es Johannes, als er sah, wie sie rot anlief.
„Sie bekommen Krieg!“
„Oh, das ist ja fabelhaft, dass Sie einem Zivildienst leistenden Kriegdienst-Verweigerer am ersten Tag  bei Dienstantritt gleich mit Krieg drohen!“
„ Sie werden schnell sehen, dass Sie mit Ihrem Ton hier nicht sehr weit kommen Herr Goerz. Außerdem habe ich Ihnen nicht gedroht, sondern den Namen Ihres Vorgesetzten genannt. Herr Walter Krieg ist unser Chef-Koch. Bei Ihrem Kreuz können Sie ja sicher hart anpacken. Der braucht immer jemanden fürs Grobe...“

Die Küche des Rotkreuz-Krankenhauses war größer als eine Turnhalle. Walter Krieg war anscheinend ein umgänglicher Mann. Jedenfalls rollte er – nur so, dass Johannes es sehen konnte – theatralisch mit den Augen, als die Gehring ihn dem ausgezehrt wirkenden Mann mit ein paar zynischen Bemerkungen zuführte. Wie sich zeigte, sollte er aber mit dem Chef ohnehin nicht viel zu tun haben. Ernst Eder, der zweite Mann in der Hierarchie, der für ihn zuständig sein sollte, hatte schon beim Nennen seines Namens erkennend genickt und nahm ihm bei der Führung durch den Saal, die Wirtschaftsräume und die angrenzende Bäckerei zur Seite:
„Gell, du bist der Goerz, der für den BERGSPORT schreibt. Den habe ich  abonniert. Pass auf! Die Gehring hat dich jetzt schon auf dem Kieker. Sie findet bei der Generaloberin schnell ein offenes Ohr, wenn es um die Zivis geht. Ich muss dich ein paar Wochen im Schichtdienst hart ran nehmen. Bis sie das Interesse verliert. Dann wird es dir hier richtig gut gehen. Essen musst du dir von deinem Sold jedenfalls nicht kaufen. Ich habe schon gesehen, dass die Diät-Assistentinnen  ein Auge auf dich geworfen haben. Die werden dich mit 1A-Vorzugskost verwöhnen, wenn du ihnen auch mal hilfst.“

Dass Johannes die ersten sechs Wochen ohne Schaden überstand, verdankte er zweierlei: Er sah die früh morgendliche Schufterei als Training an, und er lernte in den Katakomben des Krankenhauses Existenzen kennen, denen es viel schlechter erging als ihm. Menschen, die weil sie nicht besonders helle waren, von dem angeblich so gemeinnützigen System des Roten Kreuzes in einer Art und Weise ausgebeutet wurden, die an Versklavung heran reichte.

Am schlimmsten war das frühe Aufstehen. Um mit der Frühschicht seine Arbeit aufzunehmen, musste er um 5Uhr30 in die Puschen kommen. Als er dann bald kapiert hatte, dass er ja nicht frisch gewaschen und hellwach Kartoffel-Körbe füllen und transportieren musste, fuhr er noch bettwarm erst um 10 vor sechs los.

Sechs metallene Körbe mit einem Fassungsvermögen von mehr als einem Zentner mussten im Keller eingeschaufelt  und dann in die Putzküche hinauf transportiert werden. Dort wurden sie von ihm in einen mechanischen Kartoffelschäler gefüllt, der die Erdäpfel so weit vorbereitete, dass die Gemüse-Frauen ihnen nur noch Keimlöcher und Schalenreste abschneiden mussten.

Johannes hatte drei Jahre zuvor am Beginn seiner Lehrzeit im Lager des Verlages den ersten echten Kontakt zu Menschen aus der Arbeiter-Klasse. Er war ihnen offen  - wenn auch mit heimlicher Neugier - entgegen getreten. Er hatte nicht nur von sich, sondern auch von Ihnen mehr Dünkel erwartet. Es gab damals allerdings einen Unterschied. Er war ein Niemand gewesen, der gerade die Schule geschmissen hatte. Hier eilten ihm die ehrfürchtigen Bemerkungen seines Fans Eder voraus. Er bekam mehr Reserviertheit bei den Damen zu spüren, als damals beim gemeinsamen Stapeln von Büchern.

Nach dem Umfüllen  der geschälten Kartoffeln in Bottiche hätte er eigentlich seine erste Pause gehabt, aber er setzte sich dann stattdessen zu den fünf Frauen und half ihnen. Beim Ausstechen und Schnippeln kam er mit ihnen ins Plaudern, und obwohl er ja sehr gerne  über sich sprach, riet ihm sein Instinkt, mehr auf die Sorgen der Damen einzugehen. Dass er sie so behandelte, mal auch ein paar Pralinen vom eigenen Geld mitbrachte, baute das ab, was immer sie trennen mochte. Die meisten Damen – er bestand darauf, sie morgens so zu begrüßen – nutzten den Halbtagsjob, um ein wenig eigenes Geld zu haben, weil die malochenden Männer noch nach dem alten Muster gestrickt waren. Nur eine fiel schon dadurch aus dem Rahmen, dass sie trotz des grauen Kittels eine Grandezza und Würde ausstrahlte und schweigend lauschte, als habe sie zeitlebens gelernt,  jede Unbequemlichkeit durch Elégance zu mildern. Später stellte sich in einem Vieraugen-Gespräch mit Johannes heraus, dass bei aller Härte im Leben der anderen, sie etwas hatte durchmachen  müssen, was wohl  nur durch Kriegsschicksale übertroffen wurde.

Frau Mühlenburg war die Witwe eines der großen Finanzjongleure des Wirtschaftswunders. Er war aufgestiegen mit einem Kredit-Beschaffungssystem, das nur funktionieren konnte, solange keine Weltkrise das Wachstum unterbrach. Die Jahre 1961 mit dem Mauerbau bis 1963 durch Kubakrise und die Reaktionen auf die Ermordung Kennedys hatten dieser Luftnummer eine harte Landung beschert. Herr Mühlenburg hatte sich darauf hin vom Leben verabschiedet und seine Frau mit dem Trümmerhaufen und den drei Kindern - noch im Schulalter - zurück gelassen. Von ihr hörte Johannes erstmals den konfuzianischen Satz, den er später so hassen lernen sollte: Schöne Tage! Nicht weinen, dass sie vorüber, sondern dankbar, dass sie gewesen...

Ja, aber was, wenn es nie schöne Tage geben sollte? Einer der Katakomben-Zombies – er hieß Franticek – hatte ihn adoptiert wie ein Hund sein Herrchen, als er Johannes im Morgengrauen zum ersten Mal mit seinem mehr als 200PS starken, komplett renovierten italienischen Oldtimer auf den Personal-Parkplatz fahren sah. Seither tauchte er plötzlich im Kartoffel-Keller auf und ging ihm mehr oder weniger geschickt zur Hand.
„Wenn ich mal groß bin, dann habe ich auch so eine Auto und fahr in die Heimat!“, sagte er gerne. Die Heimat, das war die Tschechoslowakei gewesen, die seine Eltern mit ihm während des Prager Frühlings verlassen hatten, um ihren Sohn hier heilen zu lassen. Die Tatsache, dass Franticek vermutlich um rund zehn Jahre älter war als Johannes, ließ den Verdacht aufkommen, dass der wohl nie diesem Stadium entwachsen würde. Aber hinter den dicken Brillengläsern des tatsächlich an die zwei Meter heran reichenden „Buben“ leuchtete etwas auf, das Johannes an die Vergangenheit erinnerte: An das liebenswürdige und ohne Falsch lächelnde Gesicht von Schuster Sanders...

Wenn Johannes prophezeit worden wäre, er brächte mal jemanden anderem als sich selbst Anstrengungen des Wohlergehens entgegen, hätte er das wohl nicht geglaubt. Jetzt dachte er, er könne, indem er Franticek Aufmerksamkeit widme, dem verstorbenen Freund aus seiner Kindheit derart etwas zurückgeben.

Einmal pro Woche in der Freistunde der beiden, düste er also mit Franticek in dem offenen Cabrio durch München und auch mal zum Starnberger See. Aber als er mit dem Tschechen die Prinzregenten Straße zum Friedensengel hinauf fuhr, wurde das zu ihrer Standard-Route.
Die Begeisterung des Riesenbabys beim Anblick des goldenen Engels trieb Johannes jedes Mal die Tränen in die Augen.

Womit Johannes nicht rechnete, war, dass die Begeisterung auch in Schilderungen gegenüber anderen Mitmenschen nicht nachließ. Menschen, die Johannes nicht so gewogen waren. Die Anonymität des großen Personal-Parkplatzes war ja durch den mit Fahrzeug-Kennzeichen ausgestatteten Parkschein nur so lange gewährt, wie ein Fahrzeug nicht seinem Halter zugeordnet werden konnte. Unter Vorspiegelung therapeutischer und auch  von Aspekten der betrieblichen Versicherung untersagte Edda Gehring ihm die Ausfahrten und schob eine heimliche Drohung nach:
„Sie haben wohl zuviel Pause – Herr Hannes! Übrigens hat die Generaloberin schon mal nachfragen lassen, welcher der Dottores wohl ein derart lautes Auto führe...“

Und dann kam es wieder mal zu einer dieser glücklichen Fügungen, die den Agnostiker an die Existenz eines höheren Wesens glauben ließ:
Johannes  hatte sich nach Kartoffelschaufeln und -Schälen gerade gemütlich zum Schnippel-Plausch mit seinen Damen gesellt, als Meister Eder herein stürzte:
„Du, Johannes! Wir haben einen Notfall. Unser Kartoffel-Mann hat sich gerade nach einem Streit mit Krieg auf Nimmer Wiedersehen verabschiedet, und bei den Köchinnen sind wir auch unterbesetzt. Das wäre eine gute Gelegenheit mal zu sehen, was aus deinen Kartoffeln im Fortlauf wird. Hier! Zieh dich um!“
Johannes schlüpfte – ohne richtig zu verstehen – aus seinen Jeans  mit dem grauen Kittel in eine karierte Hose und einen weißen Blouson. Eder stülpte ihm eine mohammedanisch anmutende, weiße Mütze auf sein langes Blondhaar und zerrte ihn in die Mitte der riesigen Halle.
„Heute stehe ich dir noch zur Seite, aber morgen schaffst du das bei deiner Intelligenz doch hoffentlich allein – Oder?“
Es war neun Uhr. Um 11 begann die Verteilung des Essens für die verschiedensten Stationen des Krankenhauses auf dem Fließband mit den Wärmetellern. Eder gab Johannes eine durch eine Plastikhülle geschützte Liste in die Hand. Und erklärte ihm die Funktion von Fünf Riesen-Bottichen und vier Rührwerken über die er nun herrschen sollte. In Bottich 1 von der Größe einer alten Badewanne, war bereits eine Knochenbrühe am Köcheln, in der schätzungsweise das Skelett zweier Rinder hinein passte. In Bottich 2 und 3 kochten Kartoffeln, die als Dampf- oder Salzkartoffeln (je nach Diät) an die Patienten gingen. In Bottich 4 und 5 waren die Kartoffeln, die zu Stampf oder Brei weiter verarbeitet werden sollten.
Es stellte sich heraus, dass die fünf Bottiche nicht den Stress verursachten. Denn da musste man entweder nur rechtzeitig für die jeweilige Suppe abklären (Gemüse, Flädle oder Klöße – das machten die Köchinnen) oder die garen Kartoffeln in die Thermo-Behälter umfüllen. Das Problem waren die 250 Portionen verschiedener Stampf und Kartoffelbrei, die pünktlich zum Start des Bandes nun von Johannes erwartet wurden. In den Rührwerken wurden je nach Kost-Plan, Stampf und Brei ohne Salz, Stampf und Brei mit Salz aber ohne Fett, Brei mit Milch und allem, oder für die Patienten Erster Klasse auch mit Butter, Muskat oder gar Sahne bereitet. Das stand alles in Punkto Mengen und Portionen auf der Liste. Was nicht auf der Liste stand, dass Johannes um 11Uhr30 am Ende des Bandes stehen musste, um die Servierwagen mit den Tabletts für die Stationen zu füllen...
Johannes funktionierte. Auch in der Erinnerung fand er später nicht heraus wie. Eder half ihm am Ende, aber er musste gar nicht mehr viel tun. Und dann kam Krieg und probierte. Er sagte nichts, sondern klopfte Johannes nur auf die Schulter.
Das nahm Johannes zum Anlass nach der Essensausgabe in Kriegs Glaskasten vorzusprechen.
„Herr Krieg wie lange soll ich das denn machen?“
„Ja, bis wir jemanden gefunden haben, täglich. Hat doch toll geklappt!“
„Herr Krieg. Ich fange um sechs Uhr mit den Kartoffeln an und wäre dann einschließlich der Arbeit an der Geschirrspül-Straße bis zwei Uhr ununterbrochen an der Arbeit. Dann kommt die Abendschicht am Geschirrspüler dazu. Das wären11 Stunden. Eine klare Überschreitung der Arbeitszeit-Regelung für Zivis!“
Krieg grübelte einen Moment. Er mochte von einer nicht definierten Krankheit ausgezehrt sein, aber sein Gehirn war davon  nicht betroffen:
„Herr Goerz! Sie stehen jetzt als ersten Zivi überhaupt nicht hier in meinem Büro, wenn Sie mir nicht einen sicher dreisten Vorschlag machen wollten.“
„Der Franticek ist jetzt so lange mit mir gelaufen, dass er das mit den Kartoffeln bis zum Schäler ohne weiteres machen kann. Ich fange um neun Uhr an, verarbeite die Kartoffeln, gehe ans Band, werde aber vom Mittagsspülen befreit. Am Abend stehe ich dann wieder am Band bis 18Uhr30. Das sind zwar nur sieben Stunden täglich, aber dafür stehe ich an zwei Wochenenden jeweils nach Absprache zur Verfügung.“
Krieg reichte ihm nur konspirativ grinsend zur Besiegelung des Deals die Hand.

So begann ein gewisser Aufstieg von Franticek aber auch für Johannes in der Krankenhaus-Hierarchie. Was vor allem dadurch deutlich wurde, dass die anderen ihnen sofort Spitznamen verpassten: Franticek war der „Kartoffel-Kobold“, und von Johannes sprachen sie nur als dem „Küchenbullen“…

Sonntag, 4. August 2013

Chang

  Was ist das nur  - zwischen Vätern und Söhnen? Warum misslingt so oft, was als Beziehung die besten Voraussetzungen hätte? Johannes wollte Projektionen seiner selbst auf seinen Sohn Cornelius absolut vermeiden. Sein Filius sollte nicht Opfer falscher oder anderer Maßstäbe sein, wie Johannes es bei seinem Vater hatte erleiden müssen. Der freudsche Rivalitätsgedanken in der Vater-Sohn-Beziehung war für beide auszuschließen. Sowohl Johannes als auch sein Vater waren keine Alpha-Wesen was sexuellen Besitz anging. Dafür fehlte beiden das Eifersuchtsgen. Sie waren beide keine Eroberer, aber doch Womenizer. Der Vater durch sein fantastisches Aussehen und er selbst durch die Fähigkeit, Frauen in einen virtuellen Orgasmus schwätzen zu können. Nicht, dass beide großen Gebrauch davon gemacht hätten. Beide hatten die große Liebe im Teenager-Alter gefunden, nach einer Zeit des Prüfens geheiratet und ihr Leben mit ihr verbracht. Die Akte körperlicher Untreue, von denen es bei Vater und Sohn nicht wenige gab, konnten diese Fundamente niemals erschüttern. Sie passierten, aber nicht, weil sie gesucht wurden, sondern sich einfach ergaben.
  Nun begab es sich aber, dass durch irgendeinen nicht nachzuvollziehenden mendelschen Sprung Cornelius das bis in urkomische Details hinein genaue Ebenbild seines Großvaters werden sollte. Diese reziproken Voraussetzungen warfen Johannes als Vater aus der Bahn, denn wann bekommt man schon die Gelegenheit, "seinen Vater umzuerziehen"?
  Es begann mit kleinen Dingen. Der Vater von Johannes war ein militanter Nichtschwimmer, der es mit der alten Seemannsregel hielt: "Entweder man findet was zum Festklammern oder einen schnellen gnädigen Tod durchs Ertrinken." Seine Vita war voll des legendär komischen Beinahe-Ertrinkens. Im Pool des Pariser Lido während der 1930er sei er im Tiefen einmal von den Animier-Damen von der Luftmatratze geworfen worden. Statt zu strampeln und sich um Hilfe rufend zu seinem Nichtschwimmerstatus zu bekennen, sei er wie ein Stein zu Boden gesunken und hätte sich auf dem Grund gehender Weise zum Beckenrand begeben. Immer wenn ihm die Luft ausgegangen sei, hätte er sich vom Grund abgestemmt, sei wie ein Champagner-Korken an die Oberfläche geschossen und nach kurzem Luftholen und Orientieren wieder versunken und auf dem Grund in Richtung Badeleiter weitermarschiert. Auch die Schnorchel-Ausflüge mit dem LKW-Reifenschlauch an der Cote d'Azur waren seine geliebte Beweisführung gegen das schwimmen Können. Eine der Anti-Thesen war, sein Kopf sei zu schwer, um ihm das Schwimmen zu ermöglichen. Als er feststellte, dass der Kopf durch Aufsetzen von Taucherbrille und Schnorchel leicht an der Oberfläche blieb, stopfte er den durchs Wirtschaftswunder etwas birnenförmig gewordenen Rumpf durch einen alten Reifenschlauch und folgte Cousteau durch Schwimmflossen getrieben hinaus in das Schweigen des Meeres: ohne Angst vor der Tiefe,  Strömungen voll ignorierend und die Schärfe von Muschelklippen unterschätzend.
  Da kam, was kommen musste: Vorwitzig war er am Cap Roux mit einer Welle an eine Klippe geraten, an der  eine Muschel seinem Reifenschlauch einen kleinen Schnitt verpasste.  Kaum merklich erst, aber dann doch so deutlich, dass sich der Nichtschwimmer in ihm mit leiser Panik genötigt sah, das Verhältnis aus Vortrieb durch die Flossen in Kombination mit dem Auftrieb durch die Taucherbrille in Schwimmen umzusetzen. Während der Rest der Familie von da an hoffte, er hätte es kapiert, wurde er nicht müde von seinem physikalischen Verstand zu schwärmen, der ihm das Leben gerettet hätte...
  Cornelius sollte dergleichen erspart bleiben, weil Johannes ihm das Schwimmen beibrachte, so bald er sicher laufen konnte. Überhaupt sollte Cornelius all das bei Zeiten beherrschen, was sein Großvater nie richtig konnte. Er war vier als er die schwersten Skiabfahrten meisterte, er war sechs bei seinem ersten Tenniskurs und er war sieben, als Johannes ihn schon verloren hatte.
  Cornelius verweigerte von da an alles, was sein Vater als Versuch von Zweisamkeit einbrachte und ging bei jedem neuen Anlauf - selbst bei Kleidungsvorschlägen - in Opposition. Aber mit einer Energie, die sich sein Vater für die soziale Kompetenz gerade in der Schule gewünscht hätte, begann Cornelius Felder zu belegen, die Johannes aus Neigung zwar gerne bestellt hätte, aber mangels Talent oder Ausdauer brach liegen lassen musste. In der Zeit vom Teen zum Twen brachte sich Cornelius mehrere Musikinstrumente bei, ohne jemals eine Stunde Unterricht gehabt zu haben. Er wurde zu einem Experten für jede Art von Computern und konnte sie in einer Leichtigkeit auseinander nehmen und mit höheren Leistungen wieder zusammenbauen, als wolle  er damit das totale handwerkliche und technische Ungeschick seines Vaters manifestieren.
  Johannes tat alles, um in den wenigen gemeinsamen Jahren, die ihnen noch als Vater und Sohn bleiben würden, Cornelius zurück zu gewinnen. Er war sein größter Fan, Antreiber und Beschützer. Anders als sein Vater ihm gegenüber, offenbarte er seinem Sohn seine Tiefe Liebe und stand in Notsituationen zu ihm. Ob in der Schule, wo er sich - wider besseres Wissen -  sogar mit dem Direktorat anlegte, aber auch als sein Sohn im Flegelalter wegen Vandalismus mit dem Gesetz in Konflikt geriet.
  Johannes hatte ein Temperament, in dem ihm Abwarten schwer fiel, in dem Probleme auch unter Opfern schnell gelöst werden mussten und kein Platz für Umwege war. Möglicher Weise hatte das Cornelius auch, aber er verfügte wie sein Großvater zum Kaschieren über die Gabe des Minimierens und des aussitzen Könnens. Das ergab in Kombination eine Art unbeugsame Sturheit, an der Johannes ein ums andere Mal scheiterte, weil sein Sohn für sein Verhalten quasi auch noch belohnt wurde.
  Die Strafarbeit, die ihm von einem milde gestimmten Jugendrichter auferlegt wurde, musste er nicht ableisten, weil der, der sie an den Wochenenden zu überwachen hatte, keine Lust verspürte, sie zu beaufsichtigen. Das Abitur schaffte er nach mehreren Schulwechseln und Abwesenheiten, die ihn an den Rand des Schulverweises brachten, ausgerechnet an dem anfangs als zu schwer für ihn eingeschätzten Gymnasium. Und während seine Altersgenossen fast alle den Wehrdienst verweigerten und den zivilen Ersatzdienst ableisteten, wurde Cornelius zwar als halbwegs tauglich gemustert, aber dann schlicht vom Staat vergessen.
  So wie zwischen seinem Vater und ihm, so gab es aber auch zwischen Johannes und Cornelius durchaus gute Momente. Und zwar kurioser Weise immer dann wenn sie ohne Einfluss von Dritten auf sich gestellt waren; in einer astreinen Männerwirtschaft gewissermaßen.
  Allerdings hatte die Kindheit von Cornelius ein Manko - ihm fehlte der "Chang".  Chang war in der Kindheit von Johannes der große Widerpart zu seinem Vater. Der Vater von Rita, der eigentlich Jean hieß, machte aus seiner Antipathie für Johannes' Vater keinen Hehl. Und wann immer Rita während der Geschäftsreisen für ihren Vater den Nachzügler in Köln "parkte", versuchte der Großvater den Kleinen mit seinem Savoir Vivre zu Impfen. Der riesige knorrige Gentleman war das krasse Gegenteil zum Vater von Johannes. Er war stock-konservativ und versuchte in allem seinem Idol Konrad Adenauer nachzueifern. Er, der ursprünglich Gewerbe-Oberlehrer war, liebte das Geld, das er durch geschicktes Anlegen zügig vermehrte, aber auch reichlich für teure Kleidung und gutes Essen unter die Leute brachte. Jean war konsequenter Kölner, was sich nicht nur durch seine Mitgliedschaft bei den "Männern" manifestierten, sondern auch im Kauf der gehobeneren Ford-Taunus-Modelle. Die "Männer" - das war der Insider-Name für den KMGV, des "Kölner Männer Gesangvereins". Die "Männer" schmetterten nicht nur deutsches Liedgut, sondern waren auch eine Art politischer und geschäftlicher  Elite der Stadt, die den sprichwörtlichen "Kölschen Klüngel" praktizierte. Johannes war für Chang (kölsche Aussprache von Jean) der Sohn, den er gerne gehabt hätte. Chang war viel strenger als der Vater, aber das konnte Johannes akzeptieren, weil der Großvater ihn mit großer Wichtigkeit wie einen Erbprinzen auf die Gesellschaft vorbereitete. Er nahm ihn wie einen Erwachsenen im Kinderkörper. Diskutierte mit Geduld, lehrte fundiert und verlangte dafür nur eines: tadelloses Auftreten. Wenn Johannes zur Überraschung der meisten später innerhalb von Minuten den Wandel vom verschmutzten Abenteurer im Safari-Outfit zum Gesellschaftslöwen im Dinner-Jacket oder Smoking vollzog, so verdankte er diese Fähigkeit, dem frühen und starken Einfluss seines Großvaters. Wann immer er für länger in Köln blieb, wurde es zum Ritual, dass Großvater und Sohn einkaufen gingen - obwohl Shoppig es schon damals besser getroffen hätte. Großvater Trug zu so einem Ereignis seinen Homburg auf dem Kopf und einen dreiteiligen grauen Nadelstreifen-Anzug in einer Kammgarn-Qualität, die es sichtbar nicht "von der Stange" gab. Johannes hatte einen Ausgehanzug, der vor Ort in Köln blieb, weil sein Vater im Quadrat gehüpft wäre, hätte er seinen Sohn so gesehen. Der Anzug aus Tweed war die reine Tortur, weil er zur Versteifung Rosshaar eingewebt hatte, das an den Beinen schrecklich kratzte. Aber Johannes ertrug das, weil er es als eine Art Reifeprüfung verstand. Der Anzug bestand aus einer Kappe im damals populären Jockey-Stil, einem lang geschnittenen Jackett mit Rückengürtel und je nach Jahreszeit langen oder dreiviertellangen Bundfalten-Hosen (die Knickerbokers konnte er durch ein einfaches Veto verhindern). Dazu trug er weiße Leinen-Hemden mit College-Krawatte sowie Halbstiefel und Kniestrümpfe aus England (Salamander kam natürlich nicht in frage). Anders als sein Vater konnte Johannes schon mit neun verschiedene Krawatten-Knoten und löste sie beim Abbinden, um die kostbaren Binder zu schonen.
  Im Gegensatz zu den Ausflügen mit seinem Vater konnte sich Johannes bei den Touren mit Chang an keine langweilige Begebenheit erinnern. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass der Großvater altersbedingt schon langsamer und geduldiger war oder aber an dem unsichtbaren Korsett aus Disziplin und Gehorsam, das ihn - den Hyperaktiven - wie ein Drehzahlbegrenzer bremste. Selbst Besuche im Wallraf-Richartz-Museum kamen ihm in der Erinnerung auch später immer noch wie Stunden auf einem Abenteuer-Spielplatz vor. Die Höhepunkte waren jedoch die Essen der beiden im Restaurant -  vor allem wenn die sauertöpfische Großmutter "Mariechen" nicht dabei war.
  Die Großmutter hatte nichts Liebenswürdiges außer ihrer einmaligen Kochkunst. Ansonsten war sie ein Stimmungskiller mit Sprüchen wie:
  "Neapel war doch da, wo das Beefsteak so zäh war?"
   Oder:
  "Chang, der Wagen kippt!" Wenn jener mit mehr als 50 Kilometern pro Stunde über Land fuhr. War er mit Johannes allein auf Tour outete er sich hingegen als verwegener Herrenfahrer, der gerne die Reifen auf Temperatur brachte - allerdings mit Homburg auf dem Kopf. Was wiederum den Vater von Johannes in seiner latenten Abneigung für seinen Schwiegervater bestätigte...
  Chang ging niemals in Gaststätten. Er bevorzugte Restaurants der gehobenen Bürgerlichkeit wie "Die Bastei". oder die Hotelküchen seines Kumpels Hans Herbert  Blatzheim, dem Stiefvater des Filmsternchens Romy Schneider.  Den Begriff Gourmet-Restaurant gab es wohl damals noch nicht. Gleichwohl war das Ballett der Ober beeindruckend - und auch der Respekt dem sie ihm - dem Knaben - entgegen brachten. So lange er noch nicht selbst lesen konnte, erörterte der Großvater mit ihm, was er zu bestellen gedachte. Kaum konnte Johannes ein wenig lesen und rechnen, verlangte Chang, dass er sich selbst in der Menü-Karte orientierte. Und - er erwartete auch, dass er sich den Preis für das, was er bestellen würde, selbst errechnete. Er setzte ein Preislimit, das er mit Anstandsregeln begründete:
  "Wenn du dein Essen einmal selbst verdienst und du zahlst, hast du die freie Wahl. Wenn dich hingegen jemand einlädt, orientierst du dich unter der Mitte. Nicht zu bescheiden, aber respektvoll bewusst, dass ein anderer deine Mahlzeit zahlt..."
  Dass auch die respektable Fassade seines geliebten Opas ihre Risse hatte, sollte Johannes nur einmal bemerken. Chang sprach kaum Kölsch. Wenn, nur im Zustand äußerster Erregung. Dieser Fall trat ein, als Johannes, der der festen Überzeugung war, bei seinem Großvater handele es sich um ein Einzelkind von Changs Bruder erfuhr.
Sie saßen in geliebter Zweisamkeit im "Zeppelin" als der Opa wachsbleich erstarrte und mit dem Gebiss zischelte:
  "Da kütt dä Kääl!"
   Ein freundlicher älterer Herr, dem Chang nach Kleidung und Habitus nicht unähnlich,  betrat in Begleitung das Restaurant und machte auf dem Absatz kehrt, so bald er seinen Bruder erkannt hatte. Was die beiden so entzweit hatte, wollten ihm weder Oma Mariechen noch Mutter Rita jemals verraten. Leider sollte Johannes sich diese kölsche Unart, einen Menschen einfach totzuschweigen, später selbst aneignen.
  Auf dem Weg zum Erwachsenen war der Tod des Großvaters der einzige reale Verlust. Da er zudem in eine Zeit fiel, da ihn das Ungeheuer vom Amazonas fast jede Nacht heimsuchte, schmerzte er nicht nur, sondern verursachte seelische Reaktionen. Das ging so weit, dass er so bald der Sport ihn auf die Körpergröße seines Großvaters hatte wachsen lassen, sämtliche Anzüge des Chang auftrug. Auf Klassenfotos jener Zeit ist er als Beatle in Börsenkluft leicht auszumachen gewesen. Erst Esther brachte ihn von diesem Trip herunter, indem sie ihm Jeans verpasste und mit massivem Liebesentzug drohte, falls er weiter  s o  herumlaufen würde.
  Wenn jemand Johannes gefragt hätte, welche Momente hingegen mit seinem Vater die einprägsamsten gewesen seien, dann wären ihm nur die Frühjahrsmonate in München eingefallen. Kurz nach dem Umzug von Hamburg als sie gewissermaßen die Vorhut vor den drei Frauen bildeten, die noch Schuljahr und Abitur der Ältesten in der Hansestadt abgewartet hatten.
  Johannes Vater war für praktische Dinge nicht geschaffen und er konnte mit Geld nicht umgehen, weil er ihm keinen besonderen persönlichen Wert beimaß. Johannes konnte mit knapp zehn schon recht manierlich kochen und haushalten. So waren die Aufgaben verhältnismäßig gut verteilt. In dieser Zeit machten sie Ausflüge mit Wanderungen zu den Sehenswürdigkeiten im Münchner Umland. Wandern war nicht so Johannes Sache, aber er liebte die substanziellen Gespräche, die sich auf ihn und ausnahmsweise mal nicht auf die Mädchen konzentrierten. Als diese dann ein paar Wochen später ins Haus in München einzogen, blieben von der Männerwirtschaft - auf Betreiben der Mutter allerdings - nur noch für ein paar Winter die Samstagnachmittag-Ausflüge zum Skifahren.
  Das stärkste Vater-Sohn-Erlebnis stellte sich zwischen beiden erst ein, als es fast zu spät war. Johannes Vater wusste wohl  79jährig, dass sein Tod nahte. Immer häufiger war er 1987 zur Beobachtung seiner Herzrhythmusstörungen ins Krankenhaus geschickt worden. Als Johannes ihn dort letztmals besuchte, fand er einen sehr ausgeglichenen Mann vor, dessen Körper auf seltsame Art geglättet und jugendlich drahtig  erschien und dessen Reden vom bevorstehenden Tod Johannes so erzürnten, dass er seinen Vater anschnauzte, er solle sich gefälligst zusammenreißen. Glasnost und Perestroika machten doch Fortschritte. Er würde noch so viele interessante Reisen machen können, dass es sich lohnte zu kämpfen. Schließlich habe er ja keinen Krebs oder so.
  Irgendwie waren sie dann im dunklen Krankenhauszimmer auf einmal an der Schwarzmeer-Front, bei der letzten Schlacht im Kessel von Berlin, bei der Flucht mit den beiden kleinen Mädchen aus dem eingekesselten Berlin nach Hamburg und dann bei ihm, dem Nachzügler - mit schwerstem Gelenkrheumatismus und Gallensteinen gezeugt. Johannes hatte sich nicht getraut, den Redefluss zu unterbrechen. Aber er hätte sie damals gerne gestellt, die Frage, die ihm angesichts der offenkundigen Sensibilität seines Vaters stets beschäftigt hatte, seit Johannes sich als Gegner von Krieg und Gewalt engagierte: "Wie bist du mit dem Töten und den Toten klar gekommen?"
  Sein friedfertiger Vater hatte das Pech, sich während der Ausbildung an der Waffe, als Meisterschütze geoutet zu haben. Dummer sportlicher Ehrgeiz, der dann aber in den Akten stand. Vermutlich hatte er nie wirklich damit gerechnet, wegen seiner an der Heimatfront unverzichtbaren wissenschaftlichen Fähigkeiten, an die Front abkommandiert zu werden.
  Johannes verpasste diese letzte Gelegenheit, etwas über eine mögliche verdrängte Traumatisierung seines Vaters zu erfahren und ließ es hingegen egoistischer Weise zu, eine Art gegenseitiger  Absolution für ihr Vater-Sohn-Verhältnis zu erteilen. Er war am frühen Nachmittag gekommen und wurde von der Nachtschwester sanft hinauskomplimentiert. Er verließ das Krankenhaus mit einem Gefühl tiefster Zuneigung für seinen Vater, und das war gut so. Zwar war er Weihnachten wieder zu Hause, aber es ging ihm nicht gut. Johannes - der Fotograf, der Familien-Fotos hasste - schoss während der Feiertage ein Foto, auf dem seine Mutter auf der Lehne des Lieblingssessels seines Vaters saß. Die Abzüge wurden erst abgeholt, als sein Vater bereits unter der Erde lag:
  Die Aufnahme zeigte eine immer noch stattliche Frau, die ihren Arm um ein resigniert in die Kamera schauendes Hutzelmännchen legt. Wie hatte sich Johannes'  Wahrnehmung im Krankenhaus nur ein letztes Mal von der glatten Eloquenz seines Vaters überstrahlen lassen…?
  Das war der Moment, in dem es Johannes erstmals gelang, den Tod seines Vaters zu beweinen.










Freitag, 2. August 2013

Georgette

   Der Vater von Johannes konnte bis ein Jahr vor seinem Tod noch seine tägliche Wanderung machen. Nicht mehr die steile Rampe zu einer Hochalm hinauf, wo er einen weiten Blick auf das Karwendel hatte und dabei ein Bier trinken konnte, aber in der welligen Tallandschaft und entlang der Isar war er doch noch mitunter bis zu einer Stunde und länger unterwegs. Der rund zehn Jahre jüngeren, schwergewichtigen Rita, die jedoch seine zunehmenden Irritationen bei alltäglichen Verrichtungen registrierte, war das gar nicht recht. Wenn nicht jemand mitging, konnte sie den Kindern und Enkeln, die zu Besuch kamen, mit ihrer stets im gleichen Jammerton geäußerten Besorgnis, den Aufenthalt auf dem Land zur Tortur machen.
 
  Seine Schwester Vera nahm das dann regelmäßig zum Anlass über ihre Mutter herzufallen. Sie wolle, weil sie selbst zu träge sei, dem Vater seinen letzten Zipfel Freiheit rauben. Für die neun Jahre ältere Ulla, die ihrem Vater stets als Erstgeborene am nächsten stand und eine leidenschaftliche Geherin war, bot sich durch die Wanderungen eine Auszeit von ihrer Familie. Aber auch sie, die ein forscheres Tempo bevorzugte, kam mitunter frustriert zurück und verkündete mit sotto voce außerhalb seines Hörbereichs, der Vater tapere doch jetzt schon "ganz schön schlimm" einher. Für Johannes, dem spazieren Gehen wegen der geringen "action" von jeher ein Graus war, stellte das "Begleit-Kommando" schlichtweg die Höchststrafe dar, zumal ja noch der wesentlich schnellere und schlecht erzogene, zum Wildern neigende Dackel mit beaufsichtigt werden musste.
  Er mochte vielleicht nicht mehr rüstig ausschreiten, aber der Vater hatte beim Gehen immer noch genügend Atem und einen durch die Sauerstoffzufuhr sich offenbar wieder genügend schärfenden Verstand, um Johannes grundsätzliche Themen im Stil vergangener Tage ihrer "Männerwirtschaft" aufzunötigen. Einmal inmitten der Weiden mit wiederkäuenden Kühen und lästigen Bremsen hatte er dann plötzlich das gewiss nicht enge Themenfeld Sex, Liebe, Ehe und Treue beim Wickel. Beide - unausgesprochen zwar - wussten voneinander, dass sie hier keine moralischen Instanzen waren. Deshalb konnte Johannes es nicht fassen, als der Vater mit vorwurfsvollem Ton sagte:
  "Ich habe dir ja vieles durchgehen lassen, aber das mit der Nutte und der roten Mütze, das habe ich dir bis heute nicht verziehen."
  "Pappi! Das ist doch wohl nicht dein Ernst. Das ist  bald 25 Jahre her. Da war ich ein Teenager!"
  "Die Mütze war ein Geschenk von mir, und du gibst sie diesem Pipi-Mädchen!"
  Im Zustand eines erregten Gemütes hatte sein kultivierter Vater oft überraschende Vokabeln auf Lager, aber die mennonitische Moral, die aus diesem Vorwurf sprach, war so doppelbödig, dass es Johannes schier den Atem  verschlug.
  Statt mit einem Wort auf diesen Anfall von offensichtlichem Altersstarrsinn einzugehen, ließ Johannes den alten Mann einfach stehen - das Elternhaus war ja schon in Sichtweite - und jagte den dämlichen Dackel übers Feld. Was war denn das jetzt für eine Gemütsblähung gewesen?

  Im Sommer 1965 - es war die letzte Reise mit und unter Obhut beider Eltern, aber ohne die Schwestern - hatten sie eine Frankreich-Rundreise gemacht. Noch in der Erinnerung vermochte Johannes die physische und psychische Enge dieser Reise zu spüren. Obwohl sie sich vorher einen Reiseplan zurechtgelegt hatten, der jeder Interessenslage  gerecht werden sollte. Die Eltern waren mit dem spätpubertierenden, rauchenden Riesen auf der Rückbank des Ford 17M (genannt die Badewanne) einfach überfordert. Johannes stand voll im Saft und wollte es jetzt endlich wissen. Dr. Mausele hatte ihn gewarnt, sich trotz oder gerade wegen der Pille nicht auf ungeschützten Sex einzulassen und ihm ein Päckchen Präservative mitgegeben. Die steckten gewissermaßen wie ein Vollstreckungsbefehl in seiner Brieftasche. Aber wie bitteschön hätte er paarungsbereite Mädchen treffen sollen, wenn sie in der "Kulturwoche" von einer Kathedrale zur anderen steuerten und mindestens die Hälfte der Loire-Schlösser abhakten...?
  Wegen jeder Kleinigkeit gab es Streit. Denn in der zweiten, der "Strandwoche", die sie aus alter Tradition an der Côte d'Azur verbrachten, fühlte sich  nun sein Vater fehl am Platz.
  Das Verhängnis begann in Saint Tropez, das gerade seinen Aufstieg vom romantischen Fischerdörfchen der Fünfziger zum Jetset-Spot der Sechziger vollzogen hatte. Für seinen Vater, der hier vor, während und nach dem Krieg "avec les tantes", die unverfälschte Atmosphäre und möglicher Weise auch l'Amour genossen hatte, war es, als hätte er einen lieben Freund zu Grabe getragen. Am Hafen hatte der eigentlich zu unrecht als Playboy bezeichnete Gunther Sachs seine  erste von späteren 300 Micmac-Boutiquen eröffnet... Und ja, es gab eine Zeit, da fühlte sich die heranwachsende männliche Jugend Europas dazu genötigt, eine Mischung aus Schaffner- und Schulmütze auf dem Kopf zu tragen, um dazu zu gehören. Wohl gemerkt, es handelte sich nicht um die traditionelle "Prinz-Heinrich-Mütze", die Kanzler Helmut Schmidt später auch offiziell zu tragen pflegte, sondern um eine Designer-Kopfbedeckung. Klar, dass eine von Micmac Johannes' Status nur heben konnte. Sie hätte natürlich blau sein sollen. Aber es war Hochsaison, und eine, die Johannes richtig passte, gab es nur noch in rot. Auf dem halblangen blonden Beatles-Haarschnitt, den Johannes trug, sah das gar nicht mal schlecht aus, aber es entsprach einfach nicht dem Kodex. Also verließen sie die Boutique unverrichteter Dinge. Johannes war hingegen längst nicht so traurig und enttäuscht, wie sein Vater das annahm.
  Dann passierte eine Verquickung unglücklicher Umstände. Weil er Geldscheine als krümelige Papierknäuel in den Tiefen seiner Hosentaschen nur allzu oft verschlampte, hatte Rita ihren Mann schon gleich zu Beginn des Wirtschaftswunders quasi zwangsenteignet. Der Mann der Bundesvermögen in Milliardenhöhe zu verwalten hatte und das offenbar tadellos tat, bekam Geld nur auf Anfrage und in überschaubaren Größenordnungen zugeteilt. An diesem Vormittag hatte er offenbar vom Einkaufen, das ihm wegen seines akzentfreien, fließenden Französisch automatisch zufiel, einen 100Franc-Schein übrig behalten. Es ist anzunehmen, dass er ihn, als er unbemerkt in die Boutique zurückgekehrt war, eindrucksvoll unter einer immer noch leicht glimmenden Pfeife, aufgelesenen Knöpfen,  Gummibändern und Quittungen aus der Hose hervorkramte, um dafür - erstmals und einmalig in ihrer Beziehung - seinem Sohn mit dieser roten Mütze ein persönliches Geschenk zu machen. Doch dieser wusste diese Geste einfach nicht zu schätzen.
  Mit geheucheltem Enthusiasmus trug Johannes, die ein wenig schwul aussehende Mütze. Er hatte zufällig ein Leinen-Hemd in der gleichen Farbe.  Das passte gut, verstärkte den "halbseidenen" Eindruck aber noch.
  Dann standen mit Nimes, Arles, Avignon und Carcassonne wieder Kulturgüter auf dem Fahrplan, bei denen nicht auffiel, dass er die Mütze jedes Mal für die Besichtigungen im Auto ließ. Sie kam erst dann wieder zu Ehren, als sie das Hauszelt an einem FKK-Strand bei Mimizan an der Côte d'Argent zur zweiten "Strandwoche" aufschlugen.
  Doch am Atlantik fühlte sich Johannes ganz anders als damals als kleiner Junge an der Ostsee. Er, der als Knabe tagelang ohne Kleider herumlaufen konnte, hatte auf einmal Probleme mit seiner Nacktheit. Er genierte sich, obwohl er sich mehr als sehen lassen konnte. Die Unbefangenheit gegenüber dem weiblichen Geschlecht, das sich ja ebenfalls im paradiesischen Zustand präsentierte, war verschwunden. Das waren eben keine kleinen Mädchen wie Christiane damals, sondern selbstbewusste, reife Frauen, wie die mit denen er Ringtennis gespielt hatte. Nur, jetzt wusste er eben bescheid, was die spöttischen Bemerkungen damals zu bedeuten hatten. Er zog es also zunächst vor, seine Scham in der Nähe des Zeltes bedeckt zu halten.
  Die wuchtige britische Zeltnachbarin (Johannes Vater hatte eine Schwäche für diesen Frauentyp), mit ihren drei kleinen sonnenverbrannten Kindern wollte das aber nicht zulassen. Sie suchte Anschluss und schleppte die gesamte Familie Goerz zu den Strandaktivitäten, sobald sie herausgefunden hatte, dass ihre sprachliche Isolation durch deren Englischkenntnisse beendet war.
  Es gibt ja dieses Anfänger-Theorem, nach der die beherrschende Unsicherheit exakt zu Situationen führt, die gerade vermieden werden sollten. Wie der Ski-Novize, der erstarrt auf den einzigen Baum außerhalb des Idiotenhügels zusteuert, wie der geworfene Basketball, der den Korb verfehlt und dafür in einem Fenster landet, so geriet Johannes bei seinem ersten Strandbesuch „unten ohne“ in ein Minenfeld des sexuellen Verlangens. Er war auf dem Weg zum "Abkühlen" in die Brandung als aus einer Sandmulde Mädchen nach ihm riefen und ihn zu sich herwinkten. Johannes, der die rote Mütze vielleicht nicht gegen die Sonne, sondern trug, um möglicher Weise von seiner übrigen Blöße abzulenken, musste vor Peinlichkeit die Farbe seiner Kopfbedeckung angenommen haben. Er stakste verlegen auf das Nest voller Glucken in spe zu.
  "Eh, Chaperon Rouge comme es tu grand!", sagte eine dralle Schwarzhaarige, die aussah wie eine Zigeunerin und offenbar die Rädelsführerin bei dem Versuch war, ihn in Verlegenheit zu bringen. Denn ihre Augen hafteten bei der Rotkäppchen-Anspielung übertrieben schamlos starr zwischen den Beinen von Johannes. Was bei den Genossinnen ein anzügliches Riesengelächter auslöste, weil denen zuerst klar war, auf welches Rotkäppchen sie anspielte. Johannes musste erst im Kopf übersetzen, dass sie wohl keinesfalls die rote Mütze meinte, die er auf dem Kopf trug. Aber wie immer in verzwickten Situationen ließ ihn auch diesmal seine Schlagfertigkeit nicht im Stich:
   "Pas encore ma petite!" Was wiederum das Gelächter auf seine Seite brachte.
  Er wurde eingeladen, bei dem "piquenique" der Mädchen mitzumachen. Sie waren allesamt Schülerinnen einer Berufsschule aus Bordeaux. Georgette, die "Zigeunerin", war kaufmännischer Lehrling in einem Schuhgeschäft, was Johannes dazu brachte, nach dem dritten Kriter aus einem Campingbecher zu trällern:
  "Mein Mädel ist nur Verkäuferin in einem Schuhgeschäft für 20 Franc Salär pro Woche..."
  Es wurde ein total entspannter Strandtag, bei der die Nacktheit in totale Vergessenheit geriet, obwohl deutlich eine klischeehafte "knisternde erotische Spannung" bestand. Keines der Mädchen war eine echte Schönheit. Die, die den Kriter aus der heimischen Kellerei in St. Emilion mitgebracht  hatte, hieß Criquet und war der typische  französische Kumpeltyp, klein, drahtig, ohne Brüste und Hintern. Die modische Kurzhaar-Frisur a la Francoise Sagan ließ sie wie einen Jungen ohne Schwanz wirken, und so führte sie sich in der Brandung auch auf. Marguerite war körperlich eine statuarische Schönheit, aber ihr Gesicht strahlte eine Abwehrhaltung aus, die Johannes damals nur instinktiv wahrnahm. Später wäre ihm auf Anhieb klar geworden, dass dieser Kopf zu einer Frau passte, die sich aus Männern nichts machte. Anne war die Intellektuelle. Sie lernte in einer Buchhandlung und war der Typ aus besserem Hause, der die Nähe der anderen wohl aus einer gewissen arroganten Neugier heraus suchte.
  Georgette hingegen war die natürliche Kokotte. Ihr kugeliger, überall ein Stück zu üppig ausgestatteter  Körper, jede Bewegung, jede Geste, jeder Blick aus den Augenwinkeln - ja selbst ihr Geruch war auf den Reiz von Urinstinkten ausgerichtet. Eine Venusfalle, die den flatternden Johannes längst schon festgeklebt hatte.
  Da alle vier wohl zwei, drei Jahre älter waren als er, hatte sich Johannes als älter ausgegeben. Den Fehler, wie noch im vergangenen Jahr in San Angelo auf Ischia, würde er nicht noch einmal machen. Damals hatte er total naiv den Nachmittag mit einer wunderschönen Italienerin um die 30 verbracht, die ihn auf ihr Riva-Boot und später zum Abendessen eingeladen hatte. Irgendwann hatte sie dann nach seinem Alter gefragt, und er hatte ebenso wahrheitsgemäß wie arglos geantwortet. La Signora hatte darauf hin gar nicht schnell genug zahlen und aufstehen können. Eine peinliche Situation.
  Natürlich gingen Georgette und er nicht zum Tanzen mit den anderen in die Strandbar - obwohl Johannes dies seinen Eltern als Begründung für den Verzicht auf ein opulentes Abendessen im Restaurant plausibel gemacht hatte.
  Georgette hatte routiniert aus der Sandmulde vom Tage ein mit Decken, Handtüchern  und Bastmatten ausgepolstertes Liebesnest gemacht. Sie hatten Treibholz für ein kleines Feuer gesammelt - obwohl es warm genug war, und Georgette hatte Baguette, Brie und einen Bordeaux mitgebracht, der keiner der später vom Weinexperten Johannes Goerz verkostetem  Haute Médoc Kreszenzen im Fluidum nachstand. Alles hatte seine Zeit. Weil Georgette offenbar eindeutig wusste, was sie wollte, war Johannes überhaupt kein bisschen aufgeregt. Er führte das später darauf zurück, dass von vornherein klar war, es würde nur um Lust am Sex gehen. Den Begriff One-Night-Stand hätte möglicher Weise nach dieser Nacht exemplarisch erfunden werden können.
  Zu diesem Zeitpunkt war Johannes streng genommen keine "Jungfrau" mehr. Er hatte den unsäglichen, am Rande der Nötigung vollzogenen und wegen seines Alters durchaus justitiablen Geschlechtsvorgang mit der Mutter seiner ersten Liebe aber als "Rohrkrepierer" erfolgreich verdrängt. Theoretisch war er sowieso überqualifiziert. Während seiner grenzenlosen Leseorgien hatte er unter anderem auch das versteckte Erotik-Lexikon im Schlafzimmer seiner Eltern in jedweder Hinsicht konsumiert. Die durchnummerierten Stellungen des Kamasutra waren ihm vertrauter als die Infinitesimalrechnung. Er kannte den Unterschied zwischen Fellatio und Cunilingus. Aber dass die Wirklichkeit so viel aufregender und sinnlicher war, war wohl eher der Tatsache zuzuschreiben, dass Georgette ihre Kenntnisse eben nicht in Form von Lesestoff erworben hatte. Herrliche, jugendliche Ausdauer.
   Als sie am nächsten Tag schon das Zelt zusammengeräumt hatten, kam Georgette, um sich zu verabschieden.  Sie flüsterte Johannes etwas offensichtlich Intimes ins Ohr und ließ den Worten ein spitzes Züngeln folgen. Dem feindseligen Blick des Vaters konterte sie mit dem wissenden Blick einer um Jahre reiferen Frau und einem Lächeln, dass jede Deutung zuließ. Wäre Rita nicht beim Zahlen gewesen - sie hätte sich vermutlich wieder einmal ernsthafte Sorgen um ihren Sohn gemacht.
  Der Zeitzünder-Eklat kam dann vor der Notre Dame de la Grande in Poitiers. Auch für den Agnostiker Johannes ein überzeugendes Beispiel spätromanischer Baukunst - aber es war die dreißigste (+/- ?)  sehenswerte Kirche dieser Reise. Johannes wollte nicht mit rein. Was die rote Mütze aufs Tapet brachte, deren Fehlen seinem  Vater aufgefallen war. Johannes hätte natürlich vorgeben können, er habe sie verloren, aber sein Temperament wollte den Streit:
  "Georgette hatte mich um ein Andenken an diese tolle Nacht gebeten. Ich habe sie ihr geschenkt."
  Es folgte wieder einmal eine Zeit, in der sich die beiden gründlich an- und ausschwiegen.

  Wieder zurück aus den Erinnerungen war Johannes so voller Wut, dass er den dämlichen Dackel am liebsten mit einem Fußtritt durchs Gartentor gekickt hätte. Aber genau in diesem Moment kam ihm ein schmerzhaftes Erlebnis mit seinem Sohn Cornelius in Erinnerung.
  Es ging vor kurzem um das Thema "mit dem Fahrrad zur Schule fahren". Im Prinzip kein Problem, denn der Weg durch die grüne Vorstadt, in der sie wohnten, führte fast ausschließlich durch verkehrsberuhigte Bereiche. Es war die Zeit, in der das gute alte Fahrrad zu einer Art Gelände-Maschine mutierte. Die Dinger waren ohne Gepäckträger und Schutzbleche, - also völlig ungeeignet für schlechte Tage. Johannes zog einen langjährigen Kollegen, einen Fachjournalisten für eben dieses Thema, zu Rate, und der empfahl ihm ein "Trekking-Bike", das Schutzbleche und einen Anflug von Geländetauglichkeit hatte. Das stand dann unterm Weihnachtsbaum. Cornelius machte trotz der festlichen Stimmung unter Tränen der Enttäuschung ein riesiges Theater. Er habe ein Mountainbike gewollt. Alle Freunde hätten eines, und er würde nie und nimmer mit diesem Rad fahren, da liefe er ja lieber zu Fuß.
  Johannes war damals zutiefst, ja  in den Grundfesten seiner Sohnesliebe erschüttert, und tatsächlich sollte das Rad ungefahren in der Garage bleiben, bis Cornelius ihm entwachsen war. In dem Moment, wo ihm die Duplizität der Vorgänge klar war, rannte er den Feldweg zurück, seinem tapernden Vater entgegen, den dusseligen Dackel begeistert schwanzwedelnd zwischen den Beinen und Tränen in den Augen. Bei ihm angelangt schloss er seinen Vater in die Arme. Er erinnerte sich an alle Schattenboxkämpfe, an ihre zähen Tischtennis-Duelle an die tollen Tage der "Männerwirtschaft" und nahm gleichzeitig wahr, wie zerbrechlich der einst athletische, stattliche Mann geworden war,
  "Pappi!  Verzeih! Ich hab's gerade erst kapiert. Kinder sind so egoistisch und grausam. Aber sieh es doch einmal so. Denk an all die alten Kleidungsstücke, die irgendwann sang-  und klanglos beim roten Kreuz gelandet sind, weil sie keine Geschichte hatten...Diese rote Mütze wird als Manifest der Mannbarkeit deines Sohnes unsterblich sein."