Als die Nachricht vom Beinahe-Big-Bang bei Los Angeles im Januar 1994 um die Welt gegangen war, hatte er die Reise dorthin schon absagen wollen, aber einer der größten Unterhaltungskonzerne der Welt hatte ihn nur so zum „Kennenlernen“ eingeladen und ein Firstclass-Roundticket geschickt, mit dem er auf dem Rückweg noch zwei Termine in Montana und Alberta erledigen konnte, ohne noch einmal selbst groß für Flüge in die Tasche greifen zu müssen.
Eine Woche später fuhr Johannes in Los Angeles unpassend entspannt an den Trümmern des San Fernando Freeways vorbei. Das jüngste, sehr heftige Erdbeben hatte die massige Autobahn-Überbauung aus wuchtigem Beton wie Waffelbruch zerlegt. Johannes hatte sich vorsorglich im Flughafen-Drugstore mittels Vorlage seines Passes eine Wochenration Prozac gekauft.
Der Fahrer des mit getönten Scheiben
ausgestatteten, schwarzen Cadillacs, Bernhard Kornacher, war als Vierzehnjähriger
1956 mit seinen Eltern aus München nach Kalifornien gekommen und arbeitete seit
Mitte der sechziger Jahre in der „Maintenance“ für die Funparks als eine Art
technischer Hausmeister. Vor ein paar Jahren war er selbständiger Leiter dieser
Abteilung geworden; - also eigentlich zu hochrangig, um den Fremdenführer zu
geben. Aber das Management wollte damit offenbar die „Wichtigkeit“ des Gastes
zum Ausdruck bringen. Bernie, wie Johannes ihn gleich schon bei der Begrüßung
nennen sollte, tat sich mittlerweile schwer mit der Deutschen Sprache, aber die
bayrische Klangfärbung – auch seines Amerikanischen – war unüberhörbar. Wie
alle Auswanderer in erster Generation wurde er nicht müde, schon nach ein paar
Meilen die Vorzüge seiner Heimat ungefragt zu preisen. Johannes kannte das.
Mitunter kam es ihm so vor, als seien
diese Leute von irgendeinem schlechten Gewissen als eine Art „Fahnenflüchtige“ getrieben, das sie - vor
allem seit der Wiedervereinigung - zu
solchen Vorträgen nötigte.
Als Bernie jedoch erzählte, wie das Erdbeben
mitten durch seinen Pool am Bungalow in Santa Anna einen dreißig Zentimeter
breiten Riss gezogen hatte, in dem alles Wasser verschwunden sei, erwachte der
an solchen Schicksalen interessierte Journalist in Johannes. Er erfuhr, dass
das Haus der Kornachers selbst nicht betroffen gewesen sei, dass der nicht
erdbebensicher konstruierte Pool aber nicht zu reparieren war und auch die
Versicherung nicht zahle. 30 000 Dollar müsse er jetzt aufbringen, es sei denn,
er schütte alles zu.
Erstaunlicher Weise war das riesige
Wasserareal der „Guesthouse-Area“, in der Johannes abgesetzt wurde, von so
einem Schaden nicht betroffen. Andere Gäste des Konzerns saßen entspannt in ausladenden
Liegestühlen vor ihren Häusern und steuerten mittels kleiner Konsolen
Modellyachten oder Ozeandampfer en Miniature über die von einem zentralen Club-Pavillon
beherrschte Wasserfläche. Eine kleine Welt der Harmonie und des Wohlseins wie
in einem der Sciencefiction-Filme, mit denen der Konzern so erfolgreich war.
Die Welt draußen lag in Trümmern hier im elitären Privaten war sie heil
geblieben. Johannes fröstelte es eigentümlich, obwohl milde
Frühlingstemperaturen herrschten.
Er musste das vom Prozac noch verstärkte Timelag
nicht vorschieben. Man sah es ihm an, und Bernie hatte schon mehrfach heimlich
auf seine Uhr geschielt. Es war schön längst nach fünf. Er wollte heim zu dem,
was von seinem Pool oder seinen sonstigen American Dreams noch übrig geblieben
war.
Als Bernie ihn am nächsten Morgen zu einer
Sightseeing-Tour hinter den Kulissen des Imperiums abholte, hatte Johannes
einen durch zwei Einschlafwhiskys samt Jetlag verstärkten Prozac-Kater. Er warf
jedoch keine weiteren Pillen nach und ließ es auf mögliche Mini-Entzugserscheinungen
ankommen. Ein schwerer Fehler, denn Bernie fuhr ihn mit einer Art Golf-Cart
mitten hinein ins kaum beleuchtete Räderwerk einer noch nicht eröffneten
Erlebniseinheit, die den Park-Besuchern spektakuläre Szenen einer Serie von
populären Abenteuer-Filmen „erfahrbar“ machen sollte. – Im Prinzip war das die
Chaos-Uhr, die er vor kurzem noch Nacht für Nacht erträumt hatte, und das
vermeintliche Déjàvu verursachte einen
Schüttelfrost, der kaum noch zu beherrschen war und eher einem epileptischen
Anfall gleichkam. Die Kiefer von Johannes klapperte so heftig aufeinander, dass
Bernie das durch den Baulärm wahrnahm und sich besorgt erkundigte, was denn los
sei. Johannes beruhigte ihn mit Hinweisen auf Akklimatisation und
Zeitumstellung, stürzte aber gleichzeitig mit seiner Seele jene Achterbahn
hinunter, die ja noch gar nicht in Betrieb war.
Als sie wieder am Tageslicht im Warmen waren,
ging es Johannes zwar wieder besser, aber da piepste der Sprechfunk und dann
sprach eine nölende Stimme zu Herbie, er solle seinen Gast sofort zum Meeting
in den Pavillon bringen und selbst beim Personal-Chef vorbeifahren. Herbie
reagierte sehr besorgt und diese Stimmung schien sich sofort auf das gesamte
Umfeld zu übertragen. Als sie vor einer Stunde auf das Gelände gefahren waren,
hatten selbst die Statisten in den Comic-Kostümen „Hi, Herbie, have a nice day!“ geschrieen und
mit ihren Riesenhänden gewunken. Andere vom Staff hatten den Cart angehalten,
den Gast begrüßt und ein paar persönliche Sätze gewechselt. Jetzt schien die
Zwei im anderen Teil des Geländes niemand mehr zu beachten.
Der Zeitplan sah vor, dass am späten
Vormittag das Meeting mit den Leuten aus der Exekutive stattfinden sollte. Dann
war ein Mittagessen mit dem Boss der Bosse im „Las Brisas“ angesetzt und
nachmittags sollte Herbie ihm zu Shopping oder sonst einer Kurzweil
herumfahren, ehe Johannes am sehr frühen nächsten Morgen den ersten Flug nach
Denver nehmen würde.
„So long“, sagte Herbie, “ich hole Dich um 15
Uhr vom „Las Brisas“ zum Shopping ab.“
Da Johannes nicht genau wusste, was man von
ihm wollte, stellte er sich eines der üblichen Meetings mit Kreativen vor, in dem man abcheckte, was er
draufhatte und wie er für das eine oder andere Projekt in Europa einzusetzen
wäre. Das „Las Brisas“ kannte er schon von einer Restaurant-Vorstellung, die er
mal gemacht hatte. Da würde er in dem Blazer mit den Goldknöpfen, den er zu der
senffarbenen Gabardine-Hose samt weißem Polohemd trug, genau passend gekleidet
sein…
Er erlebte drei große Überraschungen. Das war
kein Meeting, sondern ein Sechsaugen-Gespräch in einem fensterlosen,
klimatisierten und sämtlichen Schall schluckenden Raum im tiefsten Inneren des
Pavillons. Seine beiden Gesprächspartner trugen selbstverständlich dreiteilige
Nadelstreifen-Anzüge.
Aber für die größte
Verblüffung sorgte der Umstand, dass der Ältere von beiden sofort aufsprang und
ihn in die Arme schloss, als sei er ein lang verschollener Freund. Vielleicht
hätte Johannes nicht so ein dummes Gesicht gemacht und spontaner reagiert, wenn
die morgendlichen Erlebnisse ihm nicht so zugesetzt hätten. Aber Pete, sein
ehemaliger Tennis-Gegner von den Bahamas, war ein Routinier. Er sprach noch im
Stehen wie bei einem Bühnen-Dialog auf den eiskalt wirkenden dritten Mann im
Raum ein und schilderte ihm quasi - einen Sprecher bei den Sportnachrichten
karikierend - in präziser Kürze den Spielverlauf des Matches, das mehr als ein
Jahrzehnt her war.
„Dieser Mann war ein wahrer Gentleman. Er
hatte einen Aufschlag wie Roscoe Tanner und einen Topspin wie Borg, aber er
verzichtete darauf, mich vorzuführen. Es war ihm ganz offensichtlich peinlich,
auf diese Art zu gewinnen.“
Jetzt drehte Johannes den Routine-Spieß um.
Sein für den Job absolut katastrophales Namensgedächtnis ließ ihn wieder einmal
im Stich, was ihm auch bei seinen Incentives öfter passierte. Also legte er
sportkameradschaftlich schwer seinen rechten Arm um die Schultern des etwas
kleineren Mannes und schielte auf den Firmenausweis, den jeder jederzeit offen
sichtbar am Revers zu tragen hatte. Peter McDougal GCPEF. Also Pete, der
Privatbankier, das Offshore-Finanz-Genie. Er hatte damals seinen Nachnamen wohl
gar nicht erst erfahren.
„Sie müssen wissen, unser Pete hier hätte
ohne seine Verletzung das Match alleine entschieden. Ich war der schlechteste
Mann auf dem Platz und hatte nur eine Angst, - dass ich einen Teil des Dinners hätte zahlen
müssen.“
Er streckte dem Unbekannten die Hand hin:
„Johannes Goerz. Nice to meet you!“ Dann drehte er sich gelassen in den anderen
Mann hinein, schob ihn auf Armeslänge an den Schultern haltend, en wenig von
sich fort und meinte: “So good to see you!“
Was er sah, war in der Tat beeindruckend. Das
Leben hatte es ganz offensichtlich gut mit Pete gemeint. Im Gegensatz zu
Johannes hatte er kein Gramm zugenommen. Obwohl in etwa zehn Jahre älter,
wirkte der von Natursonne gebräunte Banker objektiv jünger als er selbst.
Während der andere Mann im Raum seine Staffage wie ein Korsett trug, strahlte
McDougal die lässige und unerschütterliche Eleganz eines karibischen Mannes
aus, der seine Schäfchen im Trockenen hat. Er hätte so gerne erfahren, wie es
ihm so ergangen war, seit er versucht hatte, Johannes die Sache mit den
„Luft-Aktien“ zu erklären… Aber Gregory Rafferson bestand darauf, dass sie
zügig zur Sache kämen. Der Mann war so ausgezehrt, dass Johannes ihn für sich
unmittelbar assoziierend „Greg Raffzahn“
nannte, aber er wollte ja nett sein. Also fragte er den Mann auf gut Glück nach
seiner Marathon-Zeit. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte der Anflug eines
stolzen Lächelns über das für einen Mann von Mitte dreißig viel zu faltige
Gesicht, als er lakonisch sagte:
„3:02,21 letztes Jahr in Boston, in sechs
Wochen knacke ich dort die drei Stunden!“
„Wow“, meinte Johannes und hängte Henry Thoreaus
Elite-Formel “born to succeed“ wie
beiläufig an eine Kunstpause. Das mit dem Streicheln der Eitelkeit hatte wieder
einmal geklappt.
Eine
Minute später war klar, wieso dieser Raum ausgewählt worden war. Sie saßen in
einem dieser multimedialen Showrooms, wie sie der Laie nur aus
James-Bond-filmen kannte. „Raffzahn“ hatte einen Knopf gedrückt, das Licht war
gedimmt worden und die Klimaanlage passte sich suggestiv den rundum an den
Wänden gezeigten Szenen an. Die verschiedenen, männlichen und weiblichen
Stimmen, die das Gezeigte kommentierten, kamen aus allen Richtungen und wurden
von stimulierenden Soundtracks getragen – kurz, der Begriff „virtuell“ erhielt
in diesem vorher eher engen Raum eine schier grenzenlose Dimension.
Der Inhalt der Präsentation wirkte auf
Johannes im Rückblick wie eine Prognose mit hundertprozentiger Trefferquote.
Auf der „Alm der Steuerhinterzieher“ hatten sie vor ein paar Tagen und doch
eine technologische Ewigkeit her einen Feinkosthändler des Jetsets noch mit
einer Handy-Attrappe hereinlegen können – so neu und ungewohnt waren die
kleinen tragbaren Telefone noch. In diesem Szenario war das „Cellular“ quasi
schon Vergangenheit und wurde mit einer neuen Bandbreite von
Anwendungsmöglichkeiten gezeigt. Johannes selbst hatte gerade erst damit
begonnen, sich mit Internet und Intranet gedanklich zu befassen. Das World Wide
Web war vor kurzem - nämlich 1993 - aktiviert
worden, hier war jedoch bereits von Glasfaser-Hochleistungskabeln, Routern und
Ladezeiten und Quantitäten im XXXL-Format die Rede, die für ihn absolut
utopisch klangen, wenn er an das Zeitlupentempo dachte, mit dem manche Seiten
sich bei seinem Computer noch aufbauten.
Vor einigen Wochen hatte Johannes seine
Grafikerinnen und ihre Apple-Workstations mit einer Software ausgestattet, die
die gesamte Druckseitengestaltung am Bildschirm ermöglichen sollte, aber in
vielen Anwendungen noch hakte. QuarkXpress 3,2. war weit davon entfernt,
bedienerfreundlich zu sein und barg verhängnisvolle Risiken, wenn man sich
blind darauf verließ. In dieser Präsentation waren QXP und die
Konkurrenzprodukte Aldo Freehand und Pagemaker quasi schon alte Hüte. Ihre Weissagung
war eine Zusammenführung von TV und PC mit nur einer drahtlosen
Bedienungskonsole und einem in der Wohnungswand integrierten Bildschirm
innerhalb der nächsten anderthalb Jahrzehnte; spekulative „Future view“?
Unmerklich hatte Johannes unter der Fülle an
Informationen immer hektischer geatmet. Als der etwa halbstündige Reizhagel auf
seine Synopsen vorüber war und das Licht wieder anging, war seine
Klaustrophobie so unerträglich, dass er mit einem „Scjusme“ aufsprang und auf
den Boardwalk des Pavillions hinauslief, um erst einmal tief ein und
auszuatmen. Pete war hinter ihm her, aber er winkte alle Bedenken fort, indem
er auf Timelag und Klima verwies wie am Morgen bei Bernie. In Wahrheit hatte
ihn die Erkenntnis erschüttert, dass das, was er bislang in seinen Albträumen
erlebt hatte, wohl längst von anderen bewusst erdacht worden war…
„Raffzahn“ hatte sich zu ihnen gesellt
und sie dann zu einem separaten kleinen
Tisch auf einer Veranda im Schatten geführt, auf dem Drinks und Hors
D’Oeuvre standen.
„Sie werden sich sicher fragen, Johannes,
warum wir Sie hierher eingeladen haben. Pete war daran nicht ganz unschuldig,
aber ausschlaggebend waren einige Leute, die bei Ihnen auf Veranstaltungen
waren und die auch mit uns in der einen oder anderen geschäftlichen Beziehung
stehen.“
Pete, der Geldmann, mischte sich ein:
„Wie lange wirst Du mit Deinem kleinen
Laden in der Welt, die Dir eben beschrieben wurde, überleben? Das Outsourcing
wird nicht von seinen Kindern, sondern von den großen Medienkonzernen
gefressen. Die haben doch längst selbst begriffen, dass sie das synergetische
Vernetzen von Produktionen mit reduziertem Personal aber gleichzeitiger,
völliger Rechtekontrolle selber machen können. Und selbst wenn Du mehr schlecht als recht im Geschäft
bleibst, wirst Du Deinen Fähigkeiten damit gerecht? Was holst Du raus? 200 000
Mark? Wie wäre es mit fünfmal so viel ohne Personalbelastung und
Investitionsdruck in Dollar?“
„Schauen Sie, Mr. Gorz! Sir! Mit der
Digitalisierung und den geradezu unbegrenzten Lade- und
Manipulationsmöglichkeit von geistigem Eigentum, von Nutzungs- und
Urheberrechten kommt der Rechte-Verwertung vor allem im Merchandising und bei
den Lizenzen ein Stellenwert zu, der weltweit eigene vorausschauende
Firmen-Profile erfordert. Wie ich Ihnen ja nicht lange darzulegen brauche, sind
wir beim Global-Game die Bestimmer, aber wir Amerikaner tun uns nach wie vor
schwer, als Kosmopoliten anerkannt zu werden. Wir wissen sehr genau über Sie
bescheid. Wo immer Sie auf der Welt aufgetreten sind, fiel es Ihnen mit Ihrer
sozialen Kompetenz nicht schwer, Zugang zu erhalten. Morgen reisen Sie nach Montana
und machen sich zum Affen für einen Kunden, der vielleicht schon längst ohne
Sie plant. Wie Sie ja wissen haben wir eine deutsche Showgröße unter Vertrag.
Was der in der Öffentlichkeit macht, hätten wir gerne von Ihnen hinter den
Kulissen. Bringen Sie uns einfach gewisse Leute an einen Tisch, die wir dann
davon überzeugen können, mit unseren Rechten und Lizenzen zu handeln – oder
sich zumindest daran zu beteiligen.“
„Du kannst Dein Leben ja sogar so weiter
führen und hättest das Erfolgshonorar bei uns auf den Caymans als
Rückversicherung in Form eines steuerfrei wachsenden Vermögens“, ergänzte Pete,
der ihn als künftigen Kunden offenbar schon verbucht hatte.
Johannes schaute auf die Wasserfläche hinaus,
wo gerade ein Modell-Kreuzfahrtschiff volle Pulle über eine kleine Segelyacht
gebrettert war, nur weil ihre beiden in den Liegestühlen dösenden Lenker nicht
aufmerksam genug Abstand gehalten hatten. Er beschloss spontan die Symbolik
dieser Havarie als Zeichen zu deuten. Die Tatsache, dass man ihn möglicher
Weise ausgespäht hatte, machte ihm weit weniger zu schaffen, als die Gier, die
sie jetzt in ihm aktiviert hatten. Aber
was war das mit seinem Kunden, den er in ein paar Tagen treffen sollte? Bei
Honoraren in solchen Größenordnungen konnten die doch nahezu jeden bekommen,
der ein mehr Erfolg versprechendes Profil
vorzuweisen hatte. Die Sache musste einen Haken haben, aber er hatte ja
mittlerweile auch dazu gelernt und würde sich hüten, eine spontane Stellung zu
beziehen…
Pete ließ es sich nicht nehmen, Johannes selbst
zum Lunch in den Pazifik-Badeort zu chauffieren. Er benützte dazu aus dem
„Promotional Carsupply“ des Konzerns ein Chevy 69 Camaro Cabrio in Purple und
Weiß, das allein schon wegen seiner Chromteile aussah, als sei es gerade
ausgeliefert worden. Bei jedem Ampel-Halt lösten sie damit derart Beifall und
Jauchzer aus, dass an eine ernsthafte Unterhaltung kaum zu denken war. Dennoch
erfuhr Johannes, dass Pete quasi nur noch Frühstücksdirektor und
„außenpolitischer“ Berater der Grand Cayman Private Equitiy Funds GCPEF war. Er
sprach von viel Geld aus dem Osten, das in den letzten Jahren an Einfluss auf ihre
Geschäfte gewonnen hätte, weil die, die es brachten – aus welchen Gründen auch
immer – im Ernstfall auch hohes Verlustrisiko tragen konnten. Johannes musste
unwillkürlich an die Sturmfahrt mit dem „Aquila Marina“ denken und das in
seinem Bauch versteckte Schwarzgeld, als er ein wenig spöttisch meinte:
„Wenn bei einer Investition von Euch im
schlechtesten Falle siebzig saubere Cent von einem schmutzigen Dollar übrig
bleiben, ist das immer noch ein Bombengeschäft für manche. Das als Steuer
entrichtete Geld ist hingegen ein für alle Mal weg.“
Johannes hatte das Erblühen zweier mit seinen
Geschäftsfreunden konkurrierender Druck- und Verlagshäuser während des
dramatischen Niedergangs des Anzeigengeschäftes der letzten Jahre im Verdacht
mit solchen „neuen“ Geldern gearbeitet zu haben. Sie hatten zwecks Verdrängung
jeweils im Herbst angeblich riesige Auflagen gedruckt, deren Rechnungen sie von Finanzdienstleistern hatten bezahlen
lassen. Ausgeliefert wurde jedoch nur die tatsächlich gedruckte, vermutlich
viel kleinere Menge. Der virtuelle Rest wurde als Lagerbestand über den Wechsel
des Geschäftsjahres steuerlich vorgehalten und wenn die Remission aufgerufen wurde mit dieser verlustreich verramscht oder
geschreddert. Mit Ausnahme der Anzeigenkunden und des Fiskus hatte jeder in der
Nahrungskette am Ende gewonnen – vor allem aber der Finanzdienstleister der
sauberstes Geld zurückbekam und an seine gefährlichen Kunden ausschütten konnte.
Sollte sich so eine Rückzahlung verzögern, verfügten die über Hintermänner mit
einem geradezu tödlichen Inkasso-System, das letztlich auch die absolute
Diskretion sicherte… Aber Johannes hatte keine Lust, dieses ihm äußerst unangenehme
Thema noch zu vertiefen. Stattdessen wollte er von Pete wissen:
„Was erwartet mich? Wieso will der Boss der
Bosse ein kleines Licht wie mich sehen? Was hätte ich ihm zu bieten, was er bei
seinen unbegrenzten Möglichkeiten nicht über Headhunter und Personalberater
anonym, jünger und vermutlich besser und unverbrauchter bekäme.“
„Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Er
ist ein Netzwerker mit einem mitunter unheimlichen Durst nach Details, die er
unlöschbar abspeichert. Hör mal, wie dies blöde Computersprache sich schon in
unseren Alltag einschleicht.“
„Seit ich hier bin, habe ich das Gefühl, wie
eine Marionette in einer Handlung herum zu zappeln, die ich nicht begreife.“
„Du kannst doch ganz entspannt sein. Was hast
du zu verlieren. Wenn nichts dabei rauskommt, hast du Reisekosten gespart und
deinen Horizont erweitert. Wenn er irgendetwas weiß, was du nicht weißt, bist
du morgen reicher als du es dir jemals erträumt hättest.“
Pete verabschiedete sich auf der
Auffahrtsrampe des „Las Brisas“:
„Ich rufe dich heute Abend noch an, und in
vierzehn Tagen sehen wir uns in München.
Ich weiß, du hast Zeit, also sag nicht, du wüsstest nicht, ob du da bist.“
Es war ein Irrtum von Johannes zu glauben,
dass ein Mann, den die aktuellen Forbes-Rankings mit einer diffusen,
dreistelligen Millionen-Dollar-Summe Jahressalär an die Weltspitze der
bestverdienenden Manager gestellt hatten, ihn mitten in einem derart populären
Gourmet-Restaurant bewirten würde. Einer der Valets in grünweiß gestreiften
Jockeyblusen führte ihn vom Restaurant weg auf einen betonierten Pfad an die
Steilklippe heran, wo ihn zwei an Hulk Hogan erinnernde Bodyguards übernahmen.
Der Mann, der federnd aufsprang sobald er sie hörte, sah allerdings nicht so
aus, als bedurfte er irgendeines Schutzes. Er war so groß wie Johannes und
hatte schon aus der Distanz von zwanzig Metern einen Blick drauf wie Clint
Eastwood, wenn er den Dirty Harry mimte. Auch er war so austrainiert, dass sich
Johannes deutlich minderwertig fühlte. Wenigstens war er diesmal passend
angezogen, denn sein Gastgeber trug weiche beige Cordhosen und ein diagonal
über die Brust geknöpftes Designer-Shirt. Über den Schultern hing nur zu
Dekoration ein Sweater, denn es war angenehm warm und beinahe windstill. Als er
zum Händeschütteln an ihn herantrat, sah Johannes die kleinen Falten in dem
ansonsten glatt wirkenden Zügen eines ewigen Collegeboys, und auch die Haare
waren nicht kalifornisch ausgebleichtes Blond, sondern weiß. Trotzdem war der
Mann – was sein Charisma anging – keine Mogelpackung. Er hatte nur wenige
Menschen getroffen, die in etwa an diese natürliche Autorität heranreichten.
Sie standen in einer kleinen nach allen
Seiten offenen Pagode, in der zur Klippe mit Blick auf den sonnenüberfluteten
Pazifik ein festlicher Tisch für zwei eingedeckt war. In diskreter Entfernung
hantierten bereits zwei Köche an einer mobilen Herd-Einheit. Es würde
selbstverständlich nichts Aufgewärmtes geben. Johannes hatte sich vorgenommen,
was auch kommen mochte, sich nicht beeindruckt zu zeigen. Dieses Vorhaben war
schon mal fehlgeschlagen.
„Das ist ein sehr schönes Pashmina-Hemd, das
Sie da tragen.“
„In Mode kennen Sie sich also auch aus –
Johannes. Ich darf Sie doch Johannes nennen?“ Ich bin Robert.“. Bei den Worten in völlig akzentfreiem Deutsch
streckte er ihm nochmals die Hand hin.
„Gerne Robert. Dann muss ich ja nicht so auf
der Hut sein, wenn wir Deutsch reden.“ Johannes nahm sich vor, auf die
gegenseitigen „Skills“ nicht einzugehen. Das zwang seinen Gastgeber
nachzuhaken, wenn er etwas wirklich wissen wollte. So verhinderte man
Smalltalk. Schon gar nicht würde er einem, der vielleicht besser Deutsch sprach
als er selbst, Komplimente in dieser Richtung machen.
„Was bringt Sie auf den Gedanken, Sie müssten
an so einem schönen Tag und einem hoffentlich ordentlichen Lunch bei diesem
Ausblick auf der Hut sein?“
„Nur persönliche Erfahrung! 1979 nach einer
anstrengenden Expedition im Himalaya habe ich ein paar Tage in einem Hausboot
auf dem Dalsee im Kaschmir entspannt. Da kam ein Schneider mit Stoffen
vorbeigepaddelt und bot mir seine Dienste an. Ich kannte Pashmina bis dahin nur
als Schals. Die drei Hemden, die ich von ihm maßgeschneidert bekam, kosteten
soviel wie ein im Laden gekauftes in Deutschland. Ich hatte sie sehr lange, und
ich erhielt durch sie auch Anschauungsunterricht im Welthandel. Denn eine Woche
später sah ich solche Hemden vorgefertigt bei den Malik-Brüdern im Cashmere Emporium
am Connaught Place in Delhi. Da kostete das Stück so viel, wie ein Sikh-Taxifahrer,
den ich gut kannte, dort im Jahr verdient.“ Die Kunstpause implizierte, dass
Johannes sich also leicht vorstellen konnte, was das Hemd anderthalb Jahrzehnte
später bei einem amerikanischen Designer gekostet haben mag. Er selbst hatte
damals Schnitte von Christian Dior abkupfern lassen…
Die ersten drei Gänge mit erlesenen
Mini-Portionen verbrachten die beiden Männer wie Ringer im Griechisch-Römischen
Stil. Johannes hatte sich quasi freiwillig in die passive Bodenlage begeben und
achtete nur darauf, dass ihn sein Gastgeber beim Smalltalk über erlesene
Genüsse nicht aushob oder gar aushebelte. Was angesichts der erlesenen
Kreationen mit den dazu gereichten Weinen schwer genug war. Sie hatten
ausgestochene Plätzchen aus Pumpernickel mit Tartar und Kaviar, die mit
aromatisierter Crème Fraiche verziert waren. Dazu gab es ein Schlückchen Dom
Perignon. Der Chef trug selbst eine von ihm hergestellte, rohe Gänseleber-Terrine
auf, die mit lauwarmen Streuseln aus zerhackter Armagnac-Pflaume und Trüffeln
bestreut war. Dazu gab es aus geeisten Gläsern einen Sauterne, der so ölig war,
dass Johannes lieber nicht nach seinem Alter fragte. Der erste warme Gang
bestand in edler Einfalt aus einer daumendicken Scheibe einer ungepellten roten
Idaho-Kartoffel, auf der in exakter Kongruenz ein Langusten-Medaillon lag, über
das beiläufig geschmolzene Safranbutter mit rotem Pfeffer rann. Der sehr nach
viel Sonne schmeckende Chardonnay aus dem Napa-Valley passte glänzend, weil er
den rein „amerikanischen“ Genuss dieses Ganges unterstrich.
„Und, kommt Wolfgang ans ‚Aubergine’ heran?
Er hat nämlich bei Witzigmann gelernt.“ Fragte Robert Phelps unvermittelt, in
dem er leicht seinen Kopf in Richtung des Kochs ruckte.
Das war ja nun auch Vergangenheit. Der
begnadetste aller Köche hatte ja vor kurzem durch seinen Kokskonsum zwecks Stressabbau
in der Münchner Schickeria seine Lizenz und das einzigartige Restaurant
verloren. Seine Epigonen hatten ihn meist nur durch die Menü-Preise
übertroffen, so dass Johannes seither aufgehört hatte, sein Geld so oft wie
früher in deren Tempel zu tragen und stattdessen selber kochte, wenn es darum
ging, ihm „wichtige Leute“ über den Gaumen zu beeindrucken. Deshalb lockerte
Johannes mit der Antwort ein wenig seine passive Haltung:
„Die Gier nach Genuss erzeugt Preise, die das Genuine des Geschmacks oft
zur Nebensache machen. Das ist hier nicht der Fall. Es ist aber auch ein Beweis
gegen das Ammenmärchen, dass Geld nichts mit der Güte des Essens zu tun hätte.
Auf der anderen Seite heißt allerdings wenig Geld nicht gleichzeitig kein
Genuss. Nehmen wir Ihren reputierten Mondavi-Chradonnay hier für vielleicht 25 Dollar vom Erzeuger und
stellen ihn bei einer Blindverkostung neben den Sauvignon Blanc der bescheideneren
Pedroncelli-Brüder vom Dry Creek für nur fünf Dollar. Ich wette, dass acht von
zehn Testern letzterem den Vorzug gäben. Eine gute Languste hat ihren Preis,
den man nur sparen kann, wenn man auf sie verzichtet. Geld bedingt eine
Veränderung der Warte, von der man Werte betrachtet, das habe ich am eigenen
leider immer schwerer werdenden Leib verspürt. Vor ein paar Jahren habe ich bei
Fredy Girardet in Lausanne beispielsweise einen Dézaley ‚Clos des Abbayes’ zum
Essen gehabt, an den ein Privatmann kaum herankommt. Auf Fürsprache bekam ich
dann vier Kästen für 25 Schweizer Franken die Flasche. Noch nie hatte ich einen
so teuren Wein für mich privat gekauft, aber ich wollte ihn ja unbedingt haben.
Können Sie sich meine Enttäuschung vorstellen, als ich feststellte, dass diese
für den Export bestimmten Flaschen Schraubverschlüsse hatten? Kein Risiko, dass
eine Flasche korkt, aber auch kein Chichi beim Entkorken, Schnüffeln und vorweg
Probieren. Die Qualität aller 24 Flaschen war exakt die gleiche, aber man hatte
mich eines geldwerten Rituals beraubt. Schaut ein Mann wie Sie noch auf den
Preis für irgendetwas?“
„Ich bin weder ein Scrooge noch ein König
Midas, und glauben Sie ernsthaft – Johannes - ein Mann in meiner Position könne
sich halten, wenn er vergessen hätte, welche Farbe das Geld hat.“
„Nun Ja, – eure Dollarnoten sind mit Ausnahme
der Zahlen und Präsidenten alle die gleichen „Greenbacks“, scherzte Johannes,
der spürte, dass das Gespräch langsam in tückischeres Fahrwasser geriet.
„Das ist ein schönes Beispiel. Als ich klein
war, habe ich für Nickles und Dimes Tennisbälle aufgehoben. Es war etwas ganz
besonderes, wenn ich mal eine Dollar-Note bekam. Die Leute habe ich mir
übrigens sehr genau angesehen. Man kann nicht an der Höhe, sondern an der Art
wie einer Trinkgeld gibt, sehr viel über den Charakter lernen. Ich war wegen
meiner Leistungen Stipendiat, aber die Phelps waren immer solider
amerikanischer Mittelstand, deshalb musste ich dazu verdienen.
Ich zog einen
Party-Service auf, der sich bald bis zu den Eltern meiner reicheren Freunde von
Back Bay, Beacon Hill und rund um den
Campus in Cambridge herumsprach. Ich bewirtete wichtige Leute und lernte sie
dadurch auch kennen. Und ja, die Präsidenten und Zahlen änderten sich. Nach
meinen drei akademischen Graden verkaufte ich den inzwischen zum Party-Catering
gewachsenen Betrieb für eine
siebenstellige Summe und studierte noch drei Jahre Philosophie und
Germanistik in Heidelberg.“
„Beeindruckend. Aber ich meinte etwas anderes
mit meiner Frage. Wenn Sie etwas wirklich wollten, könnten Sie jeden Preis zahlen.
Der Wille des haben Wollens könnte dabei also unbeschadet ein Ausmaß annehmen,
der den Sinn des Erreichens oder Besitzens zu einer absurden Nebensache
machte.“
„Was zählt, ist nur die eigene Leistung.
Alles, was ich auf die von Ihnen beschriebene Art kaufen könnte, ist wie Sex
gegen Geld - unbefriedigend. Sie haben ja viel über Sport geschrieben. Ein
Skispringer, der die 200-Meter-Marke überflogen hat, wird nicht deshalb
aufhören, weil er das Erreichen der 300 Meter für aussichtslos hält. Er hat auf
einer selbst gebauten Schanze vielleicht mit zehn Metern angefangen und sich
nach und nach gesteigert. Ich habe mal auf dem frei in den Himmel ragenden
Anlaufturm der Skiflugschanze von Vikersund gestanden und zum ersten Mal
Höhenangst gehabt. Keiner steigt wegen des Geldes dort hinauf und springt
hinunter!“
Sie konzentrierten sich für einen Moment
schweigend auf ihre in ein Schweinenetz gehüllte komplett entbeinte knusprige
Wachtel, die mit Datteln und jungen Zwiebeln gefüllt und deren Bratensaft mit ein
paar Tropfen von einer Blutorange gefärbt und aromatisiert worden war. Simpel
und göttlich.
„Tut mir leid, wenn das nicht ‚comme il faut’
ist. Aber ich lasse keinen Tropfen von diesem Jus zurückgehen“, meinte Johannes
und griff sich eine Scheibe von dem Brot, das bislang nur zur Dekoration auf
einem Serviertischchen gestanden hatte und wischte wie ein armer Bauer seinen
Teller blank. Dann griff er die Parabel von Robert Phelps wie ein
interviewender Journalist wieder auf:
„Sie sind der absolute Weltrekordhalter bei
den Angestellten-Einkommen. Was kommt danach?“
„Wenn Sie jetzt hier den Journalisten
herauskehren, antworte ich mit meinem Standardsatz. Ich habe mein Gehalt nicht
gefordert sondern erwirtschaftet. Markt und Leistung haben mich ausgewählt. Ob
es unmoralisch ist, soviel Geld zu verdienen? Aus meiner Sicht wäre es
unmoralisch, es nicht einzustecken. Schaut Euren Boris Becker an. Wenn er
aufschlägt, setzt er das Räderwerk einer Milliarden-Wirtschaft in Gang. Er ist
ein kleines Zahnrad in einem riesigen Uhrwerk. Ich bin auch ein kleines Zahnrad
in diesem Uhrwerk. Mein Grundgehalt entspricht immer noch dem allgemeinen
Standard, aber als ich den Konzern in einer Notsituation übernommen hatte,
verlangte ich ein Prozent von den künftigen Gewinnen. Das kleine Zahnrad hat
sich so positioniert, dass es ohne zu zerbrechen die großen Räder wieder zum
Drehen brachte.“
Johannes verzichtete darauf, davon zu
erzählen, dass er von solchen Räderwerken träumte und nahm stattdessen gegen
das erneute Déjàvu einen großen Schluck eines 1985er Zinfandl von den
Ferrari-Carano Vineyards, der wie ein Riesenrubin im Glas funkelte.
„Das wollte ich nicht. Sorry, ich wollte
nicht über Geld mit ihnen reden. Ich denke, wie man es anstellt, es wird immer
dazu führen, dass derjenige der Fragen dazu stellt, sich des Verdachtes von
Neid und Missgunst aussetzt.“
„Ich weiß, Sie können sich einfach keinen
Reim darauf machen, wieso so ein Typ, der sich Ihrer Meinung nach alles und
jeden sogar auf Firmenkosten kaufen könnte, so einen Typ wie Sie zum Lunch
bittet.“
„Ja, irgendwie sind mir diese Dimensionen
hier unbehaglich.“
„Das hat möglicherweise etwas mit Ihrer
Wahrnehmungsfähigkeit in Bezug auf sich selbst zu tun. In unserer Branche haben
wir es ja überwiegend mit extrovertierten Selbstdarstellern zu tun, denen das
eigene Profil oft wichtiger ist als die ihnen anvertraute Aufgabe. Dann fällt
natürlich jemand wie Sie auf, der überall Spuren hinterlässt, aber öffentlich
nicht in Erscheinung tritt. Wissen Sie, wann ich zum ersten Mal von Ihnen
gehört habe? – Das war so 1981/82. Ich hatte ja mit diesem Schweizer Verleger
studiert, dem Sie indirekt immer die neusten Restauranttipps gegeben haben. Er
hat diese natürlich zur Festigung seines Ruhmes als Kenner unter anderen
natürlich auch an mich weitergereicht und dabei irgendwann Ihren Namen genannt.
Als ich mit Pete McDougal in der „Grange Sur Lierre“ von Porge nach der VinExpo
in Bordeaux zum Essen war, kolportierte ich die Beschreibung, die mir mein
Studienfreund von Ihnen gegeben hatte, und Pete sagte ganz verblüfft, er habe
vor einigen Wochen mit Ihnen auf den Bahamas Tennis gespielt. Einer meiner
engsten Freunde in den USA ist der ehemalige Oberbürgermeister von Dallas. Der
hat mir beim Golf als wir über deutsche Eigenschaften diskutierten, von einem
deutschen Journalisten erzählt, der ihm
nach einem Bankett – um noch ein paar persönliche Worte zu wechseln –
angeboten hatte, ihn nach Hause zu fahren. Der Mann habe gegen seine
Empfehlung - obwohl erst drei Tage in
der Stadt – eine Route durch seine Stadt gewählt, die um zwanzig Minuten
kürzer war, als die die sein Chauffeur
üblicher Weise über die Turnpikes wählte. Er konnte sich nur noch daran
erinnern, dass der Zweihundertpfund-Bursche so einen heiligen Namen hatte.
Damit konnte ich ihm dann aushelfen. Wiederum zwei Jahre später rief mein
Freund von einem Bürgermeister-Treffen der Weltmetropolen an. Sein Shanghaier
Kollege habe ihm gerade eine lustige Geschichte von ‚unserem Johannes’ erzählt.
- Ist das wirklich wahr, dass Sie Zhu Rongii vorgeworfen hatten der Kultschnaps
und Nationalstolz „Mao Tai“ schmecke nach Möbelpolitur und dennoch nach einem
donnernden Rülpser die ganze Flasche gelehrt haben???
Johannes schwieg peinlich berührt. Er war
mit dieser Geschichte nie hausieren gegangen.
„Diese runden Tische, die Sie bei Ihren
Incentives formieren. Da sitzen Leute dran, die für unsere Europapläne äußerst
interessant sind. Mit ein paar haben wir ja auch schon Kontakt, und obwohl das
alles Alpha-Tiere sind, schwärmen die teilweise von Ihnen, als seien Sie eine
Art Guru. Wir wünschten uns, dass Sie für unsere künftigen Vorhaben auch so eine Art Lobby schaffen. Greg und Pete
werden Ihnen ein Anforderungsprofil faxen. Überlegen sie in Ruhe – Ich weiß,
Sie wären für uns der Richtige!“
Er sah mit eindeutiger Geste auf die Uhr:
„Genießen Sie noch ihren Nachtisch und den
Kaffee. Sie werden hier abgeholt. Wenn Sie mich entschuldigen, Johannes. Ich
muss los. Zum Golfspielen mit unserem Actionstar. Wenn seine Muskeln nicht mehr
mitmachen, will er unbedingt Gouverneur werden. Das wäre schon etwas. – Etwas,
wobei wir ihm gut helfen können…“
Es war, als hätte sich ein Schatten über die
kalifornische Wintersonne gelegt, als Bernie Kornacher ihn abholen kam. Auf
einmal war es, als reichte die Kühle des Humboldtstroms bis zu den Klippen von
Las Brisas. Was ein untrügliches Zeichen für ein weiteres Beben hätte sein
können. Dann registrierten seine sensiblen Seismographen für Seelen, dass das
negative Odium von dem kalifornischen Bayern ausging. Irgendetwas hatte die
robuste Vierschrötigkeit mehr erschüttert als der geborstene Pool.
„Was ist mit Ihnen Bernie?“
„Nichts! Was sollte sein?“
Er stapfte mürrisch und wortlos zur schwarzen
Limo und öffnete ihm die Tür zum Fond. Ein deutliches Zeichen, dass er nicht
wollte, dass Johannes sich neben ihn setzte, um wie am Morgen zu ratschen.
Johannes jedoch drückte die Tür zu, ohne einzusteigen und sah dem Mann
forschend in Augen, die den ganzen Enthusiasmus des Vormittags verloren hatten:
„Was ist los?“
„Sie haben mich gefeuert. Einfach so. Nach
bald dreißig Jahren. Ich krieg noch Schecks für zehn Terms als Abfindung. Das
war’s dann. Alle unter vierzig wurden sofort übernommen. Alle Alten sind
freigestellt. Heute ist mein letzter Arbeitstag.“
Es hatte sich herausgestellt, dass die
Funparks wegen der häufigen Erdbebenwarnungen im letzten Quartal des alten
Jahres einen minimalen Rückgang im Vergleich zum Vorjahr zu verzeichnen hatten.
Ein cleverer Controller, der nur von seinen Zahlen ausgegangen war, hatte den
Vorschlag eingebracht, die Verluste dadurch wieder hereinzuholen, dass man die
konzerneigene Maintenance samt Personalkosten und Absicherung gegen
Betriebsunterbrechungen zu niedrigeren Preisen an eine neu zu formierende
Wartungsfirma „outsourcen“ könne. Und so war es entschieden worden. Auf einmal
war nicht mehr von der großen Familie die Rede gewesen. Nicht mehr von den
spaßigsten Jobs der Welt… Es war klar, dass Johannes Bernhard Kornacher sofort
aus der Verpflichtung entließ, ihn zum Shopping herum zu kutschieren. Er musste
ja auch ohnehin weiterreisen und war ganz und gar nicht in Stimmung. Stattdessen machte er einen langen
Strandspaziergang, der bei einem Kaufhaus endete, das das ganze Jahr hindurch
ausschließlich Artikel für Weihnachten verkaufte. Johannes musste an Heinrich
Böll und seine Satire denken. Inmitten des „Ginglegebelles“ ertappte er sich
dabei, wie er halblaut und gläsern die Stimme des böllschen Weihnachtsengels
imitierte und „Friedeng, Friedeng“ flötete. Wenn die Wirklichkeit eine Satire
innen überhole, wäre es Zeit, neue Wirklichkeiten zu schaffen. - Er würde den
Verlockungen, durch „amerikanische Verhältnisse“ reich zu werden, widerstehen.
Seine Entscheidung war in diesem Moment gefallen…
Noch ehe ihn in aller Frühe am nächsten
Morgen der vereinbarte „Wakeupcall“ erreichte, meldete sich Mutter Erde. Die
Schränke sprangen auf, der Fernseher krachte aus seiner Halterung und das Bett
machte einen Bocksprung, der das Adrenalin in Johannes Körper verteilte, als
sei es mit Pressluft in den Kreislauf geschossen worden. Er hatte gerade
geistesgegenwärtig die dicht beieinander liegenden Türrahmen der Diele
erreicht, die bei Erdbeben am ehesten Schutz
boten, als der Spuk auch schon wieder vorbei war.
Er hatte wie immer am Abend vorher gepackt,
verzichtete daher wohlweißlich auf die Morgentoilette und stand fünf Minuten
später außerhalb (!) des Foyers. Allein. Niemand schien durch den „Aftershock“
beunruhigt. Nicht der Concierge, der auf Johannes’ gequälten Scherz, ihm hätte
auch ein einfacher Weckruf gereicht, nur müde grinste. Nicht der Fahrer, der
ihn zum Flughafen bringen sollte, der völlig Verständnislos die Stirn runzelte,
als Johannes ihn fragte, ob durch die Erdstöße möglicher Weise die Flüge
beeinträchtigt würden. Alle übrigen Konzern-Gäste schienen sich einfach auf die
andere Seite gedreht zu haben, um weiter zu schlafen.
Hatte er überreagiert?
Sieben Stunden später und ein paar tausend
Kilometer nordnordöstlich, bebte der Aftershock im Gemüt von Johannes immer
noch nach, so dass er zunächst Mühe hatte, die einzigartige Landschaft Montanas
auf sich wirken zu lassen. Nicht, dass er der bitteren Kälte unvorbereitet
entgegen getreten wäre. Er war am Flughafen von Bozeman in seinen
Daunen-Parka mit Fuchskragen geschlüpft,
hatte die Slipper gegen die „Sorelboots“ getauscht und einen Norweger-Pullover
angezogen. Ihn fror von der Seele her und daran konnte auch die Tatsache nichts
ändern, dass alles gut funktionierte.
Nach dem kalifornischen Frühlingstrubel war
die menschenleere Winterhärte am Galatine-River sowohl ein Klima- als auch ein
Kulturschock. Aber er erlebte sie aus dem Cockpit eines riesigen
Ford-Geländewagens, als säße er in einer rollenden Festung. Die beiden Sioux
aus Whitefish, die sein Incentive in einigen Wochen begleiten sollten, waren
pünktlich gewesen und zeigten ihm die in einer Biegung des Flusses
aufgestellten Winter-Tipis, in denen sich seine Gäste nach dem winterlichen
Fliegenfischen aufwärmen und ihre Forellen über dem Lagerfeuer grillen sollten.
Es war genau die Stelle, an der Brad Pitt in dem Film „Und in der Mitte
entspringt ein Fluss“ die dicken Rainbow-Trouts herausgeholt hatte. Johannes
hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst, dass Fliegenfischen ein
Wintergimmick als Alternative zum Skifahren am Big Sky sein könnte.
Zur Happy Hour im Lodge traf er das
Geologenpaar, das von dort den Ausflug zum Old Faithfull in den Yellowstone
Nationalpark führen sollte. Professor Dr. Greg Culver stand bezeichnender Weise
hinter der Bar. Denn seit er in seiner kalifornischen Universität aus
politischen Gründen seinen Lehrstuhl bei einer Neuausschreibung verloren hatte
und nach Montana „geflohen“ war, verdiente er mit dem Mixen von Drinks
weitgehend seinen Lebensunterhalt. Seine Frau, Dr. Norma Culver, verkaufte auf
der anderen Seite der Lobby Indianer-Schmuck und anderes handgemachtes
Kunstgewerbe. Um wissenschaftlich am Ball zu bleiben, leiteten sie
Sommer-Seminare an der beliebten Uni von Bozeman, die überwiegend im Freien
stattfanden und ihre Abenteuerlust befriedigten oder sie führten
wissenschaftlich orientierte Reisegruppen wie die von Johannes. Auch das waren
„amerikanische Verhältnisse“: Als Akademiker wie selbstverständlich einen
fachfremden Brotjob zum Unterhalt der Familie auszuüben, ohne darüber die gute
Laune oder den fachlichen Anschluss zu verlieren…
„Na wie haben Sie die seismische
Morgengymnastik unseres Planeten erlebt? Das waren ja immerhin Stöße bis 4,5.“
„Ehrlich gesagt, mich beschäftigt immer noch,
dass ich so ein Schisser gewesen bin. Es war so, als habe ganz L.A. einfach
weitergeschlafen. Während ich mir vor lauter Angst noch nicht einmal die Zähne
geputzt, geschweige denn eine Dusche
genommen habe.“
„Glauben Sie nur nicht die Leute entlang des
St. Andreas-Grabens oder des San Fernando Valleys hätten keine Angst. Nur, die
Bedrohung wächst von Jahr zu Jahr und ist somit gewissermaßen alltäglich
geworden. Jeder weiß, dass es beim Big Bang nur Gott und den Zufall gibt, wenn
es ums Überleben geht.“
Norma Culver ergänzte:
„Das gilt für diese Gegend hier übrigens
genauso, nur dass sie eben nicht so dicht besiedelt ist. Die Touristiker in
diesem Teil Montanas haben viel investiert und halb Hollywood hat sich hier
unterm Big Sky angesiedelt. Wenn die Stars nur ahnten, dass sie vom Regen in
die Traufe übersiedelt sind, käme es hier zum totalen Zusammenbruch des
Immobilienmarktes. Unsere fortlaufenden Studien ergeben einen sich für
geologische Maßstäbe rapide ausdehnenden Eruptions-Zirkel, eine ‚Caldera’,
unter dem Nordostrand des Yellowstone – also genau hier an der Grenze zwischen
Montana und Wyoming. Jetzt kann man den Deckel nachrichtenmäßig noch
einigermaßen auf dem Kessel halten, aber in spätestens zehn Jahren werden sich
die wissenschaftlichen Prognosen und Warnungen überschlagen. Hier könnte es zu
einer Magma-Explosion kommen, die das Erdklima und damit unseren gesamten
Planten nachhaltig verändert…“
Als Johannes zwei Tage später aufbrach, um
seinen Auftraggeber zwecks zu leistender Anzahlungen und
Vertragsunterzeichnungen in Calgary, im kanadischen Alberta, vom Flughafen
abzuholen, packte ihn in den unheimlichen Weiten ein Einsamkeitsgefühl in bis
dahin nie erlebter Stärke. Manchmal verging auf dem sechsspurigen Highway mehr
als eine Viertelstunde bis er mal wieder ein anderes Fahrzeug zu Gesicht bekam. Und noch etwas nagte in seinen
Eingeweiden, als hätte er für eine Prüfung nicht genug gelernt: Die Gewissheit,
dass er irgendetwas in den letzten Tagen überhört, nicht richtig gewichtet oder
anders eingeordnet hatte, als es notwendig gewesen wäre.
Erst
als der erwartete Verlagsmanager nicht am Gate auftauchte, hallten die Worte
von „Raffzahn“ Rafferson in ihm nach. ‚Er mache sich zum Affen für einen
Kunden, der schon längst ohne ihn plane’. Seine Paranoia stieß sich mit Macht vom
Boden des Bassins der Behaglichkeit ab, wo sie sich platt gemacht hatte wie
eine Flunder und jagte wie ein Hecht an die Oberfläche. Was hatten die gewusst?
War diese Reise ein Ablenkungsmanöver in einem Fait-à-complit gewesen? Er saß
auf einem Berg von Vorlaufkosten und er war im ehemals wilden Westen – also
nahm er symbolisch das Messer zwischen die Zähne und benützte mit einem
gewissen höhnischen Grimm das Firstclass-Roundticket, um am nächsten Morgen
wieder daheim zu sein. Dies waren die Momente, in denen Johannes immer am
besten funktionierte…
Während er in den Weiten Montanas über die
bedrohlich wachsende „Caldera“ unter dem Yellowstone Nationalpark nachgedacht
hatte, waren die tektonischen Platten der bundesdeutschen Medienlandschaft
zunächst unmerklich und dann immer schneller in Bewegung geraten.
War es wirklich der Geschäftsführer der zum
Konzern gehörenden Druckerei gewesen, der dessen Untergang eingeleitet hatte,
oder war es ein Masterplan nach dem dies alles passierte. Der Mann war spurlos mit
mehreren Millionen verschwunden und ein Jahr später war ihm das ganze
Geschäftsgeflecht, das sich immerhin mit seinen Umsätzen in den Top-Ten
befunden hatte, in diese Spurlosigkeit gefolgt. Es sollte vier Jahre, sieben
Monate und 21 Tage dauern, bis Johannes entkräftet aufgab, seine Außenstände
einzuklagen. Zwar hatten alle Gerichte die Berechtigung seiner Forderung sofort
erkannt, aber im Streit um die jeweilige Zuständigkeit derart lange verharrt,
dass am Ende nur noch eine einzige Landesbank als mögliche Rechtsnachfolgerin
auszumachen war. Die kündigte aber auch gleich an, schon aus Prinzip nicht vor
einem BGH-Urteil zu zahlen…
Natürlich hatte Johannes sofort als der
Karren in den Dreck steuerte, mit den Amerikanern Kontakt aufgenommen. Aber als
Pete nicht wie angekündigt kam und zwei Brüderpaare in den Folgejahren aus dem
Nichts mit explosionsartig wachsenden Aktiengesellschaften den Rechtehandel
begannen, der überwiegend aus überbewerteter Luft bestand, war Johannes klar,
dass die amerikanischen Netzwerker sich für weniger zaudernde und jüngere
Kandidaten entschieden hatten.
Johannes nahm mit Erstaunen aber ohne
Genugtuung Insiderinformationen zur Kenntnis, nachdem Banken auch den Untergang
des eigentlich als unantastbar geltenden Medienmoguls Leo Kirch bereits
initiiert hatten, und dass nach dem Ende des Jahrtausends offenbar
unterschätzte Witwen mit cleveren Beraterstäben über zwei Drittel der deutschen
Medienlandschaft herrschten. Gleichzeitig verloren viele Freunde, die mit den
Aktien der „neuen Märkte“ jongliert hatten, große Teile ihres Vermögens.
Johannes hatte hingegen wieder einmal große Teile seines Betätigungsfeldes
verloren.
Der
Autoren-Journalismus war tot. Die Printmedien dümpelten dem baldigen Verfall
entgegen, aber Fernsehen, Netzwerke und Telekommunikation boomten. Dieser Drang
mit allem in die Öffentlichkeit zu treten, wenn es nur obskur, pervers oder
absurd genug war, generierte so viele Opfer, denen geholfen werden musste.
Johannes machte sich ein Jahr nach seinem
fünfzigsten Geburtstag und erheblich angeschlagen noch einmal daran, sein berufliches Leben neu
auszurichten. Gerade glaubte er, es noch einmal schaffen zu können, da rasten
die von Islamisten entführten Flugzeuge in die „Tempel der Habgier“…