In Hamburg gab es wahrnehmbar keine jüdischen Mitschüler - zumindest nicht in der Seelmannstraße. Vielleicht wäre das klamme Gefühl des unausgesprochenen Schreckens, das die Heranwachsenden befiel, wenn sie das Wort „Jude“ in den Mund nahmen, dem Willen gewichen, sich auseinanderzusetzen und mehr zu erfahren. Die vornehmen Hanseaten - die gerne von "Menschen mosaischen Glaubens" sprachen - hielten es mit ihren Sprösslingen wie ein späterer Kanzler: Sie nahmen für die Kinder der Täter-Generation "die Gnade der späten Geburt" in Anspruch. Ansonsten wurde verschwiegen, was nicht auszusprechen war - vor allem von denjenigen, die trotz aller Beteuerungen Bescheid gewusst hatten und sich deshalb ob ihrer Ohnmacht unendlich schämten. Ob die Eltern von Johannes in diese Kategorie gehörten, war nie wirklich auszumachen, es war jedoch klar, dass jegliches antisemitische Gedankengut Abscheu bei ihnen erweckte. Das ging allerdings nicht so weit, dass sie einem Onkel, der mit Vorliebe bei Tisch jüdische Witze wie Judenwitze (das ist ein großer Unterschied) erzählte, das Wort verboten.
Und schon daran wird ein Mechanismus der Verunglimpfung deutlich: Da selbst jüdische Witze von Juden erzählt karikieren, entstand bei dem kleinen Johannes die Vorstellung, bei Juden handele es sich vor allem um komische Menschen, die komisch reden und nur ihr eigenes Wohlergehen im Sinn haben. Die Auseinandersetzung mit der tragischen Vergangenheit war damit im Kinderkopf schon konterkariert.
Erst ein paar Jahre eigener Wissbegier später und die Tatsache, dass er in München jede Menge jüdischer Mitschüler hatte, rückte sein Bild einigermaßen zurecht. Und er war darauf hin auch begierig, seine Erfahrungen mitzuteilen.
So wählte er sich in einer Deutsch-Schulaufgabe einmal das Aufsatz-Thema "Wie Vorurteile entstehen". Die Argumentation schien schlüssig, aber dem Deutschlehrer passte sie gar nicht. Er verschanzte sich hinter der mangelhaften Rechtschreibung, um ihm die verdiente gute Note zu verweigern. Die Mechanik, durch Manipulation und Interpretation penetrierender Botschaften Meinung zu machen, hatte Johannes jedenfalls so gut entschlüsselt, dass er sie zu seiner Schande im späteren Leben mit Profit selbst einsetzte.
Aber noch war Johannes auf dem Weg zum Gutmenschen - wenn auch gesundheitlich angeschlagen. Die Doppelseitige Lungenentzündung, die ihn 1961 nicht nur schulisch zurückwarf, führte einen Menschen an sein Krankenbett, der mit ihm umging, als hätte der Schuster Will Sanders ihm quasi den Staffelstab posthum übergeben: Dr. Moss Mausele.
Der alte Johannes kam in seinen durchwachten Nächten nicht daran vorbei, seinen väterlichen Mentor der Pubertätsjahre auch vor dem Hintergrund, der kürzlich entfachten Diskussion über eine "Gesundheitsreform" zu sehen. Wobei ja der Begriff Gesundheitsreform ihm - dem Sprachpuristen - ohnehin schon sauer aufstieß. Denn tatsächlich hätte es ja um eine "Reform des Gesundheitswesens" gehen müssen. Dafür, dass es mit der Volksgesundheit zum Besten stand, dafür sorgten ja bereits die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen: Der Krankenstand der Werktätigen und Arbeitnehmer war aus Angst um den Arbeitsplatz 2005 auf Niedrigststand gesunken, die Kassenbeiträge jedoch auf den Höchststand geklettert.
Dr. Mausele war ein praktischer Arzt, der Tag und Nacht Hausbesuche machte. Er war auch noch so "praktisch", dass er neunzig Prozent der Leiden, derentwegen er konsultiert wurde, nicht mit einem Überweisungsschein zum Facharzt kurierte, sondern weil er sich kümmerte und nicht gleich "der Nächste bitte!" rief. Vor allem war Dr. Mausele ein Mensch, der den Faktor Mensch beim Kranksein in eine ganzheitliche Betrachtungsweise einbezog - noch bevor das Jahre später zu einer erstaunlich teuren medizinischen Mode-Erscheinung stilisiert wurde.
Dr. Mausele war zudem und vor allem Jude. Jude in Deutschland, und das lenkte den Dialog zwischen dem Teenager und seinem Arzt in eine Dimension, die sicher über ein gewöhnliches Verhältnis zwischen Arzt und Patient hinausging.
Dr. Moses Mausele war dem Holocaust entgangen, weil er - der Hochbegabte - noch vor der "Machtergreifung" als Stipendiat nach Harvard gegangen war. Die Mitglieder seiner Familie und die der Familie seiner Verlobten starben im KZ Dachau. oder gerieten in die Gaskammern und Verbrennungsöfen von Sachsenhausen.
"Wieso sind Sie zurückgekommen?", fragte ihn Johannes, als er das erfahren hatte.
"Aus dem gleichen Grund, wieso alle anderen in meiner Familie gestorben sind. Du bist ein evangelischer Deutscher, ich bin ein jüdischer Deutscher. Wir sind beide nicht sonderlich religiös - also bedeutet das vermutlich sogar, dass wir zu allererst Deutsche sind. Ich bin hier in München, in Schwabing geboren und habe mein Abitur hier gemacht und die ersten Semester studiert. Nie hätte ich geglaubt, dass sich meine Landsleute mal gegen mich wenden würden", antwortete Dr. Mausele mit belegter aber nachdrücklicher Stimme, und er fuhr mit leise lächelnder Melancholie fort:
"Die Vorurteile, Ressentiments oder Gehässigkeiten - wie immer du sie nennen willst, sind so alt wie das Judentum selbst, und sie sind keine deutsche Erfindung. Bevor ich nach Harvard ging, war ich Nichtschwimmer. Harvard hatte aber auf Wunsch eines Stifters damals als Ritual und Aufnahmebedingung, dass man das Becken der Schwimmhalle durchschwimmen können musste. Es hat in etwa die Länge der Distanz, die ein Mitglied der Stifterfamilie beim Untergang der Titanic trotz Schwimmweste nicht zum Rettungsboot geschafft hatte, weil er Nichtschwimmer war. Ich lernte also extra Schwimmen, und das erzählte ich dem Tutor. Ich weiß, es war zunächst nur ein Witz, als er meinte: ‚Wieso das? Moses! - Du hättest doch das Wasser teilen können.’ Es war aber nur der Anfang. Später verging in unserer exklusiven Fakultät mit einer Reihe jüdischer Kollegen kaum ein Tag, wo über die Tatsache, dass ich Jude bin und Moses heiße, keine Witze gemacht wurden. Deshalb habe ich mich schließlich Moss genannt. Eine Ausnahme gab es nicht. Selbst in der Sanitätseinheit, zu der ich mich freiwillig gemeldet hatte, weil ich helfen wollte, Deutschland zu ‚befreien’, gab es deutlich antisemitische Tendenzen. Das Kuriose, die Männer, die ich als Lieutenant führte, waren überwiegend schwarz oder asiatischer Abstammung."
Woran es gelegen hatte, dass sie sich beide in der Folge gegenseitig die Herzen ausschütteten? Man weiß es nicht. Die Vermutung liegt nahe, dass Mausele, da unverheiratet, ohne Familie und demzufolge ohne privaten Umgang mit Kindern ein Defizit an pädagogischer Fürsorge wettmachen wollte. Im Falle von Johannes schien es umgekehrt völlig klar: Dr. Mausele nahm ihn ernst und hielt ihn nicht - wie sein Vater dies tat - für einen Versager. Nachdem er seinem Arzt die Sache mit dem "Ungeheuer vom Amazonas" anvertraut hatte, und der sich wohl auch gegenüber den Eltern an seine Schweigepflicht gebunden gefühlt hatte, war er zum Vertrauten Nummer Eins von Johannes geworden. Die Zeit der Rekonvaleszenz führte sie ja regelmäßig zusammen. Darüber hinaus jedoch wagte der Knabe keinen Kontakt, weil er die offensichtliche Güte des Mannes nicht ausnützen wollte. Als seine psychischen Probleme zu den ominösen "vegetativen Distonien" führten, hatte er ihn doch mit so einem unvergleichlichen Bild beeindruckt:
"Johannes, du steckst so voller großer Ideen. Wenn du deine Situation verstehen willst, führe dir einen engen Straßentunnel vor Augen, der voller amerikanischer Straßenkreuzer steht. Das ist deine Seele. Alle Autos wollen auf einmal an das erleuchtet Ende, und deshalb gibt es den Stau. Entweder du machst deine Gedanken kleiner oder du wartest, dass für deine Luxusfahrzeuge der Tunnel verbreitert wird. Wenn du es erzwingen willst, riskierst du überhitzte Motoren oder Blechschäden..."
Johannes hatte in der Rekonvaleszenz, als er nicht mehr sofort Kopfschmerzen bekam, wenn er die Augen aufmachte, angefangen, Lesestoff in jedweder Form zu verschlingen. Er las die "Süddeutsche" und den "SPIEGEL" von vorne bis hinten und verleibte sich, ohne besondere Vorlieben zu entwickeln, Romane, Biographien, Fach- und Sachbücher ein, als gelte es, den gesamten Wissensstand der Welt in sich zu vereinigen. Er war sicher der Schüler mit der besten Allgemeinbildung in seiner Klasse, aber die war eben kein Schulstoff und somit nicht gefragt. Seine Noten waren so wechselhaft wie sein Gesundheitszustand. Und dann geschah auch noch Grausames mit seinem Körper.
Er konnte noch so lange unter der Dusche stehen, er begann trotzdem so zu stinken, dass er es mit sich selbst kaum noch aushielt. In knapp einem halben Jahr legte er zehn Zentimeter Körperlänge zu, aber eine Furunkulose, die gleichzeitig ausbrach, entstellte ihn dermaßen, dass er nur noch gebückt herumlief, als wolle er sich permanent verstecken. Er war wieder zum Außenseiter geworden. Diesmal jedoch zum Außenseiter unter Außenseitern, denn dass es vielen Jungs altersbedingt in seinem Umfeld exakt genau so erging, nahm er bei seiner Nabelschau nicht wahr. Er war einfach nur unglücklich. So unglücklich wie noch nie in seinem ganzen Leben... Wirklich?
Er begann, sich daran zu erinnern, wie es damals war, als er schon einmal in so einer Situation gesteckt hatte und entdeckte den Sport wieder. Er legte die Bücher zur Seite und rannte und schwamm, und spielte bis zum Umfallen Fußball oder Tennis. Die Schlaksigkeit seines Körpers wich zunächst einer sehnigen Athletik. Die straffe Haut war über Nacht von Pickeln und Furunkeln befreit. Die Kiekser und Krächzer in seiner Stimme waren verschwunden, und die im Wachstum gedehnten Stimmbänder in seinem Kehlkopf erzeugten einen schönen Bariton. Die milliardenfach durchlebte und durchlittene Phase der biologischen Mannwerdung, die dennoch jedem Knaben zur individuell zu meisternden Reifetortur gerät, ist natürlich auch für Johannes nicht glimpflicher abgelaufen. Sein Sexualtrieb schien zwar moderater ausgeprägt zu sein als bei seinen Altersgenossen, die sich in den Umkleiden der diversen Sportarten bei abstrusen Phantasien regelrechte Onanier-Wettbewerbe lieferten.
Aufgeschlossen und tolerant erzogen gegenüber körperlichen Dingen aber festen Willens, sie intim und individuell zu erleben, musste er mit dem Umstand zurecht kommen, dass sein Knaben-Kopf jetzt auf einem athletischen Männerkörper saß. Er war fünfzehn, 186 cm groß und wog ohne ein Gramm Fett am Körper 90 Kilo. Den gleichaltrigen Mädchen machte er damit Angst, aber für reifere Frauen gereichte er durchaus zum Lustobjekt, was er aber wiederum verstandesmäßig noch gar nicht wahrnahm. Nicht, dass Johannes von seinen Eltern für damalige Verhältnisse nicht ordentlich genug aufgeklärt gewesen wäre. Den Rest konnte er sich ja auch schon zusammenreimen - zumal die jüngere seiner beiden Schwestern im letzten Sommer-Urlaub mit ihrem zukünftigen Ehemann ziemlich laut zur Sache gegangen war.
Gut, dass es einen väterlichen Freund wie Dr. Mausele gab. Aber in dieser Frage geriet er auf freundlich bestimmte Art an den Falschen.
Der Grund war Johnnes' eindeutiger Hang zu seinen jüdischen Mitschülerinnen. Für ihn war die Sache nach "mauselescher Betrachtungsweise" einfach: Er war ein evangelischer deutscher Junge, der sich in jüdische, deutsche Mädchen verknallen wollte. Als Erwachsener hat er oft versucht, im Nachhinein die Widersprüchlichkeiten dieses Unterfangens zu analysieren. Er kam zu keinem Ergebnis, dass nicht irgendwie mit Vorurteilen zu tun gehabt hätte.
Die nicht jüdischen Mädchen seines Jahrganges hatten meist keinen Sexappeal und waren oberflächliche Puten, die nur belangloses Zeug plapperten. Seine jüdischen Mitschülerinnen hingegen waren allesamt sowohl geistig als auch körperlich ein Stück weiter. Sie strahlten nicht nur eine verheißungsvolle Sinnlichkeit aus, sondern vermochten auch schon eigenes Begehren in spannende Worte zu kleiden. Das lag ganz klar an der häuslichen Einbindung. Natürlich wurde er zu den Mädchen nach Hause eingeladen, und anders als bei den nicht jüdischen Mitschülerinnen musste auch die Tür zu ihren Zimmern nicht offen stehen, während er sie besuchte. Es konnte noch so viel erotische Spannung knistern - es passierte nichts. Die Mädchen gehorchten - eines ums andere - einer Verantwortung für sich und ihre Familien. Dort, wo Gefahr bestand, machten dann die Mütter freundlich aber bestimmte Bemerkungen, die keinen Zweifel daran ließen, dass er sich in der Nähe einer unsichtbaren Barriere bewegte.
Johannes, der ein gutes Jahrzehnt später eine praktizierende Katholikin aus einem strenggläubigen Elternhaus toleriert zum Heiraten nur ins Standesamt führen würde, musste darüber mit Dr. Mausele sprechen.
"Hätte ich eine Tochter, ich würde auch versuchen, zu verhindern, dass aus einer Freundschaft mit dir mehr würde. Nenne es ein mittlerweile genetisch verwurzeltes Misstrauen gegenüber allen, die nicht jüdisch sind. Aber wenn ich es richtig bedenke, selbst wenn du mit allen Konsequenzen Jude würdest, würde ich es - glaube ich - nicht wollen, und das hat ganz sicher nichts mit dir als Person zu tun. Denn in meinen Augen bist du ein ganz besonderer Mensch. Möglich, dass die Furcht, einmal in so eine Situation zu geraten, mich davon abgehalten hat, eine Familie zu gründen.."
Johannes wollte nicht glauben, dass das der gleiche Mann gesagt hat, der ihm sein Leben immer auf so wunderbare Weise erklärt hatte. War das wirklich der gleiche Mann? Johannes konnte nicht anders. Er stellte ihm die brennende Frage:
"Aber ist ein solches Denken - auch wenn sie kein Familienvater sind - nicht die Grundlage aller Vorurteile?"
"Da könntest du Recht haben."
Dienstag, 30. Juli 2013
Sonntag, 28. Juli 2013
FSK
Die Erkenntnis, dass - wer Geld haben möchte - dafür arbeiten muss, stellte sich bei Johannes schon ab dem ersten Schuljahr ein. Es ging dabei nicht um Taschengeld gegen Wohlverhalten, sondern um Dienstleistung gegen Vergütung. Selbstverständlich hätte er Will Sanders auch allein wegen der tollen Gespräche geholfen. Aber der Schuster bestand darauf, dass sie eine Art Arbeitsverhältnis eingingen. Auch wenn sie es nicht so genannt hätten, erfüllte ihr Arrangement alle Grundprinzipien: feste Arbeitszeiten, klar umrissene Aufgaben, regelmäßige Bezahlung.
Natürlich war das nicht die Fron degoutanter Kinderarbeit, und wenn Johannes in seinen Erinnerungen ganz ehrlich war, konnte er sich heute des Verdachtes nicht erwehren, dass Sanders die ihm überlassenen Arbeiten spielend selber hätte erledigen können. Bisweilen wird er wohl auch noch ein wenig nachgeholfen haben, damit es für den Kleinen auch genug zu tun gab. In der nicht mehr ständig präzise zu ordnenden Welt seiner Gedanken sehnte sich Sanders nach der klaren Abstraktheit in den Fragen des Kleinen und den daraus resultierenden Schlussfolgerungen, die ihm selbst mitunter wieder kurz Orientierung verschafften.
Johannes Aufgabe bestand darin, zweimal die Woche am Freitag und Samstag jeweils nach Schule und Mittagessen die Sohlen- und Absatz-Vorschnitte aus Leder und Gummi, die im Laufe der Arbeit durcheinander gerieten, wieder nach Größe, Material, Profil und Geschlechtern in entsprechende Fächer zu sortieren. Danach musste er alle Winkel der Werkstadt nach Schnittresten absuchen, sie einsammeln und in eine Maschine füllen, die er aber nicht bedienen durfte. Sie schredderte nämlich diese Reste. Sanders füllte sie in Jutesäcke, die er mit seinem „Tempo“-Dreirad irgendeiner Firma für Bodenbeläge brachte, wo sie dann weiter verarbeitet wurden.
Die Eltern von Johannes wären vermutlich höchst verwundert gewesen, hätten sie von diesem "geschäftlichen" Arrangement erfahren. Denn wie es der Zufall wollte, endete die Arbeit immer pünktlich zur Nachmittagsvorstellung im Alsterdorfer Filmcasino, das sich eine Wand mit Sanders' Werkstatt teilte, und der offizielle Lohn von 50 Pfennigen reichte für den Eintritt. Mit den zehn Pfennig, die es mitunter als "Trinkgeld" extra gab, wurden entweder Frigo-Tütenbrause oder eine Fünferpackung MaoAm-Fruchtkaubonbon gekauft. Es war der Beginn einer Kino-Leidenschaft, die später als Erwachsener über die Phasen "Latenight-Doublefeature", Mulitplex, Video und DVD aus Johannes einen fanatischen Filmegucker machen sollte. Sie führte aber auch dazu, dass sein überempfindsames Gemüt des Öfteren nachhaltiger verletzt wurde, als es sein Umfeld mitbekam.
Die Wahrnehmung von Kindern ist paradox. In den Fuzzy- und Lassy-LaRock-Western, die den Kindern in den 1950ern vorgespielt wurden, stapelten sich die Leichen, ballerten die Helden einen nach dem anderen über den Haufen, schlugen Köpfe ein, schleiften Feinde am Lasso hinter sich her - und das kindliche Publikum brüllte vor Lachen. Der Tod als Comedy entbehrte jeglichen Schreckens. Aber wehe es gab nur einen leisen Anflug von Horror. Das unwägbare Reizen der Urängste - da ist sich Johannes heute sicher - richtete mehr Schaden an als jede offenbar dramatisierte obskure Gewalt.
Sein Schlüssel-Erlebnis war der Film "Der Schrecken vom Amazonas" (heute bei Cineasten ein Klassiker des Genres, damals verpönte Pulpfiction). Die FSK, die freiwillige Selbstkontrolle mit der die Produzenten ihre Werke auf möglicherweise schädliche Einflüsse abklopften, steckte noch in den Kinderschuhen und beschränkten sich üblicher Weise auf das Thema Sex. Dass die Untergrenze für Filme, die Kinder ohne Begleitung der Eltern im Kino sehen durften, auf das vollendete sechste Lebensjahr festgesetzt worden war, wurde schon als Errungenschaft gefeiert.
Johannes und seine Frau Esther hatten wegen der eigenen Erfahrungen ihre Kinder bis sie zumindest zwölf waren, zu jedem Film begleitet. Zur opportunen, gewaltfreien Erziehung gehörte, dass Filme mit Gewalt nicht geschaut wurden. Cornelius bekam auch kein Kriegsspielzeug, was ihn nicht daran hinderte, sich aus allen möglichen Bausteinen, Holzteilen und Metallresten selber imaginäre Schießprügel zu basteln...
Mit Martha war Johannes unter größtem Vorbehalt in "Schindlers Liste" gegangen, weil gerade der Holocaust in der Schule „behandelt“ wurde. Martha, die sich von jeher nur Bücher und Filme gab, bei denen von vornherein feststand, dass sie "gut ausgehen", war hinterher weniger erschüttert als er selbst.
Das kurioseste Erlebnis in dieser Hinsicht hatte ihm jedoch der Zeichentrickfilm "Watership Down" bereitet. Zu diesem Zeitpunkt irgendwann Ende der Achziger als die zunehmenden Privatfernsehsender eine Lawine unkontrollierter Unterhaltungsgewalt losgetreten und sie es irgendwie aufgegeben hatten, die Kinder schützen zu wollen, war er auf eine derartige Reaktion einfach nicht mehr gefasst.
In dem Film geht es um eine Kaninchen-Familie, die sich Umstände halber auf Wanderschaft begeben muss. Im Laufe der Abenteuer, die es zu bestehen gilt, treffen diese lieben und brav dargestellten Kaninchen auf böse, räuberische Wild-Kaninchen, deren Anführer - genial böse gezeichnet - den guten Kaninchen mit Kratzen und Beißen Gewalt antut. Beide Kinder konnten nicht mehr hinsehen, versteckten sich hinter dem Sofa, wollten gar, dass der Fernseher ausgeschaltet wird...
Johannes nahm den Vorgang sehr ernst, denn er hatte ja immer noch die Folgen des "Ungeheuers vom Amazonas" zu ertragen: Horror-Spannung beruht darauf, dass die Protagonisten im Handlungsablauf etwas machen, was Zuseher in der gleiche Situation unter keinen Umständen täten, weil sie ihnen ja angst macht. Hätte also Johannes gewusst, dass sein Unterbewusstsein derart auf inszenierte Reize reagiert, hätte er sich diesen Film nie und nimmer angeschaut und die fünfzig Pfennig lieber für einen herumballernden Fuzzy ausgegeben. Aber ein Achtjähriger kann das eben nicht abschätzen - und wenn - würde er es sich selbst gegenüber zugeben?
Im besagten Film treibt ein schuppiges mit Krallenhänden bewehrtes Mensch-Reptil-Wesen mordend sein Unwesen im Dschungel des Amazonas. Ein Forscher-Team fühlt sich dadurch herausgefordert und begibt sich sichtbar unvorbereitet in diesen Dschungel.
Aber die ahnungslos durch den Dschungel stolpernden Forscher können eben das nicht sehen, was das Publikum sieht: Wie die Krallenhand des Untiers sich aus dem Sumpf reckt, wie es still von hinten an seine Opfer heran tritt und mit einem einzigen Krallengriff ins Gesicht umbringt. Aus selbsttherapeutischen Gründen hatte sich Johannes den Film als Erwachsener in einem Programm-Kino noch einmal angeschaut und dabei erst das köstliche, augenzwinkernde Anspielen auf die alte La-Belle-et-la-Bète-Thematik wahrgenommen. Jack Arnolds "Creature From The Black Lagoon" war für den großen Johannes ein Spaß, der dem kleinen Johannes in der Folge fast das Leben gekostet hatte.
Nicht direkt, sondern zeitlich einige Wochen versetzt, begann das Ungeheuer nachts in den Träumen des Knaben aufzutauchen. Und zwar immer nur mit drei Szenen: die Fußspuren im Sand der Lagune, das Recken der Krallenhand aus dem Sumpf und der mörderische Griff ins Gesicht. Bis zum Ende der Pubertät sollte es in regelmäßigen Abständen immer wieder kommen. Der Knabe reagierte auf die Heimsuchungen erst mit gehetzter Atmung, später mit Hyperventilation und unerklärlichen Schweißausbrüchen, nach denen bis zu dreimal nachts die Bettwäsche gewechselt werden musste. Als er in München dann sein eigenes Zimmer hatte, fielen diese Anfälle den anderen Familienmitgliedern nicht mehr so auf, und so kam es, dass ein besonders schwerer Anfall im Jahr des Berliner Mauerbaus einmal übersehen wurde. Johannes hatte sich klitschnass frei gestrampelt und sich unter dem offenen Fenster eine beidseitige Lungenentzündung eingefangen. Fast ein Jahr seines jungen Lebens ging dadurch verloren.
Während die Eltern - nachdem das Fieber einige Wochen kaum zurückging und auch immer wieder kam - von einem Virus in Folge einer Türkei-Reise ausgingen, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand mehr vom wahren Grund für die Anfälle.
Natürlich hatte Johannes Will Sanders sofort von seinem Horror erzählt, aber wie hätte ein Mensch in dessen Gehirn ganz andere Horrorszenen nisteten, dem Kleinen Hilfe leisten können? In seiner nicht verschütteten Fürsorge für Kinder, verlangte der Schuster von nun an lediglich, dass Johannes ihm sagte, welche Filme er sich anschauen wollte. Onkel Will, der mit dem Filmvorführer regelmäßig ein Bier trank, fragte diesen dann immer, ob der Streifen für den Knaben unbedenklich sei. Nach dem Umzug in die bayerische Metropole musste Johannes zunächst mit seinem Monster alleine zurechtkommen. Er hätte sich lächerlich gefühlt, sich anzuvertrauen, und so bedurfte es eines weiteren Menschen außerordentlicher Herzensgüte, um das Monster nach einigen Jahren loszuwerden…
Natürlich war das nicht die Fron degoutanter Kinderarbeit, und wenn Johannes in seinen Erinnerungen ganz ehrlich war, konnte er sich heute des Verdachtes nicht erwehren, dass Sanders die ihm überlassenen Arbeiten spielend selber hätte erledigen können. Bisweilen wird er wohl auch noch ein wenig nachgeholfen haben, damit es für den Kleinen auch genug zu tun gab. In der nicht mehr ständig präzise zu ordnenden Welt seiner Gedanken sehnte sich Sanders nach der klaren Abstraktheit in den Fragen des Kleinen und den daraus resultierenden Schlussfolgerungen, die ihm selbst mitunter wieder kurz Orientierung verschafften.
Johannes Aufgabe bestand darin, zweimal die Woche am Freitag und Samstag jeweils nach Schule und Mittagessen die Sohlen- und Absatz-Vorschnitte aus Leder und Gummi, die im Laufe der Arbeit durcheinander gerieten, wieder nach Größe, Material, Profil und Geschlechtern in entsprechende Fächer zu sortieren. Danach musste er alle Winkel der Werkstadt nach Schnittresten absuchen, sie einsammeln und in eine Maschine füllen, die er aber nicht bedienen durfte. Sie schredderte nämlich diese Reste. Sanders füllte sie in Jutesäcke, die er mit seinem „Tempo“-Dreirad irgendeiner Firma für Bodenbeläge brachte, wo sie dann weiter verarbeitet wurden.
Die Eltern von Johannes wären vermutlich höchst verwundert gewesen, hätten sie von diesem "geschäftlichen" Arrangement erfahren. Denn wie es der Zufall wollte, endete die Arbeit immer pünktlich zur Nachmittagsvorstellung im Alsterdorfer Filmcasino, das sich eine Wand mit Sanders' Werkstatt teilte, und der offizielle Lohn von 50 Pfennigen reichte für den Eintritt. Mit den zehn Pfennig, die es mitunter als "Trinkgeld" extra gab, wurden entweder Frigo-Tütenbrause oder eine Fünferpackung MaoAm-Fruchtkaubonbon gekauft. Es war der Beginn einer Kino-Leidenschaft, die später als Erwachsener über die Phasen "Latenight-Doublefeature", Mulitplex, Video und DVD aus Johannes einen fanatischen Filmegucker machen sollte. Sie führte aber auch dazu, dass sein überempfindsames Gemüt des Öfteren nachhaltiger verletzt wurde, als es sein Umfeld mitbekam.
Die Wahrnehmung von Kindern ist paradox. In den Fuzzy- und Lassy-LaRock-Western, die den Kindern in den 1950ern vorgespielt wurden, stapelten sich die Leichen, ballerten die Helden einen nach dem anderen über den Haufen, schlugen Köpfe ein, schleiften Feinde am Lasso hinter sich her - und das kindliche Publikum brüllte vor Lachen. Der Tod als Comedy entbehrte jeglichen Schreckens. Aber wehe es gab nur einen leisen Anflug von Horror. Das unwägbare Reizen der Urängste - da ist sich Johannes heute sicher - richtete mehr Schaden an als jede offenbar dramatisierte obskure Gewalt.
Sein Schlüssel-Erlebnis war der Film "Der Schrecken vom Amazonas" (heute bei Cineasten ein Klassiker des Genres, damals verpönte Pulpfiction). Die FSK, die freiwillige Selbstkontrolle mit der die Produzenten ihre Werke auf möglicherweise schädliche Einflüsse abklopften, steckte noch in den Kinderschuhen und beschränkten sich üblicher Weise auf das Thema Sex. Dass die Untergrenze für Filme, die Kinder ohne Begleitung der Eltern im Kino sehen durften, auf das vollendete sechste Lebensjahr festgesetzt worden war, wurde schon als Errungenschaft gefeiert.
Johannes und seine Frau Esther hatten wegen der eigenen Erfahrungen ihre Kinder bis sie zumindest zwölf waren, zu jedem Film begleitet. Zur opportunen, gewaltfreien Erziehung gehörte, dass Filme mit Gewalt nicht geschaut wurden. Cornelius bekam auch kein Kriegsspielzeug, was ihn nicht daran hinderte, sich aus allen möglichen Bausteinen, Holzteilen und Metallresten selber imaginäre Schießprügel zu basteln...
Mit Martha war Johannes unter größtem Vorbehalt in "Schindlers Liste" gegangen, weil gerade der Holocaust in der Schule „behandelt“ wurde. Martha, die sich von jeher nur Bücher und Filme gab, bei denen von vornherein feststand, dass sie "gut ausgehen", war hinterher weniger erschüttert als er selbst.
Das kurioseste Erlebnis in dieser Hinsicht hatte ihm jedoch der Zeichentrickfilm "Watership Down" bereitet. Zu diesem Zeitpunkt irgendwann Ende der Achziger als die zunehmenden Privatfernsehsender eine Lawine unkontrollierter Unterhaltungsgewalt losgetreten und sie es irgendwie aufgegeben hatten, die Kinder schützen zu wollen, war er auf eine derartige Reaktion einfach nicht mehr gefasst.
In dem Film geht es um eine Kaninchen-Familie, die sich Umstände halber auf Wanderschaft begeben muss. Im Laufe der Abenteuer, die es zu bestehen gilt, treffen diese lieben und brav dargestellten Kaninchen auf böse, räuberische Wild-Kaninchen, deren Anführer - genial böse gezeichnet - den guten Kaninchen mit Kratzen und Beißen Gewalt antut. Beide Kinder konnten nicht mehr hinsehen, versteckten sich hinter dem Sofa, wollten gar, dass der Fernseher ausgeschaltet wird...
Johannes nahm den Vorgang sehr ernst, denn er hatte ja immer noch die Folgen des "Ungeheuers vom Amazonas" zu ertragen: Horror-Spannung beruht darauf, dass die Protagonisten im Handlungsablauf etwas machen, was Zuseher in der gleiche Situation unter keinen Umständen täten, weil sie ihnen ja angst macht. Hätte also Johannes gewusst, dass sein Unterbewusstsein derart auf inszenierte Reize reagiert, hätte er sich diesen Film nie und nimmer angeschaut und die fünfzig Pfennig lieber für einen herumballernden Fuzzy ausgegeben. Aber ein Achtjähriger kann das eben nicht abschätzen - und wenn - würde er es sich selbst gegenüber zugeben?
Im besagten Film treibt ein schuppiges mit Krallenhänden bewehrtes Mensch-Reptil-Wesen mordend sein Unwesen im Dschungel des Amazonas. Ein Forscher-Team fühlt sich dadurch herausgefordert und begibt sich sichtbar unvorbereitet in diesen Dschungel.
Aber die ahnungslos durch den Dschungel stolpernden Forscher können eben das nicht sehen, was das Publikum sieht: Wie die Krallenhand des Untiers sich aus dem Sumpf reckt, wie es still von hinten an seine Opfer heran tritt und mit einem einzigen Krallengriff ins Gesicht umbringt. Aus selbsttherapeutischen Gründen hatte sich Johannes den Film als Erwachsener in einem Programm-Kino noch einmal angeschaut und dabei erst das köstliche, augenzwinkernde Anspielen auf die alte La-Belle-et-la-Bète-Thematik wahrgenommen. Jack Arnolds "Creature From The Black Lagoon" war für den großen Johannes ein Spaß, der dem kleinen Johannes in der Folge fast das Leben gekostet hatte.
Nicht direkt, sondern zeitlich einige Wochen versetzt, begann das Ungeheuer nachts in den Träumen des Knaben aufzutauchen. Und zwar immer nur mit drei Szenen: die Fußspuren im Sand der Lagune, das Recken der Krallenhand aus dem Sumpf und der mörderische Griff ins Gesicht. Bis zum Ende der Pubertät sollte es in regelmäßigen Abständen immer wieder kommen. Der Knabe reagierte auf die Heimsuchungen erst mit gehetzter Atmung, später mit Hyperventilation und unerklärlichen Schweißausbrüchen, nach denen bis zu dreimal nachts die Bettwäsche gewechselt werden musste. Als er in München dann sein eigenes Zimmer hatte, fielen diese Anfälle den anderen Familienmitgliedern nicht mehr so auf, und so kam es, dass ein besonders schwerer Anfall im Jahr des Berliner Mauerbaus einmal übersehen wurde. Johannes hatte sich klitschnass frei gestrampelt und sich unter dem offenen Fenster eine beidseitige Lungenentzündung eingefangen. Fast ein Jahr seines jungen Lebens ging dadurch verloren.
Während die Eltern - nachdem das Fieber einige Wochen kaum zurückging und auch immer wieder kam - von einem Virus in Folge einer Türkei-Reise ausgingen, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand mehr vom wahren Grund für die Anfälle.
Natürlich hatte Johannes Will Sanders sofort von seinem Horror erzählt, aber wie hätte ein Mensch in dessen Gehirn ganz andere Horrorszenen nisteten, dem Kleinen Hilfe leisten können? In seiner nicht verschütteten Fürsorge für Kinder, verlangte der Schuster von nun an lediglich, dass Johannes ihm sagte, welche Filme er sich anschauen wollte. Onkel Will, der mit dem Filmvorführer regelmäßig ein Bier trank, fragte diesen dann immer, ob der Streifen für den Knaben unbedenklich sei. Nach dem Umzug in die bayerische Metropole musste Johannes zunächst mit seinem Monster alleine zurechtkommen. Er hätte sich lächerlich gefühlt, sich anzuvertrauen, und so bedurfte es eines weiteren Menschen außerordentlicher Herzensgüte, um das Monster nach einigen Jahren loszuwerden…
Donnerstag, 25. Juli 2013
Will
„Das Leben ist ein reißender Bach, und das
Glück sind ein paar glitschige Steine auf dem Weg zum anderen Ufer. Du darfst
nicht zu lange auf ihnen verweilen, damit du nicht ausrutscht und du musst hin und wieder auch einmal einen
weiten Sprung wagen, mit dem Risiko, fortgespült zu werden. Bis zum letzten,
dem Sprung ans andere Ufer, weißt du nie, ob es letztlich das rettende
ist...“sagte Sanders.
Der Krieg hatte so manchen Lebenslauf viel
versprechender Männer drastisch verändert. So auch den von Will Sanders. Der
betrieb hinter dem Alsterdorfer Filmcasino eine Flickschuster-Werkstatt.
Johannes war damals noch zu klein, um zu erkennen, dass er zwei, drei mal pro
Woche bei einem der jungen Kriegsgreise seine Nachmittage verbrachte. Da er
auch seinen eigenen Vater als Nachzügler nur mit schlohweißen Haaren kannte,
hielt er seinen "Ersatzvater" eben einfach nur für alt. Erst
Jahrzehnte später, als er sich beruflich mit den Symptomen Verschütteter beschäftigen
sollte, machte sich Johannes Gedanken, wie alt Will Sanders gewesen sein
mochte.
Ein Mann, mit rundem, kahlem Schädel,
gebeugt über einen kürbisförmigen Unterleib auf seinem Dreh-Hocker über den
Leisten sitzend und durch Zentimeter dicke Brillengläser blinzelnd. Eigentlich
ein Typ wie ein Sittlichkeitsverbrecher, der einem Kind angst machen konnte,
wenn es nicht wie Johannes den Mut hatte, durch die dicken Gläser in diese
unendlich gütigen und schüchternen Augen zurück zu schauen. Will Sanders sah
mindestens zehn Jahre älter aus als der Vater von Johannes, der bei dessen
Geburt schon 41 gewesen war. Mit der Rekonstruktion an Hand der Anhaltspunkte
in der Erinnerung konnte der Schuster damals jedoch nicht älter als 35 gewesen
sein. Das heißt, er war gerade mal 39 als man ihn mit aufgeschnittenen
Pulsadern verblutet in seiner Werkstatt fand...
Ein Anblick, der Johannes als einer der
wenigen "privaten" Bezugspersonen zu dem Schuster eventuell nicht
erspart geblieben wäre, doch er war kurz vor dem Freitod von Sanders nach
München gezogen. Das Bild, das sich aufgrund der Schilderungen seiner Eltern
und Geschwister in seiner Vorstellung formte, war daher ein friedliches und bar
jeglichen Schreckens.
Schon der Begriff "Freitod", der in
hanseatischem Euphemismus anstatt des drastischeren "Selbstmord" von
Eltern und Bekannten gebraucht wurde, hatte für Johannes etwas Versöhnliches.
Er stellte sich vor, Will Sanders habe eines der aus Lastwagen-Federn
geschliffenen, selbst gemachten Schustermesser verwendet, von denen er Johannes
vier Stück geschenkt hatte und die dieser nun in einem geheimen Versteck in
München wie Reliquien aus seiner nordischen Heimat hütete. Der Tod war ein totales Abstraktum für den nun
Elfjährigen - existent nur in Comics, Western-Filmen und Büchern - nichts
Wirkliches. Die Akteure würden wieder von den Toten auferstehen, nach
vollbrachter Darstellung.
Also sah er folgende Szene in diesem nach
Leder, Schleifstaub und Leim riechenden Verschlag: Onkel Will hatte sich noch
einmal gütig in seinem Reich umgesehen, hatte einen seiner vielen
sinnbildlichen Sätze gedacht, die dem Knaben immer so eingängig gewesen waren,
und dabei seinen Arbeitsplatz wie vielleicht immer nach dem Tagwerk mit
verständnislosem Kopfschütteln verlassen. Dann war er wohl hinter den Vorhang
gegangen, den seine Schlaf- und Kochstelle von der Werkstatt abgegrenzt hatte.
Und wie andere dann das Licht löschen, hätte sich der Schuster die Pulsadern
geöffnet, um mal richtig ausschlafen zu können...
Schuster Sanders war ja schon aus dem Leben
von Johannes geschieden. Die Trauer des Abschieds hatte bereits mit dem noch
Lebenden verkraftet werden müssen. Da waren nun keine Tränen mehr für einen
weit entfernten Toten. Nur noch Erinnerungen an heimelige Nachmittage mit
Gedanken, aus denen Erzählungen und später beim erwachsenen Johannes adaptierte
Metaphern wurden.
Jetzt, da er die Bruchstücke dieser Zeit
zusammensetzte, stellte sich Johannes vor, wie sich diese einzigartigen
Gedanken ihren Weg aus einem geschädigten Hirn zu so tiefgründigen Äußerungen
gebahnt hatten.
Aufgrund seiner Sehschwäche aber auch in
Folge seiner Weigerung, der NSDAP
beizutreten, war der jüngste Philosophie- und Literatur-Professor der
Hamburger Universität ab 1943 als Notlehrer zu einer Notschule an der Hamburger
Straße im Osten der Stadt beordert worden, in der noch wenige Kinder, die nicht
aufs Land verschickt worden waren, unterrichtet werden sollten. Sie war unten
in ein ehemaliges Geschäftshaus verlegt worden, das oben schon einen
Bombentreffer abbekommen hatte, aber der Luftschutzkeller des benachbarten
Kaufhauses galt als sicher. Die Kinder mussten bei Alarm nur raus aus der Tür
und runter in den Bunker. Das war ein paar mal ruckzuck gegangen, und Will
Sanders hatte dann wohl manch bange Stunde des Wartens durch seine herrlich verrückten
Steggreifgeschichten überbrückt. Jeder hatte bereits seinen festen Platz
gehabt, ja, es war Sanders sogar
gelungen, unter einer Säule so eine Art Pult zu installieren, so dass
alle Kinder ihn sehen konnten...
Das sollte ihm das Leben retten, als bei
einem der letzten Tagesangriffe, die das bald weitgehend schutzlose Hamburg
während der "Operation Gomorrha" so erbarmungslos verwüstet hatten,
eine Bombe diagonal in das vorgeschädigte Haus geschlagen war. Sie hatte den
Luftschutzkeller geknackt und den Weg für eine gewaltige Staub- und Geröllhalde
geöffnet, zu der die Restruinen geworden
waren. Zwischen der Konsole der Säule und der Oberlippe von Will Sanders war
eine kleine Atemhöhle geblieben. Sie hatte den wohl halben Tag gereicht, in der
sich die Rettungsmannschaften ohne viel Hoffnung, aber in verzweifelter
Schufterei zum Teil mit bloßen
Händen in den Keller vorgearbeitet
hatten. Sein stehender Körper, die Körper aller zu seinen Füßen sitzenden
Kinder, waren in einer Masse aus Staub und Trümmern festgebacken. Der
hoffnungsvolle Professor hatte als einziger in dem Raum überlebt - nahezu
gelähmt, traumatisiert und mit stark beeinträchtigten Hirnfunktionen. Insgesamt
waren beinahe 400 Menschen in dem Kaufhausbunker erstickt. 400 von
insgesamt 10 000mal mehr Hamburger Bombenopfern...
Wann immer der erwachsene Johannes beruflich
nach Hamburg zurückkehrte und es sich einrichten konnte, suchte er das Denkmal
für diese Opfer auf. Es war dort mehr als ein Jahrzehnt später errichtet
worden, als die letzte Ruine beseitigt war. Es gelang ihm stets, Will Sanders
zum Leben zu erwecken, aber niemals, um ihn zu trauern. Dabei stellte er
mitunter fest, dass mehr vom geistigen Elixier des nur zeitweise behinderten
Schusters in ihm zurückgeblieben war, als etwa von der vermeintlichen
Lebenshilfe, die sein Vater ihm vermittelt hatte.
Die ersten Begegnungen mit Sanders fanden an
der Hand seiner Mutter statt, die mit drei Kindern und klammen Geldbeutel aus
den Schuhen das letzte herausholte. Er hatte sich zunächst hinter dem
ausladenden Hinterteil seiner Mutter versteckt, um die dicken Brillengläser
nicht sehen zu müssen, hinter denen die Augen des Schusters beängstigend groß
erschienen. Aber er kam ihnen ja nicht aus, weil Mutter sich in den Kopf
gesetzt hatte, die rundnasigen mit Löchern im Oberleder versehenen
Sommersandalen, die den Mädchen zu klein geworden waren, auf ihn umschustern zu
lassen. So waren - obwohl Onkel Will sein handwerklich Bestes gab - diese
Produkte zwar umgeänderte aber immer noch als solche zu erkennende
Mädchenschuhe, mit denen er dann auch in die Schule gehen musste. Er
strapazierte sie so stark wie es ging - immer in der Hoffnung, seine Mutter
würde dann mal wieder mit ihm in diesen Laden gehen, wo es die Lurchi-Heftchen
und ein Karussell in der Kinderabteilung gab. Außerdem gab es da noch einen
spannenden Apparat, der einem die Füße samt Schuhe durchleuchtete, damit die
Eltern sehen konnten, dass die Zehen auch nirgends anstießen. Aber das Unterfangen
war aussichtslos. Nur im Winter und als Weihnachtsgeschenke verbrämt, gab es
mal neue Schuhe für ihn und die mussten dann vor allem praktisch sein. Als
Erwachsener sollte er deshalb einen Schuhtick pflegen, der jede
Schuhfetischistin neidisch gemacht hätte.
Da sich die Sanders-Besuche also sommers
durch den zerstörerischen Gebrauch der schwesterlichen Erbschuhe häuften, ergab
es sich, dass Johannes alleine um die Ecke geschickt wurde. Er musste dafür
noch nicht einmal eine Straße überqueren, denn der Weg hinters Kino zweigte
gleich an der Parkgrenze zum Casino ab, und das einzige Fahrzeug, das diesen
benutzte, war Sanders' dreirädriger Lieferwagen der Marke „Tempo“.
Man darf sich die Dialoge der beiden etwa so
vorstellen: Der Knabe warf eine Frage in den "menschlichen
Antwortautomaten", die zunächst zögerlich aber dann doch funktional
präzise knapp beantwortet wurde. Dann entstand eine Pause, in der Johannes
nachhakte. Oder das Antlitz des Schusters verklärte sich und er begann ohne
Übergang aus seinem in zweifacher Hinsicht verschütteten Gedankengut analog
Interpretationen zu der nüchternen Auskunft.
Ein Beispiel: Zum Spielen zog Johannes die
verhassten Mädchenschuhe natürlich aus. Überhaupt war er ein leidenschaftlicher
Barfußläufer, wovon ihn auch ernstere Verletzungen nicht abbrachten. Einmal war
er beim Spielen in einem Abbruchhaus auf ein im Schutt verborgenes Brett mit
Nägeln gestiegen. Ein riesiger Baunagel bohrte sich von unten durch Sohle und
Rist. Herbeigerufene Bauarbeiter trauten sich nicht, das Brett samt Nagel zu
entfernen, sondern schleppten Johannes, so wie er war, in die nahe gelegene
Praxis vom Hausarzt der Familie, Dr. Finck. Wieder einmal gab er keinen
Schmerzenslaut von sich, was dem Arzt sehr willkommen war. Er jagte dem Kleinen
eine Tetanusspritze in den Zwetschgenhintern, zog das Brett mit einem Ruck
heraus, goss noch eine großzügige Portion brennendes Jod in das Loch und
fabrizierte einen enormen Verband, bei dessen Ansicht die Mutter von Johannes
fast in Ohnmacht fiel.
Johannes war bei der Behandlung vor allem
deshalb nicht bei der Sache, weil er sich Überlegte, woher das "n" im
Namen des Hausarztes auf einmal kam. Der hatte nämlich bei der letzten
Verarztung noch Dr. Fick geheißen. Die Halbstarken, die sie aus "ihrem"
Bunker vertrieben hatten, gebrauchten den Namen des Doktors auch immer mit
einem anzüglichen Grinsen. Sie sagten auch "Ficken" und taten ganz
groß damit, wenn die Jüngeren mehr wissen wollten.
Was lag also näher, als Onkel Sanders mal zu
fragen, was wirklich Sache ist:
"Onkel Will? Was ist eigentlich
Ficken?"
"Ficken! Altdeutsch für schnell hin und
her reiben! Wenn du Schuhe putzt, fickst du sie."
"Und warum hat der Onkel Doktor auf
einmal ein 'n' in seinem Namen?"
"Blöde Bombe! Wär' sie mir nicht auf den
Kopf gefallen, könnte dir Onkel Will sagen, wie es ist, wenn Mann und Frau
zusammen sind. Aber ich glaube, wenn sie richtig zusammen sind, sagen sie nicht
Ficken. Sie sagen lieb haben, sich lieben. Ficken ist nur so hin und her ohne
Herz - glaube ich."
Dienstag, 16. Juli 2013
Thora
München, Herbst 1971
Die Erforschung
weiblicher Verzweiflung, die Johannes quasi im Nebenfach betrieb, mündete in
eine Reihe von recht gewagten Theorien. Eine davon setzte den Grad der
Verzweiflung ins Verhältnis zu der Beziehung, die eine Frau als Tochter zu
ihrem Vater gehabt hatte. Es gab ausgesprochene Töchter-Väter. Walter, der
Vater von Johannes, war so einer. Mit Ulla und Vera hatte er sich erst drei und
dann weitere sechs Jahre im Töchter-Vater-Status zwar nach einem Stammhalter
gesehnt, aber als der dann im zehnten Jahr endlich auf der Welt war, konnte er
mit diesem nicht mehr so recht etwas anfangen. Für die Schwestern war das ein
Glück, denn sie konnten sich uneingeschränkt weiter in ihrem privilegierten
Prinzessinnen-Dasein sonnen, während sich Johannes Zeit seiner Kindheit
vergeblich um Anschluss an die Thronfolge bemühte.
Andere Töchter-Väter, die
sich wunschlos daran ergötzten, nur weibliche Familien-Mitglieder um sich zu
haben, bei denen also quasi dieses Thronfolger-Zeugungssyndrom fehlte,
entließen Frauen ins Leben, die, wenn man es so salopp ausdrücken wollte,
"ihren Mann" standen, herkulisch Probleme schultern konnten und
schwächere Männer durch ihre Unabhängigkeit gerne zu Abhängigen machten.
Thoras Vater, Prof. Dr. Dr.
Dr. August Meilleur ("der dreifache Doktor"), war ein Töchter-Vater,
der seine beiden Mädchen spüren ließ, dass er darunter litt, dass er für sein
kleines Imperium hessischer Privatkliniken keinen männlichen Nachfolger gezeugt
hatte. Als die biologische Uhr seiner Frau fürs Gebären abgelaufen war und die
Teenager bereits zu umwerfenden Schönheiten heranreiften, verkürzte er ihre
weibliche Namen in verzweifelter Kompensation maskulin in Thor und Alex
(Alexandra). Alsbald wollte er sie dann mit unbarmherziger Strenge in adäquate Medizin-Studien zwingen. Damit hatte
er sie für seine Ziele nicht nur verloren, sondern auch das Terrain für beider
ausweglose Verzweiflung bereitet.
Wäre Johannes in jenem
Oktober, da er Thora zum ersten Mal begegnete, im Erkenntnisstand seiner späteren
"Forschungsergebnisse" gewesen, er hätte vermutlich auf dem Absatz
kehrt gemacht. Aber er war ja noch ein eifriger Sammler kurioser Exemplare für
seinen "Menschen-Zoo". Und diese Frau war ein regelrechtes Exponat:
Obwohl sie auf der Treppe
sitzend wie ein Clochard mit an die Wand gelehntem Kopf schlief und ihr unschön
offener Mund entsetzliche Schnarchlaute von sich gab, tat das ihrer natürlichen
Klasse keinen Abbruch. Sie war Mitte Dreißig und somit mehr als zehn Jahre
älter als Johannes, dem eine Jüngere lieber gewesen wäre.
Sie hatte ihre langen
kastanienbraunen Haare so straff zu einem mädchenhaften Pferdeschwanz gebunden,
als könnte sie damit erste feine Fältchen an Stirn und Augen glätten. Trotz des
schlechten Lichtes schimmerte ihr fein geschnittenes, fast ungeschminktes
Gesicht durchscheinend wie eine chinesische Porzellan-Maske. Und sie hatte
Gottvertrauen, - so wie sie gekleidet war - in einem Abbruchhaus ein Nickerchen
zu machen. Zu sündhaft teuer aussehenden weißen Cowboyboots und roten Lederjeans
trug sie eine Polarfuchs-Jacke über einem goldenen Satinhemdchen, das
modellierend perfekte kleine Brüste umschmeichelte.
Johannes schrieb auf Probe
für dieses zwischenzeitlich vom Markt verschwundene, neue Luxus-Magazin, das
angetreten war, den Zeitschriften TWEN und JASMIN Konkurrenz zu machen, und das ihn für einen ersten
Auftrag mit dieser Frau zusammen gebracht hatte. Er wusste sofort, wer sie war,
obwohl er bislang nur von ihr gehört hatte. Also erkannte er auch, dass sie
eines der teuersten Cartier-Uhrenmodelle am Handgelenk trug und die einzelne
Perle an einer Goldkette zwischen ihren Brüsten ebenso echt war, wie ihr
ebenmäßiges Gebiss falsch. Verdammt noble Arbeitskleidung!
Er rüttelte sie sanft wach
und nahm dabei eine süßliche Mischung aus teurem Parfüm, Alkoholdunst und
abgestandenem, muffigen Zigarettenatem wahr.
In seinem späteren Leben sollte dank ihrer und zweier weiterer
desperater Damen nur der Anflug dieser Geruchsmelange akute Panikanfälle bei
Johannes auslösen:
"Warum sind Sie denn
nicht schon hinauf gegangen? Die warten ja bestimmt alle bereits auf Ihre
Anweisungen? – Ach, hallo! Ich bin übrigens Johannes Goerz. Ich begleite diese
Produktion als Ihr Texter."
Er zog sie auf gleicher
Stufe zu sich nach oben und stellte dabei fest, dass ihr unsicher flackernder
Blick versuchte, ihn auf gleicher Augenhöhe zu fixieren.
"Oh, Mann! Ich habe
absolute Scheiße gebaut. Ich war mit einem Kunden Mittagessen im Romagna
Antica. Als ich raus gekommen bin, waren die dabei, mich wegen der abgelaufenen
Parkuhr aufzuschreiben. Ich hatte vielleicht eine Viertelstunde überzogen; der
vierte Strafzettel in zwei Tagen. Ich hatte so eine Wut, dass ich demonstrativ wirklich ein 'Knöllchen' aus dem
Ding machte und es unters Auto warf.
Dann stieg ich ein und wollte los. Aber der Polizist stellte sich mir
schon halb auf der Straße in den Weg und verlangte, dass ich noch mal die
Scheibe runterkurbelte. 'Sagen Sie Fräulein' - der hat echt Fräulein zu mir
gesagt - 'könnte es sein, dass sie vielleicht Alkohol getrunken haben?' Dann
hat der am hellichten Tag wirklich einen Alkohol-Test mit mir machen wollen.
Und ich sagte: Na gut, dann blase ich Ihnen eben einen - Herr Oberförster! Du
weißt schon! Aus Rache für das 'Fräulein'. Ja, das hat dem nun überhaupt nicht
mehr gefallen. Er hat seinen Kollegen dazu geholt und gefragt, ob ich mich
weigere, ins Röhrchen zu pusten. Und ich: Das ist doch alles nur faschistische
Schikane von euch Scheißbullen! Schon hatte ich Handschellen um. Gott sei Dank hat der Wirt, der heraus geeilt kam, mir
gleich seinen Anwalt hinterher geschickt, sonst wäre der Aufnahme-Termin hier
geplatzt. Na ja, Führerschein weg, Auto abgeschleppt, Beamtenbeleidigung,
wiederholtes Fahren unter Alkohol-Einfluss. Ich werde wohl von Glück sagen
können, wenn ich nicht in den Knast muss."
Johannes schüttelte
bedauernd den Kopf.
"Soll ich das Shooting
abblasen?"
"Kommt gar nicht in
Frage. Nachher muss ich dann auch noch Konventionalstrafe zahlen. Das ziehen
wir jetzt durch, Kleiner! Wir sind Profis!"
Und so war es. Nach zwei
Kannen Killer-Kaffee war ihre erste gemeinsame Foto-Produktion im Kasten. Mit
der einzigartigen Modestrecke, die wenig später erschien, hatte Thora Meilleur
einmal mehr unter Beweis gestellt, wieso sie zu jenem Zeitpunkt eine der
am höchsten bezahlten Fotografinnen der
Welt war. - Und sie hatte Johannes mit in ihren Glanz gezogen. Seine
Dankbarkeit dafür sollte ihn jedoch noch einiges kosten.
Johannes bemühte sich, von
da an regelmäßig um ihre Schlamassel, löste als erstes ihr Porsche-Cabrio bei
der Polizei aus und lernte auf diesem Weg auch ihre Schwester Alex kennen, die
als promovierte Kunsthistorikerin bei einem großen Münchner Auktionshaus
arbeitete und am Nikolaiplatz in Schwabing wohnte. Alex hatte gerade ihren
neuen Alfa Spider zu Schrott gefahren und war dankbar, dass Thora ihr die
Schlüssel zu ihrem fahrbaren Untersatz für die Zeit ohne Führerschein überließ.
Alex, die drei Jahre jünger
war als ihre Schwester, machte auf Johannes einen sportlicheren und robusteren
Eindruck als Thora. Auch sie war mindestens 1,80 Meter groß und wirkte mit
ihrer gewaltigen Lockenmähne, als sei sie ein Überbleibsel aus dem Musical
Hair. Alex tat zwar ungezwungen, aber war doch unverkennbar mit dem Dünkel
einer Tochter aus reichem Hause behaftet:
"Bist ein bisschen jung
- hm?"
"Kommt drauf an - muss
ja kein Nachteil sein."
"Sie redet von dir -
als hättet ihr was miteinander."
"Davon kann überhaupt
nicht die Rede sein. Wir sind nichts als Kollegen. Ich glaube, sie ist momentan
nicht so gut drauf, da helfe ich ihr eben. - So wie sie mir geholfen hat. Seit
unserer ersten Zusammenarbeit erhalte ich Aufträge aus völlig neuen Richtungen.
Bislang habe ich mich ja überwiegend im Bereich Sport betätigt."
Johannes wurde auf einmal
klar, dass das ein wenig zu viel der Rechtfertigung gewesen war, weil er ein
süffisantes Grinsen bei Alex bemerkte.
"Schon gut! Scheinst
ein netter Kerl zu sein. Nett aber naiv! Thora ist nicht nur momentan nicht
sonderlich gut drauf. Sie ist eine hochgradige Alkoholikerin und was Männer
angeht, die ihr helfen - eine gnadenlose Heuschrecke. Lass sie nicht zu nah an
dich ran!"
"Keine Bange, ich habe
eine feste Beziehung."
"Dann gerade deshalb.
Das reizt sie immer besonders."
"Sie scheinen einander
ja in großer Liebe zugetan..."
"Lass dich nicht
täuschen. Thora ist mir das Wichtigste auf der Welt. Und wenn du ihr gut tust,
bin auch ich deine Freundin."
Den ganzen November
hindurch und die halbe Weihnachtszeit war es, als habe sich Johannes zwei
weitere ältere Schwestern eingehandelt. Nur war es diesmal so, dass diese sich
seiner in einer Fürsorglichkeit annahmen, wie ihm das noch nie widerfahren war.
Je mehr er darauf achtete, dass Thora die Finger vom Feuerwasser ließ, erblühte
sie. Je mehr Thora erblühte, desto enger rückte auch Alex an ihn heran, nahm
ihn zu Vernissagen mit und veranstaltete
opulent von ihr selbst komponierte Dinner, um ihn in "ihre Kreise"
einzuführen. - Sehr zum Ärger ihres etwa zwanzig Jahre älteren Lebensgefährten,
der in der Jugend von Johannes zunehmend ein Störpotenzial verspürte. Wenn er
zu müde war zum Tanzen, sprang Johannes ein. Wenn er terminlich verhindert war,
um ins Konzert oder auf Empfänge zu gehen, begleite Johannes Alex. Meist nahmen
sie Thora dann auch noch mit. Thoras Freund, Kontakter einer großen
Werbe-Agentur in Frankfurt, kam ohnehin nur gelegentlich an Wochenenden, und
die verbrachte Johannes stets mit seiner beruflich hart eingespannten Esther.
Für die war Eifersucht genau so ein Fremdwort
wie für Johannes.
Um ehrlich zu sein,
schmeichelte es dem männlichen Ego unseres Protagonisten schon enorm, mitunter
gar mit beiden Schwestern gesehen zu werden. Aber Simplicissimus in
Gefühlsdingen, der er nun einmal war, merkte er nicht, wie sich schleichend die
Beziehungen veränderten. Am Anfang ihrer Bekanntschaft hatten Thora und er nur
vielleicht ein, zweimal während der Woche telefoniert. Jetzt kamen ihre Anrufe
täglich und so willkürlich, dass sie nicht immer passten. Zumal die Telefonate
auch immer länger wurden.
Ende November hatte sich
daraus bereits eine Dreiecksroutine telefonischer Seelsorge entwickelt. Die
lebenserfahrene Thora benutzte den derart dramatisch noch nicht vorbelasteten
Johannes als eine Art Klagemauer und zog ihn in Abgründe eines Vertrauens, mit
dem er allein nicht klar kam. Also gewöhnte er sich an, sobald Thora und er
eines ihrer Stundengespräche beendet hatten, ein weiteres zwecks Beratschlagung
mit Alex zu führen. Diese Beichtstuhl-Situation am Telefonhörer führte dazu,
dass er ständig mehr zu hören bekam, als er eigentlich wissen wollte... Ein kategorisches "Io ti assolvo"
auszusprechen, war aber nicht so sein Ding.
Da die
"trilateralen" Gespräche überwiegend zu nachtschlafender Zeit
stattfanden, entstand eine Vierschichtigkeit im Leben des jungen Autoren, dem
unverbraucht wie er noch war, die tägliche Schreib-Routine so spielerisch von
der Hand ging, dass er meist schon am frühen Nachmittag damit fertig war. Wenn
er nicht gar - was durch die nächtlichen Dauertelefonate immer häufiger der
Fall war - die solchermaßen aufgewühlten Geisterstunden noch zum anschließenden
Texten nutzte. Dann ergab es sich, dass Thora und er - da sie ja auch nicht
jeden Tag gebucht war - die Freizeit in lässiger Libertinage verbrachten. Was
für Thora gleichbedeutend war mit exzessivem Konsum - und das natürlich gerade
zur Weihnachtszeit.
Wenn nicht späte Auktionen
anstanden, stieß auch Alex immer häufiger dazu, und die beiden überboten sich
dann darin, "Kleinigkeiten" für Johannes zu erstehen. Da die Stunden
nach Geschäftsschluss allein seiner Freundin Esther gehörten, die überwiegend
noch bei ihren Eltern zu Hause wohnte, blieb es nicht aus, dass die beiden sich
noch in der Stadt trafen, ohne dass er zuvor die Päckchen der Schwestern
losgeworden wäre. Nicht, dass sie gefragt hätte, aber Johannes sah sich dann
mit zunehmender Belastung von selbst in einem Erklärungsnotstand. Er wollte
sich rechtfertigen, obwohl es dessen ja eigentlich nicht bedurfte. Dadurch,
dass er es nicht tat, wuchs aber ein
absurd schlechtes Gewissen.
Dann begannen die Wochen mit
den verhängnisvollen Weihnachtsfeiern. Die Verlags- und Werbebranche überbot
sich in jener Zeit mit immer ausgefalleneren Ideen für solche Feste, die für
freie Mitarbeiter, die im Geschäft bleiben wollten, geradezu ein Muss waren.
Während Johannes wie üblich ein paar Pfunde zulegte, trank Thora ein paar
Gläser Wein mehr als ihrem Mangel an Selbstkontrolle gut tat. Die nächtlichen
Telefonate wurden aggressiver, dann jammervoller und in der letzten Woche vor
dem Heiligen Abend hatten sie einen Grad selbst zerstörender Bezichtigungen
erreicht, der Besorgnis erregend wurde. Mehrmals sah sich Johannes in dieser
Woche dazu veranlasst, mitten in der Nacht die halbe Stunde von Schwabing zu
Thoras Wohnung nach Bogenhausen zu fahren und fand die Verzweifelte in einem
zunehmend arbeits- und lebensunfähigen Zustand vor. Er durchsuchte wie ein
Kriminaler ihre Wohnung und schüttete jegliche Flüssigkeit mit dem noch so
kleinen Prozentanteil Alkohol in diverse Ausgüsse. Gleichzeitig rief er immer
wieder Alex an und verlangte von ihr vorübergehend eine Quasi-Entmündigung
ihrer Schwester. Sie sollte ihr das Geld abnehmen und die Einkäufe erledigen,
bis Thoras Freund sie während der Feiertage vielleicht wieder aus ihrem Tief
befreien könnte.
Johannes fiel auf, dass Alex
mit dem zunehmend schlechteren Zustand ihrer Schwester zu ihm eine Distanz
aufbaute, als hätte es die vergangenen Wochen der Gemeinsamkeit nicht gegeben.
Der Ton, den sie ihm gegenüber auf einmal anschlug, hatte sich von brüderlich
schwesterlich zu herrisch abkanzelnd gewandelt. So dass Johannes langsam ein
weihnachtliches Licht aufging. Er hatte sich tatsächlich als Katalysator für
ein ziemlich kompliziertes Verhältnis der Schwestern missbrauchen lassen.
Sobald es also Johannes nicht gelang, Thora in einem Zustand der seelischen
Ausgeglichenheit und Arbeitsfähigkeit zu halten, fürchtete Alex wohl, sie sähe
sich zu ernsthafterer, tiefer gehender Fürsorge gezwungen. Die von beiden zelebrierte
Leichtigkeit des Seins, war also anscheinend nur ein fragiler Deckel für ein
schwarzes Loch, in dem das Ungeheuer ihrer ungelösten Konflikte lauerte.
Zerbrach dieser Deckel oder bekam er nur Haarrisse, begann bei Alex schon die
Furcht, die Schwester könne aus der Finsternis nach ihr greifen, um sie mit
hinunter zu ziehen.
"Ich brauch' den Scheiß
hier nicht", fauchte Johannes zurück, als Alex verbal wieder einmal das
Millionärstöchterchen heraus hängen ließ. "Du bist ihre Schwester, und
wenn dir das zu mühselig ist, dann ruf halt deine Eltern an. Eines ist sicher,
deine Schwester braucht mehr Hilfe als die kleinen Freundschaftsdienste, die
ich ihr leisten kann!"
Die Erwähnung des
Elternhauses verwandelte das studiogebräunte Gesicht von Alex schlagartig in
eine weiße Maske jähen Entsetzens.
"Ist schon gut",
meinte die sich in Sekunden wieder zurück verwandelnde und dadurch wieder
gewohnt feminine Alex, "ich mach ja! Ich dachte, du wärst unser Freund! Du
bist so patent, so unbekümmert. Ich vergesse immer, dass du noch so jung bist
und ja wohl auch noch ein anderes Leben hast... Verzeih!"
Aber sie tat nichts. Am 23. Dezember - Johannes war gerade dabei
die vielen kleinen Päckchen für die Weihnachts-Rallye von der Esthers zu seiner
Familie zu packen - ereilte ihn der Horror-Anruf von Thora gegen zehn Uhr
abends:
"Er kommt nicht,
Johannes! Er hat mir gerade am Telefon gesagt, er habe etwas Besseres zu tun,
als Weihnachten mit einer abgehalfterten und alkoholkranken Fotografin zu
verbringen... Es hat alles irgendwie keinen Sinn mehr... Ich wollte dir
eigentlich nur noch schöne Weihnachten wünschen... Ich habe dir noch ein
kleines Päckchen geschickt... Schade, dass du noch so jung warst... Du hast mir
irgendwie so gut getan..."
Dann war die Leitung tot.
Sie hatte mit so schwerer Zunge in Vergangenheit gesprochen. Aber Alkohol?
Himmel, er hatte ja an Medikamente gar nicht gedacht. Er wählte hektisch die
Nummer von Alex, aber die hob nicht ab. Also sprintete er zum Auto und machte
sich selbst, schneller als die Polizei erlaubte, auf den Weg zu Thoras Wohnung.
Kurz vor der Abzweigung auf die Tivoli-Brücke winkten sie ihn heraus. Zehn
Kilometer zu schnell - 20 Mark! Für einen Augenblick überlegte er noch, ob er
den übel gelaunten Gendarmen erklären sollte, dass er unterwegs sei, um
jemandem vielleicht das Leben zu retten. Aber was, wenn er ja nur überreagiert
hatte. Andererseits hätten seine Erläuterungen möglicher Weise erst behördliche
Aktivitäten ausgelöst und wichtige Zeit gekostet.
Als er nach Nerven zehrender
Parkplatzsuche endlich die Stufen zu der riesigen Altbauwohnung hoch gestürmt
war, die auch Thoras Studio beherbergte und gegen die Doppelflügel-Nussbaum-Tür
aus der Gründerzeit hämmerte. war er durchgeschwitzt wie nach einem 10
000-Meter-Lauf. Eine offenbar frisch gebadete und entspannt lächelnde Thora
öffnete ihm. Aus einem Meter Abstand konnte er durch die Düfte von Shampoo und
Duftbad-Essenzen deutlich riechen, dass sie wieder getrunken hatte.
Sie artikulierte sich wie
ein braves Kind, das ein Gedicht aufsagte:
"Ja, erst wollte ich
alle Tabletten schlucken, die mir Alex dagelassen hat. Aber dann hat Thora auf
einmal gemerkt, dass sie ja ganz traurig ist - ohne einen guten Tropfen. Hihi,
und dann habe ich mich an mein Geheim-Versteck erinnert. Und dann habe ich ja
auch die Tabletten nicht mehr gebraucht: Arme, arme Alex...
Ach ist das schön, dass du gekommen bist."
Sie flog ihm um den Hals und
bedeckte ihn mit Küssen, während er versuchte die unter dem Kimono völlig
nackte und immer noch badefeuchte Frau peinlich berührt auf Abstand zu bringen.
Er setzte sie abrupt ab, schloss die Tür und stürmte an ihrer Entgeisterung
vorbei von einem Zimmer zum nächsten.
"Wo hast du ihn
versteckt?"
"Ich hab' dir doch
gesagt, er kommt nicht."
"Tu nicht so, du weißt,
dass ich nicht von deinem Freund, sondern vom Alkohol rede."
Auf dem Couchtisch im
Wohnzimmer lag eine unangebrochene Packung eines starken, rezeptfreien
Schlafmittels. Johannes ergriff sie, rannte ins Bad und spülte sie zerfetzt im
Klo herunter. Als er sich umdrehte, war
es, als hätte er durch den Badezimmer-Spiegel einen anonymen Hinweis erhalten.
Sein Blick fiel auf das einzige mögliche Versteck, das er nicht durchsucht hatte.
Die obere Verkleidungshaube eines monströsen Warmwasser-Boilers. Er rüttelte
mit viel zu viel Kraft an ihr, denn sie hätte sich ganz leicht anheben lassen,
wäre Thora in diesem Moment nicht mit einer Wucht auf seinen Rücken gesprungen,
die man diesem langen, aber fragilen Geschöpf niemals zugetraut hätte.
"Nein, das machst du
nicht. Das ist ganz gemein", behielt sie ihren Kleinmädchen-Ton auch in
dieser Stress-Situation bei.
Vier Flaschen Haute Medoc
Prieurée Lichine standen dort auf dem Absatz des Abzugsrohres. Eine davon war
schon fast bis zum Depot geleert. So eine Kreszenz gab es kaum zu kaufen.
Solche Weine bekam man zu Weihnachten geschenkt oder man verschenkte sie, indem
exklusive Zwischenhändler eingeschaltet wurden. Dann fiel Johannes ein, dass
Thora ja für ihren Freund im Studio einen großen Weihnachtsbaum geschmückt und
bereits einen Stapel Geschenke darunter dekoriert hatte. Wer wäre denn auf die
Idee gekommen, verpackte Geschenke zu durchstöbern. Johannes nahm die Flaschen
an sich und ging den langen Flur hinunter zum Studio, und da lag die
aufgerissene Kiste mitten auf dem Parkett.
"Er hätte ihn eh nicht
verdient. Dieses Scheusal", maulte Thora, die ihm wie ein trauriges
Hündchen gefolgt war. "Komm, wir saufen die jetzt alle aus und machen uns
einen schönen Heilig Abend!"
Johannes begriff nicht, wieso er immer noch
keinen Abgrund tiefen Abscheu für diese Frau empfand. Es war im Gegenteil so,
als könne er genau in diesem Moment durch ihre Porzellanhaut hindurch die
Wundränder ihrer verletzten Seele sehen. Und dies erweckte nur einen einzigen
wirklichen Weihnachtswunsch in ihm: Ach könnte ich dieser armen Frau nur
helfen.
Er deponierte, die ganzen
Flaschen in dem leeren Schubfach eines abschließbaren Archivschrankes aus
schwerem Metall und zog den Schlüssel ab.
"Den gebe ich der
Alex!" Johannes kam es im gleichen Moment in den Sinn, dass eine Frau, die
ihrer deutlich seelisch angeschlagenen Schwester eine Anstaltspackung
Schlaftabletten überließ, vielleicht nicht gerade die ideale
Schlüsselbewahrerin abgab. Dann setzte er in einem Anfall von spontanem
Sadismus die noch nicht geleerte Flasche an den Mund und trank den Inhalt in
einem Zug - Depot hin oder her.
Als er sich wütend wegen der
verlorenen Nacht zum Gehen wandte, sackte Thora im Flur auf die Knie und begann
in diesmal echter Verzweiflung zu heulen:
"Du kannst mich doch
unmöglich jetzt alleine lassen."
"Doch, das kann
ich!"
"Kannst du nicht -
bitte - bleiben, bis Alex morgen kommt?"
"Nein, das kann ich
nicht. Ich weiß nicht, was da eigentlich zwischen euch wirklich abläuft. Aber
ich weiß, dass Alex nicht kommen wird. Ich habe nämlich heute einige Male
versucht, sie zu erreichen..."
Während er sprach, schoss es
ihm durch den Kopf, dass er sich eventuell unterlassener Hilfeleistung schuldig
machte, wenn er sie in diesem Zustand sich selbst überließe. Er war noch nie in
so einer Situation gewesen, konnte sich aber auch nicht recht vorstellen, dass
sie Anlass sein könnte, einen Notarzt zu rufen.
Thoras Schlafstatt war eine
"Ruhelandschaft" von Ausmaßen, in denen selbst ein Louis XIV verloren
gegangen wäre. Er blieb also und legte sich mit gut anderthalb Metern Distanz
ihr den Rücken zuwendend auf die Seite und muss sofort eingeschlafen sein. Er
erwachte träge, weil er ihre Hand spürte, die versuchte hinter dem zum Schlaf
gelockerten Gürtel zu schlüpfen. Gleichzeitig war ihr Mund an seinem Ohr:
"Warum nimmst du mich
nicht!"
Johannes tat so, als sei er
gar nicht richtig wach, als er ihre Hand sanft herauszog und zu ihr selbst hinüber bugsierte - obwohl, ja
obwohl, sie schon ein Reaktion ausgelöst hatte. Er wandte sich mit
geschlossenen Augen zu ihr um, wendete sie und gestattete mit dem dicken
Plumeau zwischen seinem und ihrem Körper so zumindest eine Art sittsam
brüderlich-schwesterliches Löffelchenliegen:
"…Weil ich dein Freund
bleiben möchte."
Dann hatte ihn der Schlaf
erneut gerettet.
Ein unsanftes, hartes Tippen
auf seiner Schulter riss ihn in dieser eindeutig unverfänglichen Lage aus dem
Schlaf. Über ihm stand ein Muskelprotz in schwarzem Trenchcoat und
Autofahrer-Handschuhen über den boxbereiten Fäusten im roten Licht der
Nachttisch-Lampe:
"Dann wollen wir mal
schön aufstehen und schauen, dass wir Weihnachten noch erleben."
Johannes, der noch nie in
seinem Leben so schnell erwacht war, wollte ein paar klärende Worte anbringen:
"Das ganze hat einen
sehr ernsthaft...!"
Der andere hatte ihn da aber
schon hoch gezerrt und zischte scheinfreundlich:
"Jetzt will der Herr
wohl auch noch von Mann zu Mann freundliche Konversation machen?"
Er versuchte den gleich
schweren Johannes zur Tür zu schubsen, als Thora aufwachte und in ihrer ganzen
Blöße aus dem Bett sprang, um sich zwischen die Männer zu schieben, die aus
ihrer Sicht kurz vor einem Schlagabtausch standen.
"Thomas, hör auf! Was tust
du hier überhaupt. Haben wir nicht gestern Abend Schluss gemacht?"
"Was ich hier tu? Was
ich hier tu? Was ich hier tu? Jetzt hast du wohl auch noch deinen Anstand weg
gesoffen?"
Johannes spürte nur eine
unendliche Peinlichkeit als er sich rückwärts aus dem Schlafzimmer schob. Seine
Daunenjacke lag noch auf der Biedermeier-Couch im Flur. Als er nach dem
Autoschlüssel fischte, hatte er plötzlich den Schlüssel des Archivschranks
zwischen den Fingern. Da konnte er es sich doch nicht verkneifen noch einmal
auf die Wallstatt zurück zu kehren.
Die nackte porzellanartige
Thora wurde von dem schwarzen Rächer auf Armlänge hart an den Schultern
gehalten. Der ganze Raum war von einem Odium aus Hass und Angst erfüllt.
"Soll ich die Polizei
rufen", fragte Johannes.
"Sind wir immer noch
da? Wir wollen wohl doch eins in die Fresse."
"Thomas - reiß dich
endlich zusammen! Das wird nicht nötig sein - Johannes. Ich kläre das hier
schon."
Wo nahm sie auf einmal diese
Autorität und Souveränität her? Aber das
bestärkte ihn auch noch einmal in seiner Wut. Er pfefferte den
Archivschlüssel auf das herrische Gesicht des Mannes zu, und war nur
überrascht, mit welcher Lässigkeit der Typ, ihn kurz vor seiner Nase aus der
Luft fischte, ohne Thora aus seiner Kontrolle zu lassen:
"Vielleicht lassen wir
uns ja die Sache mit unserem Weihnachtsgeschenk damit erklären -
Arschloch", zischte der sich schuldlos fühlende Johannes die blöden
Redensarten von Thoras Freund nachäffend.
Draußen auf dem Kufsteiner
Platz machte gerade die Bäckerei auf. Als sich Johannes mit einem Nusshörnchen
im Mund hinters Steuer setzte, wurde ihm erst die Absurdität dieser Nacht
vollends bewusst. Und er musste wirklich grinsen, als er zu sich selbst sagte:
"Gehört wohl auch zum
erwachsen Werden dazu, dass man aus dem Bett einer liierten Frau geworfen wird.
Und das nicht nur zur Weihnachtszeit."
Für ihn jedenfalls war das
Thema Thora nach diesen Vorkommnissen ein für alle Mal vorbei. Er begann sich
auf die vergleichsweise ruhigere Weihnachtsrallye mit Esther und den beiden
turbulenten Familien zu freuen. Scheiß 'Haute Volaite' sprach er das
Französisch bayerisch prollig an die Windschutzscheibe!
Es war wohl die
sprichwörtliche Ruhe vor dem Orkan gewesen. Die Feiertage in München und im
Isarwinkel, die Silvesterparty - alles war in unauslöschlicher Harmonie
friedvoll und glücklich über die Bühne gegangen. Esther und Johannes hatten
romantisch-kuschelige Stunden vor dem Kamin mit Blick ins verschneite Karwendel
verbracht. Weihnachten aus dem Märchenbuch. Als für Esther durch die
anstehenden Inventuren der triste Alltag wieder Oberhand gewann, verzichtete
Johannes auf ein paar schöne Skitage, um solidarisch in ihrer Nähe zu sein und
zog wieder in sein Wohnbüro.
Er hatte gerade begonnen,
die Werbung von der richtigen Post auszusortieren, als sein Telefon schon
klingelte.
"Johannes? Hier ist
Alex. Ich bin bei Thora in der Wohnung. Du musst sofort kommen. Es ist etwas
Schreckliches passiert!"
Im Kopf formulierte Johannes
eine Antwort, die etwa so gelautet hätte: 'Ich lass' mich nicht wieder von euch
benutzen. Schaut, wie ihr künftig mit euren verkorksten Leben selbst klar kommt.' Tatsächlich sagte
er:
"Ich komme sofort!"
Alex fing ihn hastig
rauchend vor der Tür ab.
"Die Polizei ist gerade
bei ihr. Jemand hat sie regelrecht zusammengeschlagen, aber sie weigert sich zu
sagen, wer und warum."
"Wo warst du denn die
ganze Zeit?"
"Ich war mit Robert
über Weihnachten auf den Bahamas. Hatte ich dir das nicht gesagt? Wir sind seit
gestern zurück. Ich habe ein paar Mal versucht, sie telefonisch zu erreichen
und dann bin ich heute früh hergefahren. Die Tür war eingetreten und sie lag
apathisch und nicht ansprechbar zwischen lauter blutigen Laken. Dann habe ich
gleich einen befreundeten Arzt angerufen. Der hat sie untersucht und gemeint,
bei derart schweren Misshandlungen sei er gezwungen, die Polizei zu
verständigen."
Das mit der eingetretenen
Tür - so kramte Johannes das aus den verdrängten Erinnerungen - war wohl Thomas
gewesen. Er glaubte registriert zu haben, dass das Schloss nicht mehr richtig
geschnappt hatte, als er am
Vierundzwanzigsten aus Thoras Wohnung gestürmt war.
Während er noch überlegte,
wurde diese Tür aufgezogen und zwei Männer schickten sich an, die Wohnung zu
verlassen, zögerten aber, als sie Johannes im Gespräch mit Alex sahen.
"Wer sind denn
Sie?" Fragten sie misstrauisch und schwenkten Dienstmarken, ohne sich
näher vorzustellen.
"Ein Kollege!"
"Der beste Freund
meiner Schwester!"
Antworteten Johannes und
Alex ungleich gleichzeitig.
"Was denn nun?"
"Wohl beides", räumte Johannes böse
Verwicklungen ahnend und resignierend ein.
"Wo waren Sie? Wo
kommen sie her?" Fragten die beiden Zivilbeamten im Kanon.
"Ich war die Feiertage
bei meinen Eltern im Isarwinkel und bin heute morgen zurückgekommen und habe
noch keine Vorstellungen, was überhaupt passiert ist", gab Johannes
gefolgt von Telefonnummern und Zeugen zu Protokoll.
"Vielleicht bekommen
Sie ja als Kollege und Freund mehr aus Frau Meilleur heraus als wir." Dann
wandten sie sich mit vorwurfsvollen Stimmen Alex zu: " Wir jedenfalls
haben den Eindruck, dass die seelischen Verletzungen bei Ihrer Schwester noch
gravierender sind als die erheblichen Blessuren, die ihr beigebracht wurden. - Sie braucht liebevolle Fürsorge!"
Dann verteilten sie noch
Visitenkarten und gingen unisono kopfschüttelnd die knarzende Treppe hinunter.
Johannes kam sich vor, als
betrete er ein Minenfeld, als er Alex ins Schlafzimmer folgte. Offenbar hatte
der Arzt Thora sediert oder starke Schmerzmittel verabreicht und außerhalb des
Bettes versorgt. Denn jetzt lag sie in makellosem, hellblauem frisch
gemangelten Satin. Saubere Verbände gaben ihr irgendwie die Anmutung einer
achtlos liegen gelassenen und nur halb ausgepackten Puppe; ein ungeliebtes
Überbleibsel von Weihnachten gewissermaßen. Sie nahm Johannes mit dem Anflug
eines Lächelns wahr, war aber ansonsten so gut wie nicht ansprechbar.
"Dann lass ich euch
zwei Hübschen mal alleine, damit ihr euch in Ruhe aussprechen könnt." Das
Typische für Alex war, dass sie das leichthin ohne Sarkasmus meinte, als sie
wie selbstverständlich verschwand, um sich wieder einmal aus der Verantwortung
zu stehlen.
Hilflosigkeit ist jedenfalls
nicht allein eine Frage des physischen Zustands, stellte Johannes fest, als er
beim Anblick der zerbrochenen Thora versuchte, seinen Gemütszustand in
Kongruenz zu ihrem zu bringen.
Alles wiederholt sich
irgendwie irgendwann. Johannes fand sich jedenfalls beim Erwachen angezogen auf
der gleichen Seite des Bettes wieder wie acht Tage zuvor. Er sah unmittelbar in
Thoras doppelt blaue Augen:
"Meigod schieschtu
schüss aus, wenn du schläfscht", nuschelte sie zwischen ihren geplatzten
Lippen.
"Haschu noch schtake
Schmäschen?"
Johannes wusste nicht, wieso
er ihre Sprechweise nachahmte. Möglicher Weise falsch ausgelöstes Mitgefühl
oder - schlimmer noch - ein in diesem Moment nicht mehr zu bezwingendes Gefühl
der Zärtlichkeit.
Er sah auf die Uhr. Es war
später Nachmittag geworden. Sie musste etwas essen und auch der Magen von
Johannes brannte leer. Er stand auf und huschte zerknüllt wie er war in das
Reformhaus gegenüber auf der anderen Seite des Platzes. Mit gourmetmäßiger
Ernsthaftigkeit stellte er ein Menü aus Kindernahrung für Thora zusammen.
Markenübergreifend und voller Sachkenntnis pendelte er zwischen Hipp und Alete
hin und her. Schließlich hatte er ja ein halbes Jahr lang seine Nichte mit
versorgt, damit seine Schwester Vera in ihrer Karriere nicht den Anschluss
verpasste. Er fand, was er suchte: junge Erbsen püriert mit kleinen
Truthahn-Stücken, Milchreis mit Erdbeermark und noch eine kalte, vielleicht
kühlende Vanille-Nachspeise für den späten Hunger. Johanna hatte das super
geschmeckt, als die ersten Zähne kamen, und irgendwie stellte sich Johannes das
so vor, als spiele sich in Thoras Mund zurzeit Ähnliches ab.
Als er zahlte, musterte die
Verkäuferin sein zerknittertes Äußeres mitfühlend:
"Die nehmen ein ganz
schön mit in dieser Phase - die kleinen Racker!"
Johannes nickte nur resigniert und behielt diesen Gesichtsausdruck
bei, als er beim Vinzenz Murr gleich nebenan zwei für seine vorweihnachtlichen
"Rettungsringe" um den Bauch viel zu großzügig bemessene
Leberkäs-Scheiben in vergleichsweise kleine Semmeln zwängen ließ.
Als er bepackt in die Wohnung
zurückkehrte, war Thora aufgestanden. Sie stand bei offener Badezimmer-Tür
nackt vor dem Spiegel und versuchte zumindest die Spuren des Vandalismus in
ihrem Gesicht mit Abdecker zu überschminken.
Die Hämatome an den Rippen und im
Nierenbereich jedoch wären zu groß dazu gewesen. Erst jetzt fielen Johannes
auch die Strangulationsmahle oberhalb des Jochbeins auf. War er pervers? Der
Anblick dieses trotz der Schändung perfekten weiblichen Körpers erregte ihn
ungebührlich stark. Er machte, dass er in die Küche kam...
Nachdem sie vom edelsten
Geschirr Thoras am Küchentisch aus schwarzem Marmor im Lichtschein silberner
Kerzenleuchter ihr frugales Mahl zu sich genommen und sich immer wieder mit den
geschliffenen venezianischen Gläsern, die mit "Almdudler"-Limo
gefüllt waren, sarkastisch zugeprostet hatten, hielt Johannes den Zeitpunkt für
gekommen:
"Möchtest du darüber
reden?"
"Ja! Unbedingt! Du
musst mir aber Zeit lassen und dir welche nehmen!"
"Schon gut."
"Nein! Das ist es für
dich keines Falls. Du bist so herrlich sensibel. Das, was ich dir erzähle, wird
über dein jugendliches Vorstellungsvermögen gehen. Aber du musst wohl die ganze
Geschichte hören, um die jüngsten Vorkommnisse zu verstehen."
Sie waren ins Wohnzimmer
hinüber gegangen. Zuvor hatte Johannes noch Esther im Laden angerufen. Er
wusste ja, dass die Inventurtage bis spät in die Nacht gingen, und sie sich den
Rest der Woche auch abends nicht sehen würden. Aber er folgte dem Zwang, seiner
großen Liebe von seiner unausweichlichen Mission zu berichten. Er tat das in
für ihn selbst erstaunlich emotionsloser Präzision. Vielleicht wie ein Arzt,
der von der Notwendigkeit einer schweren Operation überzeugen möchte. Hätte es
noch eines Beweises bedurft, dass Esther "seine Frau fürs Leben" war,
so wäre ihre Reaktion auf die Ankündigung, dass er die Nacht bei Thora
verbringen würde, ein weiterer gewesen. Sie sagte:
"Das ist es, was ich an
dir so liebe. Diese Zuverlässigkeit, diese Fürsorge. Bei all deinen riesigen
Fehlern. Du bist immer da, ohne lange zu überlegen. Sag Thora unbekannter Weise
gute Besserung."
Dann begann Thora zu
erzählen:
"1954 - nach dem Abitur
im Frühjahr - war ich eine Zeit lang auf der großen Sause. - Mein Gott! Da bist
du wohl gerade erst in die Schule gekommen... Jedenfalls der Haussegen hing
schon schief, weil ich mich, anstatt mich für Medizin an der Uni
einzuschreiben, für die Foto-Akademie in Frankfurt entschieden hatte. Bis die FAF im Herbst losging, musste ich
jobben, was das Zeug hielt. Der 'dreifache Doktor' hatte sich strikt geweigert,
mir das Schulgeld und die Bude zu bezahlen. Meine Mutter musste den
Aufnahmeantrag sogar heimlich unterschreiben. Einer der Dozenten war in der
Nähe, als ich den persönlich vorbeibrachte, damit auch ja nichts mehr schief
gehen konnte. Er fragte mich, ob ich als Model für ihn arbeiten wollte. Für das
halbe übliche Honorar, aber dafür könnte ich zusätzlich bereits das Praktikum
als Foto-Assistentin bei ihm machen, dass ich für den Abschluss ja bräuchte...
Das war die einmalige Chance gewesen. Ich hatte nur vier Aufnahme-Termine für
ihn gemacht, da war ich schon auf dem Titel von "Constanze". Dann war
ich noch auf dem Karstadt-Katalog und im Winter-Prospekt von Salamander. Alles
Weitere war wie eine Lawine. Auf einmal buchten mich auch namhafte Kollegen von
ihm und zwar ohne Provision zum vollen Satz. Ich hatte auf einmal mehr
Startkapital als ich mir erträumt hatte und war unabhängig von meinen Eltern.
'Der dreifache Doktor' war darüber so sauer, dass er kein Wort mehr mit mir
redete. Die letzte Woche zu Hause in Kassel, war eine einzige lange
Abschiedsparty.
Unsere Familie lebte da noch
mit dem 'Zaren', meinem Großvater, zusammen im 'Kleinen Trianon'. Das war ein neoklassizistisches ehemaliges
Verwaltungsgebäude im Park der ersten Klinik, die der "Zar" nach dem
Krieg aufgebaut hatte. Als eine weitere, modernere Privat-Klinik dazu kam,
wurde die Verwaltung dort zusammengefasst und der Opa ließ das alte Haus mit
Säulen und Saal hohen Fenstern für die ganze Familie umgestalten, damit er
näher bei seinen Patienten sein und seinen Sohn besser antreiben konnte. Jedes
Mal wenn der Mann, der damals noch unser geliebter Pappi war, gedacht hatte, er
hätte genug promoviert, verlangte der
'Zar' noch einen Nachschlag. Mit jedem neunen Doktor-Titel entfernte Pappi sich
von seinen drei Frauen. Erst Medizin, dann Psychologie und schließlich
Jurisprudenz - weil der 'Zar' sich den
Hausjuristen in der Verwaltung sparen wollte...
Eines Nachts - ich hatte
mich wir üblich über mein Fensterbrett
im Parterre aus dem Staub gemacht, um mahnenden Gardinenpredigten über meinen
Lebenswandel zu entgehen, hörte ich beim Heimkommen aus dem neben meinem
liegenden Fenster meiner Schwester gedämpftes Aufklatschen und spitzes
Schreien. Ich stemmte mich hoch und sah meine fünfzehnjährige Schwester
bäuchlings mit hochgeschobenem Nachthemd und blankem Hintern auf ihrem Bett.
Der "dreifache Doktor" saß wie bei einer Konsultation auf ihrer
linken Bettkante, sprach heftig auf sie ein und verlieh offenbar jedem Satz mit
einem kräftigen Schlag auf ihre Pobacken Nachdruck. Der Instinkt des Ertappten
oder vielleicht auch ein Schatten machte ihn auf mich aufmerksam. Er drehte
sich um, sah mir direkt in die Augen und stand auf. So wie ich da hochgestemmt
hing, kam er auf mich zu. Er wollte mich fixieren, wie er das immer Tat, um
Macht auszuüben, aber ich musste seinem Blick schon deshalb ausweichen, weil
die Erektion in seiner Schlafanzughose nicht zu übersehen war. Es war wie ein
Eisschauer, der mich rückwärts vom Fensterbrett fegte. Ich rappelte mich auf
und lief ohne Pause in die Stadt zurück. Eine Stunde später hatte ich meinen
ersten Vollrausch.
Als ich im Morgengrauen in
mein Zimmer schlich, um endgültig mein Zeug zu packen, saß er übernächtigt an
meinem Schreibtisch und starrte mich an. Er hatte zwei medizinische Fachbücher
aufgeschlagen deponiert und Kapitel mit Lesezeichen markiert. Er sagte nur
einen Satz und ließ mich damit noch hilfloser allein zurück, als es vermutlich
gewesen wäre, hätte er versucht, sich zu rechtfertigen:
"Lies das, bevor du wie
immer voreilige Schlüsse ziehst!"
Das eine Kapitel handelte vom Somnambulismus - also Schlafwandeln,
das andere vom Priapismus - schmerzhaften Dauererektionen als Folge von
Dauerstress. Das war sehr geschickt ausgesucht, aber gab keine Antwort darauf,
wie so der Hintern von Alex hatte nackt sein müssen. Natürlich habe ich
wiederholt auch versucht, mit meiner Schwester über diese Vorkommnisse zu
reden. Aber sie hielt mich da vom Saufen her schon für komplett durchgeknallt
und gab vor, nichts von derart absurden Vorgängen zu wissen...
In den vergangenen 17 Jahren
habe ich meinen Vater nur einmal gesehen. Bei der Beerdigung des 'Zaren' 1963.
Meine Mutter hatte wohl immer geahnt, dass zwischen uns etwas vorgefallen war,
was viel ernster gewesen war als die falsche Berufswahl und sie nutzte die
Gelegenheit, beim Leichenschmaus
nachzuforschen. Ach hätte ich doch bloß auf Andeutungen verzichtet! Aber
natürlich hatte ich schon wieder einen in der Hacke, als ich sie fragte, ob der
"dreifache Doktor" denn immer noch unter Priapismus litte...
'Wovon redest du, Kind? Ich
teile seit 25 Jahren das Bett mit ihm, da hat es nie Erektionsstörungen
gegeben...'
Ich begnügte mich damit, zu
lächeln wie eine Hexe, anstatt ihr nähere Einzelheiten zu erzählen. So hat sie
wohl selbst versucht, schmerzhafte Nachforschungen hinter der Mauer des
Schweigens anzustellen, die Alex und ihr Vater, ihr Ehemann, aufgebaut hatten.
1964 zog Mama nach Italien. Ihre Familie hatte einen kleinen Palazzo mit Blick
auf Dom und Baptisterium in Florenz. Dort besuchte ich sie zwei bis drei Mal
pro Jahr. Ich habe die Dachterrasse des Palazzos gerne für Mode-Shootings
benutzt und ihr damit ein wenig mehr Geld in die Kasse gebracht. Das leidige
Thema wurde hartnäckig ausgegrenzt. Aber es sprach ja die Versorgung von Alex
allein schon Bände. Da durften es nur die Sorbonne und Cambridge sein. Auch
eine Studentenbude wäre niemals in Frage gekommen. Da mussten schon schicke
Wohnungen angemietet werden. Sportwagen gab es quasi als Weihnachtsgeschenk,
und alle erdenklichen Beziehungen wurden für ihr berufliches Fortkommen spielen
gelassen.
1966 zog Mama dann nach
Positano. Wohl, um noch mehr auf Distanz zu gehen. Vor drei Jahren starb sie
bei einem Auto-Unfall. Von Sorrent über
den Berg auf die Amalfitana hinunter, hätte sie bei zu hohem Tempo viel zu spät
gebremst, protokollierten die Carabinieri. Meine Mutter war aber trotz ihres
heißen italienischen Blutes eine entnervend langsame und sehr umsichtige
Fahrerin..."
Thora ging der Atem aus, und
aus ihrer Brust drang ein tiefer Seufzer. Dann heulte sie so tränenreich, dass
die frisch aufgetragene Schminke in trüben Bächen über ihre Wangen gespült
wurde und die blauen Flecken wieder freilegten.
Irgendwie erinnerte das Johannes an einen schmelzenden Gletscher und
seine Moränen.
"Das erklärt vieles,
aber nicht die Misshandlung", blieb Johannes journalistisch nachhakend.
"Ich war selbst
schuld!"
"Das sagen viele
Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind."
"Die Frage nach Täter
und Opfer stellt sich hier nicht!" Beharrte Thora.
Dann erzählte sie zögernd
weiter, als taste sie sich in ein baufälliges Haus vor:
"Von Menschen, die so
normal ticken wie du, wird das, was ich jetzt zu erklären versuche, in die Nähe
von Perversion gerückt. Eines habe ich tatsächlich verschwiegen: Wie sehr
nämlich die Erinnerung an das mich erregte, was ich bei meinem Vater und meiner
Schwester beobachtet hatte. Dazu kam eine völlig unsinnige Eifersucht. Die Vorstellung,
Alex habe mir - durch das was sie unserem Vater gewährte, vielleicht immer noch
gewährt - meinen mir zustehenden Teil von ihm genommen. Erregung und Verlust
verbanden sich zu einer anhaltenden Obsession, und Obsessionen - das ahnen eben
nicht Besessene selten - entwickeln eine geheimnisvolle Eigendynamik.
Drei Jahre, während Studium
und Praktikum, war ich behütet wie nie zuvor, denn der Fotograf, von dem ich so
viel lernen durfte, war homosexuell und behandelte mich wie eine
Märchenprinzessin. Alles an ihm war so sauber und rein, so fair und voller
Anstand, dass ich mich in meinen Phantasien immer mehr nach etwas wahrhaft
Schmutzigem sehnte. Als ich im Anschluss für je ein Jahr nach New York und
London ging, war das wie eine Befreiung von meiner vermeintlichen
Bürgerlichkeit. Ich war ohne Obhut in der Fremde und habe jegliche Schranken
abgerissen. Je unbeschränkter ich dachte und agierte, desto besser wurden meine
Arbeiten. Der Erfolg war wie eine Droge zur Belohnung der Sünden. Eine der faszinierendsten
Entdeckungen dabei war, dass zwischen Sadisten und Masochisten offenbar ein
geheimnisvoller Magnetismus besteht.
Bevor wir gewissermaßen
aufeinander prallen, erkennen wir uns schon wie auf einem Radar. - Wir verfügen quasi über ein Frühwarnsystem,
mit dem wir den Grad der bevorstehenden Erschütterungen abschätzen können. Und
es gibt unausgesprochene Verhaltensmuster für das Erreichen von Grenzen. Wenn bei engen sado-masochistischen
Beziehungen in so ein Ritual reale Fakten einfließen, kann es sein, dass eine
Explosion erfolgt. So wie wenn man einen Ölbrand auf dem Herd versucht, mit
Wasser abzulöschen.
Thomas war nicht mehr zu
bremsen, weil ich diesen Fehler begangen habe. Du siehst hinter mir an der Wand das große
Mädchen-Fotoporträt mit dem runden Hut? In der Dunkelkammer habe ich mit immer
härteren Kopien daran herum experimentiert, bis auf weichem und mattem Papier
der Hauch einer Ikone daraus geworden ist. Thomas hat sich zwei Exemplare davon
geklaut und sie ohne mein Wissen im Namen seiner Agentur als neues
Firmen-Signet an den Kosmetik-Kozern "LeROYAUME" verkauft. Ich hatte
ihm mitten in einem Orkan aus Schmerz und Lust gesteckt, dass ich
Urheberrechtsklage gegen alle Beteiligten eingereicht habe. Nach Augenblicken
unvergleichlicher Ekstase folgte dann diese überbordende Brutalität, die allein
in meiner Verantwortung lag. Deshalb wollte und konnte ich der Polizei nichts
sagen und erwarte auch von dir, dass du Schweigen bewahrst. Nimm es als Beweis
unendlichen Vertrauens, dass ich dir reinen Wein eingeschenkt habe. Kein Mensch
außer dir und Thomas weiß davon."
"Und warum dann auch
noch der Alkohol. Zerstörst du dich denn noch nicht genug?"
"Weil ich eine
verzweifelte Frau bin, die stets selbst mehr liebt, als sie von anderen geliebt
wird. Auch bei der eigenen Schwester ist das so."
Die ersten Wochen des neuen
Jahres verliefen nach dieser beängstigenden Offenbarung zum Auftakt in
überraschender Harmonie. Johannes entkam den halbseidenen Attitüden der
Luxusgüter-Branche dadurch, dass er sich wegen der bevorstehenden Olympischen
Sommerspiele in seiner Heimatstadt wieder vermehrt vermeintlich solideren
Sportthemen zuwenden musste.
Dann aber platzte die Bombe.
Der Weltkonzern "LeROYAUME" hatte wohl gedacht, er müsse die Klage
der Münchner Fotografin nicht ernst nehmen. Sein gesamter neuer Auftritt
einschließlich der aktuellen Produktpalette war weltweit auf das "Mädchen
mit Hut" ausgerichtet. Thoras Anwälte hatten Schadenersatz in Höhe
mehrerer Millionen Dollar erhoben und Strafanzeige gegen Thomas Seitlitz und
seinen Agenturchef erwirkt. Dem rabiaten Kontakter jedoch gelang es noch aus
Rache eine beispiellose Schmutzkampagne gegen seine ehemalige Freundin
loszutreten. Die Branche breitete gierig ihr Alkohol-Problem aus und die
Yellow-Press überbot sich in Mutmaßungen über ihre außergewöhnlichen sexuellen
Vorlieben. Letzteres hätte Thora möglicher Weise verkraftet. Was sie
zerschmetterte, waren die Aufträge, die unter fadenscheinigsten Begründungen
nicht mehr erteilt oder gar zurückgezogen wurden.
Johannes sah sie in dieser
Zeit überwiegend im Fernsehen oder hörte sie im Rundfunk. Dabei machte sie wie
immer in ihrer Rolle als Profi den Eindruck unzerstörbarer Selbstsicherheit
gepaart mit dem Höchststand an detaillierter Sachkenntnis. Ein Lokal-Reporter
hatte ihren nun Monate zurückliegenden Zwist mit der Polizei ausgegraben und
schuf gestützt auf die Statements der beiden Gendarmen ein Thora-Bild das
Gesellschaft verachtender nicht hätte sein können.
Sie hatte wohl eine Woche
ununterbrochen getrunken, ehe sie den Mut gefunden hatte, aus ihrer neuen
Wohnung unter neuer, geheimer Telefonnummer Kontakt mit ihm aufzunehmen:
"Johannes ich schaffe
es nicht. Ich vegetiere auf den mutigen Moment zu, dem Ganzen ein Ende zu
machen."
"Halte durch Thora! Du
bist im Recht!"
"Dann hilf mir!
Bitte!"
"Klar helfe ich
dir!"
"Dann komm!"
Das anonyme Appartement, das
ihr wohl die Anwälte beschafft hatten, war verborgen in einer modernen
Wohnanlage unweit des Schwabinger Krankenhauses. Es war ebenerdig (!) und
führte auf einen erstaunlich geräumigen Garten hinaus. Das gesamte Ensemble war
gestaltet wie eine Meditationsstätte des Zen. Die Wohnungstür war angelehnt als
Johannes ankam. Er trat ein und fand sie inmitten hellblauer Seidentücher auf einem
kreisrunden roten Teppich auf weißer hochfloriger Auslegware dekoriert oder
besser angerichtet. Sie hatte ihr Haar zu einer Geisha-Frisur hochgesteckt und
den nackten Körper offenbar mit einem Hauch von weißem Puder gebleicht. Das
Bild war so vollendet, dass Johannes nicht wagte, Atem zu holen.
"Entweder du nimmst
mich jetzt endlich oder ich begehe auf der Stelle Seppuku!" Dabei wies sie
auf ein kurzes Samurai-Schwert zwischen ihren Schenkeln.
Johannes nahm sie auf der
Stelle. Und er machte sich noch nicht einmal die Mühe, in seinen Gedanken eine
Rechtfertigung für seinen Treuebruch gegenüber Esther zu finden. Noch
analysierte der Rest seines eben noch klaren Verstandes diese abgrundtiefe
Absurdität seines Handelns.
Die Obsession ihrer
Vereinigung hielt etwa den halben Tag an. Dann wurde der zunehmend
schmerzhafter werdende Dauerakt, der Thora an den Rand ihrer "alten
Praktiken" zu bringen schien, von einem Scheidenkrampf beendet, dessen
Ausmaße die Konsultation eines Notarztes erforderlich machten.
Der junge Arzt, der wegen
der Nähe des Klinikums im Nu da war, reagierte stoisch und angesichts des
Ambientes ein wenig schmunzelnd, nachdem er Thora eine Spritze gegeben hatte,
die wenige Minuten später bereits wirkte:
"Gönnen sie dem zarten
Geschöpf endlich ein wenig Ruhe - Sie junger Bulle!"
"Es ist selten etwas
so, wie es scheint", meinte Johannes, als er den Mediziner zur Tür
begleitete.
Als er in das Zimmer
zurückkehrte, nahm er erstmals zur Kenntnis, dass es überhaupt kein weiteres
Schlafzimmer in diesem Appartement gab. Nur einen Futon in einem dekorativen
Bambus-Gitter. Er breitete ihn aus, legte die bereits weg gedöste Thora drauf
und bettete sich selbst auf die Teppiche in den Nationalfarben Nippons.
Augenblicklich wurde er vom Schlaf übermannt.
Als er erwachte, war der
Futon verwaist. Er krabbelte auf die Knie, und blinzelte ohne sonderliche
Orientierung. Dann sah er das Licht im Badezimmer und richtete sich von einer
üblen Ahnung katapultiert auf. Sie lag in diesem weißen Bad derart erbleicht
in dem von ihrem Blut verfärbten Wasser,
als wollte sie auch hier den Stil des Wohnzimmers zitieren.
Zwei Tage später war Thora
außer Lebensgefahr und Johannes um drei menschliche Erfahrungen reicher. Die
erste war Alex: Zehn Minuten nach dem die Ambulanz mit Blaulicht und Sirene
davon gerast war:
"Alex! Thora hat
versucht, sich umzubringen!"
"Ja. Das war wieder
einmal zu erwarten. Das ist ihr verzweifelter Schrei nach Liebe."
"Mein Gott bist du
kalt."
"Es ist selten etwas
so, wie es scheint."
"Ist das alles, was du
dazu zu sagen hast."
"Was willst du von mir
Johannes? Du bist ihr vielleicht näher gekommen, als mir das jemals gelungen
ist."
"Ich bin
überfordert!"
"Ich auch!"
"Dann gib mir
wenigstens die Nummer des dreifachen Doktors! Sie braucht lange medizinische
Betreuung, da kann er seine Titel vielleicht mal endlich auf Zuwendung für
seine Tochter verwenden."
"Was meinst du damit?
Lass bloß unseren Vater da raus."
"Somnambulismus,
Priapismus!"
Eisiges Schweigen - dann
hatte sie einfach aufgelegt. Als er es wieder und wieder versuchte, blieb die
Leitung zu ihr besetzt.
Als ordentlicher Rechercheur
hatte er Thoras Vater eine halbe Stunde später am Apparat. Man hatte ihn erneut
aus der Morgenvisite geholt.
"Professor Meilleur?
Hier Johannes Goerz. Ich nehme an, man hat Sie inzwischen informiert, dass ihre
Tochter einen Selbstmordversuch unternommen hat. Ich meine, sie braucht jetzt
eine Fürsorge, die ich ihr nicht geben kann,"
"Sie m e i n e n,
bloßes Rumficken tut's da nicht mehr?"
"Ich meine medizinische
und psychologische Betreuung für einen Zustand, an dem Sie - soviel ich weiß
- nicht ganz unschuldig sind."
"So viel ich weiß, sind
Sie ein kleiner Schreiberling junger Mann. Also mutmaßen und anmaßen Sie nicht!
Sie haben ja keinerlei Ahnung!"
Diesmal war es Johannes, der
einfach auflegte.
Dann fiel ihm seine alter
Freund und Hausarzt Dr. Mausele ein, der
vor kurzem seine Praxis verkauft hatte und nun wohl vor der Übersiedlung nach
Israel stand.
Der alte Allgemein-Mediziner saß in den letzten Stücken seiner
deutschen Existenz als ihn der Anruf von Johannes erreichte. Wie es seine Art
war, hörte er sich ruhig den schonungslos offenen Bericht von Johannes - auch seine eigene, unrühmliche Rolle betreffend
- an und versprach, sich unter Konsultation seiner alten Spezis im Schwabinger
Krankenhaus um Thoras Therapie zu kümmern.
Mit ihrem eigenen
Einverständnis wurde Thora wenige Tage später nach Bad Herrenalb in das
berühmte Therapiezentrum überführt, in dem die Zimmer innen keine Klinken
haben.
Dr. Mausele wies Johannes zu
seinem und Thoras Wohl an, während der langwierigen Therapie keinen Kontakt
aufzunehmen.
Oberflächlich waren Johannes'
"Verletzungen" eher harmlos, aber sie hatten auch offensichtliche
Auswirkungen. Thora war eine Liebhaberin, die es gewohnt war, auf den Objekten
ihrer Begierden Spuren zu hinterlassen. Diese konnten Esther natürlich nicht
verborgen bleiben. Dass sie jedoch kein weiteres Wort darüber verlor, war, als
hätte sie Johannes auf immer und ewig einen glühenden Widerhaken ins Herz
gerammt.
München, Herbst 1973
Esther und Johannes hatten
sich seit einem halben Jahr ein gemeinsames Nest gebaut. Eine exklusiv
geschnittene Dreizimmer-Wohnung mit einem tiefen und über die ganze Breite
gehenden Balkon mit Blick auf den parkartigen Nordfriedhof. Im Gegensatz zu
anderen Paaren gleichen Alters hatten sie keinerlei Geldsorgen. Esther war
trotz ihrer Jugend Geschäftsführerin geworden und Johannes hatte einen ziemlich
großzügigen Autoren-Vertrag mit einem Großverlag unterschrieben. Heiraten
wollten sie erst, wenn ihr erstes Kind unterwegs wäre.
Es gab keinerlei Anzeichen,
dass dieses unendlich entspannte Dasein, eine Erschütterung erfahren könnte. -
Bis an einem herrlichen Herbstsamstag das Telefon klingelte:
"Johannes? Hier ist
Thora! Ich bin draußen!"
"Du meinst, deine
Therapie ist zu Ende."
"Nein, die hatte ich
schon im April hinter mir. Ich musste noch drei Monate in Aichach
absitzen."
"Doch nicht wegen der
Polizistengeschichte damals?"
"Indirekt schon. Doch
da hatte ich noch Bewährung bekommen. In den Knast musste ich, weil ich Thomas
nach der Gerichtsverhandlung, bei der er eiskalt einen Meineid geschworen
hatte, eine gelangt habe."
"Dafür scheint es dir
aber blenden zu gehen."
"Ich habe mich noch nie
so gut gefühlt. Ich bin jetzt seit über einem Jahr knochentrocken und jogge
jeden Morgen. Ich möchte gerne wieder arbeiten. Ganz klein anfangen. Kannst du
mir helfen. Wir müssen uns unbedingt sehen."
"Du musst wissen, dass
ich mit Esther zusammen gezogen bin. Wir wollen heiraten", betonte er,
indem er seine Liebe fixierte, die in einem Sessel auf dem Balkon saß und las.
"Aber geh davon aus, dass ich einen Einstieg für dich finde..."
Vierzehn Tage später fand
eine Sitzung in dem protzigen Büro eines bekannten Produzenten statt, der
Johannes noch einen Gefallen schuldete. Sein Geschäftsfreund Seppi, ein
Werbefritze, saß mit dabei, und alle drei lauschten, wie Thora die
fotografische Idee präsentierte, mit der sie die anstehende Kampagne umsetzen
wollte. Sie war brillant und sah geradezu umwerfend aus. Sie hatte sich mit
Sonnenbräune und mehr Muskeln an der fragilen Figur in den gleichen Typ
verwandelt, den Alex bei ihrem kennen Lernen verkörpert hatte. Während er ihrem
Vortrag gespannt folgte, nahm er jedoch auch wahr, dass auf einer eher
spirituellen Ebene etwas zwischen Seppi und Thora ablief. In Gedankenpausen
schloss sie auf einmal etwas zu lange ihre Lider in geradezu demütiger Weise,
um Seppi anschließend umso schärfer zu fixieren. Nun ja, Seppi war als ziemlich
rücksichtsloser Weiberheld bekannt - und beide waren ja erwachsen...
Thora bekam den Auftrag.
Nach dem gemeinsamen Mittagessen, bei dem Thora trotz anderweitiger
Ermunterungen, man müsse die Zusammenarbeit doch mit einem guten Tropfen
feiern, strikt beim Wasser blieb. Johannes nahm sie später noch kurz zur Seite,
um ihr zu erklären, weshalb er sich künftig rar machen werde. Er gab vor,
Esther würde es nicht gerne sehen, wenn sie wieder zusammen arbeiteten. In
Wirklichkeit wäre dies nie Esthers Art gewesen. Aber diese Schutzbehauptung
schien Johannes dennoch eine lässliche Sünde zu sein...
Jedenfalls hatte Johannes
mit dem, was dann passierte, nichts mehr direkt zu tun.
Deshalb traf ihn der Anruf des Produzenten wie ein Schwall eiskalten
Wassers:
"Was hast du mir denn
da für eine geschickt?"
"Wie? Was? Ich versteh
nicht!"
"Deine Fotografin hatte
hier gestern vielleicht einen Auftritt! Voll wie eine Haubitze kam sie in mein
Büro gerauscht und warf mir vor, sie hätte den Auftrag ja ohnehin nur bekommen,
weil wir sie alle vögeln wollten. Dann hat sie sich bei offener Tür vor meinen
Vorzimmer-Damen entblättert, ehe sie einen kompletten Nerven-Zusammenbruch
erlitt. Ich musste die Polizei rufen, weil sie begann, wahllos Sachen zu
zertöppern."
"Tut mir leid, aber das
habe ich nicht geahnt", log Johannes und entschuldigte sich.
Abends erzählte er Esther
von der Sache. Sie verlangte von ihm unverzüglich, dass er versuche, Thora zu helfen.
Schließlich habe er ja den Schlamassel angebahnt und sie mit Seppi zusammen
gebracht. Johannes versprach, sich zu kümmern. Aber er tat vor lauter
unverzeihlicher Feigheit - nichts!
München, Winter 1979
Ein Kind war
unterwegs, nachdem sie die Hoffnung schon aufgeben hatten. Es würde um die
Weihnachtszeit auf die Welt kommen. In ihrer Eigentumswohnung im
Glockenbachviertel herrschte daher die kindlich heitere Erwartung, die zu
dieser Jahreszeit passt. Johannes war dabei, das Zimmer, das er noch als Büro
genutzt hatte, auszuräumen, um es in ein
Kinderzimmer zu verwandeln. Da ein neuer Lebensabschnitt als Familie
begänne, wollte sich Johannes von dem sich stetig ansammelnden Krimskrams
seines bisherigen Lebens radikal befreien. Schublade um Schublade wurde
ausgemistet. Die beiden Müllsäcke füllten sich bereits bis zum Zerreißgewicht.
Auf einmal hielt Johannes
ein kleines Kästchen aus poliertem Sandelholz in der Hand; ein Quader von
höchstens fünf Zentimetern Kantenlänge und doch von beachtlichem Gewicht. Es
war das Weihnachtsgeschenk von Thora aus dem Jahre 1971. Er hatte es achtlos
zur Seite gelegt, weil es ihm damals als absolut unpassend erschiene war. Jetzt
öffnete er es. Drinnen lag ein Ei aus Messing - etwas größer vielleicht als ein
Wachtel-Ei - und ein Zettel mit Thoras präziser Handschrift lag darunter:
A Gift from a Very Special Bird"
Warum
ausgerechnet jetzt? Die verdrängten Erinnerungen schossen Adrenalin in seinen
Kreislauf. Zu den vielen schlechten Eigenschaften von Johannes gehörten neben
der Unfähigkeit, verlieren zu können, vor allem der Mangel an Gewissensarbeit.
Das rächte sich jetzt. Er bekam keine Luft und registrierte aber gleichzeitig,
dass ihm das Atmen mit jedem Fetzen, den er im Bewusstsein ausgrub, wieder
leichter fiel:
Thora war wieder nach Bad
Herrenalb geschickt worden. Als Seppi ihm irgendwann in der Sauna angeberisch
davon erzählte, was er alles mit Thora angestellt hatte, blieb Johannes trotz
dessen seinem Schwur treu – nie wieder die Hand gegen ein Lebewesen zu erheben
- und verzichtete darauf, ihm auf die Nase zu schlagen. Er strich Seppi in der
Folge einfach von der Liste seiner "sozialen Kontakte".
1978 während eines
Aufenthalts im US-National Naval Medical Center (in dem auch Präsidenten-Gattin
Betty Ford später den Entschluss fasste, eine eigene Suchtklinik zu gründen)
bekam Thora nach zwei deutschen und drei amerikanischen Instanzen in allen
Punkten ihrer Klagen recht. Scheinbar war sie nun Multimillionärin geworden,
obwohl man ja nie weiß, wie viel die Anwälte verlangten und was tatsächlich
noch gezahlt werden konnte, denn "LeROYAUME" war wegen der
Turbulenzen angeschlagen von einem Konkurrenten aus Los Angeles geschluckt
worden.
Gedanken darüber waren aber
müßig, weil Thora wenige Wochen später bei dem "mutigen Moment"
angelangt war, "dem Ganzen ein Ende zu machen".
Nachdem sie eine
Foto-Produktion auf dem Dach des nun ihr allein gehörenden Palazzos in Florenz
beendete hatte - so berichtete ihre damalige Assistentin der italienischen
Zeitschrift "Oggi" exklusiv - war sie vor das Panorama mit allen
Kuppeln und Türmen getreten und habe so getan, als wolle sie euphorisch glücklich
mit einem entrückten Ausruf "alle
umarmen". Dann habe sie sich "abgestoßen wie eine Turmspringerin -
lautlos und konzentriert".
Johannes wollte sich von der
Erinnerung befreien und war gerade dabei, das Ei samt Kästchen in einen der
Säcke zu schmeißen, als ihm auffiel, dass die Rückseite des Begleitzettels mit
einem Text bedruckt war. Es war ein Feinheitszertifikat des SBV, der in
Kombination mit der speziellen Punzierung, die so klein war, das er sie
übersehen hatte, das Gewicht von drei Feinunzen bestätigte.
Als Johannes ein paar Tage
vor Weihnachten seiner Bank, das Zertifikat samt Ei vorlegte, hatte er die
Absicht, dessen damals vergleichsweise hohen Geldwert zugunsten seines
ungeborenen Kindes anzulegen. Bei Volljährigkeit würde das ein hübsches
Sümmchen ergeben... Aber dann machte er etwas ganz anderes. Er ließ sich die
Nummer des AA-Spendenkontos durch den Bankberater heraussuchen und überwies den
von ihm aufgerundeten Betrag unter dem Namen Thora an die Anonymen Alkoholiker. Schließlich war Weihnachten, und er wollte
weder jemandem etwas schuldig bleiben noch Schuld länger mit sich herumtragen.
Das Leben meinte es doch ohnehin gerade schon so gut mit ihm...
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