Freitag, 28. Februar 2014

Strohfeuer

                    9. Kapitel

 Eine Weile fuhren sie schweigsam dahin. Erst als sie an die Straßengabelung kamen, an der es links in nordöstlicher Richtung zur Fähre nach Blaye und zum Ufer der Gironde auf der  Haute Médoc Seite ging, begann Johannes zögerlich seine Erinnerung an jene prägenden Tage preis zu geben:
  „Weißt du! Urmel hatte ganz recht mit seiner Wut. Auch ich spüre sie, weil ich das, was ich damals vermutet und erahnt hatte, nicht  an mich heran lassen wollte. Wir hatten uns einfach bequem von der Strahlkraft Renés den realen Blick auf seine wahre Situation überblitzen lassen. Er war doch unsere Lichtgestalt, was die einzige Kunst zu Leben anbelangte. So einer hat doch keine Probleme, die er nicht selber lösen kann. Dabei war ich so nah wie nie an ihm dran. Ich gebe zu, dass ich sogar von dem schwarzen Loch geahnt hatte, dass sich im Schlagschatten seiner Aura rund um sein Herz auszubreiten begann. Aber wir waren derart auf dem Männertrip, dass wir den Faktor Frau als Leidenspotenzial bei ihm schlicht ausschlossen. Wir erdreisteten uns sogar noch, deinem Vater vorzurechnen, wie viel besser er nun mit seiner neu erlangten Freiheit dran  gewesen sei, nachdem Roseanne ihn verlassen hatte und Nathalie nach Kanada gezogen war. Ausgerechnet ich, der ihm Walcott derart nahe gebracht hatte, war zu unsensibel, ihm diese Verletzlichkeit als Folge der Liebe zuzubilligen. Und Urmel verfolgte ja ohnehin eigene, ganz egoistische Ziele. Er setzte uns in jener Episode auf komplette „Weiber-Abstinenz“ damit zwischen uns endlich mal diese störende, „blöde Balzerei“ aufhöre.
    Man liest immer wieder von der Theorie, dass Krebs genau sieben Jahre nach einer schweren seelischen Erschütterung auftreten könne. Roseanne hatte René im Mai 1995 verlassen. 2002 im Frühjahr war entdeckt worden, dass die Geschwulst in seinem Dickdarm bereits metastiert hatte. Die beiden haben sich ja damals so obercool, vernünftig und abgeklärt gegeben, als sie alles ohne Scheidung aufgeteilt hatten. Ihr Kinder wart erwachsen und aus dem Haus… Lief doch alles bestens!
  Sei ehrlich! Keiner von euch hat doch in jener Zeit einen Gedanken daran verschwendet, ob René eigentlich klarkäme. Die Trennung lief ja teilweise derart cool ab, dass man sich fragen konnte, ob sie am Ende nicht auch ein heimliches Ziel von René gewesen sei. Wenn ich selbst ganz aufrichtig bin, hatte ich die Situation auch aus ganz egoistischen Gründen gar nicht erst groß hinterfragt. Ich wollte bloß nicht allein sein, als ich 1996 versucht habe, meinen eigenen Problemen daheim beim Ausflug entlang der Dordogne davon zu radeln. Ich habe deinen Vater als Vehikel für die Wiederherstellung meines Wohlergehens benutzt, obwohl eigentlich er aller Fürsorge bedurft hätte. Dass dieser Aufenthalt trotz dieses Missverständnisses so ein einmalig sinnliches Erlebnis war, lindert heute zumindest etwas mein schlechtes Gewissen.
 
  Dabei war bei jenem Ausflug doch allerhand schief gegangen. René sollte in aller Ruhe noch das Haus dicht machen, während ich schon einmal losradelte. Er hätte mich selbst nach einer halben Stunde mit seinem Jeep noch leicht vor der Fähre eingeholt, aber er fand den Kater nicht, der ja die Tage mit genügend Fressen ausgestattet in der an Freunde vermieteten Remise und im Freien eures Gartens verbringen sollte. Es war ein relativ kühler, grauer Vormittag mit einer steifen Brise aus Südwest. Das heißt, nach der Abzweigung, an der wir eben vorbeigefahren sind, hatte ich enormen Schiebewind genau im Rücken. Da fiel es mir leicht, den Körper auf Temperatur zu halten. Du wirst es nicht glauben, aber ich brauchte für die 40 Kilometer nur eine Stunde und war somit eher da, als geplant und erwischte auch noch eine frühere Fähre. Und das war ganz gut so, denn kaum hatte sie abgelegt, fegte ein Regenschauer heran. Hätte ich an Land auf René gewartet, wäre mir vermutlich der Allerwerteste abgefroren. So saß ich geschützt auf der Passagierbrücke und konnte gerade noch erkennen, wie Renés Jeep sich winzig klein in dritter Warteposition vor der Schranke am Pier einreihte. An der Côte de Blaye drüben würde ich also eine gute halbe Stunde warten müssen. Es gab die klare Ansage, dass wir uns zum Mittagessen auf der Zitadelle treffen würden, falls wir uns irgendwie verpassen sollten. Mit der nächsten Fähre kam René aber nicht. Was sehr verwunderlich war, weil ich doch noch gesehen hatte, wie er angekommen war.  Später stellte sich heraus, dass er, weil er nicht warten wollte, den Landweg über Bordeaux genommen hatte. Da sich der Himmel schon wieder zum nächsten Wolkenbruch verdichtete und ich nicht nass werden wollte, schwang ich mich zurück aufs Rad und sprintete nordwärts an der Gironde entlang. Nicht schnell genug. Ich war mitten in der Steigung zur Festungsanlage, als mich der Regen erwischte. Pitschnass betrat ich mein Rennrad schiebend das Foyer des Gourmet-Restaurants. Klamotten zum Wechseln sowie andere Schuhe waren im Jeep deines Vaters… Der Maître begrüßte mich so freundlich, als hätte ich mit einem eleganten Designeranzug vor ihm gestanden und strahlte noch mehr, als ich die Situation schilderte. Er nahm mir mit respektvoller Kennerschaft mein Rad ab, als sei es ein übliches Stück zur Aufbewahrung in seiner Garderobe und hob es mit einem Finger in einen abschließbaren Stauraum. Dann kam er mit einem großen Badehandtuch wieder, wartete bis ich mich gründlich abgetrocknet hatte und führte mich, ohne mit der Wimper zu zucken, zu unserem reservierten Tisch mit Blick auf die Gironde. Meine Radschuhe klackerten mit ihren Pedalschlössern über den Marmorboden, und ich hatte das Gefühl, als dampften Hose und Trikot die Feuchtigkeit immer noch für alle deutlich sichtbar aus. Was für eine einzigartige Radnation Frankreich ist, wurde mir erst in diesem für mich vermeintlich peinlichen Moment bewusst. Perfekt frisierte Köpfe von elegant gekleideten Menschen hoben sich mir freundlich lächelnd und beifällig nickend entgegen und widmeten sich dann wieder ihren Gesprächen oder Speisen, als sei es vollkommen normal, dass ein Radler auf diese Weise während einer Etappe Pause einlegt.
  Eine Viertelstunde später hatte dann Dein Vater seinen Auftritt, der kontrastreicher zu mir nicht hätte ausfallen können. Braungebrannt, in senffarbenen, weichen Gabardinehosen, Segeltuchschuhen und Marineblazer, unter dem er ein quer gestreiftes T-Shirt trug, wirkte er wie ein Filmstar am Set.  René war noch nicht halb durch den Raum, da hatte er schon diverse Bekannte entdeckt und sie mit Küsschen-Küsschen begrüßt. Dann trat er an unseren Tisch, als sei das die normalste Übung, dass ihn dort ein Mann in Radler-Outfit erwartete und nötigte mich aufzustehen. ‚Du musst unbedingt einen Freund kennen lernen. Er ist der Vorsitzende des Aquitanischen Winzer-Verbandes.’
  Also noch einmal Spießruten laufen, Händeschütteln und mitten in edler Ambiance stehend Smalltalk mit einem kleinen, jovialen Mann machen, dessen altadliger  Name so lang war, dass ich ihn leider gleich wieder vergessen habe. Jedenfalls wollte jener unbedingt die von mir ausgearbeitete Route erfahren. Wissen, mit welchen Zahnkränzen ich unterwegs war und sparte - unter höflichem Hinweis auf meine Körperfülle - nicht mit Warnungen vor tückisch steilen Abschnitten auf dem linken Dordogne-Ufer. Der Mann war natürlich nicht nur Wein- sondern auch Rad-Experte.
  Als wir voller Vorfreude und richtig hungrig die Speisekarte studiert hatten und bestellen wollten, teilte uns der Ober mit, dass Renés Freund die Weinauswahl für uns auf seine Rechnung vornehmen wolle. Eine ganz schöne Zwickmühle, denn Saint Emilion, das Ziel unserer ersten Tagesetappe wartete ja am Nachmittag noch auf uns. Ich wusste aber auch, dass unter französischen Radlern zwei bis drei Glas eines kräftigen Rotweins als legales Doping gelten. Eindeutig hatten wir bis zum letzten Gang  unser beider Fahrtüchtigkeit zumindest eingeschränkt. Denn zwei fabelhaften Gläsern Weißwein  von der Côte de Blaye und aus der Region Entre Deux Mers folgten noch zwei Rote aus St. Emilion und  ein süßöliger Bergerac zum Blauschimmelkäse. Begleitet von einer handgeschriebenen und signierten Liste der Winzer und Chateaux, die wir auf unserer Route unbedingt ansteuern sollten, um deren Weine zu verkosten. Er sollte dafür sorgen, dass wir erwartet und honorig empfangen wurden… In Wahrheit waren das aber alles Winzerinnen; in kupplerischem Eifer erwählt.
  Wegen  der konsumierten Kalorien musste zumindest ich mir keine Gedanken machen, denn ich hatte zum Nachtisch noch über 60 Kilometer zu radeln. Beflügelnd war zudem die entspannte Heiterkeit und das schöne Wetter, die René und mich vorantrieben. Nachdem wir uns am Vormittag verpasst hatten, rückte mir der Jeep nun wie ein Materialwagen bei der Tour de France nicht mehr von der Pelle. Auf der vollkommen leeren und malerischen Uferstraße nach Saint-André-de-Cubzac konnte René sogar den Schrittmacher spielen, indem er mir im Windschatten permanent mein Tempo mit den Fingern anzeigte. Auf der Weiterfahrt im nachmittäglichen Berufsverkehr nach Libourne ging das natürlich nicht mehr. Wir wären ein zu großes Verkehrshindernis gewesen, also winkte ich den Jeep weiter. Es waren ja nur noch zwanzig Kilometer. Aber genau auf denen passierte das zweite Malheur. Ein Rastloser schnitt den Tanklaster, der mich gerade passiert hatte bei einem gewagten Überholmanöver derart drastisch, dass der vor mir eine Vollbremsung machen musste. Ich hatte den Kopf tief über dem Lenker und hörte nur nach das Quietschen und das Fauchen der Luftdruckbremsen, da musste ich das Rad auch schon scharf zur Seite an den Straßenrand lenken; leider in ein tiefes Schlagloch. Das Vorderrad verbog sich im Bruchteil einer Sekunde derart, dass ich noch von Glück sagen konnte, nicht kopfüber in den Graben gestürzt zu sein. Ich riss die Füße aus den Sicherheitspedalen und rutschte wie ein Sandbahnfahrer weiter bis ich zitternd zum Stehen kam. Die beiden Fahrzeuge vor mir hatten natürlich nicht bemerkt, dass sie fast ein hoffnungsvolles Radlerleben ausgelöscht hatten. Wohl aber ein Lieferwagen-Fahrer, der sofort hinter mir hielt und der auch gesehen hatte, dass mit diesem Vorderrad von mir nichts mehr ging.
  Radsport-Nation Frankreich: Der Mann legte meinen verbogenen Renner auf seine Ladefläche. Allerdings nicht ohne im typisch gallischen Brustton der Empörung seine Ansicht über das Missverhältnis eines deutschen Fleischberges zu einem sündteuren, ultraleichten Kevlar-Titan-Renner französischer Provenienz zum Ausdruck zu bringen… Aber der Mann hatte natürlich einen Vetter, der am anderen Ortsausgang von Libourne wie selbstverständlich das beste Radfachgeschäft des Bordelais betrieb. Es war Freitagnachmittag und eigentlich schon nach Geschäftsschluss. Der Vetter empfing uns in Badelatschen und Grillschürze, zögerte aber keinen Moment, seinen Laden wieder aufzumachen, um von einem ähnlichen Rad wie dem meinen ein nagelneues Vorderrad auszuspannen. Er war auch bei seinem eher physikalisch orientieren Vortrag wesentlich höflicher als sein Cousin. Er sprach eher hypothetisch davon, dass die Errungenschaften der Fahrrad-Industrie, immer leichtere Materialien zu verwenden, vermutlich durch übergewichtige Fahrer konterkariert werden könnten… Wenn ich nun dachte, der Mann würde mich bei dieser idealen Gelegenheit abzocken, sah ich mich beschämt. Er räumte mir auf den Listenpreis Skonto ein, weil er meinte, er könne mein beinahe nagelneues Vorderrad wieder richten und so zum Vorzugspreis einem Club-Kameraden geben, der – leiser Vorwurf - nicht soviel Geld aber mehr Perspektive hätte…
  Gerade wollte ich mich ein wenig gedemütigt wieder auf den Renner schwingen, als ich Renés Jeep auf den Ortseingang zubrausen sah. Wir alle haben ja schon unter seinem Temperament gelitten, wenn irgendetwas nicht so funktionierte, wie er sich das vorgestellt hatte. Deshalb erwartete ich ihn am Ende dieses Tages in schlechter Laune, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Er berichtete begeistert, dass er bereits in der „Commanderie“ eingecheckt habe, wir eine fabelhafte Suite in der Stadtmauer mit Blick auf die Weinberge bekämen und den Abend mit einer Winzerin verbrächten, die eine Schaumwein-Kellerei betreibe, die seit dem 16. Jahrhundert im Familienbesitz sei. Das für René typische Netzwerk aus Freundschaftsdiensten, war also bereits dabei, uns einzuwickeln. Und nichts genoss dein Vater - dieser ultimative Strippenzieher - mehr. Aber was der Zufallsgenerator des Lebens an diesem Abend noch bescherte, machte selbst ihn annähernd sprachlos.
  Nach einem Spaziergang in der Abendsonne, die die Gegenwart aus dem mittelalterlichen Kern des Ortes romantisch ausblendete, betätigten wir vor dem Schauraum der Kellerei die lange Kette einer im Giebel hängenden Glocke. Von irgendwo aus dem historischen Gewölbe erklang eine offenbar ans Kommandieren gewöhnte Frauenstimme. Wir sollten schon mal hineingehen, man käme gleich (on y va!). Drinnen brannten nur einige Kandelaber, und es war ein grobschlächtiger Tisch für vier Personen gedeckt. Durch Pasteten, Brotkörbe, Karaffen, Schalen und Schinkenplatten sah alles aus, als sei es für das Stillleben eines alten Meisters arrangiert worden. René und ich waren von der Atmosphäre gleichermaßen gefangen, als ein Mann etwa in Renés und eine Frau in meinem Alter mit Bedacht die durchgetretenen Steinstufen herunterkamen. Als die Frau ins Kerzenlicht trat, spielte mir die Erinnerung dermaßen einen Streich, dass ich laut den Namen „Criquet“ ausrief. Die Frau zuckte kurz und sichtbar irritiert zusammen, und fragte ähnlich unhöflich, wie ich die formelle Begrüßung umgangen hatte: ‚So bin ich seit Ewigkeiten nicht mehr genannt worden. Kennen wir uns vielleicht?’
  Ich nahm an, dass der Mann in ihrer Begleitung ihr Ehemann war, deshalb fiel die kurze Schilderung unserer Begegnung etwas nüchtern aus. Ein verschämter, deutscher Jungmann war da am Atlantik bei Mimizan vor rund dreißig Jahren in eine Strandburg voller nackter Mädchen geraten. Und die Bedeutung, die eine Rote Mütze von MicMac auf meinem Kopf für den wahren Beginn meines Sexuallebens hatte, reduzierte sich daher auf die Beschreibung eines Erkennungszeichens. Aber das genügte, dass die Frau, die immer noch aussah wie der burschikose Klon der Schriftstellerin Francoise Sagan, in ein an ihren Kriter erinnerndes, perlendes Gelächter ausbrach. ‚Ei Papa! Ihr glaubt es nicht. Das war noch während der Berufsschule. Und jetzt steht der hier. Dass du dich noch an meinen Namen erinnerst, du hast doch die ganze Zeit nur auf die Brüste der dicken Zigeunerin geguckt. Da war doch was gelaufen mit der – oder? Ich habe deinen Namen leider vergessen.’
  Jetzt schien es an der Zeit für die formelle Vorstellung. Der folgte ein Abend, der in seiner Einzigartigkeit nicht zu beschreiben ist, weil ich dann bis zum Flughafen nicht fertig würde. Ein Detail aber ist wichtig. Criquet oder Marielle wie sie eigentlich hieß, machte in seinem Verlauf deinem Vater unverhohlen schöne Augen und am Ende gerade noch schickliche Avancen. Und René genoss das derart, dass sein Strahlen erstmals seit der Trennung von Roseanne nicht so grell, sondern samtweich wirkte. Ich darf wohl behaupten, dass ich erste Anfänge der sexuellen Wiedergeburt deines Vaters miterlebte.
  Am nächsten Tag habe ich mich dann ins Koma geradelt. Natürlich hatten wir länger geschlafen als geplant, aber das wäre nicht so schlimm gewesen, weil die Halbetappe zu einem Aussichtsrestaurant oberhalb von Sainte Foy la Grande nicht sehr lang gewählt war. Aber über Nacht war der Hochsommer ausgebrochen. Als ich gegen zehn endlich auf dem Bock saß, war das Thermometer schon auf über dreißig Grad geklettert. In den Laubtunneln, die zunächst noch ufernah an der Dordogne entlang führten, war das aber noch auszuhalten. Doch hatte mich der Winzerkönig nicht irgendwie davor gewarnt, auf das linke Ufer hinüber zu wechseln? Aber genau das tat ich in Castillon la Bataille. Der Karte war nicht anzusehen gewesen, dass die Straße der prallen Sonne ausgesetzt am Hochufer aufwärts führte. Nicht permanent ansteigend, sondern mit ständig wechselnden Steigungsgraden. Nach zwei Kilometern waren meine Getränkereserven schon aufgebraucht, nach vier Kilometern kam kaum noch ein Tropfen aus meinem ausgedörrten Körper. Immer dachte ich, hinter der nächsten Kurve müsse doch die Dordogne wieder zu sehen sein und das Ausflugsrestaurant und René mit einem kalten Getränk auftauchen. Ich hatte das Gefühl, mit jeder Kurbelumdrehung zu schrumpfen. Trockenes, kristallines Schweißsalz brannte in meinen Augen. Kein Auto, kein Mensch – nur ein paar blöd blökende Schafe, die Geschwader von Bremsen auf mein immer dicker werdendes Blut entsandten. Mehrmals wollte ich vom Rad steigen und Pause unter einem Baum machen, aber ich wusste ganz genau, dass ich dann nie wieder in die Gänge käme.
  Als das Restaurant endlich auftauchte, war ich wirklich nicht mehr bei Verstand. Ich haspelte und faselte, doch René bekam von all dem gar nichts mit, denn er hatte unseren Lunch beim Chateau La Belle Poule und dessen legendärer Chefin fest gemacht und sprudelte nur von dem über, was uns dort erwarten würde. Ich nahm indessen zwei Humpen Bier vom Fass, was nun wirklich der blanke Irrsinn war. Der Alkohol schoss in meinen Kreislauf und der unterversorgte Körper stürzte sich auf die Kohlenhydrate. Eben hatte ich noch gestottert nun schwadronierte ich größenwahnsinnig, man sähe sich in einer Stunde in Bergerac und stürzte mich auf die Abfahrt. Die Euphorie reichte aber nur über die Hälfte der dreißig Kilometer, dann wurden meine Beine schlagartig  wieder schwer. Als ich durch das Tor des Chateaus oberhalb von Bergerac schlich, wollte ich nur noch sterben. Aber die Winzerin war schon eine, die die Lebensgeister wieder wecken konnte. René und sie erwarteten mich bereits am Pool unter einem ausladenden Sonnenschirm. René hatte mir fürsorglich wie ein Trainer Kleidung zum Wechseln in die Nähe der Dusche gelegt. Eine Badehose bräuchte ich nicht, man sei ja entre nous meinte unsere Gastgeberin und sie schaue auch nur hin, wenn es sich wirklich lohne, meinte La Belle Poule frivol. Ich war zu kaputt, um mir Gedanken zu machen. Rückblickend war dies die schönste Planscherei meines Lebens. Und wäre ich doch nicht so ein verplanter doofer Deutscher gewesen, hätte ich René und mir ihr Angebot zu bleiben, gegönnt.
  Die Dame des Hauses war vielleicht drei, vier Jahre älter als ich gewesen. Eine fiftyfifty Mischung aus Catherine Deneuve und Fanny Ardant – nur ungeniert grauhaarig. Leicht klimakteriell aufgeputschter, reifer Sexappeal verteilt auf viel Körper und dargereicht mit professioneller Lässigkeit. Sie musste nicht spielen, was sie trieb. Es war ihre Standardausstattung, die sie als Besitzerin des heißesten Clubs von Bordeaux zur Legende gemacht hatte. Über ihrem reichlich gefüllten Bikini trug sie nur so eine Art Toga wie aus einem Römerfilm der Cinecitta. Und Mann, konnte die Frau auch noch kochen… Es gab nur einen leicht gezauberten Sommer-Lunch: Einen lauwarmen Frisee-Salat mit breiten Nudeln, Langustenscheiben und kross gebratenen Kalbsbries-Röschen. Das Ganze abgeschmeckt mit einer Trüffelvinaigrette und begleitet von Weinen, die weder René noch ich jemals der Region Bergerac zugeordnet hätten. Sie war Circe und wir die Argonauten – bereit zum Stranden…
  Nach zwei Stunden Schlaf unter einer mächtigen Eiche, waren all die Leiden des Tages verdrängt. Aber der Preuße in mir war auf das Ziel der Tagesetappe programmiert, und das hieß Saint Cyprien. Ich war überrascht, dass ich Deinen Vater so leicht loseisen konnte, aber da hatten wir ja auch noch nicht unser Treppengespräch gehabt, das diesen Tag der Erkenntnis abschließen sollte…
  Ich fuhr wieder vorweg. Diesmal aber wollte ich auf dem rechten Ufer bleiben. Als die Straße hinter Lalinde senkrecht den Berg hoch führte, um die Dordogne-Schleifen bei Trémolat zu umgehen, merkte ich sofort, dass ich schon wieder einen Fehler gemacht hatte und kehrte reumütig um. Ich erspar dir jetzt alles weitere, sonst werde ich bis zum Flughafen nicht fertig. Die Sonne stand schon ziemlich tief, als mich René aus meiner Ohnmacht erweckte. Ich hatte – nur durch Zufall zu entdecken – im tiefen Gras unter dem Ortsschild von Siorac en Périgord gelegen. Weit ab von der geplanten Route, aber eben nicht weit von Saint Cyprien, und nicht versteckt genug für deinen findigen Vater.
  Der diagnostizierte Hitzschlag, stornierte unsere Reservierung und quartierte uns gleich an Ort und Stelle in einen Landgasthof, der malerisch direkt an der Dordogne lag und schickte mich sofort zu Bett. Die Warnung des Wirtes, dass am Abend eine Hochzeitgesellschaft in seinem Etablissement stattfinden sollte, hatte René in den Wind geschlagen. Sie begann gerade, als ich René bat, mich nach Sarlat ins Krankenhaus zu fahren; -  an einem Hochsommertag an der Dordogne… Aber mir war längst klar, dass irgendetwas viel Ernsteres mit mir passiert war. Ich roch merkwürdig, schwankte und redete, als sei ich immer noch betrunken. Gleichzeitig aber war ich müde und hatte Adrenalinschübe durch Panikattacken.
  Die kleine, exotische Notärztin aus irgendeinem Übersee-Département zog mich zur Diagnose schnüffelnd an sich und meinte nur lakonisch, wenn ich nicht in Nagellack-Entferner gebadet hätte, handelte es sich wohl um eine diabetische Azeton-Vergiftung im präkomatösen Bereich. Wie lange ich denn schon Diabetiker sei. Ich fiel aus allen Wolken auf eine Welt, die mir verändert und verloren schien.


Freitag, 21. Februar 2014

Strohfeuer

8. Kapitel

  Johannes tauchte aus den Tiefen seiner Erinnerung auf wie die Markierungsboje eines Schatzsuchers, weil hinter ihm weibliches Raunen die durch die Fenster gedämpften Geräusche der langsam zurückweichenden Brandung übertönte. Maurice hatte mit ungekämmten, noch nassen Locken und barfuß die Bar in einem blütenweißen Lacoste-Hoody betreten und nahm die Küsschen-Küsschen-Parade ab. Indem er schmachtend Komplimente an die servierende und kochende Weiblichkeit verteilte, hielt er beharrlich Kurs auf Johannes’ Tisch. Jeder andere, der in diesem an ihm zugegebener Maßen sauteuer und elegant aussehenden Kapuzen-Trainingsanzug an einem Sonntag zu dieser Jahreszeit die Bar des „Cajun“ betreten hätte, wäre gleich hochkantig wieder hinaus geflogen.
  Johannes indes war irgendwie froh, dass ein wenig dieser Testosteron-Aura auf ihn abstrahlte, als sich der Kerl Schulter klopfend zu ihm setzte. Andererseits bot dieser Vorgang auch eine komische Perspektive: Über 200 Kilo Männerstolz an einem Bistro-Tischchen, das gerade groß genug für den Laptop des Deutschen war. – Das fand wohl auch Jean-Jaques, der sofort Abhilfe schuf und einen Vierpersonen-Tisch über die neugierig in diese Richtung ausgerichteten Köpfe durch die nun prall volle Bar balancierte.
  „Du warst gestern aber plötzlich verschwunden Joannäs!“ Jean-Jaques bemühte sich immer den Namen korrekt deutsch auszusprechen. Heraus kam phonetisch aber immer etwas, das klang wie der Name dieses hispanischen Schmacht-Sängers.
  „Mein Diabetes lässt solche Orgien einfach nicht mehr zu. Und ich habe noch keine Lust auf ein Ende à la ‚Grande Bouffe“.
  „Und jetzt - mein Alter? Kannst du schon wieder?“ Johannes überhörte die doppeldeutige Anspielung auf das, was nach der Phantasie des Wirtes bei der Übernachtung in Jocelines Haus hätte passiert sein können. Er bezog die anzügliche Frage stur auf den Lunch, der für ihn und Maurice traditionell aus einer „Plateau Royale“ bestehen sollte.
  „Heute ist Protein-Tag“, grinste Maurice, der die übliche Menge auf der Meeresfrüchte-Platte bei der augenzwinkernd kumpelhaften Bestellung durch eine zusätzliche Languste zum obligaten Hummer ergänzte. Diese Variante wurde zum Gedenken an René „Plateau Royaume“ genannt.
  Die Austern waren trotz des Sonntags am Morgen im Bassin von Arcachon geerntet worden, und die Bigorneaux und Bulots hatten am Vormittag in Jean-Jaques’ Spezialsud  ein Dampf- und Schaumbad genommen, so dass sie geschmeidig und nicht gestockt aber von einzigartiger Würze aus ihren Gehäusen kamen. Während sie vorweg - als kleine Aufmerksamkeit des Hauses - lauwarme, in Dijonbutter mit einem Hauch Knoblauch warm geküsste Jakobsmuscheln aus ihren Schalen schlürften, trieb Johannes dann doch die Neugier:
 „Wer hat nun Guillaumes Gemälde bekommen?“ Wollte er von Maurice wissen. Doch der ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Mit Nadeln beziehungsweise speziellen Stochern holte er zunächst einmal das Fleisch aus den verschiedenen Schnecken-Gehäusen, schob es bedächtig zu kleinen Häufchen zusammen und gab wahlweise Aioli oder handgerührte Mayonnaise dazu, löffelte das ganze auf ein Stück Baguette und kaute enervierend genussvoll:
  „Niemand! Die Jury war einhellig der Meinung, dass sie ohne Beiträge seiner deutschen Freunde und in Abwesenheit von Nathalie und Roseanne keine Entscheidung über diesen speziellen Teil von Renés Legat treffen wollte. Da ich den Nachlass ja regeln muss, war ich sehr damit einverstanden. Denn insgeheim bin ich der Ansicht, dass René speziell von dir, aber auch von Urmel einen besonderen Beitrag erwartet hätte. Er hat jedes eurer Streit-Gedichte liebevoll in ein Album und dazu die Etiketten der Weine geklebt, die ihr währenddessen geschluckt habt. Ich hoffe doch sehr, dass ich mal nicht so albern werde, wenn ich die Fünfzig überschreite. Manchmal liest sich das ja so, als hätten da zwei Weiber um die Gunst eines Kerls gebult. Roseanne ist schier ausgeflippt, als sie die Etiketten gesehen hat. Vermutlich hat sie heimlich nachgerechnet, welche Werte ihr da an einem dieser Abende versoffen habt…“
  Johannes dachte gerne an diese spezielle Übergangsphase in ihrer dreier Leben zurück. Diskurse, intellektuelle Plänkeleien und Stegreif-Sketche waren mit diesem wirklich einzigartigen Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Männern einhergegangen, das Jerome K. Jerome in seinen „Drei Mann in einem Boot“ so trefflich skizziert hatte. Nur, dass die Rolle des Foxels Montmercy bei ihnen ein zugelaufener Kater spielte, der so riesig dick und behäbig gefräßig war, dass sie ihn spontan Guillaume und nicht wie nahe liegend nach dem Comic-Kater Garfield getauft hatten.
  „Weißt du, Maurice! Ich war mir so sicher, dass ich euch allen von dieser Rad-Tour 1996 entlang der Dordogne erzählen sollte. Aber dann hast du das Gemälde von Guillaume enthüllt mit Peggy und René in unverkennbarer Allegorie. Da war mir klar, dass ich René und mir nicht mit einer spontan vorgetragenen Schmonzette gerecht würde. Da reicht mein Französisch heute einfach nicht mehr. Die Augen hat mir aber letztlich der Ausbruch von Urmel geöffnet. Bei all seiner Sauferei, kann man ihm seinen messerscharfen,  analytischen Verstand ja wirklich nicht absprechen – auch wenn man ihm mitunter selbst zum Opfer fällt. Ich hätte vielleicht versucht, aus meiner damaligen Funktion als Ringrichter heraus, posthum das große Missverständnis zwischen Roseanne und René auszuräumen… Jetzt bin ich - unabhängig davon, dass ich Guillaumes Bild gerne hätte - zu dem Ergebnis gekommen, dass ich eine ganz individuelle Novelle schreiben möchte. Die schicke ich dir per E-mail oder CD-rom, und wenn du sie für würdig hältst, bitte ich dich, sie zu übersetzen und an unsere Freunde zu verteilen. Vielleicht ist das auch ein Weg, den Urmel beschreiten sollte. Allein schon, um unseren Alten Dichter-Diskurs wieder aufzunehmen. Und Roseanne und Nathalie bliebe auf diese Weise auch das Aufbrechen alter Verletzungen erspart…“
  Und so wurde es vereinbart. Es galt vorher schon als abgemacht, dass Johannes Maurice am Nachmittag auf der Heimfahrt nach Italien am Flughafen von Bordeaux absetzen sollte. Der Lobbyist hatte auf dem europäischen Parkett mehr denn je zu tun, seit das „Zwergen-Trio“ - so nannte er das Zusammenwirken der präsidialen Selbstdarsteller Sarkozy, Berlusconi und Putin – die EU in eine Schaubühne verwandelt hatte. Um weder Renés Haus noch die beiden „Mädchen“ noch einmal sehen zu müssen, las er Maurice am Rondell vor dem Casino auf. Was bei dem wieder schönen Wetter kein Problem mehr war. Die tief stehende Herbstsonne verzauberte das Blumenornament zum Abschied in eine pointilistische Installation über den Lauf der Zeit…



Donnerstag, 13. Februar 2014

Strohfeuer


7. Kapitel

  Das typische Sauwetter, das die Côte d’Argent immer öfter und heftiger heimsuchte, als dies die Touristiker wahrhaben wollten, überzog das glamouröse LaGrange am nächsten Morgen mit einer grauen Katerstimmung. Johannes hatte sich aus Jocelines Haus geschlichen und aus dem Eingang einen großen Golfschirm stibitzt, der ihm bei einigen der flach daher kommenden Regenböen fast aus der Hand gerissen wurde. Aber es tat ihm gut, dass er derart durchgepustet wurde. Aus seinem Auto hatte er sich seinen Laptop geschnappt und sich sehr exponiert über den Boardwalk zum  „Cajun“ gestemmt. Selbst bei diesen widrigen Bedingungen waren noch Surfer draußen und wirkten in ihren schwarzen Neopren-Anzügen wie aalglatte Kormorane, die auf Beute warteten. Johannes versuchte heraus zu finden, ob Maurice unter ihnen war. Früher war das ganz leicht gewesen, denn selbst ein Laie konnte sehen, dass da einer auf ganz besondere Weise mit seinem Wellenbrett verwachsen war. Aber Strassburg war weit, und der Lobbyist  zu viel in der Weltgeschichte unterwegs, um wohl jemals wieder diesen begnadeten Trainingszustand zu erreichen.
  Nach der Küsschen-Küsschen-Parade mit nahezu dem kompletten Personal einschließlich Küchencrew belegte Johannes seinen kleinen Stammtisch direkt am Panoramafenster in der Südecke der noch völlig leeren Bar. Und nachdem er den Laptop eingestöpselt und betriebsbereit gemacht hatte, starrte er erst einmal eine Zeit lang aufs Meer hinaus. Die Wellen rannten jetzt derart tosend an, dass ihm ein Gemälde in den Sinn kam, auf dem der Künstler die Brandung als Herde schnaubender, weißer Rösser dargestellt hatte. Es wollte ihm jedoch partout nicht gelingen, den Maler zuzuordnen. Doch während er sich noch für das Nachlassen seiner kleinen grauen Zellen schalt, hatte seine Altersweitsichtigkeit dann doch Maurice fokussiert. Er war wie immer am weitesten draußen gewesen und hatte auf seine Welle gewartet. Nun trug sie ihn - unverkennbar in der Körperposition - hoch über den anderen dahin. Wie hatte Johannes anderes erwarten können? Der Kerl hatte ja die Gene seines Vaters. Er würde die wuchtigsten Wellen vermutlich reiten, bis sie ihn ein letztes, vielleicht tödliches Mal abwürfen. Wie viele waren alljährlich während der Herbststürme hier schon querschnittsgelähmt aus der Brandung gezogen worden.
  Und während Maurice die  Welle souverän bis in die flache Gischt ausritt, fand sich Johannes auf einmal wieder fünfzehn Jahre zurück versetzt bei ihrem Offenbarungsgespräch auf der Monsterdüne. War Nathalie wirklich das aggressive Sex-Tier gewesen, als das sie Maurice und manche Männer der Strandbande erlebt hatten? Vieles deutete in den Folgejahren darauf hin, dass dies nur Äußerungen eines falsch verstandenen, fast zwanghaften Rollenverhaltens gewesen waren. Denn als Mutter und Ehefrau nahm sie sofort die Verhaltensmuster dieser Funktionen an. Sie war Louis (Lucky) und Louisa (Isa) eine perfekte Mutter, und die Ehe mit dem Riesenbaby schien alsbald auch in erwarteter, klischeehafter Alltagslangeweile zu erstarren. – Allerdings unter Ausnutzung sämtlicher ihrem Sozial-Status entsprechenden Annehmlichkeiten.
   Lucky und Isa waren erst fünf beziehungsweise drei Jahre alt, da beschloss Nathalie, fortan die fünf besten Monate des Jahres in LaGrange bei René zu residieren. Vor allem um die Lücke zu schließen, die Roseanne als Hausherrin hinterlassen hatte, aber wohl auch um Urmel nicht zu sehr der alleinigen materiellen Gunst ihres Vaters zu überlassen. Urmel zog daraufhin schmollend in das selten genutzte Haus von Joceline und arbeitete die so erzielte Mieteinsparung während ihrer Anwesenheit beflissen zwischen ihren Laken ab. Für Johannes war diese Konstellation bei seinen immer häufigeren, mitunter sogar spontanen Besuchen recht angenehm. Indem er eigentlich vor der pubertären Launenhaftigkeit seiner eigenen Kinder daheim fliehen wollte, geriet er in LaGrange zum Ersatz-Daddy für Lucky und Isa. Er lehrte sie Schwimmen und Radfahren oder nahm sie - mit mehr Geduld als er je bei seiner eigenen Brut aufgebracht hätte - sogar allein zu Strandausflügen mit. Weil Roy Betancour währenddessen unbeeindruckt seinen weltweiten Engagements folgte, wurde Johannes, wenn er Nathalies Kinder vom Kindergarten abholte, schon gern mal wegen der figürlichen Ähnlichkeit für den Vater der beiden gehalten.
  Was ihm zu netten Kontakten mit den Kindergärtnerinnen und allein stehenden Müttern verhalf. Denn eingedenk der Schilderungen von Maurice ignorierte er die versteckten aber irgendwie erregenden Botschaften Nathalies hartnäckig. - Dass er wohl außer der Rolle des Ferien-Daddys noch eine weitere hätte spielen können, kam ihm aber dabei gar nicht erst in den Sinn:    Mal hing der Spitzenhauch eines parfümierten aber getragenen Höschens in seinem separaten Bad, mal stand die Besitzerin selbst dort unter der Dusche, ohne abzuschließen. Die beiden Schwangerschaften hatten sie, ohne Schaden anzurichten, zu einem Vollweib reifen lassen. Das war einfach nicht zu übersehen. Johannes verfügte jedoch über genug Lebenserfahrung, um das männermordende Szenario, das Maurice heraufbeschworen hatte, deutlich zu relativieren. Er war im Lauf der Jahre gewissermaßen auch zu einem Experten in Sachen Nathalie geworden und war sich daher sicher, dass weder dem Teen noch später der jungen Mutter bewusst gewesen war, welche Konsequenzen die sexuell provozierten Reaktionen möglicherweise heraufbeschworen. Weil sie das nämlich gar nicht mehr in ihr Denken  einbezog. Sie sandte ihre Signale, guckte, ob sie ankamen, und das war es dann. Sie wollte beachtet werden, und schon die Frage, ob sie begehrt oder gar geliebt werde, stellte sich nicht mehr, weil sie sich allein in ihrer alle und alles dominierenden Selbstliebe genügte.
  Den beiden Kindern fehlte es an nichts. Sie waren behütet und umsorgt, erfuhren jede erdenkliche Zärtlichkeit und waren bei aller Wildheit – wenn es darauf ankam – auch tadellos erzogen. Dennoch kam es zumindest Johannes so vor, als dienten all diese Anstrengungen nur dazu,  dass die Kinder letztendlich mit ihrem Dasein und ihren Talenten das Gesamtbild von Nathalie auszuschmücken hatten.
  Die beiden frankokanadischen Kids waren jedenfalls auf dem besten Weg in die streng elitär ausgerichtete Bildungsmaschinerie der französischen Haute Volée. Als ihr Vater bei einem seiner seltenen und eher zufälligen Besuche während der Sommermonate feststellen musste, dass seine Sprösslinge kaum noch Englisch sprachen, engagierte er als britischkonservatives Gegengewicht bei einer der ältesten Aupair-Agenturen der Insel eine Nanny für die dreimonatigen Schulferien. Beschäftigt wie er nun einmal war, überließ er seiner Frau und seinem Schwiegervater so nebensächliche Dinge wie Logistik und Unterbringung; vom Eingriff ins geliebte und doch irgendwie geordnete Chaos im „Royaume“ ganz zu schweigen…

  So geriet Peggy O’Neill in dieses kleine „Königreich“ hinter den Atlantik-Dünen und leistete späte und stille Revanche für das Wirken Williams The  Conqueror, indem sie es auf ihre Art eroberte…

Donnerstag, 6. Februar 2014

Strohfeuer

              6. Kapitel
 
  Nach der Gänsebrust erhob sich Jean-Francois und verblüffte alle mit einer freien Rede, die völlig vergessen ließ, dass er noch vor kurzem so schleppend und nach Begriffen suchend geredet hatte. Er erzählte, wie René – selbst als der schon ein halbes Dutzend Chemos hinter sich hatte – ihn jeden Tag in seinem Rollstuhl den Boardwalk und die Promenade am Meer entlang geschoben und zur Konversation genötigt hatte:
  „Da hatten wir es beide schon längst begriffen. Er der Guru und ich sein Jünger, dass wir zwar den Alterungsprozess aufhalten können, aber nicht den Tod, wenn der eine Verabredung mit uns hat. René hat gegen den Gevatter gekämpft wie in seinen besten Tagen auf dem Tennisplatz. – Und er musste auch für mich mitkämpfen, denn mein Gehirn konnte solche Energien in dieser Zeit noch nicht wieder freisetzen. Je mehr der Krebs ihn auffraß, desto hartnäckiger blieb er dabei, mich ins Leben zurückholen zu wollen. Das schien seine letzte Mission zu sein: Mir, dem zwanzig Jahre Jüngeren, zu einem aufgeschobenen Rendezvous mit dem Tod zu verhelfen. Als er dann selbst nicht mehr sprechen konnte, war ich bei ihm. Und das bewusste mit ihm reden Müssen brachte mein Sprachvermögen nahezu vollständig zurück. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie entspannt der Kerl trotz der furchtbaren Schmerzen immer noch grinsen konnte, wenn unsere Stunde vorbei war oder bevor er wieder wegdämmerte. Maurice war mit den Figuren auf diesem Gemälde drei Tage vor Renés Tod fertig geworden und brachte das da noch monochrome Motiv mit ans Krankenbett, damit René es noch sehen konnte. Denn es war offenkundig, dass es nicht mehr lang mit ihm gehen würde. Ich hatte irgendwie einer Eingebung folgend sein Lieblingsstück „L’Aprèsmidi d’un Faune“ von Claude Debussy in den CD-Player gelegt. In den zehn Minuten kehrte René noch einmal ganz zu uns zurück und gab Guillaume und mir einen  nachhaltigen Impuls.“
  Jean-Francois imitierte die Stimme von René viel verblüffender als kurz zuvor der eine von den beiden Golfern:
  „Famous last words, meine Freunde! Lass die Farben aus dir heraus Guillaume! Das ist eine Auftragsarbeit, und ich will Farbe in meinem Bild. Ich wollte danach immer verbrannt werden, das wisst ihr ja. Aber jetzt weiß ich auch, dass einem das gelebte Leben in dem Moment, da es ans Sterben geht, im Blick zurück bereits als Strohfeuer erscheint. Ich sage euch, brennt so lange ihr könnt, kämpft um jedes Fünkchen Glut! Das Leben ist erst dann Vorbei, wenn ihr keine Liebe und kein Feuer der Farben mehr in anderen erzeugen könnt.“
  Nachdem Jean-Francois geendet hatte, herrschte Schweigen; nur einen Moment lang. Ein Schweigen, das ein wehmütiges Lächeln der Erkenntnis mit sich führte. Jeder an dieser Tafel wusste, was Jean-Francois und Guillaume hatten durchmachen müssen. Dass ausgerechnet sie das Wesen Renés  so symbolträchtig heraufbeschwören konnten, war das wahrhaftige Wunder. Da erübrigte sich eigentlich jedes weitere Wort.
    Johannes hatte ja vorgehabt, die gemeinsame Dordogne-Reise oder Peggy und mit ihr exemplarisch die Chance eines alten Mannes auf eine junge Liebe zu thematisieren, aber beides wäre ihm jetzt wie Leichenfledderei vorgekommen. Und da sich nun auch noch der Bürgermeister höchst selbst ohne Gespür für den Augenblick als Redner einreihte, schlich sich Johannes auf die Toilette, um seine Blutzuckerwerte zu kontrollieren und Insulin nach zu spritzen.
  Nathalie, Roseanne und Urmel, für die Peggy am Ende ja „non grata“ gewesen war, waren zwar erwartungsgemäß nicht zur Gesellschaft zurückgekehrt, aber dennoch hielt es Johannes nun nicht mehr für angemessen über die Engländerin zu sprechen. Und Nachtisch und Käse, sowie weiterer Wein waren laut Display auf dem kleinen Messgerät auch nicht angebracht. In diesem Moment entschied Johannes, die Geschichte – so wie René  sie ihm geschildert hatte - in Form einer Erzählung aufzuschreiben und Maurice davon eine CD-rom zu brennen. Der sollte letztlich entscheiden, wer sie zu lesen bekäme.
  Johannes hatte den Schlüssel von Jocelines Haus in der Tasche. Es war abgemacht gewesen, dass er in ihrem Gästezimmer übernachten würde. Sein Auto stand noch am Surferspot in genau entgegen gesetzter Richtung. Fahrtüchtig wäre er ohnehin nicht mehr gewesen, deshalb entschied er sich, die Promenade und den Rest des Weges entlang am Meer zu gehen. Joceline würde schon eine Zahnbürste für ihn haben.
  Es war ein Samstagabend Mitte Oktober gegen zehn Uhr. Vor ein paar Jahren noch wären die Straßen um diese Zeit bereits ausgestorben gewesen. Jetzt wirkte die Flaniermeile wie ein Tivoli. Es gab Kinderkarusselle und Auto-Scooter, ein Disco-Zelt, und Gasheizer sorgten dafür, dass die Leute sogar noch draußen sitzen - und rauchen konnten, obwohl es doch schon recht frisch war. Früher herrschten die Jahrgänge von René und seinen  Kumpanen über LaGrange. Nun war der Ort deutlich jünger geworden. Es waren kaum weniger hübsche und junge Frauen in sexy Outfits unterwegs als im Sommer. Johannes bereute seinen Spaziergang daher absolut nicht. Wie immer wenn er etwas getrunken hatte, überkam ihn eine spontane Lust auf eine Zigarette, obwohl er sonst nicht mehr rauchte. Er wollte sich aus selbsterzieherischen Gründen nicht extra eine eigene Packung kaufen und fragte zwei junge Frauen, die einen Tisch am Bürgersteig hatten, ob er sich zu ihnen setzen und eine Zigarette schnorren dürfe, dafür würde er die nächste Runde zahlen.
  Die Mädchen schienen besonders erfreut und verwoben ihn alsbald in ein charmantes Gespinst aus Smalltalk, das sie für drei weitere Zigaretten und Drinks einband. Dann machten sie ihm unmissverständlich klar, dass sie für 200 Euro pro „Bijou“ durchaus bereit wären, die Nacht mit ihm zu verbringen. O tempora, o mores! Früher hätte er Profis auf den ersten Blick erkannt, deshalb lachte Johannes etwas lauter auf, als schicklich gewesen wäre. Er sah, wie sich auf den hübsch geschminkten Gesichtern Empörung verletzter Berufsehre  abzeichnete und flüchtete sich in ein vom Alkohol getriebenes  schwungvolles Fabulieren. Er sei psychisch durchaus angesprochen, materiell dazu auch in der Lage, aber physisch einer derartigen  Herausforderung nicht mehr gewachsen, geschweige denn in der nötigen seelischen Verfassung. Gerade sei die Asche seines Freundes Strand und Meer von LaGrange übergeben worden, schloss er lyrisch.

  Endlich in Jocelines Haus angekommen, schalt er sich, mehr aus Angst vor dem Versagen als aus verlogener Pietät, diese Gelegenheit nicht ergriffen zu haben. Als er sich nackt niederlegte, klatschten die ersten dicken Tropfen auf das Atelierdach über ihm und fielen alsbald so dicht, dass das Klopfen in ein einschläferndes Rauschen überging. Gerade hörte er noch Jocelines schweren Wagen auf dem Kies der Einfahrt, da war er auch schon eingeschlafen. Nirgends auf der Welt hatte er jemals so entspannt geschlafen wie hier am Atlantik mit der hinter den Dünen leise rauschenden Brandung, die den Nachtwind mit  Jodsalz-Molekülen schwängert. Dieser selige dezent alkoholisierte Urzustand verhinderte, das das was dann folgte, zu einem Alptraum hätte werden können. Joceline war frisch geduscht und  mit geputzten Zähnen die Tabak- und Alkoholfahne  nur noch sachte wehen ließen, Kopf voran in sein Bett und unter seine Steppdecke getaucht. Hätte er dieser Schnorcheltaucherei Einhalt gebieten sollen? Gedanken an die beiden Mädchen halfen ihm über die anfängliche Schwäche hinweg, und als die Antiquitätenhändlerin Wellen reitend wieder aufgetaucht war, schien sie das Ergebnis ihrer Bemühungen durchaus befriedigend gefunden zu haben. „Madame sans gène“ war dezent genug, nach einer kurzen Verschnaufpause auf  der breit gepolsterten Brust von Johannes, wieder rettende Ufer aufzusuchen. Paare in ihrem vorgerückten Alter mussten ja nicht mehr unbedingt neben einander aufwachen…