9.
Kapitel
Eine Weile fuhren sie schweigsam dahin. Erst
als sie an die Straßengabelung kamen, an der es links in nordöstlicher Richtung
zur Fähre nach Blaye und zum Ufer der Gironde auf der Haute Médoc Seite ging, begann Johannes
zögerlich seine Erinnerung an jene prägenden Tage preis zu geben:
„Weißt du! Urmel hatte ganz recht mit seiner
Wut. Auch ich spüre sie, weil ich das, was ich damals vermutet und erahnt
hatte, nicht an mich heran lassen
wollte. Wir hatten uns einfach bequem von der Strahlkraft Renés den realen
Blick auf seine wahre Situation überblitzen lassen. Er war doch unsere
Lichtgestalt, was die einzige Kunst zu Leben anbelangte. So einer hat doch
keine Probleme, die er nicht selber lösen kann. Dabei war ich so nah wie nie an
ihm dran. Ich gebe zu, dass ich sogar von dem schwarzen Loch geahnt hatte, dass
sich im Schlagschatten seiner Aura rund um sein Herz auszubreiten begann. Aber
wir waren derart auf dem Männertrip, dass wir den Faktor Frau als
Leidenspotenzial bei ihm schlicht ausschlossen. Wir erdreisteten uns sogar noch,
deinem Vater vorzurechnen, wie viel besser er nun mit seiner neu erlangten
Freiheit dran gewesen sei, nachdem
Roseanne ihn verlassen hatte und Nathalie nach Kanada gezogen war. Ausgerechnet
ich, der ihm Walcott derart nahe gebracht hatte, war zu unsensibel, ihm diese
Verletzlichkeit als Folge der Liebe zuzubilligen. Und Urmel verfolgte ja
ohnehin eigene, ganz egoistische Ziele. Er setzte uns in jener Episode auf
komplette „Weiber-Abstinenz“ damit zwischen uns endlich mal diese störende,
„blöde Balzerei“ aufhöre.
Man
liest immer wieder von der Theorie, dass Krebs genau sieben Jahre nach einer
schweren seelischen Erschütterung auftreten könne. Roseanne hatte René im Mai
1995 verlassen. 2002 im Frühjahr war entdeckt worden, dass die Geschwulst in
seinem Dickdarm bereits metastiert hatte. Die beiden haben sich ja damals so
obercool, vernünftig und abgeklärt gegeben, als sie alles ohne Scheidung
aufgeteilt hatten. Ihr Kinder wart erwachsen und aus dem Haus… Lief doch alles
bestens!
Sei ehrlich! Keiner von euch hat doch in
jener Zeit einen Gedanken daran verschwendet, ob René eigentlich klarkäme. Die
Trennung lief ja teilweise derart cool ab, dass man sich fragen konnte, ob sie
am Ende nicht auch ein heimliches Ziel von René gewesen sei. Wenn ich selbst
ganz aufrichtig bin, hatte ich die Situation auch aus ganz egoistischen Gründen
gar nicht erst groß hinterfragt. Ich wollte bloß nicht allein sein, als ich 1996
versucht habe, meinen eigenen Problemen daheim beim Ausflug entlang der
Dordogne davon zu radeln. Ich habe deinen Vater als Vehikel für die
Wiederherstellung meines Wohlergehens benutzt, obwohl eigentlich er aller
Fürsorge bedurft hätte. Dass dieser Aufenthalt trotz dieses Missverständnisses
so ein einmalig sinnliches Erlebnis war, lindert heute zumindest etwas mein
schlechtes Gewissen.
Dabei war bei jenem Ausflug doch allerhand schief gegangen. René sollte in aller Ruhe noch das Haus dicht machen, während ich schon einmal losradelte. Er hätte mich selbst nach einer halben Stunde mit seinem Jeep noch leicht vor der Fähre eingeholt, aber er fand den Kater nicht, der ja die Tage mit genügend Fressen ausgestattet in der an Freunde vermieteten Remise und im Freien eures Gartens verbringen sollte. Es war ein relativ kühler, grauer Vormittag mit einer steifen Brise aus Südwest. Das heißt, nach der Abzweigung, an der wir eben vorbeigefahren sind, hatte ich enormen Schiebewind genau im Rücken. Da fiel es mir leicht, den Körper auf Temperatur zu halten. Du wirst es nicht glauben, aber ich brauchte für die 40 Kilometer nur eine Stunde und war somit eher da, als geplant und erwischte auch noch eine frühere Fähre. Und das war ganz gut so, denn kaum hatte sie abgelegt, fegte ein Regenschauer heran. Hätte ich an Land auf René gewartet, wäre mir vermutlich der Allerwerteste abgefroren. So saß ich geschützt auf der Passagierbrücke und konnte gerade noch erkennen, wie Renés Jeep sich winzig klein in dritter Warteposition vor der Schranke am Pier einreihte. An der Côte de Blaye drüben würde ich also eine gute halbe Stunde warten müssen. Es gab die klare Ansage, dass wir uns zum Mittagessen auf der Zitadelle treffen würden, falls wir uns irgendwie verpassen sollten. Mit der nächsten Fähre kam René aber nicht. Was sehr verwunderlich war, weil ich doch noch gesehen hatte, wie er angekommen war. Später stellte sich heraus, dass er, weil er nicht warten wollte, den Landweg über Bordeaux genommen hatte. Da sich der Himmel schon wieder zum nächsten Wolkenbruch verdichtete und ich nicht nass werden wollte, schwang ich mich zurück aufs Rad und sprintete nordwärts an der Gironde entlang. Nicht schnell genug. Ich war mitten in der Steigung zur Festungsanlage, als mich der Regen erwischte. Pitschnass betrat ich mein Rennrad schiebend das Foyer des Gourmet-Restaurants. Klamotten zum Wechseln sowie andere Schuhe waren im Jeep deines Vaters… Der Maître begrüßte mich so freundlich, als hätte ich mit einem eleganten Designeranzug vor ihm gestanden und strahlte noch mehr, als ich die Situation schilderte. Er nahm mir mit respektvoller Kennerschaft mein Rad ab, als sei es ein übliches Stück zur Aufbewahrung in seiner Garderobe und hob es mit einem Finger in einen abschließbaren Stauraum. Dann kam er mit einem großen Badehandtuch wieder, wartete bis ich mich gründlich abgetrocknet hatte und führte mich, ohne mit der Wimper zu zucken, zu unserem reservierten Tisch mit Blick auf die Gironde. Meine Radschuhe klackerten mit ihren Pedalschlössern über den Marmorboden, und ich hatte das Gefühl, als dampften Hose und Trikot die Feuchtigkeit immer noch für alle deutlich sichtbar aus. Was für eine einzigartige Radnation Frankreich ist, wurde mir erst in diesem für mich vermeintlich peinlichen Moment bewusst. Perfekt frisierte Köpfe von elegant gekleideten Menschen hoben sich mir freundlich lächelnd und beifällig nickend entgegen und widmeten sich dann wieder ihren Gesprächen oder Speisen, als sei es vollkommen normal, dass ein Radler auf diese Weise während einer Etappe Pause einlegt.
Dabei war bei jenem Ausflug doch allerhand schief gegangen. René sollte in aller Ruhe noch das Haus dicht machen, während ich schon einmal losradelte. Er hätte mich selbst nach einer halben Stunde mit seinem Jeep noch leicht vor der Fähre eingeholt, aber er fand den Kater nicht, der ja die Tage mit genügend Fressen ausgestattet in der an Freunde vermieteten Remise und im Freien eures Gartens verbringen sollte. Es war ein relativ kühler, grauer Vormittag mit einer steifen Brise aus Südwest. Das heißt, nach der Abzweigung, an der wir eben vorbeigefahren sind, hatte ich enormen Schiebewind genau im Rücken. Da fiel es mir leicht, den Körper auf Temperatur zu halten. Du wirst es nicht glauben, aber ich brauchte für die 40 Kilometer nur eine Stunde und war somit eher da, als geplant und erwischte auch noch eine frühere Fähre. Und das war ganz gut so, denn kaum hatte sie abgelegt, fegte ein Regenschauer heran. Hätte ich an Land auf René gewartet, wäre mir vermutlich der Allerwerteste abgefroren. So saß ich geschützt auf der Passagierbrücke und konnte gerade noch erkennen, wie Renés Jeep sich winzig klein in dritter Warteposition vor der Schranke am Pier einreihte. An der Côte de Blaye drüben würde ich also eine gute halbe Stunde warten müssen. Es gab die klare Ansage, dass wir uns zum Mittagessen auf der Zitadelle treffen würden, falls wir uns irgendwie verpassen sollten. Mit der nächsten Fähre kam René aber nicht. Was sehr verwunderlich war, weil ich doch noch gesehen hatte, wie er angekommen war. Später stellte sich heraus, dass er, weil er nicht warten wollte, den Landweg über Bordeaux genommen hatte. Da sich der Himmel schon wieder zum nächsten Wolkenbruch verdichtete und ich nicht nass werden wollte, schwang ich mich zurück aufs Rad und sprintete nordwärts an der Gironde entlang. Nicht schnell genug. Ich war mitten in der Steigung zur Festungsanlage, als mich der Regen erwischte. Pitschnass betrat ich mein Rennrad schiebend das Foyer des Gourmet-Restaurants. Klamotten zum Wechseln sowie andere Schuhe waren im Jeep deines Vaters… Der Maître begrüßte mich so freundlich, als hätte ich mit einem eleganten Designeranzug vor ihm gestanden und strahlte noch mehr, als ich die Situation schilderte. Er nahm mir mit respektvoller Kennerschaft mein Rad ab, als sei es ein übliches Stück zur Aufbewahrung in seiner Garderobe und hob es mit einem Finger in einen abschließbaren Stauraum. Dann kam er mit einem großen Badehandtuch wieder, wartete bis ich mich gründlich abgetrocknet hatte und führte mich, ohne mit der Wimper zu zucken, zu unserem reservierten Tisch mit Blick auf die Gironde. Meine Radschuhe klackerten mit ihren Pedalschlössern über den Marmorboden, und ich hatte das Gefühl, als dampften Hose und Trikot die Feuchtigkeit immer noch für alle deutlich sichtbar aus. Was für eine einzigartige Radnation Frankreich ist, wurde mir erst in diesem für mich vermeintlich peinlichen Moment bewusst. Perfekt frisierte Köpfe von elegant gekleideten Menschen hoben sich mir freundlich lächelnd und beifällig nickend entgegen und widmeten sich dann wieder ihren Gesprächen oder Speisen, als sei es vollkommen normal, dass ein Radler auf diese Weise während einer Etappe Pause einlegt.
Eine Viertelstunde später hatte dann Dein
Vater seinen Auftritt, der kontrastreicher zu mir nicht hätte ausfallen können.
Braungebrannt, in senffarbenen, weichen Gabardinehosen, Segeltuchschuhen und
Marineblazer, unter dem er ein quer gestreiftes T-Shirt trug, wirkte er wie ein
Filmstar am Set. René war noch nicht
halb durch den Raum, da hatte er schon diverse Bekannte entdeckt und sie mit
Küsschen-Küsschen begrüßt. Dann trat er an unseren Tisch, als sei das die
normalste Übung, dass ihn dort ein Mann in Radler-Outfit erwartete und nötigte
mich aufzustehen. ‚Du musst unbedingt einen Freund kennen lernen. Er ist der
Vorsitzende des Aquitanischen Winzer-Verbandes.’
Also noch einmal Spießruten laufen,
Händeschütteln und mitten in edler Ambiance stehend Smalltalk mit einem kleinen,
jovialen Mann machen, dessen altadliger Name so lang war, dass ich ihn leider gleich
wieder vergessen habe. Jedenfalls wollte jener unbedingt die von mir
ausgearbeitete Route erfahren. Wissen, mit welchen Zahnkränzen ich unterwegs
war und sparte - unter höflichem Hinweis auf meine Körperfülle - nicht mit
Warnungen vor tückisch steilen Abschnitten auf dem linken Dordogne-Ufer. Der
Mann war natürlich nicht nur Wein- sondern auch Rad-Experte.
Als wir voller Vorfreude und richtig hungrig
die Speisekarte studiert hatten und bestellen wollten, teilte uns der Ober mit,
dass Renés Freund die Weinauswahl für uns auf seine Rechnung vornehmen wolle.
Eine ganz schöne Zwickmühle, denn Saint Emilion, das Ziel unserer ersten Tagesetappe
wartete ja am Nachmittag noch auf uns. Ich wusste aber auch, dass unter
französischen Radlern zwei bis drei Glas eines kräftigen Rotweins als legales
Doping gelten. Eindeutig hatten wir bis zum letzten Gang unser beider Fahrtüchtigkeit zumindest
eingeschränkt. Denn zwei fabelhaften Gläsern Weißwein von der Côte de Blaye und aus der Region Entre
Deux Mers folgten noch zwei Rote aus St. Emilion und ein süßöliger Bergerac zum Blauschimmelkäse.
Begleitet von einer handgeschriebenen und signierten Liste der Winzer und
Chateaux, die wir auf unserer Route unbedingt ansteuern sollten, um deren Weine
zu verkosten. Er sollte dafür sorgen, dass wir erwartet und honorig empfangen wurden…
In Wahrheit waren das aber alles Winzerinnen; in kupplerischem Eifer erwählt.
Wegen
der konsumierten Kalorien musste zumindest ich mir keine Gedanken
machen, denn ich hatte zum Nachtisch noch über 60 Kilometer zu radeln.
Beflügelnd war zudem die entspannte Heiterkeit und das schöne Wetter, die René
und mich vorantrieben. Nachdem wir uns am Vormittag verpasst hatten, rückte mir
der Jeep nun wie ein Materialwagen bei der Tour de France nicht mehr von der
Pelle. Auf der vollkommen leeren und malerischen Uferstraße nach
Saint-André-de-Cubzac konnte René sogar den Schrittmacher spielen, indem er mir
im Windschatten permanent mein Tempo mit den Fingern anzeigte. Auf der
Weiterfahrt im nachmittäglichen Berufsverkehr nach Libourne ging das natürlich
nicht mehr. Wir wären ein zu großes Verkehrshindernis gewesen, also winkte ich
den Jeep weiter. Es waren ja nur noch zwanzig Kilometer. Aber genau auf denen
passierte das zweite Malheur. Ein Rastloser schnitt den Tanklaster, der mich
gerade passiert hatte bei einem gewagten Überholmanöver derart drastisch, dass
der vor mir eine Vollbremsung machen musste. Ich hatte den Kopf tief über dem
Lenker und hörte nur nach das Quietschen und das Fauchen der Luftdruckbremsen,
da musste ich das Rad auch schon scharf zur Seite an den Straßenrand lenken; leider
in ein tiefes Schlagloch. Das Vorderrad verbog sich im Bruchteil einer Sekunde
derart, dass ich noch von Glück sagen konnte, nicht kopfüber in den Graben
gestürzt zu sein. Ich riss die Füße aus den Sicherheitspedalen und rutschte wie
ein Sandbahnfahrer weiter bis ich zitternd zum Stehen kam. Die beiden Fahrzeuge
vor mir hatten natürlich nicht bemerkt, dass sie fast ein hoffnungsvolles Radlerleben
ausgelöscht hatten. Wohl aber ein Lieferwagen-Fahrer, der sofort hinter mir
hielt und der auch gesehen hatte, dass mit diesem Vorderrad von mir nichts mehr
ging.
Radsport-Nation Frankreich: Der Mann legte
meinen verbogenen Renner auf seine Ladefläche. Allerdings nicht ohne im typisch
gallischen Brustton der Empörung seine Ansicht über das Missverhältnis eines
deutschen Fleischberges zu einem sündteuren, ultraleichten Kevlar-Titan-Renner
französischer Provenienz zum Ausdruck zu bringen… Aber der Mann hatte natürlich
einen Vetter, der am anderen Ortsausgang von Libourne wie selbstverständlich
das beste Radfachgeschäft des Bordelais betrieb. Es war Freitagnachmittag und
eigentlich schon nach Geschäftsschluss. Der Vetter empfing uns in Badelatschen
und Grillschürze, zögerte aber keinen Moment, seinen Laden wieder aufzumachen,
um von einem ähnlichen Rad wie dem meinen ein nagelneues Vorderrad auszuspannen.
Er war auch bei seinem eher physikalisch orientieren Vortrag wesentlich
höflicher als sein Cousin. Er sprach eher hypothetisch davon, dass die
Errungenschaften der Fahrrad-Industrie, immer leichtere Materialien zu
verwenden, vermutlich durch übergewichtige Fahrer konterkariert werden könnten…
Wenn ich nun dachte, der Mann würde mich bei dieser idealen Gelegenheit
abzocken, sah ich mich beschämt. Er räumte mir auf den Listenpreis Skonto ein,
weil er meinte, er könne mein beinahe nagelneues Vorderrad wieder richten und
so zum Vorzugspreis einem Club-Kameraden geben, der – leiser Vorwurf - nicht
soviel Geld aber mehr Perspektive hätte…
Gerade wollte ich mich ein wenig gedemütigt
wieder auf den Renner schwingen, als ich Renés Jeep auf den Ortseingang
zubrausen sah. Wir alle haben ja schon unter seinem Temperament gelitten, wenn
irgendetwas nicht so funktionierte, wie er sich das vorgestellt hatte. Deshalb
erwartete ich ihn am Ende dieses Tages in schlechter Laune, aber das genaue
Gegenteil war der Fall. Er berichtete begeistert, dass er bereits in der
„Commanderie“ eingecheckt habe, wir eine fabelhafte Suite in der Stadtmauer mit
Blick auf die Weinberge bekämen und den Abend mit einer Winzerin verbrächten,
die eine Schaumwein-Kellerei betreibe, die seit dem 16. Jahrhundert im
Familienbesitz sei. Das für René typische Netzwerk aus Freundschaftsdiensten,
war also bereits dabei, uns einzuwickeln. Und nichts genoss dein Vater - dieser
ultimative Strippenzieher - mehr. Aber was der Zufallsgenerator des Lebens an
diesem Abend noch bescherte, machte selbst ihn annähernd sprachlos.
Nach einem Spaziergang in der Abendsonne, die
die Gegenwart aus dem mittelalterlichen Kern des Ortes romantisch ausblendete, betätigten
wir vor dem Schauraum der Kellerei die lange Kette einer im Giebel hängenden
Glocke. Von irgendwo aus dem historischen Gewölbe erklang eine offenbar ans
Kommandieren gewöhnte Frauenstimme. Wir sollten schon mal hineingehen, man käme
gleich (on y va!). Drinnen brannten nur einige Kandelaber, und es war ein
grobschlächtiger Tisch für vier Personen gedeckt. Durch Pasteten, Brotkörbe,
Karaffen, Schalen und Schinkenplatten sah alles aus, als sei es für das
Stillleben eines alten Meisters arrangiert worden. René und ich waren von der
Atmosphäre gleichermaßen gefangen, als ein Mann etwa in Renés und eine Frau in
meinem Alter mit Bedacht die durchgetretenen Steinstufen herunterkamen. Als die
Frau ins Kerzenlicht trat, spielte mir die Erinnerung dermaßen einen Streich,
dass ich laut den Namen „Criquet“ ausrief. Die Frau zuckte kurz und sichtbar
irritiert zusammen, und fragte ähnlich unhöflich, wie ich die formelle
Begrüßung umgangen hatte: ‚So bin ich seit Ewigkeiten nicht mehr genannt
worden. Kennen wir uns vielleicht?’
Ich nahm an, dass der Mann in ihrer
Begleitung ihr Ehemann war, deshalb fiel die kurze Schilderung unserer
Begegnung etwas nüchtern aus. Ein verschämter, deutscher Jungmann war da am
Atlantik bei Mimizan vor rund dreißig Jahren in eine Strandburg voller nackter
Mädchen geraten. Und die Bedeutung, die eine Rote Mütze von MicMac auf meinem
Kopf für den wahren Beginn meines Sexuallebens hatte, reduzierte sich daher auf
die Beschreibung eines Erkennungszeichens. Aber das genügte, dass die Frau, die
immer noch aussah wie der burschikose Klon der Schriftstellerin Francoise Sagan,
in ein an ihren Kriter erinnerndes, perlendes Gelächter ausbrach. ‚Ei Papa! Ihr
glaubt es nicht. Das war noch während der Berufsschule. Und jetzt steht der
hier. Dass du dich noch an meinen Namen erinnerst, du hast doch die ganze Zeit
nur auf die Brüste der dicken Zigeunerin geguckt. Da war doch was gelaufen mit
der – oder? Ich habe deinen Namen leider vergessen.’
Jetzt schien es an der Zeit für die formelle
Vorstellung. Der folgte ein Abend, der in seiner Einzigartigkeit nicht zu
beschreiben ist, weil ich dann bis zum Flughafen nicht fertig würde. Ein Detail
aber ist wichtig. Criquet oder Marielle wie sie eigentlich hieß, machte in
seinem Verlauf deinem Vater unverhohlen schöne Augen und am Ende gerade noch
schickliche Avancen. Und René genoss das derart, dass sein Strahlen erstmals
seit der Trennung von Roseanne nicht so grell, sondern samtweich wirkte. Ich
darf wohl behaupten, dass ich erste Anfänge der sexuellen Wiedergeburt deines
Vaters miterlebte.
Am nächsten Tag habe ich mich dann ins Koma
geradelt. Natürlich hatten wir länger geschlafen als geplant, aber das wäre
nicht so schlimm gewesen, weil die Halbetappe zu einem Aussichtsrestaurant
oberhalb von Sainte Foy la Grande nicht sehr lang gewählt war. Aber über Nacht
war der Hochsommer ausgebrochen. Als ich gegen zehn endlich auf dem Bock saß,
war das Thermometer schon auf über dreißig Grad geklettert. In den Laubtunneln,
die zunächst noch ufernah an der Dordogne entlang führten, war das aber noch
auszuhalten. Doch hatte mich der Winzerkönig nicht irgendwie davor gewarnt, auf
das linke Ufer hinüber zu wechseln? Aber genau das tat ich in Castillon la
Bataille. Der Karte war nicht anzusehen gewesen, dass die Straße der prallen
Sonne ausgesetzt am Hochufer aufwärts führte. Nicht permanent ansteigend,
sondern mit ständig wechselnden Steigungsgraden. Nach zwei Kilometern waren meine
Getränkereserven schon aufgebraucht, nach vier Kilometern kam kaum noch ein
Tropfen aus meinem ausgedörrten Körper. Immer dachte ich, hinter der nächsten
Kurve müsse doch die Dordogne wieder zu sehen sein und das Ausflugsrestaurant
und René mit einem kalten Getränk auftauchen. Ich hatte das Gefühl, mit jeder
Kurbelumdrehung zu schrumpfen. Trockenes, kristallines Schweißsalz brannte in
meinen Augen. Kein Auto, kein Mensch – nur ein paar blöd blökende Schafe, die
Geschwader von Bremsen auf mein immer dicker werdendes Blut entsandten.
Mehrmals wollte ich vom Rad steigen und Pause unter einem Baum machen, aber ich
wusste ganz genau, dass ich dann nie wieder in die Gänge käme.
Als das Restaurant endlich auftauchte, war
ich wirklich nicht mehr bei Verstand. Ich haspelte und faselte, doch René bekam
von all dem gar nichts mit, denn er hatte unseren Lunch beim Chateau La Belle
Poule und dessen legendärer Chefin fest gemacht und sprudelte nur von dem über,
was uns dort erwarten würde. Ich nahm indessen zwei Humpen Bier vom Fass, was
nun wirklich der blanke Irrsinn war. Der Alkohol schoss in meinen Kreislauf und
der unterversorgte Körper stürzte sich auf die Kohlenhydrate. Eben hatte ich
noch gestottert nun schwadronierte ich größenwahnsinnig, man sähe sich in einer
Stunde in Bergerac und stürzte mich auf die Abfahrt. Die Euphorie reichte aber
nur über die Hälfte der dreißig Kilometer, dann wurden meine Beine
schlagartig wieder schwer. Als ich durch
das Tor des Chateaus oberhalb von Bergerac schlich, wollte ich nur noch
sterben. Aber die Winzerin war schon eine, die die Lebensgeister wieder wecken
konnte. René und sie erwarteten mich bereits am Pool unter einem ausladenden
Sonnenschirm. René hatte mir fürsorglich wie ein Trainer Kleidung zum Wechseln
in die Nähe der Dusche gelegt. Eine Badehose bräuchte ich nicht, man sei ja
entre nous meinte unsere Gastgeberin und sie schaue auch nur hin, wenn es sich
wirklich lohne, meinte La Belle Poule frivol. Ich war zu kaputt, um mir
Gedanken zu machen. Rückblickend war dies die schönste Planscherei meines
Lebens. Und wäre ich doch nicht so ein verplanter doofer Deutscher gewesen,
hätte ich René und mir ihr Angebot zu bleiben, gegönnt.
Die Dame des Hauses war vielleicht drei, vier
Jahre älter als ich gewesen. Eine fiftyfifty Mischung aus Catherine Deneuve und
Fanny Ardant – nur ungeniert grauhaarig. Leicht klimakteriell aufgeputschter,
reifer Sexappeal verteilt auf viel Körper und dargereicht mit professioneller
Lässigkeit. Sie musste nicht spielen, was sie trieb. Es war ihre
Standardausstattung, die sie als Besitzerin des heißesten Clubs von Bordeaux
zur Legende gemacht hatte. Über ihrem reichlich gefüllten Bikini trug sie nur
so eine Art Toga wie aus einem Römerfilm der Cinecitta. Und Mann, konnte die
Frau auch noch kochen… Es gab nur einen leicht gezauberten Sommer-Lunch: Einen
lauwarmen Frisee-Salat mit breiten Nudeln, Langustenscheiben und kross
gebratenen Kalbsbries-Röschen. Das Ganze abgeschmeckt mit einer Trüffelvinaigrette
und begleitet von Weinen, die weder René noch ich jemals der Region Bergerac
zugeordnet hätten. Sie war Circe und wir die Argonauten – bereit zum Stranden…
Nach zwei Stunden Schlaf unter einer
mächtigen Eiche, waren all die Leiden des Tages verdrängt. Aber der Preuße in
mir war auf das Ziel der Tagesetappe programmiert, und das hieß Saint Cyprien.
Ich war überrascht, dass ich Deinen Vater so leicht loseisen konnte, aber da
hatten wir ja auch noch nicht unser Treppengespräch gehabt, das diesen Tag der
Erkenntnis abschließen sollte…
Ich fuhr wieder vorweg. Diesmal aber wollte
ich auf dem rechten Ufer bleiben. Als die Straße hinter Lalinde senkrecht den
Berg hoch führte, um die Dordogne-Schleifen bei Trémolat zu umgehen, merkte ich
sofort, dass ich schon wieder einen Fehler gemacht hatte und kehrte reumütig
um. Ich erspar dir jetzt alles weitere, sonst werde ich bis zum Flughafen nicht
fertig. Die Sonne stand schon ziemlich tief, als mich René aus meiner Ohnmacht
erweckte. Ich hatte – nur durch Zufall zu entdecken – im tiefen Gras unter dem
Ortsschild von Siorac en Périgord gelegen. Weit ab von der geplanten Route,
aber eben nicht weit von Saint Cyprien, und nicht versteckt genug für deinen
findigen Vater.
Der diagnostizierte Hitzschlag, stornierte
unsere Reservierung und quartierte uns gleich an Ort und Stelle in einen
Landgasthof, der malerisch direkt an der Dordogne lag und schickte mich sofort
zu Bett. Die Warnung des Wirtes, dass am Abend eine Hochzeitgesellschaft in
seinem Etablissement stattfinden sollte, hatte René in den Wind geschlagen. Sie
begann gerade, als ich René bat, mich nach Sarlat ins Krankenhaus zu fahren;
- an einem Hochsommertag an der
Dordogne… Aber mir war längst klar, dass irgendetwas viel Ernsteres mit mir
passiert war. Ich roch merkwürdig, schwankte und redete, als sei ich immer noch
betrunken. Gleichzeitig aber war ich müde und hatte Adrenalinschübe durch
Panikattacken.
Die kleine, exotische Notärztin aus
irgendeinem Übersee-Département zog mich zur Diagnose schnüffelnd an sich und
meinte nur lakonisch, wenn ich nicht in Nagellack-Entferner gebadet hätte,
handelte es sich wohl um eine diabetische Azeton-Vergiftung im präkomatösen
Bereich. Wie lange ich denn schon Diabetiker sei. Ich fiel aus allen Wolken auf
eine Welt, die mir verändert und verloren schien.