Donnerstag, 30. Januar 2014

Strohfeuer


              5. Kapitel

  Zum Hauptgang reichte Jean-Jaques vermeintlich einen rustikalen Dordogne-Klassiker: Magret von der Gänsebrust mit gebratenen Steinpilzen und „Pommes Trois Jumeaux“. Aber bei dem Golf-Kumpel, der seine Schläger mittlerweile genauso souverän schwang wie seine Kochlöffel war das meist überraschende Resultat stets die Quersumme aus Kreativität, präzisem Handwerk und dem Ehrgeiz, der Beste zu sein. Der kleine Bretone hatte sich als Späteinsteiger sein Handicap 4 genau so schnell erarbeitet wie einst seinen Status als Sternekoch in Quimper. Aber er hatte auch schon bald aus diesen Parallelen gelernt. Wenn all die Konzentration nur auf Gewinn und Verbesserung ausgerichtet ist, bleibt der Spaß irgendwann auf der Strecke. So verzichtete er zuerst auf die Sterne und kaufte sich das „Cajun“, das ohne Chichi wesentlich mehr Gewinn abwarf als sein ruhmreiches „Ti Breizh“. Bald reichte es ihm, auch lediglich das schönste Golf zu spielen, das ihm die jeweilige Tagesform ohne konsequentes Training ermöglichte. Er strebte nicht länger nach der Null, die ihm mit bald 50 eh keine Pro-Karriere mehr eröffnet hätte.
  Beide Gruppen – die Golffreunde und die Gourmets – fanden, dass er seither erst seine wahre Meisterschaft auf beiden Gebieten erreicht hätte. Was er an diesem Gang wieder bewies, als die Teller serviert wurden:
  Er hatte die nur leicht gesalzenen Magrets zwei Tage lang in einer Beize aus Armagnac Pflaumen, Pfeffer und Charlotten eingelegt und sie dann auf einem Rost über einer Reine im Ofen mit der Fetthaut nach unten bei nur rund siebzig Grad regelrecht schmelzen lassen ohne sie dabei auszutrocknen. Einen Teil des derart aromatisierten aber noch nicht gesottenen Schmalzes  nahm er, um darin die Drillingskartoffeln und die dick geschnittenen Steinpilzscheiben zu frittieren. Die Beize wurde unter Volldampf reduziert, püriert und passiert, während die Magrets auf der Haut in großen Pfannen den Rest vom Fett abgaben, ohne ihre rosa gefärbte Zartheit zu verlieren. Die eingebrannte Sauce verdankte ihre Einzigartigkeit dann einer frisch vor dem Servieren hinzugefügten Menge geriebenen Ingwers und einer fein gehackten Kräutermischung aus Estragon, rotem Pfeffer sowie grünem Koriander.
  Johannes konnte sich ganz ohne Smalltalk vollkommen dem Genuss hingeben, weil er am unteren Ende der Tafel auf einmal ganz alleine saß. Kurz nach dem lauten Abgang von Urmel waren auch Nathalie und Roseanne unter dem Vorwand aufgestanden, sie müssten sich um den alten Freund in dieser offensichtlich schlechten ‚seelischen’ Verfassung kümmern. Maurice hatte sich dann – um wenigstens eine der Lücken zu schließen - auf den Platz seiner Schwester gesetzt. Bei Renés langjährigen, einheimischen Weggefährten sorgte er mit seinem Charme dort bald wieder für entspannte Atmosphäre.
  Johannes war das nur recht. Er konnte einfach nur genießen, zumal ihm Jean-Jaques signalisiert hatte, er solle sich zur Gans auf ein spezielles Geschmackerlebnis einstellen. Ein Ober war dann wie in geheimer Mission an ihn herangetreten, und hatte ihm einen eher hellen, eisgekühlten Prieurée Lichine aus dem Jahre 1993 in ein Tulpenglas gegossen. Ein derart gekühlter Haute Médoc hätte bei den Betagten am anderen Tischende vermutlich zu Herzinfarkten aus Empörung geführt. Aber zu der immer noch leicht blutsaftigen inneren Konsistenz des Magret passte dieses önologische Sakrileg wie eine junge Hure zum alten Schwerenöter: Der Geruch war ordinär und verdiente den Begriff Bouquet nicht, aber schon in der Mundhöhle animierte die Kreszenz eine kaum mehr für möglich gehaltene Fleischeslust.
  Die Assoziation zu Peggy und René kam bei dieser nur gedachten Formulierung ganz von selbst, und Johannes rief sich zur Ordnung, weil er im Geiste irgendwie in die Redensarten von Joceline und Urmel geraten war. Er selbst hatte das Aufeinandertreffen von gegerbter lederner Bräune und transparent unschuldiger Milchhaut im Fortgang eher als großes poetisches Erlebnis gesehen. Aber Joceline und Urmel hätten im Walcottschen Sinne ja auch nicht ihr Spiegelbild herunterpellen können, um sich das Leben schmecken zu lassen. Sie waren sich selbst nicht genug gewogen, um einfach nur lieben zu können und deshalb fanden sie bei anderen, die lieben wollten, genug fadenscheinige Argumente, um dies missbilligen zu können.
  Bei Joceline äußerte sich diese Unfähigkeit gerne in einer zotigen Sprache, von der sie glaubte, diese gefiele ihrer meist männlichen Entourage. Als sie Peggy beobachtete, die in den ersten Tagen zu dieser körperlichen Freizügigkeit im Bunker mit ihrem selbst gehäkelten Bikini beim Beaufsichtigen von Nathalies Kindern auf Abstand gegangen war, fiel ihre Geringschätzung deshalb viel frauenverächtlicher aus:
  „Wie kann man, wenn man so blass ist, nur so ein scheußliches Rosa tragen. Die ist bestimmt noch Jungfrau. Der Kerl, der die knackt, wird ihr erstmal die Spinnweben von der Möse blasen müssen.“
  Ganz so hart war Urmels erster Kommentar nicht gewesen, aber da hatte er ja auch noch keinen Grund zur Eifersucht gehabt:
  „Der Buttermilch-Pfannkuchen muss aus der Sonne, sonst verbrutzelt er!“
  Im Gegensatz zu Jocelines Eifersucht, die nur darauf beruhte, dass René sie als Sexualpartnerin seit mehr als einem Jahrzehnt außer Betracht zog, hatte die Urmels existenzielle und versorgungstechnische Gründe gehabt. Urmel war René als einziger immer so nah gewesen, dass er wirklich ermessen konnte, wie tief René vom beinahe gleichzeitigen verlassen Werden seiner beiden Frauen im innersten erschüttert gewesen war. Natürlich war Urmel nicht so plump, sofort in dieses Vakuum an Zuneigung einzudringen, das Nathalie und Roseanne hinterlassen hatten. Es dauerte noch über ein Jahr, ehe er immer häufiger und nun oft für Monate einen der Glaswürfel, aus denen Renés Bungalow bestand, okkupierte. Urmel war das genaue Gegenteil von schwul, in dieser Richtung mussten keine falschen Überlegungen angestellt werden. Urmel war sogar einer, der die tollsten Frauen ins Bett bekam. Sie mussten nur einen Hauch eines Fürsorgesyndroms erkennten lassen, dann wurde der Wurzellose besonders haltlos. Aber sein beinahe besessen gelebter Alleinanspruch auf René war genau das, was diese Frauen bei Urmel eben weder über kurz noch über lang erwarten konnten. Auch Joceline, die nicht müde wurde, offen seine Fähigkeiten als Liebhaber zu preisen, musste im Laufe der Zeit einsehen, dass Urmel nur bei ihr Unterschlupf suchte, wenn im „Royaume“ der Haussegen schief hing oder es anderweitig okkupiert wurde.
  Vielleicht wäre es in diesem Zusammenhang jetzt an der Zeit, auch zu erklären, wieso ein Mann von über sechzig einen so merkwürdigen Spitznamen hat. Natürlich stammte der auch von René, sonst hätte Wolfhart Ballhaus ihn nie akzeptiert. Während Renés Jahre in Deutschland  war der junge Ballhaus Anfang der 1970er unter der Leitung seines Mentors einmal grandios mit einer Werbekampagne für einen Kühlgeräte-Hersteller gescheitert. Die Idee war toll gewesen, eine damals aus dem Fernsehen populäre Marionette, einen kleinen Drachen namens „Urmel aus dem Eis“ die Vorzüge jener Kühlschränke vortragen zu lassen. Die Präsentation lief brillant, die Anzeigenmotive und der TV-Spot waren die Knaller, aber Ballhaus hatte vergessen, vorher die Lizenzvergabe abzuklären…

   „Sie sind mir schon so ein Urmel“, hatte René ihn väterlich getadelt, aber nicht  sofort  -  wie sonst üblich in dieser hektischen Branche - gefeuert. Das war der Anfang einer fruchtbaren Zusammenarbeit und Freundschaft, die sogar diesen Spitznamen verkraftet hat.

Freitag, 24. Januar 2014

Strohfeuer

4. Kapitel
   Zum dritten Gang gab es die nur Finger dicken Gironde-Aale auf Wildreis aus der Camargue. Aber das waren nicht die in Knoblauch und Petersilie gerösteten, zerhackten Teile an der Gräte, wie sie die einfachen Fischrestaurants Aquitaniens direkt mit der Pfanne auf den Tisch hauen, sondern sorgfältig  von allem befreite, hauchzarte Filets. Sie waren nur in Safranbutter mit etwas gestoßenem, roten Pfeffer gereift, und wurden von geschmorten Herbsttrompeten begleitet. Das passte besser zu den Rotweinen.
  Urmel hatte von dieser meisterhaften Komposition nur noch Gabelspitzen probiert. Ein untrügliches Zeichen, dass er bereits auf zwanghafte Flüssig-Ernährung umgestellt hatte, bevor ihn Maurice doch noch zu einem seiner witzigen Stegreif-Vorträge hätte animieren können. In diesen Rede freien Raum stießen nun zwei aus der Golf-Clique vor, zu denen Johannes nur bei Turnieren Kontakt gehabt hatte, weil er sie ansonsten mied. Maurice hatte die Golfer zwar einzeln so weit auseinander gesetzt, damit sich die Tischgespräche auch um andere Themen ranken konnten, aber das hatte nicht verhindert, dass diese beiden sich zu ihrer kabarettistisch gemeinten Darbietung abgesprochen hatten. Vermutlich hätte René sogar am lautesten über den Sketch gelacht, den sie sich ausgedacht hatten. Aber Johannes war doch ein wenig pikiert, weil sich René ja nicht mehr selbst wehren konnte und ihm diese wenig schmeichelhafte Episode noch aus der eigentlich gesunden Zeit nach hing.
  Die beiden markierten zwei Golfer am Abschlag, von denen der eine durch Körperhaltung und den nachdrücklich abgehackten Redestil unverkennbar René sein sollte. Der andere  redete deutlich beschickert  und war an seiner zusammengefallenen Körperhaltung unschwer als „Urmel“ zu identifizieren. Wer es nicht gleich kapiert hatte, kam sofort drauf, als der unverkennbare „accent boche’’ des Deutschen imitiert wurde. Urmel selbst schien das nicht zu stören – er schien überhaupt nicht mehr zuzuhören:
 „René“ machte einen Probeschwung mit entsprechend konzentrierter Miene.
  „Willst du wirklich wieder direkt spielen. Wenn du die 17 streichen musst, hast du deinen tollen Score versaut.“
  „You look!“, sagte der René-Imitator und wies mit seinem imaginären Golfschläger feldherrisch wie Rommel auf ein weit entferntes, imaginäres Sandhindernis – ein El Alamein für Golfbälle gewissermaßen.
  „Bei der letzten Meisterschaft haben das nur vier Profis versucht. Drei von ihnen sind daran gescheitert. Du wirst wieder in die Düne hauen.“
   „Nein, diesmal schlage ich ihn mit dem Zweiten über die Bäume. You look!“
  Der imaginäre Abschlag erfolgte, und beide Darsteller taten so, als schauten sie dem Ball hinterher. Dann beschatteten sie am Ende  noch mit der Hand übertrieben theatralisch ihre Augen:
  „Ich glaube, du liegst wieder im Wald…“
  „Nein, diesmal liege ich goldrichtig. Das wird der erste ‚Eagle“ auf dieser Bahn.“
  Weiter ging die Vorstellung nicht, weil sie von einem lauten Zwischenruf unterbrochen wurde. Urmel hatte sich sichtbar mühsam erhoben und schrie:  „Ihr wart nicht dabei! Ihr wart nicht dabei! Ihr habt keine Ahnung von Visionen und dem Wunsch nach absoluter Perfektion!“
  Johannes war sich sicher, dass nur einige wenige diesen Ausbruch verstehen konnten. Der überwiegende Teil der Gäste schaute Urmel nur verständnislos hinterher, als er leicht schwankend die Belle Étage verlassen und die Treppe zum Pub hinuntergehen wollte. In seinem Suff hatte Urmel nicht gemerkt, dass sein Zwischenruf auf Deutsch erfolgt war. Und auch als er sich am Treppenabsatz noch einmal umdrehte, ging seine Tirade in Deutsch weiter:
  „Da wart ihr ihm alle die ganzen Jahre so nah und habt nichts von ihm begriffen. Ihr könntet noch hundert Jahre über ihn reden und würdet ihm doch nie gerecht werden. – Geschweige denn kapieren, was für ein Verlust sein Tod für euer langweiliges Leben bedeutet. Ihr lasst euch ja noch ein halbes Jahr nach seinem Abgang hier von ihm an der Nase herumführen.“
  Johannes war auch nicht unmittelbar bei dieser Golf-Geschichte dabei gewesen, die im Laufe der Jahre viele Erzähl-Varianten erfahren hatte. Aber er war zumindest näher dran gewesen als alle an dieser Festtafel.
    Weil er ein besseres Handicap  hatte als Urmel und René, war er an dem besagten Tag vier Flights früher wieder im Clubhaus gewesen. Auf der Terrasse über dem letzten Green bekam er mit, dass der Coursemarshall und der Schiedsrichter über Funk zum Abschlag 18 gerufen wurden, weil es Ärger mit René gegeben habe. Ohne nachzudenken war er  dann - Schlimmes ahnend - mit auf den Cart gesprungen…
  Kritiker und Anhänger des Golfsports sagen diesem ja nach, dass er wie kein anderes Spiel sämtliche Vorzüge und Schwächen eines Charakters gleichermaßen und mitunter auch auf einmal zum Vorschein bringt. So gesehen, waren  die Ereignisse auf der 17. Bahn exemplarisch für das Wesen Renés gewesen.
  Sechzehn Löcher hatte er bei diesem Turnier weit über seine Verhältnisse gespielt, weil er entspannt und ruhig nur das versucht hatte, was ihm an spielerischen Mitteln zu Verfügung stand. Da er nicht einen Streicher produziert hatte, konnte er auf der schwersten Bahn des Kurses bei der Stableford-Zählweise ohne Schaden für sein Ergebnis etwas riskieren, was den Visionär und den Perfektionisten in ihm im Erfolgsfall befriedigen und in die Club-Annalen bringen würde. In das doppelte „Dogleg“ par 5 ragte am Scheitelpunkt von rechts eine bewaldete Dünenzunge, ein Hindernis von etwa zwanzig Metern Höhe nach rechts ansteigend. Selbst die Profis spielten die volle Länge der Bahn mit jeweils zwei leicht gehookten Treibschlägen aus. Dabei liefen auch die Besten nicht selten Gefahr, wenn sie den Scheitel der Zunge nicht überspielt hatten, mit dem zweiten Schlag im See zu landen, der aus dem 17. Grün gemeiner Weise eine Insel machte. Anhand des Birdie-Buchs hatte René mit zunehmender Spielstärke seine Vision entwickelt, die Fahne auch ohne Superdrives trotz des Walds auf direktem Weg mit nur zwei Schlägen zu erreichen. Auf den privaten Runden hatten sich seine Mitspieler mit diesem altersstarrsinnigen Hirngespinst längst resignierend  arrangiert, da es ohnehin eine Schlagpräzision verlangt hätte, die René in seinem Leben nie mehr erreichen würde. So war wenigstens für Getränke gesorgt, denn der schlechteste Scorer zahlte immer die Runde im Clubhaus… Und wenn er die 17 so spielte, zahlte René immer.
  In jenem Turnier-Flight spielte er nur mit Leuten von Auswärts, die er nicht kannte. Er war nicht nur der Älteste, sondern auch der mit dem höchsten Handicap. Trotzdem hatte er vom zweiten Loch an die Ehre, als Erster abzuschlagen, was seine Mitspieler natürlich wurmte, obwohl sie seinem einzigartigen Lauf vordergründig fair applaudierten.
  Auf der 17. Bahn ging René nicht mit einem Holz an den Abschlag, sondern wählte das 5er-Eisen. Er spielte nicht nach links, sondern auf den Wald zu, vor dem der Ball offenbar in einer Senke aus dem Sichtfeld verschwand. Die drei anderen spielten so konservativ, wie sie es vermochten. Wobei den Zähler von René, einen Deutschen, die Höchststrafe ereilte. Sein Ball landete zu kurz an der Spitze der Zunge im Dünensand, was mindestens einen kurzen Befreiungsschlag zusätzlich erzwang. Wenn er sich darüber ärgerte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Da René am kürzesten lag, folgte ihm der Deutsche zu seinem Ball. Wochenlang hatten schwere Regenfälle die Fairways aufgeweicht, aber seit einigen Tagen hatte sich die Sommersonne endgültig durchgesetzt und die Bahnen fest und hart gemacht. Darauf hatte René gebaut und zwischen die blauen Pfosten gezielt, die die Mulde als vorübergehendes Wasserhindernis gekennzeichnet hatten. Der Ball lag – genau wie es René erhofft hatte – im flachen Teil der Mulde, die diesen daran gehindert hatte, unspielbar auf den sandigen Waldboden weiter zu rollen. So würde ihn ein völlig normaler, gerader Schlag mit dem 8er-Eisen steil auf das Green bringen. Und selbst wenn der Ball dann davor oder seitlich ins Wasser hüpfen würde, war immer noch die Chance auf viele Punkte gewahrt. Aber René hatte den „Eagle“ im Kopf, sonst wäre er nicht so ignorant über den weißen Kreidekreis in die Mulde hinunter gestiegen. Er nahm Blick-Kontakt zu den beiden anderen Mitspielern am Scheitel der Bahn auf, und als die signalisierten, er könne spielen, konzentrierte er sich wie noch nie in seinem Leben.
  Ein stilistisch perfekter Swing beförderte seinen Ball mit dem zweiten Schlag nicht nur aufs Grün, sondern auch aussichtsreich an die Fahne. Allein das hätte am Abend bei der Party schon für Gesprächsstoff genug gesorgt. Sein Zähler bekam seinen Ball erst mit dem insgesamt sechsten Schlag aus dem Sand, während der Franzose, den René zu zählen hatte, bravourös mit dem dritten in der Nähe der Fahne landete. Es war Euphorie angesagt, und Jubel brach aus, als der Franzose ein solides Par erzielte und René, der selbst mit dem Zweiten näher gelegen hatte, cool wie Tiger Woods mit einem Putt zum historischen „Eagle“ einlochte.
  Beim Warten am nächsten Abschlag wurden die Score-Karten geschrieben. René notierte das Par seines Mitspielers und seine 3 gerade voller Stolz, als er aus den Augenwinkeln bemerkte wie sein Zähler verdächtig lang in seiner Score-Karte herumkritzelte. Neugierig schaute er dem Deutschen über die Schulter und sah, dass dieser ihm zwei Strafschläge hinzugerechnet hatte – also  auch „nur“ ein Par notierte. Aber am Rande der Karte empfahl, das Ergebnis wegen Regelverstoßes ganz zu streichen. René hatte die ganze Zeit darauf verzichtet, mit seinem Zähler Deutsch zu sprechen und den lieber auf Französisch radebrechen lassen. Jetzt in seiner Empörung gab er diese Haltung auf und schnauzte den Mann regelrecht an:
  „Was soll denn das jetzt heißen? Das zeitweilige Wasserhindernis war doch ausgetrocknet und wie jeder hier sehen konnte, bestens bespielbar. Also kein Regelverstoß.“
  „Sie haben wohl die weiße Kreide-Markierung übersehen. Das habe ich mir gleich gedacht, als Sie nicht straffrei außerhalb des Kreises gedropt  haben. Das war doch eindeutig Boden in Ausbesserung!“
  René, der Platz und Greenkeeper schon so lange kannte, war wohl unterbewusst davon ausgegangen, dass man nur vergessen hatte, den Kreidekreis ganz zu entfernen, nachdem die Mulde trocken war. Sein „Eagle“ wäre deshalb vielleicht zu retten gewesen, wenn er mit dem Protest gegen diese Wertung bis zum Clubhaus gewartet hätte. Aber er konnte bei seinem Temperament einfach nicht darauf verzichten, den Deutschen nun mit dem übertrieben parodistischen Offizierstonfall aus französischen Kriegsklamotten-Filmen in die Nazi-Ecke zu stellen.
  Als René sich danach mühsam beherrscht auf den letzten Abschlag konzentrierte, rächte sich der Beckmesser in seinem holperigen Menükarten-Französisch:
  „Sie haben nicht die Ehre Monsieur. Sie haben überhaupt keine Ehre. Bei gleichem Score hätte auch so der die Ehre, der das niedrigere Handicap hat.“
  Da hatte bei René die dunkle Seite der Macht endgültig die Oberhand gewonnen. Er stürzte sich mit seiner Athletik auf den Mann der deutlich jünger war, aber älter und verletzlicher aussah. Die beiden anderen Mitspieler waren immer noch dabei, die beiden Streithähne auseinander zu zerren, als Schiedsrichter und Coursemarshall mit Johannes im Schlepp angebraust kamen.
  Als sie René noch an Ort und Stelle wegen Unsportlichkeit disqualifizierten, nahm der sein beinahe legendär zum Excalibur gewordenes 8er-Eisen und warf es rekordverdächtig weit in den See hinaus. – Was ihm zusätzlich eine Woche Platzsperre eintrug.



Freitag, 17. Januar 2014

Strohfeuer

              3. Kapitel
  Als die Teller für den zweiten Gang, eine Meeralgen-Schaumsuppe mit pochierten Möweneiern, abgeräumt wurden, schaute Maurice provokant die Tafel hinunter und fragte:
  „Na, wer von euch fängt an?“

  Wieder war es Joceline, die voran schritt. Sie stand auf und setzte sich, indem sie ihn umdrehte, mit ein wenig piaffscher Theatralik rittlings auf Renés verwaisten Stuhl. Die Lehne diente ihr so als eine Art Rednerpult, auf die sie ihre schwer mit mexikanischen Reifen behängten Unterarme stützen konnte. Offenbar war sie eine geübte Rednerin:
  „Falls das, was ich euch zu erzählen habe, der einen oder anderen als persönlicher Angriff erscheinen sollte, so täte mir das sehr leid. Denn es geht bei meiner Erzählung um eine Schwäche, die jedem von uns zu Eigen ist. Es geht um Haben und Nichthaben – um haben Wollen und nicht haben Können – um Festhalten aber nicht loslassen Wollen…“
  Da außer Joceline nur zwei andere weibliche Wesen an der Tafel saßen, war es klar, dass alle übrigen gespannt auf Roseanne und Nathalie schauen würden:
  „Die meisten haben René immer für einen Frauenhelden gehalten. Er hat uns das auch immer glauben lassen, denn es passte gut in seine Selbstdarstellung. Wenn ich aber jetzt die Tafel hinunterschaue, dann bin ich mir hier und jetzt sicher, dass René wohl einer der letzten treu ergebenen Ehemänner war. Vielleicht, Roseanne, warst du dir deshalb seiner zu sicher, um stets schätzen zu können, was du an ihm hattest. Aber ich, die ich ihn gerne gehabt hätte, ohne jemals die Chance zu haben, ihn zu bekommen, bin gewiss nicht die Richtige, um das hier zu erörtern. Es geht ja außerdem nicht um mich, sondern um René.
  Also 14 Jahre zurück! 1994 war ich als Expertin zur Bewertung eines Nachlasses in die Rue Leon Cogniet gebeten worden. Ein Diplomat, Ehrenlegionär und Vermittler im Indochina-Konflikt hatte das Zeitliche gesegnet. Die Erben wollten wissen, was seine Sammlungen und das antike Mobiliar wert waren. Roseanne war gerade zu Besuch bei mir in Paris. Also fragte ich sie, ob sie nicht mitkommen wolle. Manche von euch kennen ja diese riesigen Etagenwohnungen im 17. Arrondissement. Diese war so voll gestopft mit Zeug aus der ganzen Welt, dass wir regelrecht  erschlagen wurden. In der übervollen Bibliothek stand als Ruhestatt fürs Lesen ein chinesisches Opium-Bett. Exzellente Lackarbeit auf einem Meisterwerk der Kunstschreinerei mit allegorischen Intarsien aus Elfenbein. Spätes 19. Jahrhundert. Ein Bettkasten, auf dem vier Drachensäulen den massiven Baldachin trugen. Alles ausgestattet mit einer Vielzahl unterschiedlich großer Fächer und Schubladen. Stauraum und Verstecke für all die Utensilien, die ein Opiumraucher wohl so gebraucht hat. Die traumallegorischen Lackmalereien unter dem Baldachin waren allerdings von delikater Erotik. Auf dem Verkäufermarkt war so ein spezielles Stück nur mit Geduld an einschlägige Interessenten  zu bringen, aber auf unmittelbare Nachfrage eines Sammlers konnte so eine Rarität sogar bis zu 60 000 Franc erzielen. Roseanne, war von diesem Opium-Bett kaum mehr herunter zu bringen. Sie sah aber auch auf den seidenen Kissen umschmeichelt von den Vorhängen im gleichen klassischen Dekors zu hinreißend aus. Als ich ihr anbot, mit  den Erben darüber zu verhandeln, ob sie es vielleicht für 30 000 Franc erwerben könnte, winkte sie gleich ab. Das überstieg ihre damaligen Möglichkeiten. Also gingen wir zu unserer profanen Erfassungsarbeit über und katalogisierten gemeinsam den Nachlass.
   Da vor allem die Gemälde, die chinesischen Miniaturen und diverse Porzellane bei der Wertermittlung die Erwartungen der Erben bei weitem übertrafen, sprach ich die vor der Auktion auf das Opium-Bett und dessen realistische Verkaufschancen an. Die Gefahr, dass es noch nicht einmal das Gebot erreichen und am Ende stehen bleiben würde, war ja wirklich nicht gering gewesen.  Zwischenzeitlich hatte ich - hinter deinem Rücken Roseanne – mit René telefoniert. Dein fünfzigster Geburtstag stand ja an. René bot 24 000, und die Erben waren sofort einverstanden. Es gelang René, die Überraschung vor dir genauso geheim zu halten, wie du die deine vor ihm. Ihn nämlich noch vor deinem Fünfzigsten Knall auf Fall zu verlassen. Vermutlich seid du und das für dich bestimmte Opiumbett auf der Autobahn aneinander vorbei gefahren. Das Schicksal hat doch immer wieder gerne solche ironischen Abläufe auf Lager. Wer hätte denn auch gedacht, dass dieses chinesische Lotterlager dann Renés Sterbebett sein würde? Mit dir wieder  an seiner  Seite. Und wie es dann auch seinen alten Zweck noch einmal erfüllte – als Stauraum für all die  betäubenden Medikamente, Sedative und das viele Morphium im Endstadium…“
  Ihre Stimme war erstorben. Sie stand abrupt auf und wandte ihrer Zuhörerschaft den Rücken zu. Vielleicht war es ihr peinlich, vielleicht wollte sie aber auch nur ihre Tränen verbergen. Aber nein! Sie machte zwei forsche Schritte auf Guillaumes Gemälde zu und gab dem Faun einen festen Kuss auf die sardonisch grinsenden, gespitzten Lippen.
  Als sei das Teil  eines Zaubertricks, wurde der Raum dabei in ein tief rotgoldenes Licht getaucht, das das Feuer auf dem Gemälde erst richtig  zu entfachen schien. Aber in nur einer Sekunde der Erkenntnis hatte die Gesellschaft begriffen, dass eine ganz andere Inszenierung draußen auf dem Atlantik ihre ewige Wiederaufführung erlebte: Kurz vor der Kimmung hatte die Sonne noch einmal das heraufziehende, schwarze Wolkenband unterlaufen und sich Freiraum für ein blutiges Versinken geschaffen. Nicht wenige der alten Freunde mussten sich angesichts dieses Spektakels wohl aber des naiven Verdachtes erwehren, der  verstorbene Zeremonienmeister selbst habe noch einmal eingegriffen, um die Stimmung seiner Abschiedsparty  zu retten.
  Johannes, der ja mit dem Gesicht zur Fensterfront saß, war nicht aufgesprungen, sondern beobachtete Urmel, der die allgemeine Verwirrung des Aufspringens genutzt hatte, sich zweimal aus einer Karaffe mit einer 83er-Kreszenz nachzugießen. Urmel war dabei, das  zu erreichen, was seine langjährigen Weggefährten, das Weinschlabber-Stadium nannten. Nur, das war kein Schlabberwein, sondern ein önologischer Zaubertrank zu vielleicht fünfzig Euro das Glas. Johannes  verfluchte seine krämerseelischen Gedanken aber auch sogleich. Urmel war doch Renés engster Freund gewesen, und so sorgte ihn eine andere Überlegung sehr viel mehr, als er sich konspirativ an Maurice wandte:
  „Wenn Urmel noch eine halbwegs manierlich gesprochene Episode aus dem Leben deines Vaters zum Besten geben soll, dann solltest du ihn nach dem nächsten Gang dazu bringen. It’s Schlabbertime!“
  Während Maurice auf Urmel einredete, schweifte Johannes in seinen Gedanken erneut ab. Die Lichtgestalt Renés hatte in niemals so blenden können, dass er dessen Tricks nicht durchschaut und die Schatten übersehen hätte, die er auf seine Entourage warf. René war ein Meister darin gewesen, sich die Leute durch einfachste Manipulation gewogen zu machen. Das ganze „Système Royaume“ funktionierte auf diese Weise. Johannes,  beruflicher Analytiker von Außenverhältnissen und in jeglichem Innenverhältnis daher um Ausgleich bemüht, war dabei nicht entgangen, welche nachgeordnete Rolle Roseanne und die Kinder während der ersten Jahre im Exil von LaGrange zu spielen hatten.
  Schon Mitte der  1980er hatte der neue Status Renés den Stellenwert  eines exklusiven Gurus erreicht. Er hatte die Gemeinde seiner Gläubigen zunächst durch geschicktes Direkt-Marketing in eigener Sache zu Pilgerreisen nach LaGrange animiert. Vor allem deutsche Wirtschaftsgrößen, Männer, die während seiner Jahre in Deutschland noch im Aufstieg begriffen waren, lösten sich mit ihren Familien in diesen exklusiven Ferienhütten ab, um sich nebenbei von René nicht nur mit „Savoir vivre“ impfen zu lassen, sondern gegen persönlich – gewissermaßen als freiwillige Spenden - überreichtes Bargeld neutrale Meinungen zu laufenden oder künftigen Kampagnen einzuholen. Das versetzte sie ganz nebenbei auch in die vorzügliche Situation, den Aufenthalt  noch auf Spesen oder steuertechnisch relevant abzurechen. Das Ganze wurde so einträglich, dass Urmel sein Leben in Deutschland erst reduzierte,  um dann den letzten Agenturjob ganz aufzugeben. Fortan lebte er sporadisch gut, sozusagen existenzialistisch, von dem, was die Schatten-Beratertätigkeit der beiden anteilig für ihn abwarf.
  René war also der Zeremonienmeister gewesen und Urmel eine Art Zauberlehrling, während Roseanne und die Kinder hinter den Kulissen quasi als Personal missbraucht wurden. Bevor die jeweils neuen Gäste auf Renés Terrasse eloquent begrüßt und mit Champagner, Crevetten, Austern und Käse auf das „Seminar“ eingestimmt wurden, hatte der Rest der Familie damit zu tun, die Chalets zu säubern, die Terrassen und Gärten herzurichten, sowie die Betten neu zu beziehen. Da sich René also aufschwang und Urmel dabei mit zog, erlebten die Anderen einen krassen sozialen Abstieg, der ganz individuell verkraftet werden musste.
  Roseanne wurde vom Status der Grande Dame mit Villa in Clichy und dem Leben der Pariser Haute Volée in Tennisclubs und Kulturzirkeln zur Leiterin der Abteilung „Housekeeping“ versetzt.  Die Kinder, die vom Chauffeur in ihre Eliteschulen kutschiert worden waren und sich sehr daran gewöhnt hatten, von ihrem Vater im eigenen Flugzeug an Wochenenden kurz mal zum Baden nach Nizza geflogen zu werden, stiegen jetzt an Freitagen in Bordeaux in den Linienbus, um ihrer Mutter am nächsten Vormittag beim Reinemachen zu helfen. – Eine Zeit lang ganz sicher mit Enthusiasmus, denn es galt ja, diese neue und ungewohnte Existenz der Familie abzusichern. Aber dann lief es ja bald dermaßen gut, dass während der winterlichen Ferienfahrten zum Skifahren stets auch der Umweg über ein privates Züricher Bankhaus in Kauf genommen werden musste.
  An Signalen, die sie fortan in Richtung René und Urmel absetzte, hatte es nicht gefehlt. Die puppenhaft kleine Roseanne war keine Frau der lauten Töne, aber die beiläufig abgegebenen Statements zu ihrer ach so paradiesischen Existenz, waren immer häufiger von beißendem Zynismus ob dieser Arbeitsteilung geprägt:
  „Er ist King Charming mit dem Champagner, dem Golf- oder Tennisschläger in der Hand. – Ich bin das Aschenputtel, das die Klobürste schwingt.“
  Nathalie, die in diesen Jahren zu einer hinreißenden Schönheit heranreifte, nutzte die sich bietenden Vorteile aus diesem Umstand, um sich mehr und mehr der häuslichen Fron zu entziehen. Denn immer häufiger kamen die Manager ja außerhalb der Ferienzeiten, um sich ohne Familie ein paar‚ geschäftige ‚Männertage’ zu gönnen – als die René ihnen solche Aufenthalte mit kumpelhaften Zwinkern  schmackhaft machte. Da es so ganz ohne Balz bei solchen Alphawesen aber nicht ging, warf Nathalie schon mal ihren unbekleideten, nahtlos braunen Nymphenkörper in den Strandbunker, damit „die Jungs was zum Gucken hatten“. Klar, dass sie sich – beides mit zunehmender Virtuosität ausübend – dann auch auf den Tennis- und Golfplätzen nicht mehr abhängen ließ, beziehungsweise die Nachfrage nach ihr bis zur Unabkömmlichkeit anheizte.
  Was sie an praktischer Hausarbeit nicht mehr einbrachte, blieb somit an Maurice hängen. Das führte ganz von selbst zu einer ödipalen Konstellation. Maurice und Roseanne wurden in gleichem Maße zusammengeschweißt, wie René seine Tochter als Marketing-Instrument zur Rekrutierung neuer Jünger entdeckte und einsetzte.
  Was Maurice von seinen Wochenenden übrig blieb, wurde dem Training in der Brandung gewidmet. Schon bei den ersten Versuchen hatte sich sein Ausnahmetalent den Trainern offenbart. Aber selbst die waren überrascht, in welchem Tempo er diese besondere Meisterschaft entwickelte. Nun könnte man in hausgemachter Psychologie mutmaßen, es sei der Zurücksetzung durch den Vater zu verdanken gewesen, die diese geradezu fanatische Konzentration entfacht hätte. Aber das war es nicht. Maurice war schlichtweg ein Universal-Genie, das seinen Vater in allen Belangen deutlich übertraf, sodass die Unbesiegbarkeit des Vaters ausgerechnet durch den eigenen Sohn die eigentliche Herausforderung erfuhr.
   Bewegungsbegabung paarte sich bei Maurice mit mathematisch präziser Kalkulation jeglichen Risikos. Wozu andere Surfer Jahre brauchten, registrierte dessen Unterbewusstsein so nebenbei in Gedankenschnelle. Er las in den Wellen wie ein Karajan in seinen Partituren. Form und Rhythmus offenbarten ihm ihr Potenzial. Er war sicher nicht athletischer als die alten Hasen, aber er hatte das nahezu hundertprozentig sichere Gefühl für die gewinnbringende Welle. Und jeder dieser für andere unbezwingbaren Wasserberge machte Maurice ein Stück größer. Er wurde ein Star, eine Leitfigur, aber im Gegensatz zu Nathalie und René ließ er übertriebene Nähe nicht zu.

  Johannes wusste warum, oder er machte sich zumindest einen Reim, aus der versteckten Botschaft, die ihm Maurice hatte zukommen lassen. Als Maurice endlich wagte, Johannes alles zu erzählen,  war Roseanne schon zu Eduard und zurück nach Paris gezogen und Nathalie hatte überstürzt dieses frankokanadische  Riesenbaby geheiratet, das mit einigen Vierzig im Schlaf noch immer am Daumen nuckelte. Doch der Reihe nach.
  Als Maurice 16 und Nathalie 18 geworden waren, zogen sie bei der Gastfamilie aus, bei der sie in Bordeaux während der ersten Jahre vor dem Gymnasium gewohnt hatten. René hatte ihnen zwischen dem Lycée und der Universität in einem Jugendstilhaus ein urgemütliches Zweizimmer-Appartement mit Wohnküche gemietet, in der die Eltern auch mal übernachten konnten, wenn sie auf die Vinexpo oder ins Theater gehen, beziehungsweise Freunde in der Stadt treffen wollten. Es war ja nicht so, dass Nathalie und Maurice sich nicht ‚absolut super’ verstanden. Maurice war durch seine sportlichen Erfolge und die herausragenden schulischen Leistungen so reif wie ein Zwanzigjähriger, und Nathalie, die Urmel als Renés rechte Hand zunehmend ausstach, war durch den Umgang mit den internationalen Wirtschaftsbossen eine selbstbewusste junge Frau geworden, die genau wusste, was sie wollte.
   Eigentlich war sich nur Roseanne früh über die Triebfedern ihrer Tochter (im wahrsten Sinne des Wortes) im Klaren. Aber um nicht der stutenbissigen Eifersucht einer Mutter auf ihre Tochter bezichtigt zu werden, behielt sie ihre eher instinktiv bewerteten aber bewusst registrierten Beobachtungen für sich. Das Vertrauensverhältnis zu René hatte wohl schon zu diesem frühen Zeitpunkt erheblich gelitten.
  Bei Nathalie paarten sich – und so paarte sie sich auch - die Habgier mit eiskalter und rücksichtslos egoistisch eingesetzter sexueller Energie. Dabei war sie absolut kein Weibsteufel, sondern bestach stets durch ihre mädchenhafte Natürlichkeit. Erst nach dem Akt gab sie sich frühestens als Heuschrecke zu erkennen…
  So wie Maurice instinktiv die Wellen lesen konnte, so hatte Nathalie quasi im Vorübergehen als Teeny gelernt, wie Männer tickten und wie man ihr Gehirn im Nu ausschalten und in den Hodensack rutschen lassen konnte. Ihre Bunker-Angriffe waren bei Strandclique schon Legende, als sie gerade mal die 14 hinter sich gelassen hatte. Naiv hielt sie der meist männlichen Entourage das Sonnenschutzmittel hin, um sich die Rückenpartie einreiben zu lassen. Wie zufällig glitten dann unter Begleitung leiser genüsslicher Seufzer auch schon mal die Oberschenkel auseinander, wenn die Hände der Herren züchtig oberhalb ihres nackten Popos inne hielten. Auch beim Strandfußball waren ihre gefürchteten Blutgrätschen nicht ehrgeiziger Körpereinsatz, sondern dienten allein der Kontrolle, ob sie mit Hilfe der Exposition ihrer weiblichen Attribute unterhalb der Männernabel Anzeichen eindeutiger Reaktionen beobachten konnte. Was im Freundeskreis als postpubertäres Ausloten weiblicher Waffen nachsichtig belächelt wurde, kam natürlich bei den „geschäftlichen Kontakten“ gänzlich anders rüber.
  Exponierte Blöße auf einem Nacktbadestrand ist eine Form des lässlichen Exhibitionismus, der man ausweichen kann. Innerhalb einer kleinen Wohnung  blieb diese Harmlosigkeit jedoch auf der Strecke. Mit dem alleinigen Ziel, den annähernd zwei Meter großen, muskelbepackten „kleinen Bruder“ voll postpubertären Testosterons  als Trainingsobjekt eigener Verführungskünste aus dem sexuellen Gleichgewicht zu bringen, betrieb Nathalie ein sehr böses Spiel mit tragischen Langzeitauswirkungen.
  Es hatte mehr als ein Jahrzehnt und zwei gescheiterte Beziehungen gedauert, bis sich Maurice Johannes anvertraute. Sie hatten auf ihrem Lieblingsplatz ganz oben auf der höchsten Düne des Südstrandes gesessen und schauten Gauloises rauchend aufs Meer hinaus. Johannes hatte gerade gewissermaßen akademisch seine Verwunderung über Nathalies Partnerwahl zum Ausdruck gebracht.
   Im Frühsommer des Vorjahres war der Star-Designer mit einem von Renés neuen Kunden erstmals in LaGrange aufgetaucht. Er war ein ebenso mittelmäßiger Golf- wie Tennisspieler, was ihn eigentlich gleich schon als Kandidaten von Nathalies Interesse ausschloss. Zudem war er gut zehn Jahre älter als Nathalie und hatte ihrer fordernden Fitness allein rein  körperlich nichts entgegenzusetzen.
  Nathalie hatte jedoch ihre Ausbildung als Werbefachwirt gerade abgeschlossen und sonnte sich daher im Interesse des bereits so arrivierten „Kollegen“. Als er ihr dann einen Monat später in seinem Studio in Montreal einen hoch dotierten Job als Kontakterin angeboten hatte, waren tags darauf ihre Koffer gepackt. Drei Monate später hatte sie nicht nur - trotz des gänzlich neuen kulturellen Umfelds - in dem neuen Job Furore gemacht, sondern war auch in den Junggesellen-Loft  von Roy Betancour eingezogen. Ende März hatte Nathalie ihren Sohn Louis (Lucky) zur Welt gebracht und nun im September, da Johannes und Maurice in LaGrange auf der Düne saßen, war sie dem Vernehmen nach im fernen Kanada schon wieder schwanger.
  „Hättest du gedacht, dass deine Schwester mal mit so einem unerotischen Mann daher kommen würde und dann auch noch zu so einem Muttertier mutiert? Ich hätte immer geschworen, sie schleppte mal so ein Mannsbild nach dem Muster ihres Lieblingsbruders an. Aber offenbar habe ich sie völlig falsch eingeschätzt.“
  „Das war ihre Reaktion darauf, dass sie mich nicht bekommen konnte.“
  „Haha, guter Witz! Ich meinte das typologisch und nicht im Sinne von Wälsungenblut“, Johannes wusste, er konnte diese literarische Andeutung wagen, denn unter anderem hatte Maurice wegen seiner ersten großen Liebe, Alexandra von Rheim, in Heidelberg  Deutsche Literatur studiert. Die baumlange Basketballerin, Tochter eines deutschen Professors und einer ugandischen Austauschstudentin, war bei René schon als künftige Schwiegertochter gehandelt worden…
  „Das war nicht als Witz gemeint. Mit Geschwister-Liebe hatte unsere Situation in Bordeaux am Ende nämlich nichts mehr zu tun. Am Anfang hatte ich auch gedacht, sie macht mit mir nur ihre Spielchen vom Strand. Aber dann wurde mir von Monat zu Monat immer klarer, dass sie an mir ihr Erbeutungsschema erproben wollte. Das waren keine Zufälle mehr, wenn sie überall die Türen aufließ, wenn sie nur mit einem hauchdünnen Slip bekleidet ihre Dehn- und Gymnastikübungen machte oder an heißen Tagen ganz nackt mit aufgedrehter Klimaanlage in meinem Zimmer fern sah. Sie hatte ganz sicher nicht die Absicht, mit mir zu schlafen, aber sie wollte herausfinden, ob sie so viel Macht über mich bekäme, dass ich einen Steifen kriege. Als sie das mit ihrem bloßen Anblick nicht erreichte, weil ich begann, wie ein versuchter Mönch die Hormone durch andere Gedanken zu neutralisieren, ging sie dazu über, wie zufällig direkte Körperkontakte herzustellen.“

  „Hast du denn da drüber nie mit Roseanne und René gesprochen?“
  „Wie sollte ich denn als 17 oder 18jähriger mit meiner Mutter über solche Situationen reden, ohne mir von ihr irgendwelche obskuren  Gedanken unterstellen lassen zu  müssen? Und stell dir bitte mal Renés Reaktion vor, wenn ich ihm von den charakterlichen Schattenseiten seiner vergötterten kleinen Prinzessin berichtet hätte. Der Schuss wäre absolut nach hinten losgegangen. Was glaubst du denn, wieso ich nach der Meisterschaft im Herbst gleich zu Alexandra nach Deutschland gezogen bin? Sie war ja zunächst nur eine bloße Ferien-Strandliebe gewesen. Hätte ich in Bordeaux bleiben können, wäre mir doch neben dem Studium eine Profi-Karriere sicher gewesen.“
  „Na, du bist ja dann trotz deiner ganzen Auslandsjahre in aller Welt auch so sehr erfolgreich gewesen. Wieso hast du Nathalie nie zu einer Aussprache gezwungen?“
  „Wegen der Schuldgefühle. Mir gelang es zwar in ihrem Beisein, eine sichtbare Erregung zu vermeiden, aber nachts war sie die uneingeschränkte Herrscherin über meine sexuellen Phantasien. Selbst wenn ich mit anderen Bildern im Kopf bis zu Erschöpfung onanierte, am ‚point final’ hatte ihre Aura alles verdrängt, war sie wieder allein in meinem Kopf. Weil du vorhin die Novelle von Thomas Mann angesprochen hast: Das war ja zwischen den Zwillingen eine intellektuell gesteuerte, zärtliche und erst in der Endkonsequenz sexuelle Angelegenheit gewesen. Und für die hat es schließlich in geistiger Übereinkunft auch eine Art gegenseitiger Sanktion gegeben. Wir wurden ja von Mann nie darüber informiert, ob Sieglind in ihrer da bereits beschlossenen, späteren Spießer-Ehe psychische Spätfolgen zu erleiden gehabt hatte.  - So wie ich. Es lag doch nicht an meinen fabelhaften Freundinnen, dass all diese Beziehungen scheiterten. Was haben die für Verständnis und Beharrungsvermögen aufgebracht! Aber wenn du nach einer kurzen Zeit der normal biederen Zärtlichkeit mit Blümchen-Sex jedes Mal erfahren musstest, dass du deine Schwester nicht aus dem Kopf verbannen kannst, bekamen die Verhältnisse nicht nur im Bett schnell etwas Notorisches. Vor allem bei der Erkenntnis, dass der Akt für deine jeweilige Partnerin erst dann so grandios leidenschaftlich und in der Ekstase unnachahmlich befriedigend gewesen war, wenn ich beim gemeinsamen Höhepunkt mich eigentlich gedanklich in Nathalie verströmte.“


Samstag, 11. Januar 2014

Strohfeuer

              Kapitel 2

  Der Wind war für einen Moment unentschlossen gewesen, ob er von ablandig zu auflandig schralen sollte. Das war der richtige Moment für Maurice, die Urne aufzumachen, um Renés Asche mit einer großen Ausholbewegung über sich in die Luft zu schleudern. Die grauweiße Wolke zog für Sekunden genau in Richtung Süden den Strand entlang, um sich nach dreißig, vierzig Metern halb ins Wasser, halb in den Sand zu senken. So blieb ein Teil von René an Land, während der andere sich bei der nächsten Ebbe auf den Weg in den offenen Atlantik machen würde. René hätte das bestimmt gefallen.
  Jean-Jaques war der heiter plappernden, wieder bunt wie zuvor gekleideten Trauergemeinde über den Strand vorausgeeilt, um den zweiten Teil von Renés Anweisungen mit seinen Leuten umzusetzen. Im ersten Stock des „Cajun“ war über die gesamte Breite der Wasserfront im „à la carte“-Bereich eine festliche Tafel eher für „La Grande Bouffe“ eingedeckt  als für einen verspäteten Leichenschmaus.
 Fast drei Jahrzehnte lang hatte René von jeder aussichtsreich bewerteten Kreszenz des Haute Médoc mehrere Kisten gekauft und sie im Sandkeller unter seinem Bungalow liebevoll gelagert und kenntnisreich gepflegt. Als ihm klar geworden war, dass er selbst davon nur noch Bruchteile würde konsumieren können und der Rest – um dem permanenten Bargeldbedarf seiner Sippe zu befriedigen – wohl nach Bordeaux auf Auktionen gehen würde, hatte er handschriftlich eine selektierte Liste der besten seiner Weine  für diese Feier  verfasst. Aus jedem Jahrzehnt standen da nun je fünf Flaschen der fünf wertvollsten Rotweine ordentlich dekantiert und mit Kärtchen versehen auf herbstlich-maritim dekorierten Beistelltischen:  Nur Grand Cru classés  der Chateaux Prieurée Lichine, Beychevelle, Latour, Mouton und Lafite Rothschild, Margaux sowie Yquem. Aber auch ein 76er Montagne St. Emilion als stummer, letzter Gruß an Johannes, der diesen mit einem wehmütigen Schmunzeln zur Kenntnis nahm. Eine tief geeiste, unbezahlbare 83er Trockenbeeren-Auslese  aus Bergerac allerdings sollte zu Jean-Jaques roh marinierter Gänsestopfleber-Terrine als einziger „Weißer“ den Auftakt des siebengängigen Menüs begleiten.
  Da dieses Gelage allein an Warenwert Renés Erbe um mindestens 50 000 Euro schmälerte, war es nicht verwunderlich, dass Roseanne und Nathalie sich nun doch noch einstellten. Sie kamen aufgedonnert und im eigentlich vom Verstorbenen nicht erwünschten Schwarz. – Wohl um damit eine kleine Protestnote abzusetzen.
  Maurice setzte die Gesellschaft nach ein paar Minuten Smalltalk im Stehen eigenhändig. Jeden einzelnen führte er mit charmanten Worten am Ellenbogen fassend an den für ihn bestimmten Platz. Am Ende blieb nur der Stuhl am Kopf der Tafel frei. Das war klar, denn auch bei kleineren Anlässen war das immer Renés Platz gewesen. Maurice hatte sich schließlich den Stuhl am gegenüber liegenden Ende genommen und Johannes und Urmel links und rechts von sich platziert. Seine Beachcomber-Kleidung wollte zwar nicht so recht zu der eleganten Tischdekoration passen, aber sein geschliffener Redestil wischte jegliche Unstimmigkeit augenblicklich beiseite. Vierundzwanzig Menschen, die ihn zum Teil von klein auf kannten, lauschten ihm gebannt, nachdem er seinen Blick, Aufmerksamkeit einfordernd, in den  jedes einzelnen Gastes versenkt hatte.
  „René hätte das am Strand gefallen, meint ihr nicht?“

  Johannes hatte es in den 25 Jahren, die er Maurice kannte und in denen er bisweilen dessen einziger Freund gewesen war, nicht einmal erlebt, dass der von seinem Vater anders als mit dem Vornamen gesprochen hätte; kein Papa, kein liebevolles Verniedlichen, kein Kosename! Noch im Vorschulalter – so war es Johannes erzählt worden – habe Maurice  damit angefangen, das „Kindische“ aus der Vater-Sohn-Beziehung heraus zu nehmen.

  „Es war sein sehnlichster Wunsch, dass ihr mit einem gewissen Abstand noch einmal  sehr intensiv an ihn denkt, weil er in den letzten Tagen, da er schon nicht mehr reden konnte, äußerst spirituelle Anstrengungen unternommen hatte, um in euer aller Erinnerung zu bleiben", fuhr Maurice fort und ging dabei auf eine Staffelei zu, die neben Renés Platz stand und von einem weinroten Samttuch verhängt war: „Deshalb hat er sich für den heutigen Abend auch noch etwas ausgedacht, was ihm die gute Nachrede gewissermaßen garantieren sollte und uns nicht zu traurig werden lässt. Er war ja selbstbewusst und egozentrisch, daran muss ich hier wohl keinen erinnern, und  daher auch sicher, dass jeder einzelne von Euch eine spezielle und individuelle Erinnerung an ihn haben würde. Er fordert euch also posthum heute auf, den anderen davon zu berichten. Wohl gemerkt! Er bittet euch nicht, denn er hat sich das ganze als Wettbewerb ausgedacht, bei der ihr Teilnehmer und Jury zugleich sein sollt. Und er hat einen Preis für die schönste Schilderung ausgesetzt. Dieser hier wird nach der Ausstellung von Guillaume im November Einiges Wert sein, falls ihr ihn – aus welchen Gründen auch immer – nicht selbst aufhängen wollt.“
  Als er den Samtstoff von der Staffelei zog, kam ein mannshohes Gemälde im Hochformat zum Vorschein, das augenscheinlich noch überwiegend aus Guillaumes monochromer Schaffensphase stammte. Es zeigte einen in tief rostrotem Teint gehaltenen Faun ein porzellanweißes, weibliches Wesen zu beider Ekstase umschlingend. Quasi als Übergang zu Guillaumes künftiger Farbigkeit wurden das Paar hier jedoch bereits von einem Format füllenden Feuersturm aus Karmesin und Jaune Japonais  verzehrt.
   „Voilá! Le Faune au Feu de Paille.“
  Roseanne und Nathalie stießen fast gleichzeitig einen kleinen spitzen Schrei der Empörung aus, während die meisten Männer nach einer Schrecksekunde ein Auflachen nicht unterdrücken konnten, denn der Faun im Strohfeuer trug nicht nur den kahlen Cäsarenkopf mit dem markanten Kinn Renés, sondern auch der muskulöse Oberkörper bis zum Genitalbereich und den pelzigen Beinen, war der, für den der beim Modellstehen wohl 73jährige während der ersten Chemotherapien noch verbissen weiter trainiert hatte. Die „Porzellanene“ mit den beinahe durchscheinenden Brüsten und dem flaumigen, roten Schamhaar, zu denen ihr martialischer Punkerkopf nicht so recht passen wollte, war ebenso eindeutig Miss Peggy O’Neill.
  Johannes war sofort klar, welche Stinkbombe mit Zeitzünder der hinterhältige Humor seines verstorbenen Freundes hier scharf gemacht hatte.
  „Imbecile“, zischte Roseanne in Richtung Guillaume.
  Der zuckte resigniert mit den runden Schultern und beteuerte:
  „Ich hatte keine Ahnung. Das war eine Auftragsarbeit.“
 „Du hast es aber doch gewusst“, giftete Nathalie in Richtung ihres Bruders. „Wie konntest du dich nur dazu hergeben?“
  „Ich erfülle hier nur Renés letzte Anweisungen. Und ehrlich, er hätte bestimmt nicht gewollt, dass dies eine Sitzung von Trauerklößen mit langweiligen Lobhudeleien auf ihn wird.“
  Jean-Jaques reagierte sofort. Um die explosive Stimmung zu entschärfen, hatte er dem Personal von seinem Platz aus Anweisungen gegeben, den ersten Gang zu servieren. Es war seine roh mit Perigord-Trüffeln und Backpflaumen marinierte Gänsestopfleber, die von in Calvados flambierten Apfelscheiben umkränzt wurde. Der dazu auf ölige Konsistenz geeiste Bergerac ließ zumindest erst einmal nur die Geschmacknerven der Gäste explodieren und gab ihnen  Zeit, über das eigentliche Ansinnen des Verstorbenen nachzudenken. Denn vermutlich ging es jedem in diesen Momenten des schweigsamen Genusses so wie Johannes. Der rief im Schnelldurchlauf die gemeinsamen Erinnerungen mit René ab, was er bislang zur Vermeidung von seelischen Schmerzen weitgehend unterlassen hatte. Hin und wieder drückte er auf die geistige Stopp-Taste und prüfte sein inneres Schmunzeln bei der jeweiligen Episode. Überrascht und erfreut stellte er fest, dass er wohl mit keinem anderen Menschen außer seiner eigenen Frau eine derartige Fülle an einzigartigen, ganz persönlichen und individuellen Erlebnissen gehabt hatte.

  Johannes und René Royaume waren sich erstmals Ende der 1970er auf einer Veranstaltung begegnet, die Johannes im Auftrag seines Verlages für Führungskräfte der internationalen Werbewirtschaft moderiert hatte. Johannes war 28 und nachdem, was er von dem gut zwei Jahrzehnte älteren neuen Superstar der Branche gelesen hatte, musste er seine Vorstellungen nach dem persönlichen Kennen lernen, komplett korrigieren:
  „Royaume gründet sein neues Königreich“, hatte das führende deutsche Fachjournal in Anspielung auf dessen Nachnamen über den Franzosen getitelt. René hatte da gerade für die bis dahin international eher im Mittelfeld operierende Agentur, deren CEO er war, den größten Werbe-Etat der Automobil-Geschichte an Land gezogen. Der Bericht war mit einem Foto versehen, das René bei einer Preisverleihung staatsmännisch im Smoking zeigte. Auf der Tagung trat der Mann aber eher unprätentiös in Erscheinung.
Als Pfeife rauchender, hoch gewachsener Louis de Funès in schlabberigen Tweed und Rolli gekleidet, wirkte er eher wie ein unterbezahlter Hochschul-Dozent.
  Bis zu Renés Tod war sich Johannes im Zweifel darüber, ob man den Begriff „der Liebe auf den ersten Blick“ auch auf spontane Männerfreundschaften anwenden könne, ohne dem ganzen eine homophile Note zu verpassen. Aber nichts anderes war es gewesen. Johannes, der da noch so stolz auf sein fließendes Französisch gewesen war, wollte bei der Begrüßung  natürlich Eindruck schinden, indem er ein paar witzige Redewendungen anbrachte. Aber René konterte ihn da schon unter Verweis auf vierzehn Jahre Agenturtätigkeit in Köln und Hamburg mit akzentfreiem Deutsch trocken aus. Da das aber nicht belehrend rüber kam, sondern eher mit kollegialem Respekt, entstand bei Johannes auch gar nicht erst so etwas wie Ehrfurcht oder heischende Beflissenheit. Die weitere Unterhaltung wurde in derart flapsiger  Gelassenheit fortgeführt, dass ein Nachdenken über den Altersunterschied der Freunde in dem folgenden Vierteljahrhundert erst wieder aufkam, als es für René endgültig ans Sterben ging.
  Fünf Jahre später hatte René die Agentur so groß gemacht, dass ihre Eigentümer einer Multimillionen-Dollar-Offerte aus Übersee zwecks Übernahme nicht widerstehen konnten. Der Geschäftsführer jedoch wurde aus Altersgründen nicht übernommen. Man wollte in Wirklichkeit die Konkurrenz weg - und nicht im eigenen Haus haben. Es gab für René eine stattliche Abfindung, aber da die in keinem Verhältnis zu der Wertsteigerung stand, die die Agentur durch sein Wirken erfahren hatte, war er auf einmal der Loser der Branche.
  „König ohne Reich“, „Vom Herrscher zum Hofnarren“ lauteten nur zwei der wenig schmeichelhaften Überschriften in den Fach-Gazetten, die ihn einst so gepriesen hatten. Ein weltbekannter Karikaturist war sich sogar nicht zu blöde gewesen, René in einem Comic-Strip zunächst mit schief sitzender Krone und dann mit über die Augen gerutschter Narrenkappe darzustellen.
  Hätte es noch eines Beweises bedurft, welch Grandseigneur René war, dann wäre es die Art gewesen, wie er leise aus dieser lärmenden Branche ausgestiegen war. Er verkaufte seine Villa in Clichy, gab sein Lieblingsspielzeug, die zweimotorige Beachcraft Commander auf, nahm seine Abfindung und kaufte sich einen schütter mit Pinien bewachsenen Sandhügel in LaGrange. Innerhalb eines halben Jahres entstanden dort zehn auf Stelzen stehende Chalets aus Holz und Glas mit sehr unterschiedlichen Grundrissen.
  Was in den folgenden Jahren mit René und um ihn herum geschah, war Ergebnis einer beispielhaften, neuen Selbstinszenierung. Nur wenige der großartigen Freunde Renés hielten zunächst noch Kontakt, die die Bezeichnung Freundschaft weiter wirklich verdienten. Nur Johannes lud ihn weiterhin unverdrossen als Referenten zu Veranstaltungen, obwohl seine Bosse bereits mäkelten, er sei ja das Honorar und die Spesen längst nicht mehr wert. Aber es war auch nicht so, dass Johannes’ Beharren auf irgendeiner Wertschöpfung beruhte – es sei denn, die Freundschaft zu einem besonderen Menschen zu festigen. Beide nutzten ihre Freiheiten bei den in aller Welt veranstalteten Meetings, um auf hohem Niveau Tennis zu spielen oder Ski zu fahren und um sich anschließend noch ernsthafter dem Genuss erlesener Speisen und Getränke hinzugeben. Aber am wichtigsten dabei waren die Mini-Vorlesungen in Lebensphilosophie.
  Johannes war auch einer der ersten gewesen, der mit Ehefrau, seinen kleinen Kindern und Schwiegermama Renés neue Funktion als Ferienbetten-Anbieter frequentierte. Nicht, weil der Freund dieser Unterstützung bedurft hätte, sondern um persönliche Studien für eine ähnliche, eigene Situation in hoffentlich noch ferner Zukunft anzustellen. Schon da war nämlich klar, dass René einer großen Sache, einer Lebensformel, auf der Spur war, die Schule machen könnte.
  Als der Feldherrenhügel für die Schlacht gegen den Manager-Wahn fertig gestellt war, feierte René seinen 55. Geburtstag mit dem Vorsatz, von nun an nicht mehr altern zu wollen. Er schrieb all die erschöpften Weggefährten an, die weiter um ihre Positionen kämpfen mussten. Aber auch Bosse, denen die Controller im Nacken saßen, und besonders, die,  die ihn geschasst hatten, bekamen Einladungen. Er ließ sie teilhaben an einer Grunderkenntnis:
  „Ja, es gibt ein Leben vor dem Tod! Und jeder Aufstieg bedarf bereits der Vorbereitung auf den Abstieg!“


Mittwoch, 8. Januar 2014

Strohfeuer

Teil 1:
REQUIEM FÜR EINEN FAUN


 Kapitel 1


   Das Rondell am Spiel-Casino war der markanteste Hinweis auf den Wandel des Ortes. Vor 25 Jahren war das noch die gefährlichste Kreuzung in den Landes gewesen, weil die, die aus Bordeaux mit Höchstgeschwindigkeit die lange Gerade vom Etang hinunter zum Ozean gebraust kamen, meist nicht auf die geänderte Vorfahrt achteten. Jetzt mussten die Autofahrer vor dem Kreisverkehr nur noch aufpassen, dass sie sich nicht zu lange von dieser Sonnenuhr aus Tausenden von Blüten ablenken ließen. Denn eines hatte sich in all den Jahren nicht geändert – das war die Ungeduld der französischen Autofahrer, die selbst während eigentlich entspannter Landpartien beim kleinsten Halt sofort die Hupe betätigen.
  Da, wo früher die Tankstelle stand, protzte jetzt die von dorischen Säulen getragene Auffahrt  zu den Glaspavillons des  mondänen Multiplex. Der mutete in seiner funktionellen Durchsichtigkeit an wie die Anordnung kommunizierender Röhren in einem Physiksaal für Oger. Livrierte Casino-Valets nahmen oben vor dem Portal die Fahrzeuge in Empfang und bugsierten sie in eine Tiefgarage, die der des Flughafens von Bordeaux an Größe kaum nachstand. Angesichts der internationalen Finanzkrise, in der die Milliarden in einem Fegefeuer des Größenwahns seit Wochen geradezu verdampft wurden, zogen es die Bargeldbesitzer wohl vor, auf vergleichsweise sichtbare Gewinnchancen an den Spieltischen zu setzen. Denn so viel schlechter waren die ja nicht, und man hatte seinen Spaß dabei. Jedenfalls stauten sich schon mittags die Fahrzeuge auf dieser Auffahrt.
 Johannes kam seit einem viertel Jahrhundert mindestens zweimal im Jahr nach LaGrange Océan, aber derart war ihm bei der Ankunft nie zuvor bewusst gewesen, was aus diesem historischen Feriendorf hinter den Monsterdünen geworden war. Klar, jetzt da René tot war, würde er vermutlich in Zukunft nie wieder kommen. Nun würden all die als selbstverständlich konsumierten, schönen Jahre lediglich weiter an Erinnerungswert gewinnen. Hatten sie sich hier nicht alle noch vor kurzer Zeit für unsterblich und kaum besiegbar gehalten?
  Vom Rondell ging es nun in drei Himmelsrichtungen zu Golfplätzen mit insgesamt 45 Greens. Der Vierer-Flight mit seinen Freunden hatte 1982 noch  auf nur neun holprigen Bahnen angefangen. Zum eigenen Unvermögen waren da noch die engen Schneisen durch die Pinien-Wälder gekommen. Die hatten die Bahnen bei permanentem Wind nicht nur mit ihren Riesenzapfen beworfen, sondern waren auch mit den Wurzeln durch den Dünensand  der zunächst nur dünn begrünten Fairways gedrungen. Aber mit dem den „Rabbits“ eigenen Eifer hatten sie all diese Unzulänglichkeiten überspielt.
  Johannes fuhr nicht die Avenue Guy de Maupassant hinunter. Er wollte nicht an Renés Haus vorbei, sondern überquerte die Dünen direkt zum Surferspot am Südstrand, wo sie alle verabredet waren. René war vor mehr als sechs Monaten gestorben, aber er hatte die Erfüllung seiner letzten Wünsche so akribisch geplant wie früher seine preisgekrönten Kampagnen. Erst würden seine Witwe Roseanne und die Kinder den Nachlass in Ruhe geregelt  und die Freunde Abstand von möglicher Trauer gewonnen haben, ehe sie sich zum heutigen Termin noch einmal treffen sollten.
  Johannes war spät dran. Er war in einem Stück von der italienischen Riviera, wo er jetzt wohnte, über Montpellier und Toulouse gefahren. Überall war er gut durchgekommen, weil auch die herbstliche Nachsaison sich schon ihrem Ende näherte. Auf dem Periferique von Bordeaux, war er dann allerdings in das geraten, was LaGrange so verändert hatte: Den Wochenendbetrieb, der seit der Jahrtausendwende keine Saisonunterschiede mehr kannte. Im vergangenen Jahr hatten sie bereits kurz nach Weihnachten in kurzen Ärmeln ein offizielles Golfturnier gespielt. Der Klimawandel spülte vermehrt Geld aus ganz Europa in die Kassen der hiesigen Golf-Resorts, und davon profitierte nun der ganze Tourismus. Früher war LaGrange im Winter von gespenstisch schöner Ausgestorbenheit gewesen, jetzt lohnte sich für die meisten Restaurants und Hotels der gehobenen Klasse der Ganzjahresbetrieb.
  Mochte sich alles doch sehr verändert haben, der Surferspot wirkte immer noch wie eine Kulisse aus dem 50erJahre-Filmklassiker „die Ferien des Monsieur Hulot“. Das winzige Holzchalet mit den vier  genau in die Himmelsrichtungen  ausgerichteten Spitzgiebeln war zwar durch die Hände vieler Besitzer gegangen, aber außer der Farbe und einigen Brettern außen und neuerer technischer Ausstattung innen waren Ambiance und Atmosphäre unverändert; auch der typische Geruch: eine Melange aus dem unverkennbaren Sonnenschutz „Ambre Solaire“, frischen, zimtigen Crèpes und Bier vom Zapfhahn. Dazu kamen die individuellen Duftnoten von Salz und Sonne auf Haut und Haaren der Stammgäste dieses ewigen Hangouts.
  Alle waren nicht gekommen. Jeder hatte doch wohl sein Päckchen Trauer über Renés Tod individuell zu tragen. Dass Renés Frau Roseanne nicht dabei sein würde, hatte Johannes bei dem Charakter der geplanten Zeremonie irgendwie geahnt. Die Beziehungsachterbahn ihrer letzten gemeinsamen Jahre hatte die Witwe mit offenen Wunden an ihrer Seele aus dem Gleis geworfen. Erst war sie nach dreißig Jahren Ehe ausgebrochen, um sich selbst zu verwirklichen, dann hatte sie diese aberwitzige Liebesbeziehung zwischen René und Peggy als Zaungast miterleben müssen. Als memento mori war ihr herbstlicher Liebhaber direkt neben ihr im Bett einem Infarkt erlegen. Aber als es mit René endgültig zu Ende ging, war sie wieder voll entbrannter, alter Liebe bis zum Schluss an seiner Seite gewesen.
  Johannes, der beider Freundschaft nicht verlieren wollte, hatte sich in diesem Bemühen fast anderthalb Jahrzehnte als Chefvermittler missbrauchen lassen. Nun herrschte vorwurfsvolles Schweigen zwischen ihm und der Witwe.
  Auch Natalie, die fast exklusive Empfängerin Renés väterlicher Liebe, war nicht erschienen. Sie schmollte ihrem Vater posthum, weil jener – ihre stets offenbarte Habgier zügelnd – die Regelung des Nachlasses in die Hände von Maurice, ihres zwei Jahre jüngeren Bruders gelegt hatte. -  Ausgerechnet Maurice, der Surfer, der sein ganzes Leben auf die große Welle der Zuneigung seines Vaters gewartet und immer nur den Spray der Esprit sprudelnden Gischt Renés abbekommen  hatte…
  Maurice stand nun am Tresen, verteilte die Getränke und war ganz der Hohepriester dieses agnostischen Requiems, das  sein Vater haarklein verfügt hatte. Im Zeitraffer der Erinnerung sah Johannes  Maurice vor dieser Bar in den verschiedenen Stadien des Heranwachsens: Als Vierzehnjährigen, der mit seinem ersten Bier den ersten von insgesamt acht Senioren-Titeln auf dem Wellenbrett feiern durfte. Als  Achtzehnjährigen, der obwohl er aus der Surf kaum heraus zu bekommen war, das beste Bac des Bordelaise abgeliefert und diese unglaubliche Strandparty  für die Strandbande seines Vaters gegeben hatte. Riesige Tabletts mit Getränken,  Muscheln und Fritten, Bulots sowie Austern hatte er 1987 auf die höchste Düne in den Sonnenuntergang geschleppt, und dann waren sie im Surferspot einem kollektiven Ricard-Rausch erlegen. Der Kerl war damals, weil er das letzte Glas in seiner Hand beim Heimgehen übersehen hatte, tatsächlich mit dem Abitursgeschenk, einem liebevoll renovierten, marineblauen Deux Chevaux lässig in die Bar hinein gefahren, um es durch das Klappfenster in gespielter Artigkeit auf den Tresen zu reichen.    Dann sah Johannes ihn mit all seinen gescheiterten Beziehungen, für die er deren jeweiligen Landessprachen lernte, bis er sie fließend beherrschte. Eine stattliche Reihe immer exotischer und außergewöhnlich hoch gewachsener Frauen war das gewesen. Jede einzelne dazu ausersehen, die Frau fürs Leben zu sein. Nur Johannes kannte den Grund, weshalb eine Liaison nach der anderen gescheitert war. Jetzt mit bald Vierzig, drehten sich aber immer noch Frauen aller Altersklassen zu dem ewigen Junggesellen hin, um nur einen Blick aus seinen „ozeanographischen“ Augen zu erhaschen. Auf dem Scheitel war sein lockiges Haar zwar schon schütter  und seitlich durchzogen es bereits erste weiße Fäden, aber noch immer war der heutige Europa-Lobbyist aus Brüssel eine geballte Ladung Charme und Sex.
  Der Rest ihres alten Vierer-Flights stand mit anderen Golf-Bekannten ein wenig abseits: Jean-Jaques, Jean-Francois und Urmel. Jean-Francois hatte den gleich alten Johannes vor fünf Jahren aus einem Dilemma heraus gekauft. Johannes hatte, ohne seine Frau zu informieren, eine Villa mit Garten und Pool am vierten Grün, des neuen Championship-Kurses angezahlt. Dieses Fait-a-complit hatte seine Frau durchkreuzt und unverhohlen mit Scheidung gedroht. Jean-Francois war in den Vertrag eingestiegen, weil er sich, nachdem er auch noch einen guten Preis für sein fast hundert Jahre altes Strandhaus erzielt hatte, deutlich verbessern konnte. Aber dann hatte das Schicksal unbarmherzig zugeschlagen. Weil er unbedingt selbst die schweren Stilmöbel beim Umzug schleppen musste, erlitt er beim Einräumen einen Schlaganfall, der ihn  lange halbseitig lähmte und für mehrere Monate auch Teile seines Sprachzentrums außer Dienst stellte.
  Ein anderer als der ehrgeizige Single Handicapper,  der er gewesen war, hätte nach dem Iktus aufgegeben. Jean-Francois aber stand nun scherzend und lachend ohne Stock wieder hier. Er hatte auf Linkshänder umgeschult, weil die Beweglichkeit des rechten Arms und das Greifen der Hand  nach all den Rehas nicht zurückkommen wollten. Mit Golf war es  damit natürlich vorbei gewesen, und Johannes fühlte sich unsinniger Weise irgendwie schuldig. Obwohl er ihn am liebsten spielte, mied er den neuen Golf-Kurs seither. Er stellte sich das als Höchststrafe für Jean-Francois vor, ihm und anderen Bekannten von seinem Pool aus beim Putten zusehen zu müssen. Johannes wollte nicht, dass Jean-Francois ihn möglicher Weise beobachtete.
  Jean-Jaques, der Wirt des beliebtesten Strandrestaurants von LaGrange war in etwa als permanenter Ersatzmann eingesprungen, als bei René 2002 erstmals Krebs diagnostiziert worden war. Das wiederum veranlasste Urmel, den man vorher euphemistisch noch als routinierten Trinker bezeichnen konnte, endgültig letzte Schutzdämme zu einem dem Schicksal ergebenen Alkoholiker einzureißen. Urmel, der deutsche Art-Director, lebte seit gemeinsamen Agentur-Tagen in einer merkwürdigen psychischen und physischen Abhängigkeit zu seinem Ex-Boss. Die wurde nach dessen Rückzug aus der Werbewirtschaft  nahezu krankhaft eifersüchtig ausgelebt. Bedacht mit einem scharfzüngigen Intellekt und beißendem, mitunter gar bösartigem Humor, konnte Urmel sich aber nur dann entfalten, wenn René als Katalysator dabei war. Das hatte ihn als quasi Dauergast in LaGrange zu einer familiären Existenzfrage gemacht. Ehefrau und Kinder, aber ganz besonders andere langjährige Freunde, mussten schon in psychologischer Kriegsführung bewandert  und mit  dickem Fell ausgestattet sein, um sich nicht verbeißen zu lassen. Renés Tod hatte Urmel, der nur wenig älter war als Johannes, in ein schüchternes Hutzelmännchen verwandelt.

  Nachdem er die Golfer begrüßt hatte, wechselte Johannes zu den Künstlern, die wegen der neuen Gesetze auf der Terrasse rauchen mussten. Die „Les Artistes“ genannte Freundesgruppe war eigentlich auf Roseannes Initiative als Gegengewicht zu den monothematischen Golfern entstanden. Als Roseanne und René jedoch all das Ihre aufteilten, wechselten die Lebeleute lieber von Roseannes Larmoyanz zu Renés Lebenslust. Die hatte selbst über die achte Chemo hinaus noch bis zu Beginn des Komas alle unvermindert in ihren Bann gezogen.
  Auch diese Gruppe hatte der Schnitter bereits ziemlich ausgedünnt. Guillaume, schon immer ihr physischer und intellektueller Mittelpunkt, wirkte nun noch mehr wie der pseudobarocke Aufbau eines Kettenkarussells, um das diese bunten Menschlein kreisten. Seine drei Zentner lebendgewichtige Unsportlichkeit auf zwei Meter Köperhöhe verteilt, waren immer Ziel von Renés Spott gewesen. Wenn der Maler langsam und bedächtig die Holztreppe vom Strand zur Restaurant-Terrasse des „Cajun“ hoch schnaufte, konnte sich der drahtig vorbei federnde René bissige Bemerkungen selten verkneifen. Doch Guillaume war jetzt immer noch da. Er hatte nicht nur René überlebt, sondern auch seinen zehn Jahre jüngeren Manager und Lebensgefährten, der sich auf seiner sexuellen Zielgeraden „La SIDA“ eingefangen hatte. Jetzt lebte Guillaume in einer Beziehung, die ungewollt Johannes gestiftet hatte. Dwight, der kleine englische Professor, der jetzt neben dem Maler stand und zu ihm aufschaute wie ein kleiner Junge, hatte aber auch seinen Teil zu Renés letzter Liebe beigetragen
  Kurioser Weise hatten die zwei, die Tiefe seiner Fleischesfülle erschütternden Todesfälle und die neu entbrannte Liebe zu Dwight dafür gesorgt, dass Guillaume in den vergangenen Monaten, den schwarzgrauen und rostigen Farbtönen seines bisherigen Oeuvres komplett abgeschworen hatte. Stattdessen erstrahlte sein explosionsartig wachsendes Alterswerk nun grellbunt in den Farben seiner Geburtsinsel Martinique. In wenigen Wochen würde in einem Salle D’Expositions am Bois de Boulogne anlässlich seines 75. Geburtstags eine Werkschau eröffnet werden, in deren Mittelpunkt sein jüngstes Schaffen stünde. – Einschließlich des Porträts einer  Marktfrau, das Johannes gerne gehabt hätte, aber sich einfach nicht mehr leisten konnte, seit die neueren Gemälde seines Ferien-Freundes die 10 000 Euro Marke weit hinter sich gelassen hatten.

  Joceline, die mehrfach geliftete Pariser Antiquitätenhändlerin unschätzbaren Alters, die sich noch immer geometrisch im Courrège-Stil ihrer Jugend kleidete und frisierte, war offensichtlich das einzige weibliche Wesen, das sich vom angeordneten, unverhüllten Ritual der Bestattungsfeierlichkeiten für René nicht hatte abschrecken lassen. Sie folgte Maurice mit der Urne und den Barkeepern, die den Champagner trugen, als Erste in Richtung Meer.
  „Am Bunker um drei“, hatte auf der Einladung von René gestanden. Ein stilisiertes, grob gepinseltes Segelboot von Guillaume war auf ihr zu ungewissen Ufern unterwegs. Begleitet vom Anfang eines Derek Walcott Gedichtes mit dem Titel „Love after Love“.
  Am Bunker um drei! Das war all die Jahre die Verabredungsparole der Strandclique gewesen. Wobei das mit dem Bunker eine doppelte Bedeutung hatte. Einerseits heißen ja die Sandhindernisse beim Golf so, andererseits lag die von der Clique penibel gehütete Mulde zwischen zwei Dünen in unmittelbarer Nähe eines geborstenen Bunkers. Auch nach 60 Jahren Verwittern waren die Betonbrocken des „Westwalls“ in dieser  herrlichen Dünenlandschaft ein unfassbares Mahnmal für Hitlers gescheiterten Größenwahn.
  Als die anderen Trauergäste am Rande des trockenen Sandes angelangt waren, hatte Madame Joceline schon „sans gène“ ihre Designer-Hüllen abgestreift. Kleine Schreckensschreie ausstoßend, zitterte sie ihre erstaunlich wenig welke Rückenpartie  mit dem altersbedingten Zwetschgenhintern der auflaufenden Tide entgegen. Keiner der Männer ob älter oder jünger zögerte da noch lang. Im Nu stand das letzte Geleit mit vor Kälte geschrumpelten Gemächten unter bleichen, überhängenden Bauchschürzen im Lichtkleid neben ihr. Aber all ihre Blößen spielten keine Rolle, denn in diesem Moment waren sie schon beseelt vom Geiste jener Vergangenheit. Jener „besten Jahre“, als sie als Mitglieder der Strandbande noch über stets straffe und nahtlos tiefbraun getönte Körper verfügt hatten…

  Niemand hatte etwas gesagt. Es war, als hätte eine unhörbare Stimme ihnen Regieanweisungen gegeben. Sie hatten sich bei den Händen genommen und einen Sonnenkreis um Maurice gebildet; gewissermaßen einen Stonehenge aus nackten, überreifen und teils bereits verwitternden Menschenkörpern.
  Nun waren auf diesem Strandabschnitt Leute, die Textilien trugen, normaler Weise ganz deutlich in der Minderzahl; aber eben nicht mehr zu dieser Jahreszeit. Den zahlreichen Strandwanderern musste die bis zu den Waden in der kalten Brandung stehende Gruppe daher wie eine um ihren Guru versammelte Sekte erscheinen.
  Johannes hatte René in den Neunzigern den signierten Gedichtband des karibischen Dichters und Nobelpreisträgers von einer spezialisierten Buchhandlung aus Boston mitgebracht, wo Walcott eine Zeit lang gelehrt hatte. Es war ein Geburtstagsgeschenk mit Langzeitwirkung gewesen, denn sein eher pragmatisch empfindender Freund war dessen lyrischem Werk in den Folgejahren geradezu fanatisch verfallen. Was noch durch den Umstand bestärkt worden war, dass sein Sohn, Maurice, das Sprachgenie, sich daran gemacht hatte, einzelne „Poems“ mit viel Einfühlungsvermögen ins Französische zu übertragen. 
  Dadurch, dass Maurice nun als Fortsetzung zur Einladung, seine eigene Übersetzung von Walcotts Gedicht vortrug, war Johannes mit seinen nicht mehr ganz taufrischen Französisch-Kenntnissen gezwungen, das Englisch-Französische im Kopf zurück ins Deutsche zu übersetzen. Und gerade diese mehrfach transformierten Zeilen schienen  seinem verstorbenen Freund und diesem besonderen Tag auf spezielle Weise gerecht zu werden:
                         „…Du wirst wieder den Fremden in dir lieben.
                          Gib ihm Wein! Gib ihm Brot! Gib ihm dein Herz zurück!
                          Ihm, dem Fremden, der Dich geliebt hat.
                          …Nimm die Liebesbriefe vom Bücherbord, die Fotografien,
                          und zieh dein Ebenbild vom Spiegel!
                           Setz dich und lass dir dein Leben schmecken!“