3. Kapitel
Als
die Teller für den zweiten Gang, eine Meeralgen-Schaumsuppe mit pochierten
Möweneiern, abgeräumt wurden, schaute Maurice provokant die Tafel hinunter und
fragte:
„Na, wer von euch fängt an?“
Wieder war es Joceline, die voran
schritt. Sie stand auf und setzte sich, indem sie ihn umdrehte, mit ein wenig
piaffscher Theatralik rittlings auf Renés verwaisten Stuhl. Die Lehne diente ihr
so als eine Art Rednerpult, auf die sie ihre schwer mit mexikanischen Reifen
behängten Unterarme stützen konnte. Offenbar war sie eine geübte Rednerin:
„Falls das, was ich euch zu erzählen habe,
der einen oder anderen als persönlicher Angriff erscheinen sollte, so täte mir
das sehr leid. Denn es geht bei meiner Erzählung um eine Schwäche, die jedem
von uns zu Eigen ist. Es geht um Haben und Nichthaben – um haben Wollen und
nicht haben Können – um Festhalten aber nicht loslassen Wollen…“
Da außer Joceline nur zwei andere weibliche
Wesen an der Tafel saßen, war es klar, dass alle übrigen gespannt auf Roseanne
und Nathalie schauen würden:
„Die meisten haben René immer für einen
Frauenhelden gehalten. Er hat uns das auch immer glauben lassen, denn es passte
gut in seine Selbstdarstellung. Wenn ich aber jetzt die Tafel hinunterschaue,
dann bin ich mir hier und jetzt sicher, dass René wohl einer der letzten treu
ergebenen Ehemänner war. Vielleicht, Roseanne, warst du dir deshalb seiner zu
sicher, um stets schätzen zu können, was du an ihm hattest. Aber ich, die ich
ihn gerne gehabt hätte, ohne jemals die Chance zu haben, ihn zu bekommen, bin
gewiss nicht die Richtige, um das hier zu erörtern. Es geht ja außerdem nicht
um mich, sondern um René.
Also 14 Jahre zurück! 1994 war ich als
Expertin zur Bewertung eines Nachlasses in die Rue Leon Cogniet gebeten worden. Ein Diplomat, Ehrenlegionär und
Vermittler im Indochina-Konflikt hatte das Zeitliche gesegnet. Die Erben
wollten wissen, was seine Sammlungen und das antike Mobiliar wert waren.
Roseanne war gerade zu Besuch bei mir in Paris. Also fragte ich sie, ob sie
nicht mitkommen wolle. Manche von euch kennen ja diese riesigen Etagenwohnungen
im 17. Arrondissement. Diese war so voll gestopft mit Zeug aus der ganzen Welt,
dass wir regelrecht erschlagen wurden. In
der übervollen Bibliothek stand als Ruhestatt fürs Lesen ein chinesisches
Opium-Bett. Exzellente Lackarbeit auf einem Meisterwerk der Kunstschreinerei
mit allegorischen Intarsien aus Elfenbein. Spätes 19. Jahrhundert. Ein
Bettkasten, auf dem vier Drachensäulen den massiven Baldachin trugen. Alles
ausgestattet mit einer Vielzahl unterschiedlich großer Fächer und Schubladen.
Stauraum und Verstecke für all die Utensilien, die ein Opiumraucher wohl so
gebraucht hat. Die traumallegorischen Lackmalereien unter dem Baldachin waren
allerdings von delikater Erotik. Auf dem Verkäufermarkt war so ein spezielles
Stück nur mit Geduld an einschlägige Interessenten zu bringen, aber auf unmittelbare Nachfrage
eines Sammlers konnte so eine Rarität sogar bis zu 60 000 Franc erzielen.
Roseanne, war von diesem Opium-Bett kaum mehr herunter zu bringen. Sie sah aber
auch auf den seidenen Kissen umschmeichelt von den Vorhängen im gleichen
klassischen Dekors zu hinreißend aus. Als ich ihr anbot, mit den Erben darüber zu verhandeln, ob sie es
vielleicht für 30 000 Franc erwerben könnte, winkte sie gleich ab. Das
überstieg ihre damaligen Möglichkeiten. Also gingen wir zu unserer profanen
Erfassungsarbeit über und katalogisierten gemeinsam den Nachlass.
Da vor
allem die Gemälde, die chinesischen Miniaturen und diverse Porzellane bei der
Wertermittlung die Erwartungen der Erben bei weitem übertrafen, sprach ich die
vor der Auktion auf das Opium-Bett und dessen realistische Verkaufschancen an.
Die Gefahr, dass es noch nicht einmal das Gebot erreichen und am Ende stehen
bleiben würde, war ja wirklich nicht gering gewesen. Zwischenzeitlich hatte ich - hinter deinem
Rücken Roseanne – mit René telefoniert. Dein fünfzigster Geburtstag stand ja
an. René bot 24 000, und die Erben waren sofort einverstanden. Es gelang René,
die Überraschung vor dir genauso geheim zu halten, wie du die deine vor ihm. Ihn
nämlich noch vor deinem Fünfzigsten Knall auf Fall zu verlassen. Vermutlich
seid du und das für dich bestimmte Opiumbett auf der Autobahn aneinander vorbei
gefahren. Das Schicksal hat doch immer wieder gerne solche ironischen Abläufe
auf Lager. Wer hätte denn auch gedacht, dass dieses chinesische Lotterlager
dann Renés Sterbebett sein würde? Mit dir wieder an seiner
Seite. Und wie es dann auch seinen alten Zweck noch einmal erfüllte –
als Stauraum für all die betäubenden Medikamente,
Sedative und das viele Morphium im Endstadium…“
Ihre Stimme war erstorben. Sie stand abrupt
auf und wandte ihrer Zuhörerschaft den Rücken zu. Vielleicht war es ihr
peinlich, vielleicht wollte sie aber auch nur ihre Tränen verbergen. Aber nein!
Sie machte zwei forsche Schritte auf Guillaumes Gemälde zu und gab dem Faun
einen festen Kuss auf die sardonisch grinsenden, gespitzten Lippen.
Als sei das Teil eines Zaubertricks, wurde der Raum dabei in
ein tief rotgoldenes Licht getaucht, das das Feuer auf dem Gemälde erst richtig
zu entfachen schien. Aber in nur einer
Sekunde der Erkenntnis hatte die Gesellschaft begriffen, dass eine ganz andere
Inszenierung draußen auf dem Atlantik ihre ewige Wiederaufführung erlebte: Kurz
vor der Kimmung hatte die Sonne noch einmal das heraufziehende, schwarze
Wolkenband unterlaufen und sich Freiraum für ein blutiges Versinken geschaffen.
Nicht wenige der alten Freunde mussten sich angesichts dieses Spektakels wohl aber
des naiven Verdachtes erwehren, der verstorbene Zeremonienmeister selbst habe noch
einmal eingegriffen, um die Stimmung seiner Abschiedsparty zu retten.
Johannes, der ja mit dem Gesicht zur
Fensterfront saß, war nicht aufgesprungen, sondern beobachtete Urmel, der die allgemeine Verwirrung des
Aufspringens genutzt hatte, sich zweimal aus einer Karaffe mit einer
83er-Kreszenz nachzugießen. Urmel war
dabei, das zu erreichen, was seine
langjährigen Weggefährten, das Weinschlabber-Stadium nannten. Nur, das war kein
Schlabberwein, sondern ein önologischer Zaubertrank zu vielleicht fünfzig Euro
das Glas. Johannes verfluchte seine
krämerseelischen Gedanken aber auch sogleich. Urmel war doch Renés engster Freund gewesen, und so sorgte ihn eine
andere Überlegung sehr viel mehr, als er sich konspirativ an Maurice wandte:
„Wenn Urmel noch eine halbwegs manierlich gesprochene Episode aus dem
Leben deines Vaters zum Besten geben soll, dann solltest du ihn nach dem
nächsten Gang dazu bringen. It’s Schlabbertime!“
Während Maurice auf Urmel einredete,
schweifte Johannes in seinen Gedanken erneut ab. Die Lichtgestalt Renés hatte
in niemals so blenden können, dass er dessen Tricks nicht durchschaut und die
Schatten übersehen hätte, die er auf seine Entourage warf. René war ein Meister
darin gewesen, sich die Leute durch einfachste Manipulation gewogen zu machen.
Das ganze „Système Royaume“
funktionierte auf diese Weise. Johannes, beruflicher Analytiker von Außenverhältnissen
und in jeglichem Innenverhältnis daher um Ausgleich bemüht, war dabei nicht
entgangen, welche nachgeordnete Rolle Roseanne und die Kinder während der
ersten Jahre im Exil von LaGrange zu
spielen hatten.
Schon Mitte der 1980er hatte der neue Status Renés den
Stellenwert eines exklusiven Gurus erreicht.
Er hatte die Gemeinde seiner Gläubigen zunächst durch geschicktes
Direkt-Marketing in eigener Sache zu Pilgerreisen nach LaGrange animiert. Vor allem deutsche Wirtschaftsgrößen, Männer,
die während seiner Jahre in Deutschland noch im Aufstieg begriffen waren,
lösten sich mit ihren Familien in diesen exklusiven Ferienhütten ab, um sich
nebenbei von René nicht nur mit „Savoir vivre“ impfen zu lassen, sondern gegen
persönlich – gewissermaßen als freiwillige Spenden - überreichtes Bargeld
neutrale Meinungen zu laufenden oder künftigen Kampagnen einzuholen. Das
versetzte sie ganz nebenbei auch in die vorzügliche Situation, den Aufenthalt noch auf Spesen oder steuertechnisch relevant
abzurechen. Das Ganze wurde so einträglich, dass Urmel sein Leben in Deutschland erst reduzierte, um dann den letzten Agenturjob ganz
aufzugeben. Fortan lebte er sporadisch gut, sozusagen existenzialistisch, von
dem, was die Schatten-Beratertätigkeit der beiden anteilig für ihn abwarf.
René war also der Zeremonienmeister gewesen
und Urmel eine Art Zauberlehrling,
während Roseanne und die Kinder hinter den Kulissen quasi als Personal missbraucht
wurden. Bevor die jeweils neuen Gäste auf Renés Terrasse eloquent begrüßt und
mit Champagner, Crevetten, Austern und Käse auf das „Seminar“ eingestimmt
wurden, hatte der Rest der Familie damit zu tun, die Chalets zu säubern, die
Terrassen und Gärten herzurichten, sowie die Betten neu zu beziehen. Da sich
René also aufschwang und Urmel dabei
mit zog, erlebten die Anderen einen krassen sozialen Abstieg, der ganz
individuell verkraftet werden musste.
Roseanne wurde vom Status der Grande
Dame mit Villa in Clichy und dem Leben der Pariser Haute Volée in Tennisclubs und Kulturzirkeln zur Leiterin der
Abteilung „Housekeeping“ versetzt. Die Kinder, die vom Chauffeur in ihre
Eliteschulen kutschiert worden waren und sich sehr daran gewöhnt hatten, von
ihrem Vater im eigenen Flugzeug an Wochenenden kurz mal zum Baden nach Nizza
geflogen zu werden, stiegen jetzt an Freitagen in Bordeaux in den Linienbus, um
ihrer Mutter am nächsten Vormittag beim Reinemachen zu helfen. – Eine Zeit lang
ganz sicher mit Enthusiasmus, denn es galt ja, diese neue und ungewohnte
Existenz der Familie abzusichern. Aber dann lief es ja bald dermaßen gut, dass
während der winterlichen Ferienfahrten zum Skifahren stets auch der Umweg über
ein privates Züricher Bankhaus in Kauf genommen werden musste.
An Signalen, die sie fortan in Richtung René
und Urmel absetzte, hatte es nicht
gefehlt. Die puppenhaft kleine Roseanne war keine Frau der lauten Töne, aber
die beiläufig abgegebenen Statements zu ihrer ach so paradiesischen Existenz,
waren immer häufiger von beißendem Zynismus ob dieser Arbeitsteilung geprägt:
„Er ist King Charming mit dem Champagner, dem Golf- oder Tennisschläger in
der Hand. – Ich bin das Aschenputtel, das die Klobürste schwingt.“
Nathalie, die in diesen Jahren zu einer
hinreißenden Schönheit heranreifte, nutzte die sich bietenden Vorteile aus
diesem Umstand, um sich mehr und mehr der häuslichen Fron zu entziehen. Denn
immer häufiger kamen die Manager ja außerhalb der Ferienzeiten, um sich ohne
Familie ein paar‚ geschäftige ‚Männertage’ zu gönnen – als die René ihnen solche
Aufenthalte mit kumpelhaften Zwinkern schmackhaft
machte. Da es so ganz ohne Balz bei solchen Alphawesen aber nicht ging, warf
Nathalie schon mal ihren unbekleideten, nahtlos braunen Nymphenkörper in den
Strandbunker, damit „die Jungs was zum Gucken hatten“. Klar, dass sie sich –
beides mit zunehmender Virtuosität ausübend – dann auch auf den Tennis- und
Golfplätzen nicht mehr abhängen ließ, beziehungsweise die Nachfrage nach ihr
bis zur Unabkömmlichkeit anheizte.
Was sie an praktischer Hausarbeit nicht mehr
einbrachte, blieb somit an Maurice hängen. Das führte ganz von selbst zu einer
ödipalen Konstellation. Maurice und Roseanne wurden in gleichem Maße
zusammengeschweißt, wie René seine Tochter als Marketing-Instrument zur
Rekrutierung neuer Jünger entdeckte und einsetzte.
Was Maurice von seinen Wochenenden übrig
blieb, wurde dem Training in der Brandung gewidmet. Schon bei den ersten
Versuchen hatte sich sein Ausnahmetalent den Trainern offenbart. Aber selbst
die waren überrascht, in welchem Tempo er diese besondere Meisterschaft
entwickelte. Nun könnte man in hausgemachter Psychologie mutmaßen, es sei der
Zurücksetzung durch den Vater zu verdanken gewesen, die diese geradezu
fanatische Konzentration entfacht hätte. Aber das war es nicht. Maurice war
schlichtweg ein Universal-Genie, das seinen Vater in allen Belangen deutlich
übertraf, sodass die Unbesiegbarkeit des Vaters ausgerechnet durch den eigenen
Sohn die eigentliche Herausforderung erfuhr.
Bewegungsbegabung paarte sich bei Maurice mit
mathematisch präziser Kalkulation jeglichen Risikos. Wozu andere Surfer Jahre
brauchten, registrierte dessen Unterbewusstsein so nebenbei in
Gedankenschnelle. Er las in den Wellen wie ein Karajan in seinen Partituren.
Form und Rhythmus offenbarten ihm ihr Potenzial. Er war sicher nicht
athletischer als die alten Hasen, aber er hatte das nahezu hundertprozentig
sichere Gefühl für die gewinnbringende Welle. Und jeder dieser für andere
unbezwingbaren Wasserberge machte Maurice ein Stück größer. Er wurde ein Star, eine
Leitfigur, aber im Gegensatz zu Nathalie und René ließ er übertriebene Nähe
nicht zu.
Johannes wusste warum, oder er machte
sich zumindest einen Reim, aus der versteckten Botschaft, die ihm Maurice hatte
zukommen lassen. Als Maurice endlich wagte, Johannes alles zu erzählen, war Roseanne schon zu Eduard und zurück nach
Paris gezogen und Nathalie hatte überstürzt dieses frankokanadische Riesenbaby geheiratet, das mit einigen Vierzig
im Schlaf noch immer am Daumen nuckelte. Doch der Reihe nach.
Als Maurice 16 und Nathalie 18 geworden
waren, zogen sie bei der Gastfamilie aus, bei der sie in Bordeaux während der
ersten Jahre vor dem Gymnasium gewohnt hatten. René hatte ihnen zwischen dem Lycée und der Universität in einem
Jugendstilhaus ein urgemütliches Zweizimmer-Appartement mit Wohnküche gemietet,
in der die Eltern auch mal übernachten konnten, wenn sie auf die Vinexpo oder ins Theater gehen,
beziehungsweise Freunde in der Stadt treffen wollten. Es war ja nicht so, dass
Nathalie und Maurice sich nicht ‚absolut super’ verstanden. Maurice war durch
seine sportlichen Erfolge und die herausragenden schulischen Leistungen so reif
wie ein Zwanzigjähriger, und Nathalie, die Urmel
als Renés rechte Hand zunehmend ausstach, war durch den Umgang mit den
internationalen Wirtschaftsbossen eine selbstbewusste junge Frau geworden, die
genau wusste, was sie wollte.
Eigentlich
war sich nur Roseanne früh über die Triebfedern ihrer Tochter (im wahrsten
Sinne des Wortes) im Klaren. Aber um nicht der stutenbissigen Eifersucht einer
Mutter auf ihre Tochter bezichtigt zu werden, behielt sie ihre eher instinktiv
bewerteten aber bewusst registrierten Beobachtungen für sich. Das
Vertrauensverhältnis zu René hatte wohl schon zu diesem frühen Zeitpunkt erheblich
gelitten.
Bei Nathalie paarten sich – und so paarte sie
sich auch - die Habgier mit eiskalter und rücksichtslos egoistisch eingesetzter
sexueller Energie. Dabei war sie absolut kein Weibsteufel, sondern bestach
stets durch ihre mädchenhafte Natürlichkeit. Erst nach dem Akt gab sie sich
frühestens als Heuschrecke zu erkennen…
So wie Maurice instinktiv die Wellen
lesen konnte, so hatte Nathalie quasi im Vorübergehen als Teeny gelernt, wie
Männer tickten und wie man ihr Gehirn im Nu ausschalten und in den Hodensack
rutschen lassen konnte. Ihre Bunker-Angriffe waren bei Strandclique schon
Legende, als sie gerade mal die 14 hinter sich gelassen hatte. Naiv hielt sie
der meist männlichen Entourage das Sonnenschutzmittel hin, um sich die
Rückenpartie einreiben zu lassen. Wie zufällig glitten dann unter Begleitung
leiser genüsslicher Seufzer auch schon mal die Oberschenkel auseinander, wenn
die Hände der Herren züchtig oberhalb ihres nackten Popos inne hielten. Auch
beim Strandfußball waren ihre gefürchteten Blutgrätschen nicht ehrgeiziger
Körpereinsatz, sondern dienten allein der Kontrolle, ob sie mit Hilfe der Exposition
ihrer weiblichen Attribute unterhalb der Männernabel Anzeichen eindeutiger Reaktionen
beobachten konnte. Was im Freundeskreis als postpubertäres Ausloten weiblicher
Waffen nachsichtig belächelt wurde, kam natürlich bei den „geschäftlichen
Kontakten“ gänzlich anders rüber.
Exponierte Blöße auf einem
Nacktbadestrand ist eine Form des lässlichen Exhibitionismus, der man
ausweichen kann. Innerhalb einer kleinen Wohnung blieb diese Harmlosigkeit jedoch auf der
Strecke. Mit dem alleinigen Ziel, den annähernd zwei Meter großen,
muskelbepackten „kleinen Bruder“ voll postpubertären Testosterons als Trainingsobjekt eigener Verführungskünste
aus dem sexuellen Gleichgewicht zu bringen, betrieb Nathalie ein sehr böses
Spiel mit tragischen Langzeitauswirkungen.
Es hatte mehr als ein Jahrzehnt und zwei
gescheiterte Beziehungen gedauert, bis sich Maurice Johannes anvertraute. Sie hatten
auf ihrem Lieblingsplatz ganz oben auf der höchsten Düne des Südstrandes
gesessen und schauten Gauloises rauchend
aufs Meer hinaus. Johannes hatte gerade gewissermaßen akademisch seine
Verwunderung über Nathalies Partnerwahl zum Ausdruck gebracht.
Im
Frühsommer des Vorjahres war der Star-Designer mit einem von Renés neuen Kunden
erstmals in LaGrange aufgetaucht. Er
war ein ebenso mittelmäßiger Golf- wie Tennisspieler, was ihn eigentlich gleich
schon als Kandidaten von Nathalies Interesse ausschloss. Zudem war er gut zehn
Jahre älter als Nathalie und hatte ihrer fordernden Fitness allein rein körperlich nichts entgegenzusetzen.
Nathalie hatte jedoch ihre Ausbildung als
Werbefachwirt gerade abgeschlossen und sonnte sich daher im Interesse des
bereits so arrivierten „Kollegen“. Als er ihr dann einen Monat später in seinem
Studio in Montreal einen hoch dotierten Job als Kontakterin angeboten hatte,
waren tags darauf ihre Koffer gepackt. Drei Monate später hatte sie nicht nur -
trotz des gänzlich neuen kulturellen Umfelds - in dem neuen Job Furore gemacht,
sondern war auch in den Junggesellen-Loft von Roy Betancour eingezogen. Ende März hatte
Nathalie ihren Sohn Louis (Lucky) zur Welt gebracht und nun im September, da
Johannes und Maurice in LaGrange auf der
Düne saßen, war sie dem Vernehmen nach im fernen Kanada schon wieder schwanger.
„Hättest du gedacht, dass deine Schwester mal
mit so einem unerotischen Mann daher kommen würde und dann auch noch zu so
einem Muttertier mutiert? Ich hätte immer geschworen, sie schleppte mal so ein
Mannsbild nach dem Muster ihres Lieblingsbruders an. Aber offenbar habe ich sie
völlig falsch eingeschätzt.“
„Das war ihre Reaktion darauf, dass sie
mich nicht bekommen konnte.“
„Haha, guter Witz! Ich meinte das
typologisch und nicht im Sinne von Wälsungenblut“, Johannes wusste, er konnte
diese literarische Andeutung wagen, denn unter anderem hatte Maurice wegen
seiner ersten großen Liebe, Alexandra von Rheim, in Heidelberg Deutsche Literatur studiert. Die baumlange
Basketballerin, Tochter eines deutschen Professors und einer ugandischen
Austauschstudentin, war bei René schon als künftige Schwiegertochter gehandelt
worden…
„Das war nicht als Witz gemeint. Mit
Geschwister-Liebe hatte unsere Situation in Bordeaux am Ende nämlich nichts
mehr zu tun. Am Anfang hatte ich auch gedacht, sie macht mit mir nur ihre
Spielchen vom Strand. Aber dann wurde mir von Monat zu Monat immer klarer, dass
sie an mir ihr Erbeutungsschema erproben wollte. Das waren keine Zufälle mehr,
wenn sie überall die Türen aufließ, wenn sie nur mit einem hauchdünnen Slip
bekleidet ihre Dehn- und Gymnastikübungen machte oder an heißen Tagen ganz
nackt mit aufgedrehter Klimaanlage in meinem Zimmer fern sah. Sie hatte ganz
sicher nicht die Absicht, mit mir zu schlafen, aber sie wollte herausfinden, ob
sie so viel Macht über mich bekäme, dass ich einen Steifen kriege. Als sie das
mit ihrem bloßen Anblick nicht erreichte, weil ich begann, wie ein versuchter
Mönch die Hormone durch andere Gedanken zu neutralisieren, ging sie dazu über,
wie zufällig direkte Körperkontakte herzustellen.“
„Hast du denn da drüber nie mit Roseanne und
René gesprochen?“
„Wie sollte ich denn als 17 oder
18jähriger mit meiner Mutter über solche Situationen reden, ohne mir von ihr
irgendwelche obskuren Gedanken
unterstellen lassen zu müssen? Und stell
dir bitte mal Renés Reaktion vor, wenn ich ihm von den charakterlichen
Schattenseiten seiner vergötterten kleinen Prinzessin berichtet hätte. Der Schuss
wäre absolut nach hinten losgegangen. Was glaubst du denn, wieso ich nach der Meisterschaft
im Herbst gleich zu Alexandra nach Deutschland gezogen bin? Sie war ja zunächst
nur eine bloße Ferien-Strandliebe gewesen. Hätte ich in Bordeaux bleiben können,
wäre mir doch neben dem Studium eine Profi-Karriere sicher gewesen.“
„Na, du bist ja dann trotz deiner ganzen
Auslandsjahre in aller Welt auch so sehr erfolgreich gewesen. Wieso hast du
Nathalie nie zu einer Aussprache gezwungen?“
„Wegen der Schuldgefühle. Mir gelang es zwar
in ihrem Beisein, eine sichtbare Erregung zu vermeiden, aber nachts war sie die
uneingeschränkte Herrscherin über meine sexuellen Phantasien. Selbst wenn ich
mit anderen Bildern im Kopf bis zu Erschöpfung onanierte, am ‚point final’ hatte ihre Aura alles
verdrängt, war sie wieder allein in meinem Kopf. Weil du vorhin die Novelle von
Thomas Mann angesprochen hast: Das war ja zwischen den Zwillingen eine
intellektuell gesteuerte, zärtliche und erst in der Endkonsequenz sexuelle
Angelegenheit gewesen. Und für die hat es schließlich in geistiger Übereinkunft
auch eine Art gegenseitiger Sanktion gegeben. Wir wurden ja von Mann nie
darüber informiert, ob Sieglind in ihrer da bereits beschlossenen, späteren Spießer-Ehe
psychische Spätfolgen zu erleiden gehabt hatte. - So wie ich. Es lag doch nicht an meinen
fabelhaften Freundinnen, dass all diese Beziehungen scheiterten. Was haben die
für Verständnis und Beharrungsvermögen aufgebracht! Aber wenn du nach einer
kurzen Zeit der normal biederen Zärtlichkeit mit Blümchen-Sex jedes Mal
erfahren musstest, dass du deine Schwester nicht aus dem Kopf verbannen kannst,
bekamen die Verhältnisse nicht nur im Bett schnell etwas Notorisches. Vor allem
bei der Erkenntnis, dass der Akt für deine jeweilige Partnerin erst dann so
grandios leidenschaftlich und in der Ekstase unnachahmlich befriedigend gewesen
war, wenn ich beim gemeinsamen Höhepunkt mich eigentlich gedanklich in Nathalie
verströmte.“