Dienstag, 27. Mai 2014

Strohfeuer




   22. Kapitel

   Nur ein von einem durch Liebe verursachten Anfall von Altersnarzismus Verwirrter konnte es gewagt haben, sich derart zum Affen zu machen: René, wohl in seinem neuen Gefühl der Unsterblichkeit, war in London los gezogen  und hatte vor der Fahrt nach Hastings bei einem auf Jugendstil spezialisierten Juwelier einen Verlobungsring für Peggy gekauft. - Einen goldschwarzen Schwan von William Morris, der sich eine gülden glänzende Süßwasser-Perle aus dem Gefieder zieht. Kostenpunkt: Sein Monatssalär als Pauker für französische Konversation.
   Das Desaster schilderte er Johannes in einer Mail:
  "Ich dachte wirklich, ich hätte den richtigen Zeitpunkt ausgewählt. Am ersten Weihnachtstag beim Tee bin ich aufgestanden und habe in aller Form bei Beth und Brian um die Hand ihrer Tochter angehalten. Die waren weniger entsetzt als ihre Tochter. So wütend hatte ich sie noch nie erlebt. Um ehrlich zu sein, hatte ich überhaupt keine Vorstellung davon gehabt, wie sauer sie sein konnte. Die ganze Wärme des wirklich einzigartig harmonischen Weihnachtsfestes war innerhalb einer Sekunde einer neuen Eiszeit gewichen. Sie zerrte mich aus dem Raum mit ihren schockstarren Eltern, schob mich in das bislang ungenutzte Gästezimmer und meinte lapidar, ich könne darin mal  eine Nacht darüber nachdenken, ob es nicht Sinn mache, zunächst die Braut zu fragen, ob sie überhaupt heiraten wolle. Sie wolle nämlich nicht! Und das hätte - bevor ich wieder in Alterslarmoyanz  ausbräche - rein gar nichts mit dem Altersunterschied, sondern vielmehr mit ihrer Einstellung zur Ehe zu tun. Deren mittelalterliches Verpflichtungsszenario decke sich nun mal nicht mit ihrer Auffassung von der Souveränität einer Frau. Und,  - sie hätte wirklich gedacht, dass ihr Papù das schon längst begriffen habe. Nun stelle sich aber enttäuschender Weise heraus, dass ein alter Esel genau so lange Ohren habe wie ein junger."
   Letzteres hatte ihn  - wer René kennt - härter getroffen als die Peinlichkeit des Fauxpas mit den Eltern. Wie René sich Peggy dann doch wieder gewogen gemacht hatte, blieb für immer sein Geheimnis. Allerdings konnte Johannes den so beschriebenen Verlobungsring gut ein halbes Jahr später als einzige "Bekleidung" an einer ansonsten völlig nackten Peggy identifizieren.
   Die nächste Mail kam kurz vor Sylvester:
   "Peggy hat zugestimmt. dass sie mich zur Party des Dekans begleitet.Wir waren heute im Harrods. Hatte ja nichts für fein dabei. Ich habe darauf  bestanden, dass sie ein Abendkleid mit schwarz und Gold aussucht, weil ich etwas Passendes dazu als Überraschung für sie habe. Kleider machen Leute! - Was für ein blöder Spruch! - Und doch so passend. Das Flamingo-Mädchen hat in ihrer Gala genauso ausgesehen wie der Schwan auf ihrem Ring. Und der alte Sack im Smoking (Tuxedo natürlich!) machte auch etwas her. Ich wusste gar nicht, dass Vivienne Westwood auch für Männer entwirft. Jedenfalls ein edles Teil mit Weste. Vor einem halben Jahr hätte ich gesagt, dass sich das ja wohl gar nicht mehr lohne..."
   Was es an Überredungskunst gekostet hatte, Peggy nach dem Antragsdisaster überhaupt zum Mitgehen als "Begleitung" zu bewegen, verriet René erst ein halbes Jahr später. Denn heikel war das ganze  ja schon - auch ohne ihre weihnachtlichen Differenzen. Den Abend ohne  "Outing" zu überstehen, schien so gut wie unmöglich. Für Peggy lag - "very British" bei den ungeschriebenen Maßstäben der Fakultät - ja ein Skandal in der Luft, der sich nicht nur auf ihre mit berechtigter Spannung erwartete Dissertation, sondern später sogar auf ihre gesamte Karriere als Philosophin hätte auswirken können.
   Die Party war natürlich pures Understatement. Das traditionelle Fest zum Jahreswechsel glich eher einem Empfang und hatte den Stellenwert eines erstrangigen gesellschaftlichen Ereignisses, zu dem sogar Royals erschienen, an denen alle vorbei flanieren mussten. Lord Nicky, wie er wohl genannt werden durfte, weil er selbst hier studiert hatte, war wohl einer aus dem Hause Kent, aber Peggy und René als ausgewiesene Antiroyalisten interessierte das nicht besonders. Sie wollten nur gucken, Spaß haben und bloß nicht auffallen. Was aber nicht ganz klappte, weil René am Saaleingang als Monsieur LeRoy ausgerufen wurde. Und zwar nicht wie er sich selbst dezidiert aussprach als "LäRoiiiiy", sondern  als "LeRoa", was sich anhörte, als sei ein postrevolutionärer, oder besser postrepublikanischer, französischer Monarch im Anmarsch. Alle Blicke waren ab sofort auf "Vater und Tochter König" gerichtet, die obendrein auch extravagant gekleidet waren. Und noch extravaganter und betont lässig bei der Cocktail-Plauderei je nach Gesprächspartner von Französisch zu Deutsch und dann wieder zum Englisch "switchten".
   Nach dem Bankett, das von einem Jamie-Oliver-Adepten überraschend gut für derart viele Gäste zubereitet worden war, musste sich René damit abfinden, dass er abgemeldet war. Viele junge Männer suchten zum Tanzen die Nähe von Peggy, und die überraschte ihn, weil sie trotz ihrer Länge, mit der sie die meisten ihrer Partner überragte, die Standardtänze  mit gewisser Grazie beherrschte. René, der schon mit Rosalie nur getanzt hatte, wenn es der Anlass verlangt hätte, wäre nie auf die Idee gekommen Peggy zum Tanzen aufzufordern. Er hatte im inneren ein tiefes, sehr irrationales Gefühl der Abneigung vor dem Bild, das sie dabei bieten könnten.
   Mit der durch einige Gläser Champagner erreichten Leichtigkeit nahm aber Peggy auf seine Hemmungen keine Rücksicht. Mit der Wahl der Damen glitt sie auf ihn zu und forderte ihn mit einer tiefen Verbeugung zu einem langsamen Walzer. Als sie die Hand leicht in seine legte, glitzerte der schwarzgoldene Schwan mit der Perle um die Wette. René hatte ihr den Ring bedingungslos vor dem Ball an den Finger gesteckt, und die hatte sich unheimlich über das schöne Stück gefreut. Jetzt schmiegte sie sich so an seine Wange, dass sie in sein Ohr flüstern konnte:
   "Es ist so schön, mit dir nicht verlobt zu sein. Keine Versprechen, keine Schwüre, die dann ja meist vielleicht doch nicht halten oder gehalten werden. Nur dieses unvergängliche Zeichen deiner Liebe an meinem Finger. Dafür hast du jetzt einen viel heftigeren als eine schüchternen Verlobungskuss verdient."
   Sprach es und hielt mitten im Tanz inne, um René einmal mehr mit ihrer ungebremsten Leidenschaft zu küssen. Und René erwiderte ihren Kuss in einer Art, die ihn in der zwangsweisen Betrachtung der unvermeidlichen Augenzeugen im Nu vom Daddy zum Sugar-Daddy transformierte.
   "Es wird so ein wunderbares Jahr werden", jubelte Peggy beim Weitertanzen. Beschwingt ließ sich René von ihr noch durch ein paar schnellere Tänze führen, deren Schritte er gerade noch improvisieren konnte. Dann überließ er sie wieder jüngeren Partnern zu "jüngerer" Musik. Mitten in dem stillen Moment des Glücks, den er in einer Nische des Saales für sich alleine genießen wollte, setzte sich der Dekan ohne zu fragen zu ihm. René glaubte, ihm eine Erklärung schuldig zu sein, denn seine Legende war ja nun wohl aufgeflogen. Aber der Dekan bat ihn mit einer Handbewegung zu schweigen. Dann begann der wohl zwanzig Jahre jüngerer Mann mit einer natürlichen Würde selbst zu sprechen. Er war ein etwas zur Fülle neigender Mann mit einem weißen Haarkranz, der gut als mordender Pfarrer in einen der typischen BBC-Krimis gepasst hätte. Sein Blick war nicht nur forschend, sonder auch durchdringend:
   "Ich wollte schon seit einigen Tagen mit ihnen sprechen, weil ich wegen Ihnen ein kniffliges Versicherungsproblem juristisch zu klären hatte. Der Konversationskurs ist ja nicht Bestandteil der Studiengänge und Sie sind ja auch kein ausgebildeter Lehrer - und obendrein nur zur Aushilfe eingesprungen. Weder gewähren sie ihren Schülern Versicherungsschutz noch haben Sie selbst einen bei Ihren Exkursionen durch die Stadt."
   Er machte eine gewichtige Pause, entspannte dann seine Gesichtszüge und wurde ganz Kollege:
   "Was haben Sie in Ihrem fortgeschrittenen Leben noch für Ziele Monsieur LeRoy? Sie machen den Kurs ja nicht, weil Sie das Geld bräuchten... Das schreckliche an dieser Internet-Zeit ist ja, dass man jeden mittels Suchmaschinen über seine Vergangenheit ausforschen kann. Aber Ihre ist in der Tat die verblüffendste Zielgerade, die einer gegen Ende seines  Lebens einschlagen kann. Ich habe eben nach der Szene auf der Tanzfläche noch mit Dwight in Boston telefoniert, um ihm einen guten Rutsch zu wünschen. Er hat laut und wissend gelacht, als ich ihm erzählt habe, weshalb Sie sein Appartement eigentlich unbedingt hüten wollten."
   Die Leute begannen bereits aus den Saaltüren auf den Vorplatz zum Feuerwerk zu drängen. als der Dekan mit banger Stimme fragte:
   "Sie werden doch wohl nicht eine unserer vielversprechendsten Wissenschaftlerinnen nach Frankreich entführen? Ich biete Ihnen an, hier so lange weiter zu machen, wie es Ihnen an unserer Uni gefällt. Dwight hat in den kommenden Semestern als neu ernanntes Mitglied des Senats ohnehin soviel zu tun, dass er den Konversationskurs mit Ihrer Intensität sowieso nicht weiter machen könnte..."
   René suchte im Getümmel nach Peggy, was aber kein Problem darstellte, weil sie mit Ihrem herausragenden Haarschopf leicht aufzuspüren war. Sie winkte bereits in seine Richtung, hatte aber eine besorgte Miene, weil sie den Dekan neben ihrem Geliebten entdeckte.
   Rene strahlte sie aber derart an, dass sie beruhigt sein konnte. Dann wandte er sich dem Dekan zu, um ihm zu sagen:
    "Ich habe Miss O'Neill versprochen, dass sie nichts an ihrem Leben und ihren Zielen ändern muss. Ich bin es, der für Sie sein Leben bereits geändert hat und sich auch in Zukunft nach ihr richten wird."
   Dann begann die Menge vielstimmig, das alte Jahr herunter zu zählen, während die Band Auld Lang Syne anstimmte.
    

Dienstag, 20. Mai 2014

Strohfeuer

   

  21.Kapitel


  In den Teams, mit denen er in der Vergangenheit um die Mega-Etats gekämpft hatte, war  René stets kreativer Vordenker und Impulsgeber gewesen, aber er hatte sie niemals dominiert, sondern eher moderiert. Abgesehen von ein paar Seminaren hatte er nicht wirklich doziert. Trotzdem war er nicht einen Moment nervös, als er die laufenden Kurse von Dwight übernahm. Es ging ja bloß um Konversation, und wenn er es nicht verstand, in seiner Muttersprache zu "parlieren" - wer dann?
   Als Nicht-Akademiker kannte er aber den Universitätsbetrieb lediglich aus den Erzählungen seiner Kinder, und die waren ja nun schon lange erwachsen. Er hatte also keine Ahnung, welchem aktuellen Typ Studenten er alltäglichen sprachlichen Umgang vermitteln sollte. Unter denen, die sich in der romanistischen Fakultät eingeschrieben haben, hätte er sich vielleicht Blaustrümpfe und Nerds vorgestellt, wäre Dwight in seinen Augen nicht schon so ausgeflippt daher gekommen.
  Fünf Doppelstunden, pro Woche täglich von 2 pm bis 4 pm galten als vereinbart. Der zuständige Dekan hatte keinerlei Bedenken erhoben, da ihm Delany den "smarten alten Knaben" in den wärmsten Farben geschildert hatte.
   Als er federnden Schrittes mit Exemplaren von "Le Monde" und Le Canard Enchainé" unterm Arm den Seminar-Raum  betrat, hatte René bei dieser Fürsprache auch nur einen gering erhöhten Puls. Das einzige, was ihn wirklich überraschte, war das multikulturelle Erscheinungsbild seines Auditoriums. Von den 20 Teilnehmern, auf die sein Kurs limitiert war, war auf den ersten Blick nur die Hälfte weiß. Der Rest der jungen Männer und Frauen war indisch-pakistanischer Abstammung, schwarz oder hatte erwartungsfrohe Gesichter asiatischen Einschlages.
  Der Kurs war nicht nur freiwillig, sondern musste anteilig auch von den Seminaristen selbst bezahlt werden. Es bestand also kein Zweifel an der hohen Motivation der Truppe, die am Ende ihren Scheinen lediglich einen Teilnahme-Nachweis darüber hinzufügen würden. Allerdings wirkte der sich - wie René später erzählt wurde - bei Bewerbungen nach dem Studium wohl äußerst positiv aus.
  Kaum hatte sich René mitten unter die im Viereck um einen großen Tisch sitzenden Teilnehmer gesetzt, hatte er auch schon sein ursprüngliches Konzept, über tagesaktuelle Themen aus den Zeitungen zu diskutieren, verworfen. Er verzichtete auch darauf, sich selbst näher vorzustellen.  Er hatte seine  in einfachem Französisch gehaltene Vita ja vom Pedell vorab an die Kursteilnehmer verteilen lassen. Nach einem optimistischen Bonjour, mit dem er auch klar stellte, dass in diesem Kurs fortan kein einziges Wort Englisch mehr gesprochen werde, ließ er sich in der ersten halben Stunde von jedem in einer einminütigen Rede die wichtigsten Informationen zur Person vermitteln. Dabei korrigierte er nur die größten grammatikalischen Sünden, um den möglichen Redefluss nicht zu unterbrechen. Notizen machte er sich hinter jedem Namen nur bezüglich der Aussprache und der Couragiertheit des Vortrages. Dies war ja ein Kurs mit Fortgeschrittenen von denen am nächsten Tag noch einer käme. Die restlichen Tage der Woche hatte er Anfänger. Insgesamt hatte er also 100 Seminaristen kennen zu lernen. Das ging nur mit Eselsbrücken. René hatte da aus Agentur-Tagen noch eine Methode, die ganz gut funktionierte, weil er sich Namen nicht gleich merken konnte. Die durfte aber keinesfalls ruchbar werden, denn für die Betroffenen war sie nicht immer schmeichelhaft:
   So konnte zum Beispiel ein Mädchen mit breitem Mund und runden Kulleraugen als "das Krokodil" in Renés Memory-Speicher rutschen, während ein asiatischer Junge mit Oberlippen-Bart "der Dschingis" sein konnte. Das ganze natürlich nur in Kombination mit den richtigen Namen, die ihm dadurch schneller präsent wurden. Am Ende der Woche hatte er so alle seine sprachlichen Schutzbefohlenen kategorisiert. Unter anderem wäre auch ein "Flamingo-Mädchen" dabei gewesen, hätte er die Dame nicht schon so intensiv kennen gelernt. Denn für ihn überraschend hatte sich Peggy trotz ihrer enormen Belastung im Endstadium ihres Studiums für den Anfängerkurs bei Dwight eingeschrieben,  ihm aber nichts davon gesagt...
  Im ersten Moment überkam ihn bei Peggys Anblick ein Gefühl der Befangenheit, das sich aber schnell verflüchtigte, als sie ihm in ihrem kurzen Vortrag über sich selbst schon signalisierte, dass sie eine Schülerin wie alle anderen auch sein würde...
  An jenen intimen  Abenden, die sie in Dwights Wohnung verbrachten, gab sie ihm jedoch ein hilfreiches Feedback und manchen Hinweis, wie er den Unterricht möglicherweise  noch optimieren könne. Aber im Großen und Ganzen war Peggy begeistert von seinen Ideen, die überraschend auch die Methoden von Delany übertrafen. Dabei hatte René nichts anderes gemacht, als Motivation und Zielrichtung in einer Art vorzugeben wie er dies auch beim Briefing auf einen neuen Kunden mit den Mitarbeitern seiner Agentur getan hätte.
  Seine 3R-Methode wurde zur Parole: raconter also erzählen, refléter, mit dem man das Gehörte auf das Gegenüber reflektieren konnte und réager, beides durch überlegtes Reagieren für den Fortgang des Gespräches nutzen. Da er es mit hoch motivierten und überaus intelligenten Menschen zu tun hatte, überraschte es ihn nicht, welche Fortschritte sie mit seiner Anleitung zur Konversation machten. Nur ihm war allerdings klar, dass das nichts mit Pädagogik zu tun hatte, sondern die "Trickserei eines abgehalfterten Werbeprofis", wie er Peggy freimütig gestand.
  Zum Campus-Star mutierte René aber vollends, als er die Seminarräume verließ, um mit seinen Gruppen ins Londoner Leben einzutauchen. Dort sollte anhand von Alltagssituationen trainiert werden, wie die jungen Damen und Herren ohne Wörterbuch in der Tasche durch spontane, verbale Umschreibungen und möglichst ohne zu stocken,  Situationen meistern können.
  Eine wichtige Station war dabei Hydepark Corner und der Gang zu den Speakers. Denn wie eine Gruppe französischer Touristen sollten sich seine Schüler gegenseitig das zum Teil abstruse Zeug, das da geredet wurde (und von dem René wohl am aller wenigsten verstand) sinngemäß übersetzen. Das machten vor allem die Fortgeschrittenen so gut, dass René sogar für sich einen Gewinn daraus zog und nach einigen Wochen  ein wenig Cockney verstand.
   Bis zu den Weihnachtsferien war René auf dem Campus bekannt wie der berühmte bunte Hund. Von allen seiten schallte es: "Bonjour Monsieur LeRoy! Comment allez vous?" oder wenn es vertraute Schüler waren:"Ca va René?"
   Peggy war sehr stolz auf ihn, spielte aber auch ein wenig die Eifersüchtige: "Wenn die karibische Prinzessin mit den dicken Brüsten aus meinem Kurs dich weiter so anschmachtet, werde ich wohl Weihnachten allein zu meinen Eltern fahren müssen." Sie sprachen jetzt immer häufiger Englisch miteinander.
   Aber jealous zu sein war natürlich Unsinn, und das wusste sie auch. Denn die Intensität ihrer Beziehung hatte dadurch, dass René in ihrer heißen Studien-Phase etwas zu tun hatte, eher noch zugenommen; die Aura ihrer Liebe war so stark, dass sie auch für Außenstehende kaum mehr zu übersehen war.
   René schrieb Johannes in einer Mail, dass er sich nicht daran erinnern könne, jemals in seinem Leben so zufrieden und ausgeglichen gewesen zu sein. Dazu kamen für den Ehrgeizigen noch triumphale Siege bei zwei "sportlichen Großereignissen", die er allerdings eher seinen jeweiligen Partnern zu verdanken hatte. 
 Beim alljährlichen Charity-Doppel-Turnier zwischen den Romanisten und den Wirtschaftswissenschaftlern wurde René zur Teilnahme eingeladen, weil Peggy wohl mal wieder an der falschen Stelle von seiner Klasse auf dem Tennis-Court geschwärmt hatte. Die Paarungen wurden so zusammengestellt, dass auf jeder Seite des Netzes eine annähernd gleiche Anzahl Lebensjahre aufschlug. So kam einerseits offiziell heraus, wie alt der Franzose schon war. Andererseits ergab sich aus seinen 73 Jahren das Privileg, als Partner des jüngsten Dozenten zu spielen, einem Oxford-Mann, der bis vor kurzem noch semi-professionell gespielt hatte und sogar kurz in der Weltrangliste aufgetaucht war. Sie gewannen das Turnier ohne Satzverlust, und René spielte dabei wahrlich keine Statisten-Rolle.
   Bei dem "Turkey-Turnier" (Motto: How dare you fly with eagles when you play with turkeys) im Golfclub von Battle am 4. Advent war das allerdings anders. Brian O'Neill hatte sie einfach angemeldet, als er im Computer heraus gefunden hatte, dass René für dieses "Best Ball" mit Zweier-Flights zu ihm vom Handicap her dem Modus gemäß den vorgeschriebenen Mindestabstand für die Paarungen aufwies. Der Truthahn, den sie knapp gewannen, war derart riesig, dass sie ihn auf der Heimfahrt nach Hastings in einem staatlichen Altersheim vorbei brachten. Die O'Neill-Mädels mussten an jenem Abend dann allerdings  noch ziemlich lang auf die Sieger warten, weil die in einem Pub um die Ecke ihren Triumph begossen, bis der Wirt - unter Bedauern, dass es keine closing hours mehr gäbe - regelrecht hinaus warf.
   Genau zu den Vorbereitungen für die O'Neillsche Familien-Weihnacht kam dann auch noch die Einladung des Dekans zur Sylvester-Party in einem der exklusivsten Verbindungshäuser. Peggy hatte sie aus Dwights Wohnung mitgebracht: Gold geprägt auf sündteurem Bütten... 

Dienstag, 13. Mai 2014

Strohfeuer


 20. Kapitel


   Irgendwie hatte sich René den künftigen Harvard-Gastdozenten ganz anders vorgestellt; vor allem viel jünger. Was wohl mit dem Hinweis Peggys auf dessen jüngste Dissertation zusammenhing. Der Selfmade-Werbemann hatte ja keine Ahnung von den Gepflogenheiten der Romanisten, die die thematische Vielfältigkeit ihrer Studien gerne mit der Häufung diverser Doktor-Titel dokumentieren.      Dwights Arbeit über den Einfluss der französischen Sprache auf die englische  seit William The Conquerer hatte zu dem dritten Doktor vor seinem Namen geführt. Die drei Titel prangten jetzt sowohl an dem Klingelschild des Wohnhauses als auch großspurig in Messing graviert an seiner Wohnungstür. Das passte zu dem entlehnten Tudor-Stil der Architektur, obwohl es hier nicht so nobel zuging wie in Oxford oder Cambridge, wo die Concierges bisweilen noch Cutaway und Bowler Hat trugen. Der junge Mann, der ihn den Weg zum Appartement des dreifachen Doktors wies, verrichtete hier als Concierge eher lässig ein studentisches Zubrot.
   Dwight Delany war ein kleiner, penibel gepflegter Mann, den man im Nachhinein gut mit dem Attribut "Edel-Hipster" träfe. Zu gelben Sneakern trug er smaragdgrüne, sehr enge Jeans, die von breiten, roten Hosenträgern mit Edelweiß-Dekor ziemlich schmerzlich am kurzen Oberkörper hoch gezurrt wurden. Zum rotweiß karierten Hemd trug er eine selbst gebunden Fliege, die grünlich glitzerte. Auffallend war das Baby-Gesicht des Dozenten, dass René unwillkürlich an Fotos erinnerte, die er von Truman Capote gesehen hatte. Delany tunte sich aber mit Make-up, Lidschatten und gelackten gelben Haaren auf ein gänzlich undefinierbares Alter. Erst wer ihm so nahe kam, dass er das dezent aufgetragene Edel-Parfüm riechen konnte, ahnte, dass der Mann auf die Sechzig zuging.
  Das Mienenspiel der beiden so unterschiedlichen Männer war bei der Begrüßung nahezu identisch. René schmunzelte unterdrückt, weil ihm gerade in den Sinn kam, an wem sich die "andere Peggy" möglicherweise stilistisch orientierte, und Dwight spiegelte sich in der Erkenntnis, dass René tatsächlich fast so alt war, wie Peggy ihn beschrieben hatte. Obwohl des Romanisten auf männliche Reize orientierte Wahrnehmung die federnde Athletik wohlwollend registrierte.
  Der Abend verlief wie eine Bühnen-Inszenierung von Harold Pinter: Drei äußerste eloquente Menschen schossen sich mit Wortspielen und Anekdoten aufeinander ein, wobei mit äußerstem Bedacht auf sprachliche Duftmarken Wert gelegt wurde. Dwight wollte natürlich sein nahezu perfektes Französisch anbringen, für das er - trotz seines unverkennbaren Akzents -  ein  ums andere Kompliment von René einstrich. Peggy "becharmte" Dwight, weil sie unbedingt wollte, dass sie das Appartement als Liebesnest bekamen, und hin und wieder musste sie sich ja auch auf Deutsch mit René streiten, damit Dwight ihm den Tutor abnahm. Lediglich bei den englischen Wortspielen zog René  am deutlichsten den Kürzeren. Weshalb er sich fest vornahm, die Zeit in England zu nützen, um endlich sein Englisch zu verbessern.
   Es ist ja nicht selten, dass sich homosexuelle Männer einen weiblichen Fixstern suchen, den sie ohne Begierde anbeten können. Was das schauspielernde deutsche Busen-Wunder Barbara Valentin für Queen-Sänger Freddie Mercury war, oder Renés Maler-Freund Guillaume um Joceline für ein Wesens machte, das entdeckte er nun bei Dwights  ungebremster, verbaler Balz mit Peggy. Er verstand, dass jeglicher Hinweis auf das Verhältnis zwischen ihm und Peggy die Harmonie des Abends stören könnte. Deshalb gab er mit Bravour den großväterlichen Freund.
  Aber es kam dann nach dem rein vegetarischen Abendessen doch noch zu einer Eifersuchtskrise. Dwigth hatte ein Dreigänge-Menü gezaubert, das weder Fleisch noch Fisch vermissen ließ. Auf einem hauchdünn geschnittenen Carpaccio aus marinierter Rote Beete hatte er frittierte Mini-Artischocken zur Vorspeise gereicht. Danach gab es in Olivenöl gebratene Sellerie-Steaks auf einem Pastinaken-Mousse mit Pfefferminz-Sauce. René verabscheute die englische Pfefferminz-Sauce. Diese aber überraschte ihn, weil sie - grüner als die Hose des Gastgebers - mit den Komponenten grüner Knoblauch, rohe Petersilie sowie Schnittlauch durch einen Tropfen Limone-Saft verlängert worden war. Die Krönung waren jedoch die Maronen-Spaghetti zum Nachtisch, die aussahen wie eine italienische Pasta mit einfachem Tomaten-Sugo und einem Klecks Butter obendrauf... Nur, dass der Sugo Erdbeer-Püree war und der Klecks Butter eine sehr helles, selbstgemachtes Marzipan. Dwight hätte als vegetarische Gourmet-Koch im kulinarisch dank Jamie Oliver erwachten London vermutlich mehr Geld machen können als als Professor.
  Aber dann kam mit einem gewaltigen Sprung über ein für sie offen gelassenes, nur angelehntes Fenster Nancy herein und rollte sich ungefragt und laut schnurrend auf Renés Schoss zusammen. Dwights Gesicht verzog sich angewidert und auch empört, als er auf den Fell-Kringel in Renés Genital-Gegend starrte:
   "Dabei habe ich sie doch extra sterilisieren lassen!"
  Das nach einer Kunstpause los prustende Gelächter der Drei nahm die mausgraue "British Shorthair" mit majestätischer Gelassenheit hin. Nun hatte Peggy eine Zeit lang Sendepause, weil René Dwight auf französisch von den beiden Guillaumes und LaGrange erzählte. Der Romanistik-Professor schmolz dahin als er den schwulen, auf Martinique gebürtigen Maler so liebevoll beschrieb, nach dem ja auch sein tragisch bei einer Fuchsjagd ums Leben gekommener Kater benannt worden war.
   Dass René den idealen Hüter des Hauses geben würde, und seine Peggy hier mit ihm ihre "Tutor-Lessons abhalten könne war danach sonnenklar. Er würde ja erst in vier Monaten bei seinem Besuch in LaGrange von deren wahrem Treiben erfahren, aber da konnte er sich ja zum Trost schon auf dem schwarzen Fleischberg zusammen rollen - und ihm die Nancy machen...
  Die Wohnung, die René nach Dwights Abreise bezog, war nicht groß, aber perfekt ausgestattet: etwa 70 Quadratmeter mit Balkon zum begrünten Innenhof, Ein Wohnzimmer mit elektrischem Kamin, ein buntes Schlafzimmer, ein noch bunteres Bad und eine Küche, in der René seine Campus-Berühmtheit mit seinen Kochkünsten noch untermauern konnte. Für seine schnelle Reputation sorgte der Konversationskurs in Französisch, den René zur Begeisterung des Dekans nahtlos übernahm und der dann wegen seiner Beliebtheit in der Frequenz verdoppelt werden musste. Das brachte ihm 500 Pfund die Woche - obendrein wegen der ja befristeten Tätigkeit steuerfrei. Die rund 2500 Euro, die er so verdiente, passten ihm sehr ins Konzept seiner neuen Sparsamkeit, weil er sie ja ohne schlechtes Gewissen und ohne  ans "Eingemachte" gehen zu müssen, mit Peggy auf den Kopf hauen konnte.
   


Dienstag, 6. Mai 2014

Strohfeuer

19. Kapitel



    Dem großen Genießer und gelernten Kavalier René wäre es niemals in den Sinn gekommen, das sexuelle Glück, das Peggy und er sich offenbar gegenseitig bescherten, zu thematisieren. Aber das brauchte er auch gar nicht. Johannes kannte ihn gut genug, um  aus den regelmäßigen Rahmen-Schilderungen seines Freundes den Schluss ziehen zu können, er habe auch im Bett mit Peggy die zweite große Erfüllung seines Lebens gefunden.
  Allein schon wie er das gemeinsame Frühstück mit den Eltern am nächsten Morgen beschrieb, ließ erkennen, dass die Aura der beiden Glücklichen bei Brian und Beth sämtliche Bedenken beseitigt haben musste. So sie denn jemals welche hatten, weil sie ihrer Tochter vertrauten und sie ja rückhaltlos liebten. 
  Peggys Geburtstag verlief in eingeschworener Viersamkeit so ausgelassen und lustig, als hätte diese Konstellation schon ewig bestanden. Sie hatte sich - nicht nur wegen des spontanen Beifalls ihrer Eltern - wirklich über den Turner-Druck gefreut und entschieden, dass er als Ansporn für die entscheidende Phase ihres Studiums über ihrem Schreibtisch im Boardinghouse hängen sollte. 
  Mit dem Einbruch der Dämmerung waren sie dann an einen nahe gelegenen Strand gegangen, auf dem die gesamte Nachbarschaft traditionell ihr Guy-Fawkes-Feuer entzündete. Den Bekannten stellten Beth und Brian René ohne Hemmungen als Peggys Boyfriend vor. Und bei wohl engeren Freunden mit einem Augenzwinkern auf die Historie von Hastings: That's René the conquerer. One frenchy - again! 
  Den schlüpfrigen Part verstand René dabei natürlich nicht, wobei es fraglich war, ob die Liebenden bei der monogamen Ausrichtung ihrer Beziehung und angesichts des Altersunterschiedes überhaupt über die Verwendung eines Kondoms nachgedacht hätten...
  Dass Renés analytischer Geist im Überschwang der Gefühle nicht aussetzte, zeigte die Beschreibung von Peggys Wohnbereich im Hause ihrer Eltern. Ein so klar geschmacklich ausgerichteter Mensch wie René musste einfach über die Zwiespältigkeit im stilistischen Ausdruck seiner Geliebten stolpern. Deshalb versuchte er daraus in einer Mail an Johannes eine Art Psychogramm zu erstellen. Er kam zu einem Ergebnis, das Johannes quasi als Schluss-Akkord wie einen Hagelschauer treffen musste und ihm da erst jäh die Augen über die Dichtung zur Wahrheit öffnen sollte:
  Peggy bewohnte das Dachgeschoss mit den Beiden Gauben. Durch die Fenstertüren und die Ost-West-Ausrichtung war das vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergehen eine äußerst lichtvolle Mansarde. Während die Quer-Räume allein auf Funktion ausgerichtet waren - rechts ein komplett ausgestattetes Bad mit Oberlichtern und einer Ankleide davor, links ein Studier-Zimmer mit Schreibtisch und einer für Peggys Alter äußerst umfangreichen Bibliothek - vermittelte der lange Raum unter First und Gauben eine Art Lebenslinie seiner Bewohnerin:
  Zur Straße hin, schien es, als habe Peggy ihre Kindheit nicht verlassen. Ein buntes Gemisch aus Kleinmädchen-Sachen - quasi auf hellen Schleiflack-Möbeln ausgestellt - flankierten dort ihr Bett, das dafür unverhältnismäßig groß war. René erklärte sich das damit, dass ein so großes Mädchen eben auch eine überdimensioniertes Bett bräuchte. Aber dieser Gedanke befreite ihn wohl nicht von den Hemmungen, die ihn beschlichen, als er erstmals zu Peggy unter die Laken schlüpfte. Die einzige Bemerkung, die er sich von diesem Moment jemals gestattet hatte, war in etwa so formuliert:
   "Es war, als täte ich etwas Verbotenes, aber die nächste Augenblicke belehrten mich eines Besseren."
  Von der infantilen Seite entwickelte sich die Einrichtung jedoch zum Garten hin gemäß des Georgian Styles im übrigen Haus. Sie vermittelte aber deutlich nicht die gestaltende Hand von Beth, sondern Peggys persönlich eingebrachte, eigene Ideen und dies nicht ohne Hinweise auf ihren verzwickten Humor. In einem Sessel am nicht mehr benutzten Kamin wärmte sich virtuell und lebensgroß, in einem Sessel über Menschliches allzu Menschliches nachdenkend, Friedrich Nietzsche - aus Pappmache - gestaltet von Peggy O'Neill...
  "Auf einmal glaubte ich Peggys Beweggründe zu erkennen", schrieb René an Johannes,"sie will weder die Vergangenheit hinter sich lassen, noch den Zukunftsängsten im erwachsen Werden ausgesetzt sein. Klar, dass sie da für die Liebe jemand haben will, von dem sie glaubt, dass der diese nicht mehr zu haben braucht. Was für eine Unschuld! Was für eine Ahnungslosigkeit! Aber dafür liebe ich sie um so mehr."
   Als sie sich am Montag am Bahnhof von Brian und Beth trennten, war schon  so eine Art Road-Map für die kommenden Monate verabschiedet. Es war klar, dass Peggy und René nun nicht mehr jedes Wochenende nach Hastings kommen würden, aber sie waren immer willkommen. Für die Weihnachtsfeiertage waren die vier fest verabredet. Für Silvester hatten die O'Neills eigene Pläne. Und wann immer Peggy dem Studium absoluten Vorrang zu geben hatte und in Ruhe gelassen werden wollte, sei René auch allein willkommen. Zumal Brian - obwohl Single-Handicaper  - darauf drängte, mit dem Lover seiner Tochter die Golfplätze von Battle und Hastings unsicher zu machen.
  Aber wie sich herausstellen sollte, konnten fixe Pläne nicht ohne die Spontaneität der einen oder anderen Peggy gemacht werden:

  Johannes schrieb an seinem Manuskript weiter:

   Was immer die kleine Flamme der Liebe am Guy-Fawkes-Tag zur lodernden Leidenschaft entfacht hatte, Peggys naiv gesteuerter Pragmatismus verlangte, dieses Feuer immer aufs neue zu schüren. So nett die Eltern René nach dem "Outing" aufgenommen hatten, so war es für Peggy doch unvorstellbar, sich womöglich jedes zweite Wochenende in Hastings unter Beobachtung der Liebe hin zu geben. Es kam aber auch gar nicht in Frage, dass sie fürderhin wie eine Maitresse zu René ins Hotel schlich. Das Leben von ihm im Hotel einerseits und ihres mit dem verschärften Studium und dem Wohnen im Boardinghouse andererseits wollten bei ihrem Harmonie-Bedürfnis einfach nicht mehr zusammen passen.
  Also streckte sie ihre Fühler nach einer praktischeren Lösung aus. Dass sie die innerhalb von nur 48 Stunden fand,. dokumentiert noch im nachhinein ihr breit gefächertes Genie. Am Mittwoch erreichte René ihr aufgeregter Anruf:
 "Papù, können wir uns um sechs im Russel Square treffen. Ich möchte unser mögliches Zusammenleben in angemessene Bahnen lenken, ohne dass wir dabei Freiräume aufgeben müssten."
  René ließ sich von ihrer Aufregung anstecken, denn er hatte schnell gelernt, dass es besser sei, sich auf ihre Überraschungen nicht eigens einzustellen. Diesmal war er zuerst im Café und konnte dadurch sehen, dass ihr öffentlicher Auftritt nicht mehr ganz so von ihrer verhuschten Schüchternheit geprägt war. Obwohl ihre offenbar als studentisch empfundene Wahl der Kleider ihm diesmal jenseits von gewöhnungsbedürftig vorkam. Als er jedoch bei all den anderen Menschen im Gastraum keinerlei Reaktion auf ihre Erscheinung wahrnahm, kamen ihm Zweifel an seiner Sichtweise. Vielleicht lag ja nicht nur Schönheit, sondern auch Hässlichkeit im Auge des Betrachters. Peggy trug eine Art Mao-Anzug unter einem Umhang, der wie ein Tarnnetz aussah. Ihre Mode-Boutique für London war ganz offenkundig ein Militaria-Shop, denn an den Füßen hatte sie die Stiefel, die man in vielen Filmen an  britischen Soldaten zu sehen pflegte.
  Sie ging auch gleich zum Angriff über, nachdem sie sich gesetzt hatte:
  "Also, damit das klar ist. Ich will nicht permanent an Wochenenden mit dir in meinem Mädchen-Bett unter Duldung meiner irritierten Eltern Sex haben. Ich habe aber auch keine Lust, wie ein Flittchen zu dir ins Hotel zu schleichen. Ich hätte jetzt bis März eine Lösung, bei der wir so oft wir wollen, zusammen sein können, ohne dass mein Studium darunter leidet oder ich dir auf die Nerven gehe. Noch dazu ist sie von den Kosten her neutral, wenn sie dir nicht gar noch ein zusätzliches Taschengeld einbringt. Vorausgesetzt, du spielst eine kleine Rolle, die dir sogar liegen müsste..."
  René sagte gar nichts. Nicht etwa, weil er da nicht mitspielen wollte, sondern vielmehr, weil er Peggy zum zweiten Mal seit der Offenbarung gegenüber ihren Eltern auf ganz neue Weise erlebte: bestimmt, selbstsicher, aber vor allem mit der unmissverständlichen Forderung nach gleichberechtigter Partnerschaft. Mehr und mehr gefiel ihm das, und er gab seine Zustimmung. Um seine Ernsthaftigkeit zu unterstreichen tat er dies in Englisch:
  "Ich habe dir ja schon versichert, dass ich für dich mein Leben aber nicht deines verändern will!"

  Und dann unterbreitete Peggy ihren Plan: 
  Ein Bekannter der Romanistik-Fakultät habe aufgrund seiner Dissertation ein Angebot erhalten, bis März als gut bezahlter Gastdozent  in Boston Vorträge zu halten. Er habe eines der begehrten Appartements am Campus. Peggy habe ihn gefragt, ob ihr Tutor für die in Deutsch zu verfassenden Texte ihrer Examensarbeit nicht so lange seine Wohnung hüten könne. Er sei Franzose, der lange in Deutschland gelebt habe. Eine Art Privat-Gelehrter, sehr alt, aber sehr kompetent. Außerdem sei er Katzenfreund und könne doch auch den durch die Abwesenheit des Dozenten verwaisten Konversationskurs für Französisch  übernehmen... Peggy und René seien deshalb am Freitag in besagter Wohnung von ihm zum Abendessen eingeladen.
  René murrte, dass mit dem sehr alt, sei ja wohl nicht nötig gewesen, aber Peggy konterte, er werde schon sehen, weshalb sie das so betont habe.
   Derart trat Dwight Delany in seiner kurzen Gastgeber-Rolle in beider Leben und verschaffte so  bei einem ausgedehnten Gegenbesuch im folgenden Frühjahr in LaGrange sogar obendrein  noch dem Maler-Freund Guillaume bunte Impulse durch Tage späten Glücks...
   
    

Donnerstag, 1. Mai 2014

Strohfeuer

                  18. Kapitel
   Bei jeder neuen Liebe gibt es einen Prüfstein: Nämlich die erste Begegnung mit den jeweiligen Eltern der Partner. René konnte sich stets gut daran erinnern, wie das erste Aufeinandertreffen mit den Eltern von Roseanne vor bald fünfzig Jahren verlaufen war. Es war ein totales Desaster gewesen. Und das Verhältnis zu den Schwiegerleuten war auch nach seinem kometenhaften Aufstieg bis zu beider Tod nicht besser geworden. Das musisch auf altem Vermögen aufgebaute Elternhaus Roseannes wollte nicht recht zum zackigen Zögling einer erzkonservativen Militär-Akademie passen. Dass sich hinter dem lauten Temperament und den nassforschen Auftritten die sensible Seele des Kreativen verbarg, konnte auch Roseanne ihren Eltern nie vermitteln, obwohl die Ehe ja gehalten hatte, bis die Enkel längst selbständige Erwachsene geworden waren.
    Nun saß René unruhig wie ein junger Bräutigam im Zug nach Hastings und grübelte, was Peggys Eltern wohl zu ihm sagen würden, wenn sie denn überhaupt jemals erführen, dass er mit Peggy  als Paar leben wollte. Peggy hatte wenig von ihren Eltern erzählt, weil sie wollte, dass René ihnen unbeeinflusst gegenüber trat. Es hatte zwar Andeutungen gegeben, dass Brian O’Neill Lehrer an einer exklusiven Schule und Beth für die „National Heritage“ als eine Art Kuratorin bei den historischen Stätten  von Battle tätig  sei, aber das war eher dazu geeignet, den kulturell nicht so tief wurzelnden René noch weiter zu verunsichern.
    Als sie sich am Zug getroffen hatten, war René allerdings überrascht gewesen, Peggy in einem Aufzug zu sehen, der ihren äußerst damenhaften Auftritt nobel unterstrich. Es waren durchwegs Designer-Stücke, die sie trug; nicht ultra up to date, aber auch nicht old fashioned. Sie wirkte darin älter. War das ihre Absicht zu diesem Anlass? Unter dem taubenblauen, diagonal geknöpften Mantel kam im Abteil beim Ausziehen ein indigofarbenes Kashmere-Twinset zum Vorschein, das wie gemalt zu der fließenden Gabardine-Hose und den farblich abgestimmten, flachen Wildleder-Stiefeln passte, die an die alten Hush Puppies erinnerten.
   René fand seinen bewährten Dozenten-Look, den er aus Understatement zu diesem Anlass gewählt hatte, perfekt zu Peggy passend:  Unter dem Ulster trug er ein leicht braun gesprenkeltes Jackett aus Harris Tweed mit Weste zu beigen Kordhosen. Das Buttondown aus irischem Leinen wurde von einer altmodischen schwarzen Strick-Krawatte am Hals zusammen gehalten und der kahle Schädel von einer Patchwork-Schiebermütze getoppt.
    Dass Peggy beider Outfits als pure Maskerade enttarnte, machte ihre leichthin beim Hinsetzen auf Deutsch geflüsterte Bemerkung deutlich:
    „In diesem Aufzug hätten wir vielleicht doch besser den Rolls Royce genommen.“
   Ansonsten wurde während der zwei Stunden Bahnfahrt nicht viel geredet, was wohl auch ein Hinweis auf beider Anspannung war. Selbst der mit außergewöhnlicher Vorstellungskraft begabte René war dann von dem, was ihm am Bahnsteig in Hastings erwartet hatte, aus den Fugen geraten. Obwohl viele Leute im Bahnhof unterwegs waren, erkannte er Peggys Eltern ohne einen Hinweis. Das lag zum einen an der Mutter, die erschien wie eine kaum ältere Schwester Peggys, aber auch an Brian O'Neill, der als Personifizierung seiner am Telefon vernommenen Whisky-Werbestimme neben seiner Frau stand. Peggys Mutter Beth überragte schon alle Menschen um sie herum, und indem sie ihren feuerroten Haarschopf erwartungsfroh auf ihrem Vogelhals mit fliehendem Kinn schwenkte, wirkte sie als eine Art Semaphore für ihre Tochter. Die anderen Passanten indes starrten alle den über zwei Meter hohen Brian mit seinen enormen Schultern an. Manche warfen ihm eine Bemerkung zu, als sei er ein alter Bekannter, andere tuschelten sich respektvoll etwas zu, indem sie mit einer Kopfbewegung auf ihn deuteten. Natürlich hatte die mit Hinweisen so geizende Peggy nicht erwähnt, dass Brian O'Neill bis vor ein paar Jahren ein "Rugby All Star International" war.
   Und noch weniger war René darauf gefasst gewesen, dass Peggys Eltern noch so verdammt jung waren; kaum älter als Nathalie und Maurice. Derart jugendlich ungestüm fiel dann auch ihre Begrüßung unter heftigen Umarmungen aus, die Renés alte Knochen beinahe krachen ließen. Die Welle ungezügelter Sympathie schwappte die vier zu einem Landrover Defender 110. Jenem Modell, das Ford nach der Übernahme quasi als Vorreiter der SUV gestaltet hatte. Wenn einer eine Kamera hätte mitlaufen  lassen, wäre das ein Super-Spot gewesen. René konnte es einfach nicht lassen, in diese Richtung zu denken. Zumal das Gefährt wenige Minuten später vor einem marineblauen, historischen Reihenhaus hielt, dessen Erker-Fenster und Veranda-Vorbauten im "Georgian Style" mit weißer Gingerbred-Drechselei verziert waren. Die Erker reichten links und Rechts vom Treppenaufgang zum Hochparterre über zwei Stockwerke bis zum Dach, das in der Mitte eine große Giebel-Gaube mit Balkon und Boden tiefen Fenstertüren hatte. René war dermaßen beeindruckt, dass er gar nicht merkte, dass er seine Begeisterung laut in französischen Flüchen der Anerkennung zum Ausdruck brachte.
   Die O'Neills wohnten quasi in einem Museum für Architektur und Mobiliar jener Zeit bis etwa 1840, in der die vier Georges nacheinander das Empire regierten. Bis ins kleinste, mitunter äußerst kostspielige Detail war alles, was er in diesem Haus sah, stimmig. Was vielleicht befangen gemacht hätte, wäre der Umgang dieser Riesen mit dem zum Teil  so zerbrechlich wirkenden Interieur nicht so total lässig gewesen. Fast kam René sich nun ein wenig schäbig vor, dass er Peggy da am nächsten Tag "nur" mit einem Druck von Turner beschenken wollte. Auch der Prachtband von den Turner-Gemälden in der Tate, dass er den Eltern gerade als Gastgeschenk überreicht hatte, wirkte da ein wenig hilflos. Beth, die er als Impulsgeberin für all das "Stylishe" ausgemacht hatte, wusste vermutlich auch über Turner mehr als die meisten ihrer Mitmenschen. Dessen ungeachtet rangen die O'Neill-Frauen mit ihren vor Begeisterung wie Flamingos bei der Balz schwingenden Hälsen nach Worten: "How for heaven's sake" habe er nur  wissen können, dass Turner "the absolute favorite" der O'Neills sei. Erst da fiel dem Gelegenheitskunstinteressierten überhaupt auf, dass Turners Oeuvre gewissermaßen die gesamte georgianische Epoche begleitet hatte. Wenigstens das Timing war passend gewesen...
   Nachdem sie in einem der Erker, der zum Livingroom gehörte, Tee mit Scones, Schlagsahne und selbst gemachter Erdbeer-Konfitüre zu sich genommen hatte, steuerte das ganze auf die erste Konfliktsituation zu. Beth nötigte René burschikos, ihr zu folgen, indem sie seinen Ellbogen nahm und ihn in die hintere Haushälfte bugsierte. Das Haus hatte einen gespiegelten Grundriss. Also die gleiche Erker-Architektur wie zur Straße hin fand sich auch zur Garten-Terrasse wieder. Da in der vorderen Hälfte versenkte Schiebetüren, die geöffnet waren, einen kompletten Durchblick gewährten, entdeckte René erst hinten, wie puppenhäusig das Anwesen der O'Neills im Verhältnis zu deren Körpermaßen eigentlich wirklich war.
   Nicht ohne einen gewissen Designer-Stolz präsentierte Beth im rechten, hinteren Erker ihr Gästezimmer mit einem winzigen privaten Bad. Dadurch, dass es vom Hochparterre eine Perspektive schräg nach unten bot, wirkte der Garten, der eigentlich von seinen Ausmaßen ein schmales Handtuch war, wie ein Park en miniature von scheinbarer Großzügigkeit. Rechts und links vorne an den Zäunen hatte sich Spalierobst im wahrsten Sinne des Wortes breit gemacht, ein schmaler, geometrischer Zick-Zack-Weg mit rechten Winkeln trennte die verschieden bepflanzten quadratischen Flächen. Obwohl der Herbst ja schon fortgeschritten war, wirkten Herbstblüher in Kombination mit immergrünen, kubisch beschnittenen Büschen gegen die saisonale Tristesse..
    René wollte schon seine Reisetasche entgeistert auf einen dafür vorgesehenen Schemel stellen, als Peggy, die mit ihrem Vater hinter sie getreten war, seine Bewegung bremste.
   "Mom, Dad! Papù und ich sind nicht nur Freunde. Wie sind ein Paar. Wir lieben uns. Und selbstverständlich wird er bei mir oben in meinem Bett schlafen."
    Alle drei wandten sich Peggy aus unterschiedlichen Gründen abrupt zu. René sah in den Augen von Peggys Eltern etwas ablaufen, dass an das Tageswetter erinnerte, das das  Fernsehen mitunter im Zeitraffer präsentiert: Heiterer Sonnenschein verblasste hinter immer dunkleren Wolken, bis sich bei beiden ein inneres Gewitter entlud, das gleich wieder einer Art versöhnlichem Abendrot Platz machte. Beide O'Neills waren natürlich viel zu beherrscht, um ihrer Tochter wegen dieses Überfalls eine Szene zu machen.
    Aber auch René musste ein einigermaßen dummes Gesicht gemacht haben. Waren doch die Liebenden bislang über Händchenhalten, Streicheln und ein zwei Zungenküsse nicht hinaus gelangt...