Montag, 6. Oktober 2014

Erinnerungen 2

Sadhu

Obwohl es in meinem Leben einige Begebenheiten gab, die nicht zu erklären waren, glaube ich weder an Hokuspokus, Weissagungen oder Übernatürliches. Meinen Déjàvu-Erlebnissen, von denen es auch einige gab, bin ich mit wissenschaftlich analytischer Hartnäckigkeit so lange auf den Grund gegangen, bis es eine nahe liegende Erklärung gab. Dennoch gibt es in meinen Erinnerungen auch ungeklärte Restposten. Einer davon ist die Begegnung mit einem Sadhu.

1979 hatte ich die Ehre mit Heinrich Harrer als Begleit-Fotograf der Inauguration eines Rimpotche im Kloster Phyang unweit der Ladakhischen Hauptstadt Leh beizuwohnen. Hinter dem Dalai Lama sollte der in den USA erzogene junge Mann der zweithöchste Würdenträger der Rotmützen-Buddhisten werden. Die festliche Zeremonie in etwa 4000 Meter Höhe zog sich bei trockener Gluthitze über mehrere Tage hin. Es war völlig ungewohnt, dass ich nicht texten musste, und weil ich deshalb bei den Interviews  nicht dabei zu sein brauchte, hatte ich Freiräume, in denen ich unseren Willys-Jeep M38 samt dem kleinen Kashmiri Karim als Fahrer zu kleinen Foto-Safaris nutzte.

Jemand hatte mir den Tipp gegeben, dass es in Richtung Chinesische Grenze ein Tal gäbe, in denen gigantische "Mani"-Steine lägen. Zur Erklärung: Die buddhistischen Pilger bauen auf ihren Wanderungen Mauern und Kegel aus schön glatt geschliffenen Steinen, die mit Gebeten in Sanskrit verziert sind.
Da mein Hauptcomputer hier in Italien
 einem Blitzschlag zum Opfer gefallen ist, habe ich mir
diesen Mani-Stein vorübergehend bei Wikipedia ausgeborgt.
Zurück in München werde ich diese Erinnerung
aus meinem Archiv ergänzen 

Als wir in das Tal abbogen, entpuppte sich das Ganze als nicht auf Anhieb zu verstehender Witz. Wir waren konfrontiert mit einem Bachbett aus einer Riesen-Welt. Vor uns tat sich ein Labyrinth aus einzeln im Sand liegenden, oval geschliffenen Felsen auf, die bis zu zehnmal größer waren als unser Jeep. Wir würden unserer eigenen Fahrspur folgen müssen, um wieder heraus zu finfen. Aber nach einigem Kurven wurde mir klar, wie ich der Perspektive beikommen konnte. Am Rand des "Bachbettes" stieg ich einige hundert Meter den Abhang hinauf, und tatsächlich sahen die Felsen von dort aus wie Mani-Steine und der Jeep wie ein Matchbox-Toy, das dazwischen geraten war.
Da ich den Aufstieg unüberlegt schnell bewältigt hatte, musste ich jetzt mit Zittern und Schnapp-Atmung büßen. Vermutlich waren wir nahe an der 5000er-Marke. Das 500er Tele wackelte jedenfalls ganz schön hin und her, so dass ich mich auf das Tausendstel Belichtungszeit und den Motor der Kamera verlassen musste. Als ich gerade aufhören wollte, tauchte im Sucher zwischen dern Riesen-Kieseln eine weiß gekleidete Gestalt auf, die sich - obwohl sie ihn gar nicht von dort sehen konnte - zielstrebig auf  unseren Jeep zu bewegte.

Wir kamen eine Viertelstunde später etwa gleichzeitig beim Fahrzeug an. Ich erkannte sofort, dass ich einen Sadhu vor mir hatte. Aber was machte ein Hindu eine gewaltige Fußmarsch-Distanz von gleich Gesonnenen in dieser Berg-Einsamkeit?

In gutem Englisch mit dem typisch indischen Singsang bat er mich, ihn zur Hauptstadt mitzunehmen. Ich hatte keine Bedenken, aber die Rechnung ohne meinen Fahrer gemacht, der als Kashmiri eben Moslem war und ja auf unserer abenteuerlichen Fahrt über den Zoji Lla und Kargil täglich seinen Teppich fürs Gebet ausgerollt hatte. Es entspann sich ein schier aussichtsloser Dialog über religiöse Toleranz, die mir wieder einmal die Unbeugsamkeit des Islam demonstrierte. Unter dem erinnernden Hinweis, wer ihn denn bezahlt habe, machte ich den Kompromiss-Vorschlag, mich mit dem Sadhu hinten auf die Ladefläche zu setzen, die mein Kollege in voraussehender Eingabe mit Matratzen aus dem Basar von Srinagar ausgepolstert hatte. Es hätte ja sein können, dass wir auf einem der Pässe hätten kampieren müssen.

Sobald wir uns gelagert hatten, raste der Jeep los, als sei Karim zu einer Rallye gestartet. Aber das Durchschütteln hinderte den Sadhu nicht, seine Magie an mir zu erproben. Ich nahm seine Frage-Technik gelassen hin, ohne das Geringste von mir preis zu geben. Aber dann erzählte er mir Dinge, von denen er einfach nichts wissen konnte: Dass meine Tochter - trotz aller Ängste und Probleme während der aktuellen Schwangerschaft - gesund zu Welt kommen und ihr bald ein Bruder folgen würde. Dass meine Lieblingsblüte die Magnolie sei. Dass die Schlüsselchen, die ich an einer geflochtenen Silberkette um den Hals trüge, gar nicht nötig seien, weil ich nie bestohlen werden würde.

Dann gab er auch ein wenig von sich preis. Er war auf dem Weg zum  Eis-Lingam in der Höhle von Amarnath im Kshmir, wo sich alljährlich im August die Sadhus zur Anbetung von Shivas eisigen Penis träfen. Vieles geriet über die weiteren Ereignisse in Vergessenheit, kam aber dann wieder in Erinnerung , als es im weiteren Verlauf meines Lebens tatsächlich so (oder so ähnlich?) eintraf.

Beim Abschied schenkte er mir nämlich noch einen in Silber gefassten Hodensack aus Elfenbein oder Knochen, den ich neben die Schlüssel hängen sollte. Wo immer ich auch sei, würden die Sadhus, die dieses Symbol trügen, mich weltweit beschützen. Aber selbst wenn ich ihn eines Tages in einem weit entfernten Meer verlöre, bedeute das kein Unglück, denn meine Fruchtbarkeit sei da ja schon erwiesen. Und es werde ein anderes Symbol der Stärke an seiner Stelle für meinen Schutz sorgen...

Tatsächlich verlor ich den Talisman des Sadhus bei geradezu grotesk untalentierten Surf-Versuchen vor Guadeloupe, weil die geflochtene Silberkette aus Indien bei einem Überschlag riss. Tatsächlich trage ich als Obelix heute ein silbernes Wildschwein an einer venezianischen Kette um den Hals. Ein gemeinsames Geschenk - quasi "als Wegzehr" - von Mutter und Schwiegermutter.

Glaube ich deshalb an die Wirkung von Talismanen? Klar. Mal helfen sie oder auch nicht.