Sonntag, 15. Juni 2014

Strohfeuer




  Epilog
 


   Als er alles noch einmal durchgelesen hatte, war Johannes plötzlich klar, dass er sich während des Schreibens ebenfalls in Peggy verliebt hatte. Nicht in die Peggy, die René glaubte, durch seine Forderung nach Fitness und seine Styling-Tipps geschaffen zu haben. Auch nicht in die Peggy, die sie letztlich selbst aus sich gemacht hatte, sondern Johannes war noch immer  in eine Peggy posthum verliebt, die dem "Menschlichen Allzumenschlichen" Vorrang vor ihren geistigen Fähigkeiten eingeräumt hätte. - Also sehr nahe an den Menschen heran gekommen wäre, den er in dieser nichtsnutzigen Chronik geschaffen hatte. Das Problem war eben, dass Johannes kein Genie war und deshalb letztlich keinen Zugang zu den Sonderheiten eines Genies fand. Er war aber dennoch davon überzeugt, dass er ihren viel zu frühen Tod - sei er nun Zufall oder eine unglaubliche transzendentale Verknüpfung gewesen - verhindert hätte.
   Aber wer wie Peggy ohne eigene Lebenserfahrung derart erfolgreich in die komplizierten Denkvorgänge eines schwierigen Menschen eingedrungen war, schuf eben seine eigenen Maßstäbe, und wenn Wissenschaftler und Nietzsche-Experten weltweit ihr auf diesem Weg der philosophischen Höhlenforschung gefolgt waren, musste er tolerieren, dass Peggy abgehoben hatte.
   Natürlich hatte es Johannes zwischenzeitlich längst nachgeholt, sich in Peggys Arbeiten und Vorträge hinein zu lesen. Er verstand auch, wieso das zwischen René und Peggy nie Thema war. Mag ja sein, dass Renés Fähigkeiten, sich intellektuell einzulassen, nicht so ausgeprägt waren wie bei Johannes. Doch auch der Chronist stand letztlich vor der Tatsache, dass sein Verstand nicht ausreichte, um all das nachzuvollziehen. Der Buchtipp seines Sohnes, "Nietzsches Kisses" des Amerikaners Lance Olsen, das ja schon drei Jahre vor Peggys Dissertation 2006 erschienen war, half ihm zumindest ein wenig ihrer Betrachtungsweise näher zu kommen. Letztlich kam er - um sich zu beruhigen - zu folgendem Schluss:
   "Wenn Nietzsche schon aus seiner Zeit heraus nicht in der Lage war, Frauen zu verstehen, wieso sollte ich dann am Scheitelpunkt der Emanzipation Peggy begriffen haben?"
  Johannes hatte beide übrigens nach jenem Sommer nicht mehr in realiter gesehen. Aber er und sie hatten ja Skype und so sahen sie sich - mehrfach und über tausende von Kilometern hinweg - mal glasklar, mal in zappeligen, milchigen Bildern, mal mit zerhacktem Ton: Die Stationen waren Boston, Melbourne, Kapstadt, dann wieder London zur feierlichen Verleihung der Doktor-Würde. Dann gab es eine Winterreise durch die wichtigsten deutschen  Universitätsstädte. Höhepunkt war Ende Mai ein Symposium an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
   War es, weil die Reiserei ihn ein wenig müde gemacht hatte. Oder weil nach der Golf-Euphorie, die er über Weihnachten und Neujahr am Kap erlebt hatte, der wissenschaftliche Alltag ihm in grauen deutschen Städten aufs Gemüt geschlagen war - René nutzte den Aufenthalt in Heidelberg vorsorglich, um beim Sohn eines früheren Kunden vorbei zu schauen. Der wandte in einer Klinik bei Darmstadt ein neues Verfahren an, bei dem versteckte Krebszellen anhand ihres erhöhten Blutzucker-Bedarfs aufgespürt werden konnten. Sie erschienen beim Scannen auf dem Monitor unmittelbar wie kleine Sterne. René hatte eine "Milchstraße" in sich, die von der Leber bis zum Dickdarm reichte.
   Über das, was bei der Heimfahrt nach LaGrange abgelaufen war, kann man natürlich nur spekulieren. Es ist aber anzunehmen, dass der ehemalige Werbe-Profi kein derart tragisches Ende seiner letzten großen Liebe dulden wollte. Johannes, der ja auch das schwarze Temperament seines Freundes kannte, nahm an, René habe bei der Heimfahrt eine schleichende Streit-Kampagne mit Peggy begonnen, die mit Annäherung an LaGrange nichts mehr zuließ, als eine sofortige Beendigung ihrer Beziehung. Maurice fand später in den Unterlagen, dass René Peggy punktgenau mit einem bereits gekauften Ticket nach England zurück geschickt hatte. Aufschluss gaben auch abschließend noch gemailte Zitate, die er auf Renés Computer gefunden hatte.

   Bezeichnender Weise schickte Peggy dieses Zitat:                                          

Don't you know I love you but am hopeless
at fixing the rain? But I am learning slowly

to love the dark days, the steaming hills,
the air with gossiping mosquitoes,
and to sip the medicine of bitterness,


   Aus „Dark August“ von Derek Walcott

   René blieb ihr nichts schuldig
Von dem, was du erkennen und messen willst, musst du Abschied nehmen, wenigstens auf eine Zeit. Erst wenn du die Stadt verlassen hast, siehst du, wie hoch sich ihre Türme über die Häuser erheben.

    Und eigens unterstrichen:

Das Wissen um richtige Freundschaft ist der Frau nicht gegeben, sie kennt fast ausschließlich nur die Liebe.

Friedrich Nietzsche

   Vier Wochen später war René tot, und Johannes hatte von seinem Zustand nichts geahnt, bis Nathalie ihn eines Morgens anrief:
   "Papù möchte sich von seinem Dicken verabschieden. Er kann nicht mehr sprechen, aber er lächelt ganz lieb. Ich soll dir sagen, das mit der Kaviar-Orgie wird nachgeholt..."

   Kurz vor Weihnachten - einige Wochen nach dem verunglückten Requiem - summt bei Johannes auf der Burg das Handy. Ohne Gruß plärrt Luca, ein DHL-Fahrer, der Johannes schon oft beliefert hat:
   "Don Giovanni, wenn du glaubst, dass ich deine überdimensionierten Weihnachtsgeschenke allein zu dir auf die Piazza schleppe, dann irrst du gewaltig. Komm gefälligst runter und hilf mir!"
   Als Johannes am Fuß der Gassen ankommt, wird der eigentlich lustige, kleine und drahtige Luca mit seinem gegelten Punker-Kamm von einem Bretter-Gehäuse überragt, wie es Museen und Galerien zum Verschicken von Bildern verwenden. Das alleine hoch zu schleppen, wäre in der Tat eine Zumutung gewesen. Selbst zu zweit sind sie ganz schön außer Atem, als sie  das Gehäuse in die Cantina wuchten. Weil bald Weihnachten ist, gibt er dem Boten einen Zwanziger und macht sich sofort als der verschwunden ist, mit einem Kuhfuß und einem Hammer ans Auspacken:
   Zu seiner Überraschung - trotz seiner bestimmten Vorahnung - findet er zwei in Rupfen eingewickelte Gemälde. Als er das kleinere ausgepackt hat, kann er Tränen nicht länger zurück halten, denn es ist die "Madagassische Marktfrau" von Guillaume. Jenes von Johannes so geliebte Bild, das im Katalog von Guillaumes Ausstellung am Bois de Boulogne mit 25.000 Euro ausgezeichnet und später im Internet als verkauft gemeldet worden war. Mit roter Ölkreide steht eine Widmung hinten auf der Leinwand:
   "Gewidmet dem Wort-Jongleur vom alten Pinsler, dem er im Sonnenuntergang des Lebens zu mehr Farbe und Liebe verholfen hat... Guillaume".
   Das zweite Bild ist der "Faun im Strohfeuer". An ihm hängt seitlich ein Brief-Kuvert mit der Aufschrift: Von "Maurice für Johannes". Der Brief schickt Johannes auf eine emotionale Achterbahn, die ihn am Ende mit Schnappatmung zurück lässt:

    Lieber Johannes!

René hätte sich bestimmt gefreut, dass Du am Ende Besitzer dieses Bildes wirst. Ob er sich über die Chronik seiner letzten Liebe gefreut hätte, lasse ich mal dahin gestellt. Auch Mutter und Nathalie waren nicht wirklich glücklich über ihre von Dir beschriebenen Rollen. Dennoch war das Votum der Clique zu meiner Überraschung einstimmig. Du hast das Gemälde verdient -  vor allem, weil Du vermutlich auch der Einzige gewesen wärst, der es aufhängt.
Aber Du darfst das wohl auch ein wenig meiner Übersetzung zuschreiben, weil ich bei einigen Passagen meinen erweiterten Kenntnis-Stand eingebracht habe, damit Deine Dichtung näher zur Wahrheit rückte.
Anfang November an Guy Fawkes war ich England, und weil es ja Peggys Geburtstag gewesen wäre, machte ich meine Aufwartung bei den O'Neills in Hastings. Sie waren überrascht von mir ein Manuskript mitgebracht zu bekommen, das von einem Mann geschrieben worden ist, den sie nur aus Peggys Erzählungen kannten. (Ja, bedank Dich nur - auch diese erste Vorab-Übersetzung habe ich angefertigt!!!).
Nach der Lektüre waren sie gerührt und amüsiert. Du hast tatsächlich ihre Trauerarbeit ein wenig erleichtert, obwohl sie ja im Besitz der ganzen Wahrheit waren.
Du weißt vielleicht, dass bei solchen merkwürdigen Todesfällen immer eine kriminaltechnische Untersuchung inklusive forensischer Pathologie durchgeführt wird. Das Gesamt-Ergebnis wurde mit dem Kürzel SID überschrieben: Sudden Infant Death.
Ich erbat von den O'Neills die Erlaubnis, den gesamten Bericht einsehen zu dürfen, denn wann hört man schon einmal von einer 28jährigen mit derartiger Todesursache?
Und jetzt kommt es:  Peggy war laut Obduktion noch "Virginia Intacta", eine Jungfrau deren Geschlechtsorgane bei einem Gardemaß von 187cm in dem Entwicklungsstadium einer Neunjährigen stehen geblieben waren.
Wie konnten  die Beiden uns allen den Eindruck vermitteln, sexuell ginge zwischen ihnen immer die Post ab. Dwight meinte wohl nicht ganz ernst, es könne ja sein, dass die zwei Praktiken angewendet hätten, "wie wir Buben das machen"...
Ich bin ja nicht prüde, aber das wollte ich mir dann doch nicht vorstellen. Ich bin also noch einmal zu den O'Neills und gab vor, das Dachgeschoss sehen zu wollen, in dem Peggy mit meinem Vater so glückliche Stunden verlebt hatte.
Es war wirklich überraschend, wie entkrampft die beiden die für mich so heikle Klärung dieser Fragen mit angegangen sind. Es gab auch keine Geste oder Äußerung, dass die Eltern die Liebe zu einem bald 50 Jahre älteren Mann degoutiert hätten.
Jedenfalls glauben wir, dass wir das Geheimnis entdeckt haben: Peggy hatte in ihrer Bibliothek mehrere Bücher über "Tantra und Sex". Möglicher Weise entstand dadurch auch diese Gandhi-Aura, von der Du schreibst...

Ich wünsche Dir ein schönes Weihnachtsfest.
Und bis bald!

Maurice



                                                     E N D E






Donnerstag, 12. Juni 2014

Strohfeuer




   25. Kapitel


  Als es soweit war,  hätte  Johannes niemals gedacht, dass die Geschichte so zu Ende ginge. Er selbst hatte sich ja lange Zeit als Zeuge einer einzigartigen Lovestory mit Happy End gesehen. Jetzt mit dem Wissen des Chronisten, war die Liebe zwischen René und Peggy zwar immer noch denkwürdig, aber sie war eben auch Teil seiner aktuellen Autoren-Phantasien..
   Was war das für ein Frühjahr gewesen! Peggy und Dwight hatten wegen der  Kosten vorgegeben, ein Paar zu sein, um die günstigsten Flüge von Bergerac nach London und zurück zu ergattern. René fuhr sie jedes zweite Wochenende, weil ja Sparen zu seinem zweiten Hobby geworden war.Obwohl er dort ja keine alten Kumpel vom "Flugwetter" hatte, machte ihm das Spaß, weil er sich in Unkenntnis des akademischen Betriebes von seiner Chauffeur-Tätigkeit für Dwight Vorteile für Peggy versprach.. Die terminliche Anforderung an der Uni, war ja  tatsächlich für die End-Semester und jene, die sie zu prüfen hatten, quasi identisch. Da aber Dwight mit den Prüfungen von Peggy gar nichts zu tun hatte, wäre auch kein Interessen-Konflikt für Vorteilsgewährung zu unterstellen gewesen.
  Wenn Rigorosen oder andere Vorprüfungen anstanden, verlegten die beiden den Schwerpunkt ihres Lebens kurzerhand noch einmal nach London, obwohl sich beide längst für ein Leben in LaGrange entschieden hatten. Mal war es auch Urmel, der sie abholte, weil Guillaume weder ein Auto, noch jemals den Führerschein gemacht hatte. Tatsächlich aber hatte Dwight in diesem von Legenden durchwobenen Sommer seinen Sechzigsten, und weil Guillaume dem bunten Dwight mehr oder weniger die Abkehr von der Monochromie zu verdanken hatte, stand am besagten Morgen ein  links gesteuerter Vauxhall VXR8 mit pinken Schleifen vor seinem Atelier, und niemand musste mehr bis zum Ende der Semester Fahrdienst leisten.
   Aber gerade weil alles so schön entspannt war, verlangte der Fortgang der Geschichte offenbar eine dramatische Wende: Mitte Juni - in einer dieser Prüfungswochen - kam Nathalie mit den Kindern aus Kanada. Aber nur, um sie beim Opa zu deponieren. Denn sie selbst war dahinter gekommen, dass ihr Riesenbaby es während der Dreharbeiten mit einem vollbusigen, sommersprossigen Script-Girl aus Schottland trieb. Was sie nun durch ihre Präsenz am Set zu unterbinden hoffte. Als ihr René mitgeteilt hatte, dass Peggy wieder in LaGrange sein würde, hatte sie natürlich angenommen, ihr fürsorglicher Vater hätte dieses Arrangement ausschließlich getroffen, um seiner Prinzessin das Dasein zu erleichtern. Aber sie musste zu ihrem Ärger von ihrem Erzeuger erfahren, dass es in der Gunst des Königs nun eine Art Wachablösung gegeben habe.
   Nathalie geriet in den Konflikt, ob sie ihre Ehe retten oder den angestammten Platz als Hausherrin im Royaume wieder zurück erobern wollte. Nicht überraschend entschied sie sich für LaGrange, weil sie nach einer Aussprache mit Betancour zur Erkenntnis gekommen war, dass sie eigentlich nicht den Kanadier selbst, sondern das Standing liebte, dass er ihr ermöglicht hatte.
   Sie kehrte also überraschend schnell nach LaGrange und zu ihren Kindern zurück, musste aber erkennen, dass ihr Vater jeglichen Versuch Nathalies unterband, Peggy in die Rolle der Nanny zurück zu drängen. Zum Eklat kam es aber aus einem anderen Grund. Nicht weil Peggy weiter auf die alleinige Nutzung des "Dschungel-Würfels" und vormittägliche Ungestörtheit für ihre Studien pochte, sondern weil René für Golf freie Samstage mit schönem Wetter den "samedi sans" eingeführt hatte. Ob er das getan hatte, um Peggy nach und nach das Erschrecken vor der eigenen Nacktheit zu nehmen, war nicht mehr zu klären. Jedenfalls machte sie mit, und auch Renés Enkel fanden es großartig, daheim mal einen ganzen Tag nackt herum zu laufen. Nathalie wusste allerdings nicht, was sie Samstag morgens erwarten würde. Es hatte sich da vor dem Frühstück in ihrer Abwesenheit nämlich ein Ritual ergeben, das bei ihr, die ihre genitalen Reize ja nicht zu selten als Waffe eingesetzt hatte, einen hysterischen Schreikrampf auslöste:
   Da lagen die vier gemeinsam und wie Gott sie erschaffen hatte beim Papù im Bett. Jeder hatte sein Morgen-Getränk dabei und brachte sich lautstark in irgendwelche spontan erfundene Rätsel-Spiele ein. Alles andere als entspannt reagierte Nathalie. Sie zerrte ihre nackten Lucky und Isa aus dem Bett, ohrfeigte Peggy und bezeichnete ihren Vater als seniles Schwein. Eine Stunde später hatte sie wie üblich jemanden gefunden, der sie samt ihrer Kinder zur Mutter nach Paris chauffierte. Die war zuvor in einem lautstarken Telefonat von dem Sündenpfuhl im Haus des Ex informiert worden und war über das Kommen ihrer Tochter aus diesem Anlass nicht erfreut. Sie hatte vergeblich versucht, ihre Tochter von der Harmlosigkeit des Gesehenen zu überzeugen. Sie ahnte vielleicht, dass die Überreaktion von Nathalie das eifersüchtige Resultat der Zurücksetzung war.
   Am Sonntag darauf rief René Johannes in seiner ligurischen Berg-Einsamkeit an, und lud ihn ein, doch den klimatisch wesentlich angenehmeren Sommer am Atlantik zu verbringen. Der ließ sich nicht zweimal bitten und geriet so überhaupt erst in die Position des Chronisten.
   Johannes überlegte kurz, wie er den Text nun am besten zu Ende brächte, denn der war ja ohnehin schon viel zu lang geraten. Da blieb er an einem Begriff hängen, den er für sich selbst schon oft verwendet hatte: Den "Tag mit Ausrufezeichen". Nicht diese Tage, die möglicherweise die gesamte Menschheit betrafen und die Welt veränderten, sondern diejenigen, die zu ganz bestimmten Konstellationen im Leben des Einzelnen führten, entschieden über dessen persönliches Schicksal. Unmittelbarer als ein kollektiver Weltuntergang konnte das Individuum von einem solchen "Tag mit Ausrufezeichen" erschüttert werden. Er musste also in dem restlichen Text vermeiden, dass der Leser darauf kam, dass er dieses betroffene Individuum war...

  Peggy - wenn sie denn den Blick riskiert hätte - wäre ein Johannes im Adamskostüm bei den Bunker-Treffen ja schon längst "in Betracht" gekommen. Ganz anders war das umgekehrt:
  Der Deutsche kannte das lange Reff ja nur in ihren unsäglichen Häkel-Bikinis. Beim "samedi sans", den er ungeniert mitmachte, war er auf Renés Privatgrund nun der Erste aus der Bunker-Clique, der Peggy hüllenlos sah. 
   Natürlich hatte sie sich durch das Fitness-Training an Regentagen, das beide in LaGrange unmittelbar wieder aufgenommen hatten, athletisch verändert. Der die Maschen dehnende Hängehintern war verschwunden, die langen Beine hatten Spannung wie der fast knabenhafte Apfel-Po, und die Haltung des Oberkörpers war mittlerweile gerade und selbstbewusst. Wie jeder Mann, der an Frauen interessiert ist, konnte sich Johannes aber  auch nicht verkneifen  immer wieder verstohlen ihre primären Geschlechtsmerkmale abzuscannen. Was zu einer rätselhaften Erkenntnis führte.  Das kupferrot hauchdünn "beflaumte", magische Dreieck, wollte genauso wenig zu der so hoch aufragenden Frau passen, wie diese sich kaum wölbenden Brüste mit den Warzen ohne Hof in der Größe und Farbe unreifer Preiselbeeren. Sie erschien ihm spontan als Reinkarnation von einer der drei Grazien, die Lukas Cranach der Ältere so um 1530  dargestellt hatte...
   Ein mit Proportionen sicher umgehender Mensch wie Johannes störte, dass da kein Einklang war zwischen Reife und Geschlecht, aber er verwarf das natürlich gleich wieder, weil er ja bereits anders konditioniert war.  Er konnte dennoch nicht anders, als immer wieder darüber nachzudenken.                
  Johannes war ein Mann, der die Frauen unabhängig vom Geschlechtlichen liebte. Und tatsächlich fühlten sich dann immer wieder Frauen, die erkannten, das er ihr Wesen in den Vordergrund stellte - auch sexuell zu ihm hingezogen. Obwohl er ja weit davon entfernt war, ein Adonis zu sein. Bei seinen vielen ethnologischen Studien - wie er sein Fremdgehen weltweit entschuldigte, das letztlich ja zu seiner Ehe im Wartestand geführt hatte - war ihm ein derartiges Fabelwesen wie Peggy noch nie begegnet. Gab es das? Jungfrau, Intelligenzbestie und dann noch Kokotte?
   Johannes musste auch den Überlegungen von René im Hinblick auf seine Assoziationen zu Gandhi recht geben. Wenn er dem "Lever" am Samstag Morgen beiwohnte - natürlich nicht im Bett, sondern auf einem bereit stehenden Sessel mit Handtuch unter dem nackten Hintern - war auch er unweigerlich an den Film mit Sir Ben Kingsley erinnert: Die gleiche weit entfernte Erhabenheit, Gelassenheit und Sanftmut. Hätten die Zwei eine Sekte  oder eine globale Bewegung gegründet, er wäre sofort beigetreten.
   Und dann kam dieser "Tag mit Ausrufzeichen". Peggy und Dwight waren die entscheidende Woche vor der Sommerpause fort gewesen. Die Examen hatten angestanden. Dwight hatte dem Dekan gesagt, dass er aus dem Senat ausschiede und die Uni verließe. Peggy hatte in den mündlichen Prüfungen derart brilliert, dass alle nur noch darauf warteten, ob ihre Dissertation  das noch  toppen würde.
   Noch immer hatte Johannes außer Andeutungen keinen Schimmer, was Peggys Forschung berühren würde. Ja, er war fast ein wenig sauer gewesen, dass Peggy seine Hilfe weder zum Redigieren ihrer in Deutsch zu verfassenden Arbeit, noch um Feedback zu erhalten, in Anspruch genommen hatte. Einmal nur ließ eine leichtfertig dahin gesagte Äußerung ahnen, dass sie ihn, den Autoren, gewissermaßen zwar als Freund aber doch auch als Konkurrenten sah. Sie sagte nämlich - auf ihre fertige Arbeit angesprochen:
   "Hoffentlich gibt es beim Druck keine Verzögerungen, denn ich weiß, dass auch ein paar Machos bereits an diesem Thema arbeiten..."
   Da hatte Johannes endgültig die Vermutung, es handle sich um ein "Frauen-Ding".
  Es dauerte an besagtem Tag bis zum Nachmittag, ehe Peggy das Ausrufezeichen setzte. Die Bunker-Clique hatte schon ein paar Drinks aus den Kühltaschen intus, als eine Peggy in völlig neuem Erscheinungsbild auftrat. Den kleinen Professor an der Hand stolzierte sie den Holzsteg bis zum Sand hinunter. Sie waren wohl direkt vom Flughafen gekommen, aber hatten sich kleidungsmäßig in London bereits auf ihren Auftritt vorbereitet. Dwight gab den schwulen Beachcomber aus Key West in einem farblich nicht einfach zu beschreibenden Hawaii-Hemd und knalligen Bermudas. Aber Peggy versetzte doch die meisten in Schrecken. Sie sah aus wie eine Irokesin auf dem Kriegspfad. Nicht nur, dass sie ihre übliche Kochtopf-Frisur bis auf einen steif gegelten von der Stirn in den Nacken verlaufenden Kamm ihrer roten Haare rasiert hatte, sie trug auch Piercings in Nase, Lippe und Zunge...
   Und dann zog sie ich aus. Und zwar komplett. Sie streifte ihren Pocahontas-Umhang in einer etwas übertrieben dramatischen Weise ab, die aber Laute des Staunens erfolgreich provozierte, als zu sehen war, dass sie darunter nichts weiter trug, als einen Diamant-Sticker an ihrem Bauchnabel. Vor allem als sie Joceline mit ihrer gepiercten Zunge einen verlangende Kuss gab, den die Kunsthändlerin nicht abwehren konnte und wie im Reflex mit einer Hand an Peggys Hintern erwiderte. Dann zog Peggy René zu sich hoch und rannte mit ihm in die flache Brandung des abebbenden Atlantiks, umschlang ihn dortselbst mit ihren langen Beinen, als wolle sie den Akt mit ihm hier gleich an Ort und Stelle vollziehen. Aber sie flüsterte ihm nur wie die ewige Geliebte eine Menge Dinge ins Ohr.
   Später am Tag - als sich Peggy für ein Diner mit René im "La Grange Sur Lierre" fertig machte, berichtete René gespielt resigniert:
  "Jetzt übernimmt sie das Kommando. Sie hat ihr Examen mit Auszeichnung absolviert. Die Vorveröffentlichung von Teilen ihrer Doktorarbeit im Internet durch ihren Doktor-Vater hat eine weltweite Flut von Anfragen für Vorträge und Gastseminare  ausgelöst; alle hoch bezahlt und so mit Flugtickets und Hotels hinterfüttert, dass sie mich überall mit hinnehmen will. Sieht so aus, als käme ich so im nächsten halben Jahr nicht nur nach Boston. sondern auch nach Australien und Südafrika. Die werden ganz schön staunen, wenn diese Irre vom anderen Stern mit so einem Taper-Greis wie mir im Schlepptau auftritt.
   Bei der Bezeichnung "Irre vom anderen Stern" kam Johannes wieder in Erinnerung, wie die beiden am Nachmittag aus dem Wasser gestiegen waren und ohne zur Clique zurück zu kommen, südwärts Hand in Hand auf dem festen Watt ausgeschritten waren. Kurz vor Weihnachten war ja James Camerons 3D-animierter Fantasy-Film "Avatar" in die Kinos gekommen. Peggy hätte gut die Fleisch gewordene Avatarin geben können.
   Aber die beiden brauchten zur Erzeugung ihrer Aura eben keine Computer. Allein das tiefe Licht der Nachmittagssonne dokumentierte das Außergewöhnliche dieses Paares. Der Mann dunkelbraun, die Frau wie Pfirsich-Marzipan. Beide hoch aufgeschossen und langgliedrig wie abessinische Krieger. Unbeirrt schritten sie voran in Richtung Bassin D'Arcachon als läge dort hinter dem Horizont die Zukunft einer niemals endenden Liebe...

Samstag, 7. Juni 2014

Strohfeuer




   

   24. Kapitel


  In diesen Iden des März gestaltete sich das wirkliche "Leben vor dem Tod" als eine Aneinanderreihung von körperlichen und seelischen Genüssen:
      Morgens nahmen die Männer im Stehen, das typische französische Frühstück, bestehend aus einer Boule Milch-Kaffee und einem frisch aufgebackenen Tiefkühl-Croissant ein. Was ihre Ungeduld dokumentierte, auf den Golfplatz zu kommen. Peggy noch im Morgenmantel erinnerte da noch in ihrer Zerrupftheit an ein Kampfhuhn nach einer Niederlage. Ein Eindruck, der von der Art, wie sie in ihrem Porridge herum pickte, nur noch unterstrichen wurde.
   Meist warteten Urmel und Jean-Jaques, die eine Fahrgemeinschaft vom Strand herauf bildeten, schon am ersten Abschlag. Punkt neun ging es los. Sie spielten in Zweierteams gegeneinander, in denen der überragende Koch wegen der Chancen-Gleichheit jeden Tag mit einem anderen Partner spielte. So glich sich das mit der Zockerei aus, denn natürlich ging es immer um etwas: Mal um eine Flasche Calvados, mal um eine Pulle Champagner und am Freitag um ein Essen, das nicht im "Cajun" stattfand, sondern in anderen Gourmet-Restaurants. Beispielsweise in Margaux oder Porges, damit Jean-Jaques auch mal seinen "day off" genießen konnte.  Am Wochenende wurde nicht gespielt. Da mieden die Vier den Golfplatz wegen des Andrangs aus Bordeaux. 
   Bei diesen Gelagen, die die Brieftaschen der Verlierer ja nur jeweils zur Hälfte und nach dem Gesetz der Serie auch nur einmal in vierzehn Tage belasteten, herrschte zur Vermeidung der "Balzerei" absolutes Frauen-Verbot. Mit dem hatte Peggy überhaupt kein Problem, wohl aber Yvette, die Lebensgefährtin von Jean-Jaques, die ihn am Ruhetag des "Cajun" gerne für sich gehabt hätte. Joceline - so sie um diese Jahreszeit für Kurztrips aus Paris herein schneite - machte ihrem Majordomus Urmel dann auch gerne mal eine Szene. Johannes jedoch ganz frisch unbeweibt und ohne Verpflichtungen, begann die Unabhängigkeit von derlei Genörgel mehr und mehr zu schätzen. Später würde er diese Tage als die besten, weil intensivsten, seines Lebens bezeichnen.
   Natürlich gewann immer das Paar, in dem Jean-Jaques spielte. Der Klassen-Unterschied war einfach zu groß. Selbst wenn er beim Abwechseln mitunter einen total verhauten Schlag seines Partners ausgleichen musste. Die Kreativität, die der Bretone am Herd entwickelte, demonstrierte er ein ums andere Mal auch aus desaströsen Lagen.
   Nur ein Beispiel - um Nicht-Golfer nicht zu langweilen: Urmel hatte einmal auf der dritten Bahn, den Ball weit nach links in die Pinien geschlagen, wo es aber kein "out of bounds" gab. Mit seinen präzisen Treib-Schlägen wäre es für seinen Partner dennoch ein Leichtes gewesen, den Ball aufzugeben und selbst mit dem Srafschlag das Ergebnis zu retten. Jean-Jaques  aber fand den Ball nicht nur, sondern sah als Einziger von den Vieren auch eine Möglichkeit den Ball direkt zu spielen - also nicht seitwärts auf den Fairway zu chippen. Er zog sein Sandwedge derart präzise und voll durch, dass der Ball steil aus einer Lücke im Wald-Dach stieg und wie selbstverständlich bei dem Par 4 an der Fahne eine Punkt-Landung machte. Selbst Urmel konnte da den Put zum Birdie nicht vorbei schieben.
    Klar, dass es nach solchen Runden beim obligaten Sonnenbad an der Schindel-Fassade  des "Cajun" ordentlich etwas zum Angeben gab. Beim Blick auf die immer tobende Brandung wurden Austern und Bulots mit Aioli und Baguette von einem einfachen aber guten Kriter begleitet Das ging natürlich auf Kosten des Hauses. So blieben sich die Freunde gegenseitig nie etwas schuldig.
   In den Glaswürfeln hatte derweil Peggy die Ruhe zum Studieren und Schreiben genutzt. Das war nun ihr Elixier. Im Vergleich zum "Morgen-Grauen" erstrahlte sie bei der Heimkehr der Recken in ihrer Zufriedenheit, und  in dieser Aura erschien sie sogar  Johannes mitunter als durchaus  sexy.
   Es gab noch eine interessante Begleiterscheinung. In dem Maße, in dem die Männer nach jeder Runde ihr Können stetig verbesserten, schien sich durch den Fortschritt in ihrer Arbeit bei Peggy ein neues körperliches Selbstbewusstsein einzustellen, als hätte sie nebenbei heimlich trainiert. Was immer da im Schlafzimmer zwischen den Beiden ablief, diese intensive Körperlichkeit übertrug sich derart auch auf René.  Er wirkte um Jahre jünger, und bei einem Turnier zu dem er  - ohne den anderen etwas davon zu sagen - an einem Sonntag alleine fuhr, unterspielte er sein Handicap um acht Schläge  und zog damit an Urmel und Johannes vorbei.
  Wenn es der Wind zuließ, wurde sogar gelegentlich schon die Parole "um drei am Bunker" ausgegeben. Mit kaum mehr als 15 Grad, war der Atlantik zwar für die meisten zum Baden noch zu kalt, aber Urmel hatte heraus gefunden, dass er durch das schlagartig in die Brandung Klatschen, seine "Schlabber-Tage" verlängern konnte. Das machte ihn von Tag zu Tag erträglicher, und sogar mit Peggy kam er so viel besser zurecht. Was ihm zwar die Gunst des Royaumes erneut gewährte, aber die alte Viersamkeit nicht wieder herstellte und eine Rückkehr in die Glaswürfel nicht sehr wahrscheinlich machte. - Selbst als Dwight nach London zurück gekehrt war und Johannes wegen Bauarbeiten an seine mittelalterlichen Bruchbunde nach Ligurien zurück wollte. Er war sowieso schon vierzehn Tage länger geblieben, als er ursprünglich vorgehabt hatte.
   "Was treibt dich zurück in deine Berg-Einsamkeit?" fragte ihn René bei der Abreise, die seinem Freund sichtlich schwer fiel. Johannes wusste selbst, dass auf seine Handwerker Verlass war und sie viel schneller voran kamen, wenn er nicht dazwischen funkte. Auch das knapper gewordene Geld war eigentlich kein Argument. Die Kosten für den Haushalt, an dem er sich paritätisch beteiligte, ließen ihn besser zurecht kommen als das Single-Dasein in seinem Burgdorf. Sogar der Golf-Club hatte ihm aus alter Freundschaft einen Mitglieder-Preis eingeräumt, bei dem ihm die Runde billiger kam als die Stunden-Miete der Tennis-Halle, die sie immer aufsuchten, wenn es zu stark regnete.
   Nein, der heftige Selbst-Analytiker, der er ja nun einmal war, entdeckte etwas Schreckliches, nie da Gewesenes: Eine Charakter-Eigenschaft, die er stets als Schwäche gebrandmarkt hatte: Eifersucht. 
  Weder auf René noch auf Peggy, noch auf den guten Sex den sie offensichtlich hatten, sondern auf das Glück der beiden miteinander. Hätte Johannes da schon vollständig wahrgenommen, dass er Peggy auf einer intellektuellen Ebene so nahe gekommen war, wäre das verrückte Huhn in seinen Augen vielleicht nicht über Renés Tod hinaus ein Neutrum geblieben und von ihm zu retten gewesen.   Es war ein zwar keuscher aber eben doch ein Neid auf die Art von Glück, das ihn verlassen hatte. Er machte sich auch keine Hoffnung, das ihm ähnliches widerfahren könne wie dem asketischen und drahtigen René mit seinem umwerfenden Charme. Bei objektiver Betrachtung war Johannes eben ein zwar sportlicher aber dennoch aus dem Leim gegangener, älterer Herr, für den es künftig daher weder eine seelische noch sexuelle Verheißung geben werde. Selbst der Suffkopf Urmel war da noch chancenreicher als er.
  Es war daher aus dieser Sicht auch fraglich, ob er in jenem, für seinen Freund so glorreichen Jahr noch einmal nach LaGrange käme. Da sich Nathalie mit Kind und Kegel angesagt hatte, wäre für ihn im Royaume kein Platz. Zu Joceline und Urmel wollte er nicht. Bei Guillaume würde in den Semesterferien Dwight sein und beim halbseitig gelähmten Jean-Francois  in dieses Schicksalshaus einzuziehen, wäre ja der Gipfel der Geschmacklosigkeit gewesen. Ein Aufenthalt im Hotel oder einem Miet-Appartement kam finanziell für Johannes  nicht in frage.
  Aber dann kam ja wieder alles ganz anders.

Sonntag, 1. Juni 2014

Strohfeuer




   23. Kapitel



   Bevor er weiterschreiben konnte, geriet Johannes für Minuten in ein emotionales Tief. In Erinnerung an jenen hoffnungsfrohen Jahresbeginn, über den er so leichthin texten wollte, wurde ihm in aller Deutlichkeit bewusst, wie sehr die Protagonisten dann doch ihrem Schicksal unausweichlich ausgeliefert gewesen waren...
   Johannes selbst hatte seine fast neunzigjährige Mutter durch Sekunden-Tod am 2. Januar verloren. Sie war in dem Appartement-Haus für betreutes Wohnen unten in den Fahrstuhl gestiegen und saß tot auf ihrem Rollator als er ihr Stockwerk erreichte. Obwohl seit Jahren ein "herzchirurgisches" Ersatzteil-Lager hatte sie ihren letzten Willen nicht präzise genug verfügt. Sie hinterließ eine Restfamilie im juristischen Erbschaftsstreit mit Zwangsversteigerungen am Ende. Um die konnte sich Johannes aber nicht kümmern, weil langjährig vertraute Geschäftspartner und Mitarbeiter mit einem Buyout gleichzeitig dafür gesorgt hatten, dass er seine Firma verlor. 
  Schlimmer als das Verrauchen von Großteilen der Abfindung und der Versteigerungserlöse in der Finanzkrise traf ihn aber die Orientierungslosigkeit und der Verlust seiner Wichtigkeit. Was hatte er noch über den Loriot-Film "Pappa ante Portas" gelacht und sich vorgenommen, nicht komisch zu werden, wenn er einmal mit dem Arbeiten aufhören sollte. Er wurde nicht komisch, sondern boshaft und unerträglich launisch, als ihm klar wurde, dass ein bald 60jähriger nicht mehr für andere Aufgaben gesucht wird, und er auch nicht so im Handumdrehen eine neue Firma mit seinen Kindern gründen konnte. Jeder hatte fortan andere Ziele, und erst jetzt nach drei Jahren im selbst gewählten italienischen Exil gab es zumindest einen Hauch von Hoffnung, dass seine Ehe doch noch länger als die bislang 40 Jahre halten könnte.
   Dass in diesen Monaten nicht alles negativ war, dafür hatte eine Peggy gesorgt, die er in jener Zeit noch für hoffnungslos naiv gehalten hatte. Dabei hätte er anhand der Wirkung ihrer Person auf sein Wahrnehmungsvermögen doch erkennen müssen, was eigentlich in ihr gesteckt hatte. Er war dermaßen auf sich fixiert gewesen, dass die sensiblen Antennen seiner Menschenkenntnis die Signale nicht in seinen Verstand dringen ließen. Jetzt erst stieg die Trauer über den Verlust in ihm hoch. Er versuchte gar nicht erst die Tränen und das laute Aufschluchzen zu unterdrücken. Er gab sich für einige Minuten seinen Emotionen ungebremst hin und merkte dabei, wie sich die Enge in seiner Brust langsam löste. Als er den Bildschirm wieder klar sehen konnte, schrieb er in erstaunlicher Heiterkeit weiter:

   Anders als René dachte, begann Peggy trotz der Doppelbelastung mit Examen und Dissertation, auch noch beider Leben in die Hand zu nehmen. Ob sie sich dabei der Endlichkeit ihrer Beziehung bewusst war, darf zu recht angenommen werden. Das Timing ihrer Planung trug - zumindest im Nachhinein betrachtet - deutliche Merkmale, jeglichen Zeitverlust zu vermeiden. Es ist auch fraglich ob der auf "laissez faire" eingestellte René überhaupt bemerkt hat, wie er, der gewiefte Manipulator, nun von dieser jungen Frau dirigiert wurde.
   Die Veränderungen in ihrem eheähnlichen Alltag begannen damit, dass er - als sich René wegen der baldigen Heimkehr von Dwight auf die Suche nach einer für beide geeigneten Wohnung machen wollte - von Peggy eingebremst wurde. Das sei nicht nötig, weil sie online genauso von LaGrange aus arbeiten könne. Aber was dann mit seinem Konversationskurs geschehe? Das sei doch ein Problem des Dekans! Ob er denn überhaupt an seinen Riesen-Garten gedacht hätte und an seine Freunde? Sie wolle auf keinen Fall später für Defizite verantwortlich gemacht werden...
   Das Wort Defizite war tatsächlich so in einer Mail von René an Johannes weiter gereicht worden. Als er ankündigte, an den Golf-Arrangements für ihren Vierer-Flight Ende März in LaGrange. der ja Tradition sei, ändere sich nichts.
  War das auch ein Signal, dass René und Urmel wieder Kontakt aufgenommen hatten? Johannes jedenfalls freute sich darauf, die Saison mit den beiden und Jean-Jaques zu eröffnen.
   Als  Johannes in LaGrange eintraf, erwartete ihn neben der vollends erblühten Peggy eine weitere Überraschung: René hatte Dwight nach seiner Rückkehr aus den Staaten spontan als Gegenleistung für einige Wochen Urlaub nach LaGrange eingeladen. Das bedeutete aber auch, dass es in den ansonsten eigentlich großzügig bemessenen Glaswürfeln von Renés Bungalow ein wenig eng wurde, Denn den "Nordwürfel" hatte René komplett für Peggy ausgeräumt, damit sie dort die Ruhe fände für ihre Arbeit. Johannes, der ja auch auf Schreib-Ambiente wert legte, war ein wenig neidisch. Der "Nordwürfel" bezog seine Atmosphäre aus dem Umstand, dass drei Seiten komplett von Bananenstauden und Riesenfarnen umpflanzt waren, während er von oben durch Livingston-Palmen beschattet wurde. Somerset Maugham hätte da auch gut seine "Fußspuren im Dschungel" schreiben können.
   Da sich René nach fünf Monaten Pause vorwiegend um den Garten kümmern wollte und jede Hilfe dabei ablehnte, sich Peggy diszipliniert nach Stundenplan zum Arbeiten in ihren Würfel zurückzog, musste sich Johannes notgedrungen um Dwight, den Langschläfer, kümmern, wenn der Viererflight von seiner morgendlichen Runde zurück war. Wie bislang immer in LaGrange war der März gegen Ende ein warmer, lichtvoller Rausch, dem sich auch die Frühblüher nicht entziehen konnten. Die Pinien rieben im leichten Wind wispernd ihre Nadeln aneinander. Die Frösche im Teich machten bei der Werbung um Weibchen einen Lärm, der nur durch lautes Klatschen mal unterbrochen werden konnte. Der mannigfaltige Blütenduft belebte die Sinne derart nachhaltig, dass sogar Johannes alles Böse hinter sich ließ, und neue Lebenslust ihn erfasste Irgendwann auf der Runde fasste der wieder in Gnaden aufgenommene Urmel die Stimmung mit jenem  so treffenden Satz Renés zusammen:
   "Ja, es gibt ein Leben vor dem Tod!" Wie erschreckend recht er behalten sollte...
   
   Es oblag Johannes, Dwight in den übersichtlichen Kosmos von LaGrange einzuweisen. Sie hatten sich zwei Räder geschnappt und waren über die Düne zum Strand gefahren. Der Surfer-Spot wurde gerade mal wieder renoviert, aber der hölzerne Boardwalk auf den Dünen parallel zum Meer war endlich fertig. Um diese Zeit des Jahres durften die Radler ihn noch benutzen. So hatten sie eine prachtvolle Panorama-Fahrt, die eher zufällig an Guillaumes Atelier nahe dem Nordstrand endete.
   Der Maler freute sich riesig, als Johannes den Kopf durch einen Spalt breit der schwere Schiebetür steckte. Die Trauer um den Verlust seines Lebensgefährten war ihm, aber vor allem den vielen monochrom unvollendet aufgegebenen Entwürfen immer noch anzumerken.
   "Schau mal, wen ich dir mitgebracht habe." Er zog Dwight nun durch die weiter zur Seite geschobene Tür und stellte ihn als den Mann vor, der René und Peggy das Liebesnest in London zur Verfügung gestellt habe. Natürlich hatte Johannes wenig Ahnung davon, auf welcher Wellenlänge Männer, die Männer lieben, sich empfangsbereit geben. Es wäre eine absurde Vorstellung für ihn gewesen,  sich den schwarzen Fleischberg aus Martinique und den eleganten Hipster-Zwerg aus fashionable London als Paar vorzustellen. Aber das war nun nicht mehr aufzuhalten. Nicht gesucht aber gefunden. Liebe auf den ersten Blick. Da war sie wieder - diese Aura, die Paare plötzlich umgibt und die es so lange zu bewahren gilt, wie es nur irgend geht.
   Johannes war unmittelbar abgemeldet. Er war derart ausgegrenzt, dass er nur noch verlegen fragte, ob  Dwight den Weg zu Renés Haus denn alleine zurück fände. Dann drückte er sich diskret aus dem Atelier davon.
   Als Johannes alleine auf Renés Anwesen radelte, sprang Peggy, die gerade ihre bemerkenswert großen Zehen in die Sonne gehalten hatte, besorgt von ihrem Liegestuhl auf der Wiese, und selbst René hörte auf mit seinem Profi-Kercher lärmend oben die Glasdächer vom klebrigen Blütenstaub zu befreien,
   "Wo hast du Dwight gelassen?", fragten sie unisono.
   "Wir haben ihn wohl verloren", antwortete Johannes in gespielt tiefer Trauer. Und nach einer Kunstpause: "An Guillaume!"
   Nach einer dem Gastgeber René geschuldeten Anstandspause von ein paar Tagen zog Dwight nicht nur für die restlichen Tage seines ersten Aufenthalts bei Guillaume ein. Beim Umzug sagte er zu René einen Satz, der bei Johannes für immer geborgen blieb:
   "Wir beide machen gerade eine einzigartige Erfahrung René. Die ultimative Liebe kennt keine Altersunterschiede!"