Epilog
Als er alles noch einmal durchgelesen hatte, war Johannes plötzlich klar, dass er sich während des Schreibens ebenfalls in Peggy verliebt hatte. Nicht in die Peggy, die René glaubte, durch seine Forderung nach Fitness und seine Styling-Tipps geschaffen zu haben. Auch nicht in die Peggy, die sie letztlich selbst aus sich gemacht hatte, sondern Johannes war noch immer in eine Peggy posthum verliebt, die dem "Menschlichen Allzumenschlichen" Vorrang vor ihren geistigen Fähigkeiten eingeräumt hätte. - Also sehr nahe an den Menschen heran gekommen wäre, den er in dieser nichtsnutzigen Chronik geschaffen hatte. Das Problem war eben, dass Johannes kein Genie war und deshalb letztlich keinen Zugang zu den Sonderheiten eines Genies fand. Er war aber dennoch davon überzeugt, dass er ihren viel zu frühen Tod - sei er nun Zufall oder eine unglaubliche transzendentale Verknüpfung gewesen - verhindert hätte.
Aber wer wie Peggy ohne eigene Lebenserfahrung derart erfolgreich in die komplizierten Denkvorgänge eines schwierigen Menschen eingedrungen war, schuf eben seine eigenen Maßstäbe, und wenn Wissenschaftler und Nietzsche-Experten weltweit ihr auf diesem Weg der philosophischen Höhlenforschung gefolgt waren, musste er tolerieren, dass Peggy abgehoben hatte.
Natürlich hatte es Johannes zwischenzeitlich längst nachgeholt, sich in Peggys Arbeiten und Vorträge hinein zu lesen. Er verstand auch, wieso das zwischen René und Peggy nie Thema war. Mag ja sein, dass Renés Fähigkeiten, sich intellektuell einzulassen, nicht so ausgeprägt waren wie bei Johannes. Doch auch der Chronist stand letztlich vor der Tatsache, dass sein Verstand nicht ausreichte, um all das nachzuvollziehen. Der Buchtipp seines Sohnes, "Nietzsches Kisses" des Amerikaners Lance Olsen, das ja schon drei Jahre vor Peggys Dissertation 2006 erschienen war, half ihm zumindest ein wenig ihrer Betrachtungsweise näher zu kommen. Letztlich kam er - um sich zu beruhigen - zu folgendem Schluss:
"Wenn Nietzsche schon aus seiner Zeit heraus nicht in der Lage war, Frauen zu verstehen, wieso sollte ich dann am Scheitelpunkt der Emanzipation Peggy begriffen haben?"
Johannes hatte beide übrigens nach jenem Sommer nicht mehr in realiter gesehen. Aber er und sie hatten ja Skype und so sahen sie sich - mehrfach und über tausende von Kilometern hinweg - mal glasklar, mal in zappeligen, milchigen Bildern, mal mit zerhacktem Ton: Die Stationen waren Boston, Melbourne, Kapstadt, dann wieder London zur feierlichen Verleihung der Doktor-Würde. Dann gab es eine Winterreise durch die wichtigsten deutschen Universitätsstädte. Höhepunkt war Ende Mai ein Symposium an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
War es, weil die Reiserei ihn ein wenig müde gemacht hatte. Oder weil nach der Golf-Euphorie, die er über Weihnachten und Neujahr am Kap erlebt hatte, der wissenschaftliche Alltag ihm in grauen deutschen Städten aufs Gemüt geschlagen war - René nutzte den Aufenthalt in Heidelberg vorsorglich, um beim Sohn eines früheren Kunden vorbei zu schauen. Der wandte in einer Klinik bei Darmstadt ein neues Verfahren an, bei dem versteckte Krebszellen anhand ihres erhöhten Blutzucker-Bedarfs aufgespürt werden konnten. Sie erschienen beim Scannen auf dem Monitor unmittelbar wie kleine Sterne. René hatte eine "Milchstraße" in sich, die von der Leber bis zum Dickdarm reichte.
Über das, was bei der Heimfahrt nach LaGrange abgelaufen war, kann man natürlich nur spekulieren. Es ist aber anzunehmen, dass der ehemalige Werbe-Profi kein derart tragisches Ende seiner letzten großen Liebe dulden wollte. Johannes, der ja auch das schwarze Temperament seines Freundes kannte, nahm an, René habe bei der Heimfahrt eine schleichende Streit-Kampagne mit Peggy begonnen, die mit Annäherung an LaGrange nichts mehr zuließ, als eine sofortige Beendigung ihrer Beziehung. Maurice fand später in den Unterlagen, dass René Peggy punktgenau mit einem bereits gekauften Ticket nach England zurück geschickt hatte. Aufschluss gaben auch abschließend noch gemailte Zitate, die er auf Renés Computer gefunden hatte.
Bezeichnender Weise schickte Peggy dieses Zitat:
Don't you know I love you but am hopeless
Aber wer wie Peggy ohne eigene Lebenserfahrung derart erfolgreich in die komplizierten Denkvorgänge eines schwierigen Menschen eingedrungen war, schuf eben seine eigenen Maßstäbe, und wenn Wissenschaftler und Nietzsche-Experten weltweit ihr auf diesem Weg der philosophischen Höhlenforschung gefolgt waren, musste er tolerieren, dass Peggy abgehoben hatte.
Natürlich hatte es Johannes zwischenzeitlich längst nachgeholt, sich in Peggys Arbeiten und Vorträge hinein zu lesen. Er verstand auch, wieso das zwischen René und Peggy nie Thema war. Mag ja sein, dass Renés Fähigkeiten, sich intellektuell einzulassen, nicht so ausgeprägt waren wie bei Johannes. Doch auch der Chronist stand letztlich vor der Tatsache, dass sein Verstand nicht ausreichte, um all das nachzuvollziehen. Der Buchtipp seines Sohnes, "Nietzsches Kisses" des Amerikaners Lance Olsen, das ja schon drei Jahre vor Peggys Dissertation 2006 erschienen war, half ihm zumindest ein wenig ihrer Betrachtungsweise näher zu kommen. Letztlich kam er - um sich zu beruhigen - zu folgendem Schluss:
"Wenn Nietzsche schon aus seiner Zeit heraus nicht in der Lage war, Frauen zu verstehen, wieso sollte ich dann am Scheitelpunkt der Emanzipation Peggy begriffen haben?"
Johannes hatte beide übrigens nach jenem Sommer nicht mehr in realiter gesehen. Aber er und sie hatten ja Skype und so sahen sie sich - mehrfach und über tausende von Kilometern hinweg - mal glasklar, mal in zappeligen, milchigen Bildern, mal mit zerhacktem Ton: Die Stationen waren Boston, Melbourne, Kapstadt, dann wieder London zur feierlichen Verleihung der Doktor-Würde. Dann gab es eine Winterreise durch die wichtigsten deutschen Universitätsstädte. Höhepunkt war Ende Mai ein Symposium an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
War es, weil die Reiserei ihn ein wenig müde gemacht hatte. Oder weil nach der Golf-Euphorie, die er über Weihnachten und Neujahr am Kap erlebt hatte, der wissenschaftliche Alltag ihm in grauen deutschen Städten aufs Gemüt geschlagen war - René nutzte den Aufenthalt in Heidelberg vorsorglich, um beim Sohn eines früheren Kunden vorbei zu schauen. Der wandte in einer Klinik bei Darmstadt ein neues Verfahren an, bei dem versteckte Krebszellen anhand ihres erhöhten Blutzucker-Bedarfs aufgespürt werden konnten. Sie erschienen beim Scannen auf dem Monitor unmittelbar wie kleine Sterne. René hatte eine "Milchstraße" in sich, die von der Leber bis zum Dickdarm reichte.
Über das, was bei der Heimfahrt nach LaGrange abgelaufen war, kann man natürlich nur spekulieren. Es ist aber anzunehmen, dass der ehemalige Werbe-Profi kein derart tragisches Ende seiner letzten großen Liebe dulden wollte. Johannes, der ja auch das schwarze Temperament seines Freundes kannte, nahm an, René habe bei der Heimfahrt eine schleichende Streit-Kampagne mit Peggy begonnen, die mit Annäherung an LaGrange nichts mehr zuließ, als eine sofortige Beendigung ihrer Beziehung. Maurice fand später in den Unterlagen, dass René Peggy punktgenau mit einem bereits gekauften Ticket nach England zurück geschickt hatte. Aufschluss gaben auch abschließend noch gemailte Zitate, die er auf Renés Computer gefunden hatte.
Bezeichnender Weise schickte Peggy dieses Zitat:
Don't you know I love you but am hopeless
at fixing the rain? But I am learning slowly
to love the dark days, the steaming hills,
the air with gossiping mosquitoes,
and to sip the medicine of bitterness,
to love the dark days, the steaming hills,
the air with gossiping mosquitoes,
and to sip the medicine of bitterness,
Aus „Dark August“ von Derek Walcott
René blieb ihr nichts schuldig
Von dem, was du erkennen
und messen willst, musst du Abschied nehmen, wenigstens auf eine Zeit. Erst
wenn du die Stadt verlassen hast, siehst du, wie hoch sich ihre Türme über die
Häuser erheben.
Und eigens unterstrichen:
Das Wissen um richtige Freundschaft ist der Frau nicht gegeben, sie kennt fast ausschließlich nur die Liebe.
Friedrich Nietzsche
Vier Wochen später war René tot, und Johannes hatte von seinem Zustand nichts geahnt, bis Nathalie ihn eines Morgens anrief:
"Papù möchte sich von seinem Dicken verabschieden. Er kann nicht mehr sprechen, aber er lächelt ganz lieb. Ich soll dir sagen, das mit der Kaviar-Orgie wird nachgeholt..."
Kurz vor Weihnachten - einige Wochen nach dem verunglückten Requiem - summt bei Johannes auf der Burg das Handy. Ohne Gruß plärrt Luca, ein DHL-Fahrer, der Johannes schon oft beliefert hat:
"Don Giovanni, wenn du glaubst, dass ich deine überdimensionierten Weihnachtsgeschenke allein zu dir auf die Piazza schleppe, dann irrst du gewaltig. Komm gefälligst runter und hilf mir!"
Als Johannes am Fuß der Gassen ankommt, wird der eigentlich lustige, kleine und drahtige Luca mit seinem gegelten Punker-Kamm von einem Bretter-Gehäuse überragt, wie es Museen und Galerien zum Verschicken von Bildern verwenden. Das alleine hoch zu schleppen, wäre in der Tat eine Zumutung gewesen. Selbst zu zweit sind sie ganz schön außer Atem, als sie das Gehäuse in die Cantina wuchten. Weil bald Weihnachten ist, gibt er dem Boten einen Zwanziger und macht sich sofort als der verschwunden ist, mit einem Kuhfuß und einem Hammer ans Auspacken:
Zu seiner Überraschung - trotz seiner bestimmten Vorahnung - findet er zwei in Rupfen eingewickelte Gemälde. Als er das kleinere ausgepackt hat, kann er Tränen nicht länger zurück halten, denn es ist die "Madagassische Marktfrau" von Guillaume. Jenes von Johannes so geliebte Bild, das im Katalog von Guillaumes Ausstellung am Bois de Boulogne mit 25.000 Euro ausgezeichnet und später im Internet als verkauft gemeldet worden war. Mit roter Ölkreide steht eine Widmung hinten auf der Leinwand:
"Gewidmet dem Wort-Jongleur vom alten Pinsler, dem er im Sonnenuntergang des Lebens zu mehr Farbe und Liebe verholfen hat... Guillaume".
Das zweite Bild ist der "Faun im Strohfeuer". An ihm hängt seitlich ein Brief-Kuvert mit der Aufschrift: Von "Maurice für Johannes". Der Brief schickt Johannes auf eine emotionale Achterbahn, die ihn am Ende mit Schnappatmung zurück lässt:
Lieber Johannes!
René hätte sich bestimmt gefreut, dass Du am Ende Besitzer dieses Bildes wirst. Ob er sich über die Chronik seiner letzten Liebe gefreut hätte, lasse ich mal dahin gestellt. Auch Mutter und Nathalie waren nicht wirklich glücklich über ihre von Dir beschriebenen Rollen. Dennoch war das Votum der Clique zu meiner Überraschung einstimmig. Du hast das Gemälde verdient - vor allem, weil Du vermutlich auch der Einzige gewesen wärst, der es aufhängt.
Aber Du darfst das wohl auch ein wenig meiner Übersetzung zuschreiben, weil ich bei einigen Passagen meinen erweiterten Kenntnis-Stand eingebracht habe, damit Deine Dichtung näher zur Wahrheit rückte.
Anfang November an Guy Fawkes war ich England, und weil es ja Peggys Geburtstag gewesen wäre, machte ich meine Aufwartung bei den O'Neills in Hastings. Sie waren überrascht von mir ein Manuskript mitgebracht zu bekommen, das von einem Mann geschrieben worden ist, den sie nur aus Peggys Erzählungen kannten. (Ja, bedank Dich nur - auch diese erste Vorab-Übersetzung habe ich angefertigt!!!).
Nach der Lektüre waren sie gerührt und amüsiert. Du hast tatsächlich ihre Trauerarbeit ein wenig erleichtert, obwohl sie ja im Besitz der ganzen Wahrheit waren.
Du weißt vielleicht, dass bei solchen merkwürdigen Todesfällen immer eine kriminaltechnische Untersuchung inklusive forensischer Pathologie durchgeführt wird. Das Gesamt-Ergebnis wurde mit dem Kürzel SID überschrieben: Sudden Infant Death.
Ich erbat von den O'Neills die Erlaubnis, den gesamten Bericht einsehen zu dürfen, denn wann hört man schon einmal von einer 28jährigen mit derartiger Todesursache?
Und jetzt kommt es: Peggy war laut Obduktion noch "Virginia Intacta", eine Jungfrau deren Geschlechtsorgane bei einem Gardemaß von 187cm in dem Entwicklungsstadium einer Neunjährigen stehen geblieben waren.
Wie konnten die Beiden uns allen den Eindruck vermitteln, sexuell ginge zwischen ihnen immer die Post ab. Dwight meinte wohl nicht ganz ernst, es könne ja sein, dass die zwei Praktiken angewendet hätten, "wie wir Buben das machen"...
Ich bin ja nicht prüde, aber das wollte ich mir dann doch nicht vorstellen. Ich bin also noch einmal zu den O'Neills und gab vor, das Dachgeschoss sehen zu wollen, in dem Peggy mit meinem Vater so glückliche Stunden verlebt hatte.
Es war wirklich überraschend, wie entkrampft die beiden die für mich so heikle Klärung dieser Fragen mit angegangen sind. Es gab auch keine Geste oder Äußerung, dass die Eltern die Liebe zu einem bald 50 Jahre älteren Mann degoutiert hätten.
Jedenfalls glauben wir, dass wir das Geheimnis entdeckt haben: Peggy hatte in ihrer Bibliothek mehrere Bücher über "Tantra und Sex". Möglicher Weise entstand dadurch auch diese Gandhi-Aura, von der Du schreibst...
Ich wünsche Dir ein schönes Weihnachtsfest.
Und bis bald!
Maurice
E N D E