Die stete Vergegenwärtigung des
zweiten Deutschen Unrecht-Regimes begann für Johannes schon in den 1950ern beim
Baden an der Lübecker Bucht oder bei Wanderungen in Lauenburg östlich von
Hamburg. Johannes, der nach Westen durch die Reiselust seiner Eltern, schon
seit er kaum laufen konnte, ein vielfältiges Europa mit unbeschränkt
durchlässigen Grenzen hatte erleben dürfen, begriff Warnschilder und Wachtürme
mit Fernglas schwenkenden Stahlhelm-Trägern paradox als
"unbegreifliche" Bedrohung. Schlimmer noch prägte sich die
Verwahrlosung im Niemandsland zwischen den beiden deutschen Staaten ein. Das
aus Mangel an historischem Hintergrundwissen simpel abstrahierende Kinderhirn
speicherte also eine permanente Bedrohung oder zumindest ein zunehmendes Unbehagen,
das von den "anderen Deutschen" ausging. Wie er kürzlich herausfand,
ging es vielen seiner Altersgenossen genau so. Und wenn es in der Folge mit
wachsendem Verstand und zusätzlichem Wissen einige Abbuchungen vom Konto dieses
Unbehagens gab, so wuchs es doch so an, dass er sich einen Ausgleich nie mehr
vorstellen konnte. Natürlich folgte auch er als Schüler den sentimentalen
Aufrufen und stellte in der Weihnachtszeit abends Kerzen für "die
drüben" ins Fenster. Aber er bekam auch mit, wie das Familien-Leben der
Goerzens vom "eisernen Vorhang" tangiert wurde, obwohl die gar keine
familiäre Bindungen in die DDR, wohl aber durch Geburt (Walter und Vera) ins
geteilte Berlin hatten. Und allein schon die Umstände dort hin zu gelangen,
waren prägend.
Was den Status als Geheimnisträger der ersten
Kategorie anging, so begegnete Johannes' Vater diesem rückbetrachtet wie
Parzival aus Iwein, der deutschen Variante der Artussage - als tumber Tor
gewissermaßen. Er ignorierte - was ihn als politische Person anging - die
Bedeutung des zu seinen Aufgabenfeldern gehörenden Hamburger Freihafens als
Ladestation für das Waffenarsenal der "alliierten
Schutzstreitkräfte". Er hatte über seinen Künstler-Club zudem Umgang mit
Freidenkern und Kunstschaffenden, die die nach Europa schwappende
McCarthy-Hysterie schlicht als kommunistische Agitatoren klassifizierte. Und
als 1955 die Bundeswehr kam, gehörten auch deren Liegenschaften auf einmal
erschwerend in seinen Verwaltungsbereich.
Zu dem nachrichtendienstlich "unsicheren
Profil" seines Vaters trug aber nun auch - man möchte es heute kaum noch
glauben - die unumstößliche Tatsache bei, dass die Vita von Walter Goerz
absolut keinen einzigen braunen Flecken aufwies, der des berühmten
"Persil-Scheins" bedurft
hätte. Viele höhere Dienstgrade der rund 12.000 Bundeswehrsoldaten der ersten
Stunden waren hingegen zum Teil (mitunter schwer) vorbelastete Angehörige der
ehemaligen Reichswehr gewesen...
Mit bloßem Auge (oder war es doch das
Fernglas des Zeltnachbarn?) - meinte Johannes sich erinnern zu können - hatten
sie im Sommer 1956 von ihrem Strand südlich vom Ostseebad Dahme aus zugesehen,
wie die Deutschen und Russen (?) drüben am anderen Ufer der Bucht als Reaktion
auf die westdeutsche Wiederaufrüstung ihre Grenztruppen verstärkt und schweres
Kriegsgerät in Position gebracht hatten. Zum Kriegsgetrommel kam, dass die
Briten vom Schießplatz bei Hohwacht zur Bestätigung ihrer Präsenz - mit
Vorliebe während dieser Ferienwochen - auf fliegende Attrappen über der Ostsee
schossen.
Zu dem teils bizarren Menschen-Zoo, den sein
Vater sein Leben lang ohne Argwohn und aus reinem Interesse an sonderbaren
Individuen (im Laufe der Jahre stetig wachsend und unter treuer Pflege per
Briefkontakt) angelegt hatte, gehörte ein kleiner, im Prinzip staatenloser,
aber dennoch oder gerade deshalb jovialer Mann. Der lebte auf einem Hausboot im
Hamburger Freihafen direkt am Pier vor seiner Produktionsstätte. Johannes
freute sich jedes Mal, wenn er auf seinen Spaziergängen mit seinem Vater auf
dem Boot vorbeischaute, denn es barg für Kinder unerhörte Schätze wie
"Buddelschiffe", afrikanische Stammesmasken, historische Waffen, und
mit den alten Fotografien, die dicht an dicht die freien Bootswände innen
bedeckten, wurden Sehnsüchte nach Freiheit und Abenteuer geweckt.
Der Vater von Johannes hatte jedoch auch noch
einen anderen Grund, den Mann regelmäßig aufzusuchen, und der war nicht nur auf
die Tatsache zurückzuführen, dass die gepachtete Fabrikhalle für dessen
Produktion zum Bundesvermögen gehörte. Boris Barylli, eine Kombination aus
Louis de Funes und Dany DeVito mit Fadenbärtchen, hatte eine geniale
Geschäftsidee gehabt. Selbst Vertriebener, Gefangener, Internierter zweier
großer und einiger kleiner Kriege hatte er die Bedeutung von Stacheldraht im
wahrsten Sinne des Wortes oft genug am eigenen Leib erfahren und folgende
Erkenntnis gewonnen: So lange die Menschen nicht in Frieden leben, werden sie
Stacheldraht brauchen, um sich oder andere ab- oder auszugrenzen.
Zu dieser Erkenntnis kam ein schlaues geschäftliches
Konzept. Mit dem Rückgang des Bergbaues und der Zunahme von Bergbahnen für das
Freizeitvergnügen fielen Drahtseile und Förderkabel als Schrott an. Dieser
Schrott wurde zollfrei in den Hamburger Freihafen eingeführt,
"enttüdelt" und wie Boris, das kosmopolitische Chamäleon - es in astreinem Hamburger Singsang, dem
"Missingsch", nannte - als
"bangich feinen neuen Stocheldroht"
ebenso zoll- wie steuerfrei in alle Welt exportiert. Der Vater von
Johannes wiederum leitete von Informationen über Baryllis Auftragslage für sich
privat Tendenzen zur allgemeinen Weltsicherheitslage ab.
Als Barylli die Liegegebühren für sein
Hausboot mit dem wachsenden Wirtschaftswunder zu hoch wurden, fragte er eines
Tages bei Walter Goerz an, ob etwas dagegen einzuwenden sei, wenn er das
Hausboot auf das Dach der Werkshalle hievte. Fortan lebte Boris, der
Gestrandete, in einem Hausboot auf dem Dach seiner Fabrik und wurde viel später
als wahrer "Drahtzieher" zu einer Art Vordenker des Hamburger
Freihafens...
Dass die Goerz-Familie ihre ausgedehnten
sommerlichen Ferien-Exkursionen ausgerechnet in der neuerlichen Permafrost-Zeit
des kalten Krieges nach Osten verlagern wollte, verbesserte den suspekten
Status ihres Oberhauptes vermutlich nicht. Dass sie 1958 alle fünf - eingequetscht in einen „VW-Käfer“ (mit für
mehr Stauraum herausgenommener Lehne der Rückbank) - dennoch durch
Tito-Jugoslawien und im Transit-Konvoi durch Bulgarien nach Istanbul reisen
durften, war nur vermeintlich ein Sieg der väterlichen Blauäugigkeit. Was war
das damals noch für eine Abenteuerreise gewesen: Johannes begriff erst später
nach und nach die "edle Einfalt" seines gramgebeugten Erzeugers beim
Schaffen und Nutzen eigener Netzwerke. Es kam schon bei der zweiten Reise
dieser Art, die sie 1960 bereits von München aus unternahmen, einerseits zu
Erleichterungen, andererseits aber auch zu unheimlichen Begegnungen der
wundersamen Art. Dieses Mal ging es bis nach Persien - da aber nur noch zu
viert ohne die nun arbeitende Ulla und ohne den Transit-Konvoi durch
Bulgarien!
Um die vermeintlich freien Reisebedingungen
zu verstehen, müssen zunächst die neuen Wohnverhältnisse der Goerzens in
München beschrieben werden:
Johannes und sein Vater waren die ersten, die
zwei von den US-Streitkräften geräumte Reihenhaus-Reihen einer Siedlung mit
Dienstwohnungen im feinen Münchner Bogenhausen bezogen. Gemessen an der
"Dienst-Behelfswohnung" in Hamburg war dieses Haus ein geräumiger
Palast, dessen viele Zimmer zunächst nur zu füllen waren, weil das Möbeldepot
des amerikanischen Konsulats mit äußerst repräsentativen Stücken aushalf. Um
wenige Wochen versetzt zog dann auch der neue US-Vizekonsul Trevor Tight gleich in zwei Häuser jenseits des
Spielrasens, aber direkt gegenüber. Tight und seine rothaarige, grünäugige und
unendlich schöne irische Frau (ja, die Klischees) brauchten beide Häuser mit
Durchbruch, weil sie zehn Kinder unterbringen mussten, während Nummer 11 - beim Einzug bereits deutlich sichtbar -
unterwegs war. Je drei hatten sie in ihre zweite Ehe (verwitwet, nicht
geschieden, da streng katholisch) mitgebracht. Der Rest der Orgelpfeife, die
sich jeden Sonntag brav für die Oberföhringer Kirche fein machte, war
Gemeinschaftsarbeit. Tight war äußerlich ein wie Walter Goerz früh ergrauter
Schönling von sensibler Sanftmut, was prima über die Tatsache hinwegtäuschte,
dass er in Wahrheit ein knallharter Nachrichten-Mann war. Sein Nachbar war Josh
Millar, ein hawaiianisch aussehender Jude mit einer kleinen quirligen Frau und
zwei wie Indianerkinder anmutende Mädchen, die mit ihrem Temperament die ganze
Nachbarschaft aufmischten. Millar war einer von drei Topagenten, die, wie DER
SPIEGEL ein paar Jahre später aufdeckte, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs dazu
ausersehen gewesen waren, mit einem Himmelfahrtskommando die
"Alpenfestung" zu knacken, falls Hitler sich samt seiner Entourage
aus dem eingekesselten Berlin in das ausgespähte Areal zurückgezogen hätte. Die
restlichen drei Häuser der "amerikanischen Reihe" wurden nach
Dienstgraden von "Marines" bezogen,
die das US-Konsulat in der Königinstraße zu beschützen hatten.
Innerhalb eines halben Jahres formierte sich
auch die "Deutsche Reihe": Neben die Goerzens zog Oberstleutnant
Alzmüller mit Frau und zwei Kindern (ein drittes war unterwegs). Alzmüller war
das beim MAD (Militärischer Abschirmdienst), was wiederum sein Nachbar, Alexander Graf von Nedwitz, für die
Bundesvermögensverwaltung war: Abteilungsleiter innere Kommunikation.
Bundesvermögensverwaltung war einer der -
leicht mit der Bundesvermögensstelle zu verwechselnden - Tarnnamen für die vom
südlichen Münchner Vorort Pullach
koordinierten "Deutschen Dienste", die Ex-General Reinhard
Gehlen schon seit 1945 unter US-Patronat wieder hatte aufbauen dürfen. Der Graf
und seine wie eine Zwillingsschwester von Marlene Dietrich aussehende Gemahlin
waren kinderlos. Sie machten zudem keinen Hehl daraus, dass sie irgendwelchen
verlorenen Herrensitzen im Osten nachtrauerten und sich im Übrigen in der eher
spießigen Nachbarschaft deplatziert vorkamen. Zumal Vlad Vermes, der nächste
Nachbar ein osteuropäisches Image pflegte, das von seiner exotisch, slawisch
schönen Frau degoutant mit knoblauchschweren Kochorgien unterstrichen wurde.
Die Vermes hatten zwei heranwachsende Söhne. Der jüngere war im Alter von Johannes
und wurde ein Wegbegleiter bis zur Gegenwart.
Ob diejenigen, die für diese Konstellation
verantwortlich waren, all die miteinander spielenden Kinder als
Sicherheitsrisiko billigend in Kauf genommen
oder ob sie die vermeintliche Gefahr einer "infantilen
Enttarnung" schlichtweg unterschätzt hatten, lässt sich auch im Rückblick
nur schwer feststellen. Es ist jedoch eine Tatsache, dass die Kids - die sich
bereits in "Denglish" unterhielten, ehe dieser Begriff geprägt wurde
- innerhalb der nächsten Jahre alles über alle wussten. Auch über die
restlichen beiden Familien in der
"deutschen Reihe" mit fast
erwachsenen Töchtern und Söhnen, zu denen die Rasselbande keinen Kontakt
pflegte.
Vater Offenbacher im vorletzten Haus
arbeitete bei Alzmüller in der Abteilung und war eigentlich der Dienstältere
gewesen, aber wegen eines leichten Alkohol-Problems bei der Beförderung
übergangen worden. Was Teufel Alkohol in der Folge nach und nach die Oberhand
gewinnen ließ. Mit dieser "Oberhand" griff er dann gelegentlich den
flügge werdenden Nachbarstöchtern an Stellen, deren Berühren ihn heutzutage
wegen sexueller Nötigung in den Knast gebracht hätte. Als Johannes' frühreife
Schwester Vera - zu jenem Zeitpunkt der Jungfernschaft längst verlustig -
behauptete, man müsse sich bei Offenbacher regelrecht "seiner Haut"
wehren, löste sie in ihrer Familie indes nur zynisch zotiges Gelächter aus. O
tempora! O mores!
Für die Kinder der spannendste Nachbar war
jedoch Major Carl Leonhardt im letzten Haus der Deutschen Reihe. Er konnte in
Gurkeneimern aus in den Haushalten gängigen Chemikalien und Putzmitteln zu
Silvester herrlich farbig krachende "Feuerwerkskörper" basteln. Die
gesamte internationale Nachbarschaft
erstarrte vor Neid und Schreck, bevor sie beim nächsten Jahresende
begeistert jubelte und das "Aufrüsten" mit eigenen Raketen und
Böllern unterließ.
In dieser (ge)heimeligen Konstellation hatte
der Vater von Johannes eine Schlüsselposition, weil die Behörde, der er
vorstand, sowohl für die Liegenschaften in Pullach als auch die der Bundeswehr
verwaltungstechnisch zuständig war. Tatsächlich war er auch für die Wohnanlage
übergeordnet verantwortlich, in der er nun selbst mit seinen geheimnisvollen
Nachbarn wohnte.
Unter diesen Vorzeichen war die Genehmigung
der zweiten Reise nach Osten einerseits ein Wunder und andererseits nun doch
wieder nicht. Die Unbedenklichkeit wurde quasi durch "Arrangements"
gewährt, die unterwegs für die Goerzens getroffen wurden: Voraussetzung war
wohl, dass an den strategisch bedenklichen Orten auf das so lieb gewordene
Camping verzichtet wurde. In Belgrad traf man im Putnik-Hotel zufällig Freunde
von den Vermes. In Sofia speisten sie beim amerikanischen Konsul, der beim
Dinner von Tight als Kampfgenossen im Korea-Krieg schwärmte, und in Istanbul
räumte ein hoher türkischer Nato-Offizier einen Teil seiner Wohnung, um die
verrückte deutsche Familie, die er gar nicht kannte, "sicher"
unterzubringen. - Sein Freund, Major Leonhardt, hatte ihn darum gebeten. In
Ankara eilte ihnen ein eifriger Botschaftssekretär entgegen und meinte laut und
für alle hörbar, man hätte ja schon sooo auf sie gewartet. - Nur weil sie zwei Tage später eingetroffen
waren als avisiert.
Schuld an der Verspätung war der
Stadt-Kommandant im persischen Täbris gewesen. Er hatte als einziger Zicken
gemacht. Wohl weil in jenem Moment gerade mal kein westlicher Dienst Zugriff
auf ihn hatte. Er gehörte der antiamerikanischen Gruppierung des ehemaligen
Ministerpräsidenten Mossadegh an, die wenig später erneut versuchen sollte, den
Schah zu entmachten (beseitigen?).
Zwei Tage wurden die vier Goerzens
festgehalten, ehe er sie großspurig vorführen ließ, um der Blut und Angst
schwitzenden Familie nach einem langen Loblied auf Adolf Hitler und eine Tirade
gegen Israel die konfiszierten Pässe samt sofort zu verwendenden
Rückreise-Visen auszuhändigen. Johannes verstand von all dem nichts, aber er
begriff sehr wohl schon, was die Hand eines der Sicherheitsoffiziere, mit dem
er auf der Rückbank saß, in seiner
Unterhose suchte, als sie in
amerikanischen (!) Straßenkreuzern zum Hotel zurück chauffiert wurden.
Hatten die politischen Seismographen im Hirn
seines Vaters im Vorfeld des Kommenden warnend ausgeschlagen? Man weiß es nicht
genau. Statt eines exotischen Ziels wurde 1961 eine ebenso umfassende wie
unverfängliche Nordland-Reise für die großen Ferien in Angriff genommen, die
die Familie just an jenem Tag wieder sicher (?) auf deutschem Boden sah, als
der dritte Weltkrieg drohte.
Am 13. August hatten die Vopos und
Volksarmisten der DDR damit begonnen, in Berlin eine Mauer gegen die
permanenten "imperialistischen Übergriffe" des Westens hochzuziehen.
Ein Vorgang, der Johannes' Kindheit - wie er heute meint - von einem Tag auf
den anderen beendet hatte. Mag sein, dass ihn das in den Leseorgien angeeignete
Wissen infolge der gerade überwundenen schweren Erkrankung schon vorher in eine
Art Übergangsstadium versetzt hatte. Die Wut über die von Walter Ulbricht in
sächselnder Fistelstimme vorgetragenen Absurditäten entsprach bereits einem
erwachsenen, politischen Bewusstsein - auch wenn der Kopf noch auf einem
braungebrannten nur mit Badehose bekleideten Knabenkörper saß.
Während die Gleichaltrigen nun bald darüber
stritten, ob die Beatles oder die Rolling Stones die tollere Musik machten oder
auf schummerigen Knutschpartys getwistet wurde, bis die Körper trieften -
es gelang Johannes schon da nicht, seine
erneut wachsenden Urängste zu verdrängen. Und die Zeit war auch nicht angetan
dazu.
In den drei Jahren bis zum Eintritt der USA in
den Vietnam-Krieg 1964 passierte so einiges, was den Fortbestand der Erde in
Frage stellte und selbst historisch orientierte Erwachsene überforderte. Da
feierte die Welt den charismatisch jugendlich wirkenden US-Präsidenten für
seine Worte "Ick bin oin Balina" , dann obsiegte er sogar im
Atom-Poker der Cuba-Krise und ein Jahr später war er auch schon tot - ermordet
unter mehr als mysteriösen Umständen.
Johannes, der in dieser Zeit regelmäßig wegen
der bevorstehenden Konfirmation in die Kirche ging, registrierte, dass die
ansonsten eher schütter besuchte evangelische Kirche in Bogenhausen vom
September 1962 bis Weihnachten 1963 an ihre räumlichen Kapazitätsgrenzen stieß.
In einer aus ansteckender Angst
geborenen Solidarität stürmten die Menschen - ob gläubig oder nicht -
die Gotteshäuser. Die Volksrepublik China wandte sich von den Russen ab. Tito
hatte sein Vielvölker-Jugoslawien fast unbemerkt auf einen eigenen Kurs
gesteuert. Nur die DDR war ehrgeizig genug, russischer zu sein als die Russen
selbst. Der tägliche Gräuel an der innerdeutschen Grenze wurde angesichts des
drohenden Weltuntergangs für Monate zweitrangig, als folgte alles einer Art
Masterplan.
Es existierten daher in der Folge 870 km
Grenzzaun, dazu auf 440 km Selbstschussanlagen SM-70, 230 km Minenfelder Typ
66, 602 km Kfz-Sperrgräben und 434 Beobachtungstürme. Flüchtige wurden als
„Republikflüchtlinge“, die "rübergemacht" hatten, diffamiert; ihre
zurückgelassenen Familien waren Repressionen bis hin zu langen Zuchthausstrafen
ausgesetzt. Über 400 registrierten, vorsätzlichen Tötungen stand eine bis heute
ungeklärte Dunkelziffer von tödlichen Schicksalen an Mauer und Todeszaun
gegenüber. Johannes wollte dies alles selbst in dem Moment nicht vergessen, da
nur noch museale Stücke dieses durchaus mit den KZs zu vergleichenden Horrors
übrig geblieben waren. Die in solchem Unrecht meist allein und für sich
Gestorbenen hätte die Zahl der Mitgefallenen gewiss nicht interessiert. Scheinheilige
Moralisten versuchten trotz dessen eine abwägende Quantifizierung des Leidens
unter Nazi- oder DDR-Lebensbedingungen.
Als die Ungarn sich schon 1956 nach Stalins
Tod aus der Umklammerung des Russischen Bären lösen wollten, war Johannes noch
zu klein, aber da seine Mutter Rita akribisch jede Ausgabe des SPIEGEL von der
ersten Nummer an gesammelt hatte, war er in der Lage, die damalige
Stimmungslage durch Nachlesen nach zu fühlen, als aus der Tschechoslowakei
bereits ab 1964 gegen den eisigen Wind Signale einer ähnlichen Entwicklung zu
vernehmen waren.
Es begann mit touristischen Erleichterungen.
Ob der mit Östlichem betraute Nachbar Vlad Vermes den Goerzens die
Pfingst-Reise nach Prag 1964 irgendwie als Floh ins Ohr gesetzt hatte, gibt die
Erinnerung nicht mehr preis. Aber es war wohl so, dass der entscheidende Impuls
für die Fahrt in die Goldene Stadt von Johannes selbst ausging, denn er
wünschte sich nichts weiter als diese Reise als
"Konfirmationsgeschenk".
Über die möglichen Schwierigkeiten seines
Vaters für die Genehmigung dieser Reise wurde im Familienkreis nicht
diskutiert. Als sie erteilt wurde, ging es mit dem Ford 17M los, und es wurde
bei all den Reisen, die Johannes noch unternehmen sollte, bis heute eine der
eindrucksvollsten und schönsten, da sie aus einem neuen, persönlichen
Bewusstsein heraus wahrgenommen und mit der ersten eigenen Kamera festgehalten
wurde.
Gemessen an der renovierten
Wirtschaftswunder-Pracht von heute, wirkte das Prag von 1964 nicht golden,
sondern eher düster und achtlos dem tristen Verfall preisgegeben. Aber in dieser morbiden
Schönheit schwelgte Johannes, weil er überall auf Lebenslust stieß. Dieses
Pfingsten war vom Wetter her wechselhaft, aber die Einheimischen waren es
nicht. Sie genossen den Frühling, der noch nichts von jenem Horror ahnen ließ,
der dem "Prager Frühling" folgen sollte. Die Kastanien blühten auf
dem Moldau-Ufer der Kleinseite, und auf den Bänken unter ihnen kam es ein ums
andere Mal zu unkomplizierten Begegnungen. Die Älteren kramten ihre
Deutschkenntnisse mit diesem charmanten Akzent hervor, die Jungen erprobten ihr
Englisch. Erstaunlicher Weise wurde wenig gejammert oder Schuld zugewiesen. Es
wurde eher philosophiert. Die Einheimischen schienen mit einiger Sicherheit
unterscheiden zu können zwischen den privilegierteren DDR-Bürgern, die schon
seit einiger Zeit das billigere und reichhaltigere Warenangebot in der
tschechoslowakischen Hauptstadt zu Hamsterkäufen nutzten und jenen
Westdeutschen, die eher aus kulturellem Interesse auf ihren gewohnten
Reisestandard verzichteten. In der Tat führten sich die Deutschen aus der DDR
in den Einkaufsmeilen rund um den Wenzelsplatz einerseits oft wie Angehörige
einer Besatzungsmacht auf. Das war eine gänzlich andere Klientel, als die, die
ein Vierteljahrhundert später den Garten der deutschen Botschaft in Prag zum
Bersten bringen sollte...
Natürlich mischten sich auch die Agenten der gefürchteten DSP, der geheimen
Tschechischen Staatspolizei, in das bunte Treiben. Sie waren unschwer an ihrem
meist tadellosen Deutsch und den eine Spur zu dick aufgetragenen "traurigen
Legenden" auszumachen. Und dann hatte Johannes ja auch in der Münchner
Nachbarschaft genügend von der konzentrischen Befragungstechnik "solcher
Leute" mitbekommen, um durch Ausbrechen aus "den Kreisen"
mittels unsinniger Gegenfragen zu signalisieren, dass bei ihm
nachrichtentechnisch nichts zu holen war. Komischer Weise machten diese
Dunkelmänner sich nicht an Walter, Rita und Vera heran.
Drei Jahre später und achtzehn Monate bevor
russische Panzer - logistisch von der Volksarmee unterstützt - von deutschem
Boden (!) auf Prag zurollten, um Alexander Dubcek und seinen Reformen den
Garaus zu machen, führte Johannes der pure Zufall noch einmal in die
Tschechoslowakei. Das geschah vierzehn Tage bevor er ins Berufsleben eintreten
sollte.
Dieser Umstand, dass sein Lebensweg also bald
eine neue Richtung nehmen sollte, war die eigentliche Motivation für den Trip
und nicht etwa die religiöse Komponente der Reise:
Johannes hatte gerade die Schule geschmissen und seit
Weihnachten sonst nichts zu tun, als einen Schreibmaschinen-Kurs bei den
Salesianern zu besuchen.
Der junge Pater, der den Kurs leitete und
offenbar die Zerrissenheit von Johannes erahnte, nahm ihn eines Abends zur
Seite und fragte mit einem Hinweis auf dessen
unübersehbare Athletik, ob er nicht gelegentlich in der
Handball-Mannschaft des Salesianums als Rückraum-Spieler aushelfen wolle. Bei
den DonBosco-Handballern musste er auch nicht lange auf seinen strikt
agnostischen Standpunkt verweisen, denn seit einigen Jahren ging er in dieser Einrichtung,
die mit seinem Privatgymnasium kooperiert hatte, ein und aus. Dampf ablassen
würde ihm gut tun. Nach noch nicht einmal vierzehn Tagen hatte er so viel Dampf
abgelassen, dass ihn der Trainer-Pater nicht länger als Aushilfe im Training
betrachtete, sondern konkret mit ihm planen wollte.
Der
"Prager Frühling" zeigte in jenen Wintertagen 1967 schon so
kräftige grüne Triebe, dass die seit dem 15. Jahrhundert historisch politisch
und geistlich aktive Gemeinde von Kolin nach Jahrzehnte langer Unterdrückung
mit einem "ökumenischen" Handball-Turnier für Gottesdiener ein
Zeichen zu setzen wagte. So kam es, dass Johannes am Faschingswochenende mit
neun Patres in dieses malerische mittelböhmische Städtchen mit seinem
weltberühmten Karlsplatz aufbrach, um im Namen des Herrn am Wurfkreis andere
Kirchenmänner auflaufen zu lassen - allerdings mit wenig Erfolg.
Das Turnier war aber eigentlich auch
Nebensache und verblasste gegenüber den anderen Erlebnissen in seiner
Erinnerung, weil die DonBosco-Ballermänner von drei Vorrundenspiele nicht eines
gewannen. Viel spannender waren die politischen Dimensionen dieser
Veranstaltung, die sich abends in unendlichen Diskussionen bei süffigem Bier
und Knödeln mit Soße in den Altstadtkneipen erschlossen. Die Gastgeber wussten
offenbar, was sie ihren historischen Helden, den beiden radikalen Priestern Ambroz Hradecky
und Jakub Vlk, die hier im 15. Jahrhundert als politische Epigonen des
Reformators Jan Hus gewirkt hatten, unter den Kommunisten schuldig geblieben
waren.
Auch die anderen Teams waren mit
Nichtklerikern oder aktiven Laien angereist. So
kam es für diese - die angereisten Patres wohnten natürlich in dem, was
ihnen vom einstigen Kloster erhalten geblieben war - zu kuriosen Situationen bei den Unterkünften.
Johannes hatte einen Fußmarsch über die Elbbrücke zum Eisstadion zu absolvieren
und fand sich dort in einem an eine Kaserne erinnernden Raum mit Stockbetten
wieder, wo ihm das einzige Einzelbett zugewiesen wurde. Er bekam die Waschräume
gezeigt und einen Universalschlüssel in die Hand gedrückt. Das war es dann auch
schon.
Für das Turnier war auch ein Priester-Team
einer katholischen Gemeinde aus Dresden gemeldet. Das wurde von einem jungen
Laien verstärkt, der etwas älter war, aber sich dermaßen positiv von den
anderen DDR-Bürgern unterschied, die Johannes bislang gesehen hatte, dass
sofort Zutrauen und Sympathie zwischen ihnen entstand.
Ronny Pietsch wollte Journalist werden,
Johannes hatte eine Lehre zum Verlagsbuchhändler unmittelbar vor sich, und aus
diesem Umstand entspann sich nach den Spielen oft ein literarischer Diskurs mit
den tschechischen Priestern. Es fielen Namen wie Ota Sik und Vaclav Havel.
Ronny schwärmte von Wolf Biermann, Stefan Heym und dem aktuellen Literatur-Altstar Wolfgang Joho.
Johannes konnte nicht mitreden, aber umso intensiver zuhören. Erstmals
verspürte er, dass das Verfassen von Texten möglicher Weise auch eine
Perspektive für ihn selbst sein könnte. Er wurde regelrecht von einem heiligen
Schauer erfasst, als ihm klar wurde, was die Veröffentlichungen der gebannten
Genannten unter schwierigsten Umständen bei seinen Zechgenossen an Ehrfurcht
auslösten.
Das Bier war so süffig gewesen, dass er sich
ein wenig beschickert, aber unendlich entspannt im Halbdunkel des
notbeleuchteten Eisstadions zu seinem Bett getastet hatte. Beiläufig war ihm
noch aufgefallen, dass er in dem Schlafraum nicht mehr alleine war, aber da
hatte ihn Morpheus schon fest umarmt.
Als er am nächsten Morgen etwas verschwiemelt
erwachte, fiel sein trüber Blick auf eine buschige weibliche Scham und einen
sportlich trainierten Knackpo daneben. Er wollte sich angesichts des netten
Traumes schon auf die andere Seite wälzen, als ihm verlegen weibliches Kichern
und verhaltene spitze Schreie sowie Tuscheln signalisierten, dass er sich
durchaus in der Realität wieder gefunden hatte.
Als er sich aufsetzte, waren die beiden und
all die anderen weiblichen Dekorationsstücke hinter hässlichen, olivfarbenen
Armeehandtüchern verschwunden. Hie und da lugten zwar noch vereinzelt in der
Überraschung vergessene meistenteils ansehnliche Brüste hervor, aber die
übersah Gentleman Johannes natürlich gleich - beim zweiten Hinsehen.
Weil ihm nichts Besseres einfiel, sagte er
nur:
"Good morning ladies, did you sleep well?"
Und
dann ging das babylonische Geschnatter auch schon los. Völlig ungeniert setzten
sich zwei der jungen Frauen an sein Fußende, drei auf das untere Stockbett
gegenüber und der Rest gruppierte sich auf der anderen Seite, als handele sich
das ganze um ein Levée bei Louis XIV.
Folgendes stellte sich heraus: Das Team von
Damen-Handballerstligist Dukla Iglau war auf dem Weg zu einem
Vorbereitungslager auf eine Europa-Pokal-Begegnung mit seinem antiken „Skoda“-Bus
am gestrigen Abend in Kolin gestrandet. Ihnen waren von der Stadion-Verwaltung
die übrigen Betten zugeteilt worden, und man hatte offenbar vergessen, dass das
Einzelbett von einem deutschen Handballer belegt war. Beim Sport nehme man
es aber hier mit der Geschlechter-Trennung
auch nicht so genau, meinte eine in radebrechendem Deutsch nachdrücklich
nickend, indem ihr Blick gespielt versonnen über Johannes nackten Oberkörper
huschte.
Zwei Tage zog sich die Reparatur des
Mannschaftsbusses hin, weil ein Betreuer erst ein Ersatzteil organisieren
musste. Da die berühmten Handballerinnen ihre Vorbereitung nicht unterbrechen
sollten, war die Turnierleitung mit den Trainern der Teams übereingekommen,
dass die ausgeschiedenen Mannschaften in einer anderen Halle als
Trainingspartner der Damen dienen könnten. Die jungen Priester waren
begeistert, war doch dies wohl eine der wenigen noch verbleibenden
Gelegenheiten, bei denen sie mit straff
trainierter weiblicher Anatomie auf Tuchfühlung gehen konnten. Und sie machten
notgedrungen reichlich Gebrauch davon, denn die Dukla-Damen spielten alle Teams
in Grund und Boden. Sie wären mühelos Turniersieger geworden. Die Palme des
Sieges ging jedoch an die Makkabi-Männer. Kolin war nicht nur ein historisches
Zentrum des christlichen Glaubens, sondern nach Prag schon in der Renaissance
auch die zweitgrößte Jüdische Gemeinde der Tschechoslowakei gewesen. Die, die
den Holocaust überlebt hatten und sich vorstellten, es ginge ihnen unter
häheren sozialistischen Bestrebungen
nach gleichen Lebensbedingungen für alle besser, waren ja schon nach dem Krieg und vor der
kommunistischen Machtübernahme in ihre Heimatstadt zurückgekehrt - und wurden wieder Opfer;
diesmal von Moskaus schleichend initiiertem Antisemitismus.
Die jungen Leute jedoch vergaßen während des
Turniers die real existierenden Probleme. Die Veranstaltung, die zu keiner Zeit
bigott und von kameradschaftlicher Toleranz und politischem Optimismus geprägt
wurde, war ein voller Erfolg. Johannes fühlte eine starke Dankbarkeit, dass er
- der stets eher reserviert schüchterne Einzelgänger - diese
"Sport-Kameradschaft" hatte erleben dürfen. Die Dukla-Damen und er
waren im Übrigen übereingekommen, dass er nicht das Quartier wechseln sollte.
Drei Nächte allein mit einem Dutzend junger
Frauen das klang viel versprechend, lief aber tatsächlich auf eine
geschlechtsneutrale Sport-Kumpanei hinaus, an deren Ende Bruder-Schwester-Küsse
und reichlich Adressen ausgetauscht wurden. Man wollte unbedingt in
Briefkontakt bleiben. Und wer wusste es damals denn, vielleicht würde es ja
schon bald mehr Reisefreiheit geben? Aber natürlich kam alles anders - auch
wenn Ronny Pietsch sich zum Abschied sicher war:
"Wir sehen uns wieder!"
Johannes nutzte die neuen Kontakte der ersten
Monate im Beruf, um seine literarischen Lücken zu schließen. Dabei fiel ihm
folgendes auf: Während er vom Ostberliner Aufbau-Verlag die gewünschten Bücher
ohne Probleme zum Kollegen-Rabatt ausgeliefert bekam, musste andererseits jede
Bücherkiste seines Verlages, die durch "die Zone" per Spedition an
Westberliner Buchhandlungen geschickt wurde, mit einer Werke- und Autorenliste
ausgestattet werden. Bücher und Autoren, die der DDR nicht genehm waren, liefen
ernsthaft Gefahr, im Transit beschlagnahmt zu werden. Sie wurden deshalb zum
Teil nach einer Art Index-Liste gesondert behandelt und im Zweifelsfall per
Luftfracht in die geteilte Stadt geschickt. - Auch oder besonders der
mittlerweile in der DDR geächtete Stefan
Heym, der einstige Aushänge-Dichter des Arbeiter- und Bauernstaates...
Trotz
dieser Erfahrung "verschlang" Johannes zunächst unvoreingenommen
Wolfgang Johos "Klassentreffen", den gerade erschienene Roman über
ein deutsch-deutsches Wiedersehen ehemaliger Schulkameraden. Es war brillant
geschrieben und romantisierte ganz dezent das auf das intellektuelle Dasein in
begrenzten Möglichkeiten reduzierte bürgerliche Leben in der DDR: Der Dichter
neben dem Dachdecker in den Kneipen einer malerischen Altstadt als Parabel
einer Einklassen-Gesellschaft gewissermaßen. Johannes wäre dem Staatsschreiber
auch fast auf den Leim gegangen, hätte ihn - den Reisenden - nicht die jähe
Erkenntnis getroffen, dass nichts seine so nachdrücklich geweckte Lust auf
Weimar oder andere historische Städte hinter Mauer und Todesstreifen stillen
konnte. Wenn Johannes Tübingen, Dinkelsbühel oder Rothenburg ob der Tauber
besuchen wollte, konnte er da notfalls auch per Anhalter hin trampen, sollte
ihm das Geld fehlen. An die Wirkungsstätten Goethes führte kein Weg... Es gab
deshalb in seinen Augen am real existierenden Sozialismus nichts, aber auch gar
nichts zu romantisieren.
Ein um vierzig Jahre intoleranter gewordener
Johannes sollte Anfang des neuen Jahrtausends nicht müde werden, unter kaum zu
beherrschenden Wutanfällen daran zu erinnern, wenn Kollegen oder Kunden mit
Doktor-Titeln aus Leipzig und Jena in seinem Beisein einmal wieder über ihre
Studentenzeit in der DDR ins Schwärmen kommen wollten.
1967 noch war dieses Romantisieren des
tatsächlich herrschenden Kommunismus tägliches Kulturgut und Rüstzeug für
hitzige Debatten unter den im fast grenzenlosen Wohlstand heranwachsenden westdeutschen Teens und Twens.
Johannes war gleich nach der Unterschrift
unter den Ausbildungsvertrag sendungsbewusst
in die Gewerkschaft eingetreten. Bücher wie Steinbecks "Stormy
Harvest" hatten bei ihm Vorstellungen über die Notwendigkeit einer
basispolitischen Tätigkeit geweckt. Und draußen auf den Straßen wurde ja auch
manches zu Recht angeprangert. Dass Benno Ohnesorg auf einer Demonstration in
Berlin erschossen wurde, löste auch bei ihm einen Anfall von Ohnmacht aus,
gegen den man unbedingt ankämpfen
musste:
Aber sein praxispolitisches Engagement fand
bereits nach wenigen Monaten ein jähes Ende. Wegen seiner argumentationsstarken
Rhetorik war Johannes alsbald in eine Kommission gewählt worden, die die Situation
der Lehrlinge im Buchhandel verbessern sollte. Im Vergleich zu Auszubildenden
bei Nahrung und Genuss betrug die Ausbildungsbeihilfe im Buchhandel nur gerade
einmal fünfzig Prozent. Bei dieser Bezahlung verweilten aber Lehrlinge viel zu
lange bei Tätigkeiten, die mit der eigentlichen Ausbildung zu speziellen
kaufmännischen Gehilfen nicht zu tun hatten. Gegen die Ausbeutung mit diesen
Hilfsarbeiten wollte Johannes konkret vorgehen und scheiterte an dem
verklausulierten Verständnis für Basisdemokratie der 68er. Statt sein Papier
mit konkreten Forderungen nach Situationsverbesserungen zu diskutieren und zu
verabschieden, musste in den Gremien erst grundsätzlich geklärt werden, von
welcher politischen Plattform überhaupt diskutiert werde: Anhänger von Adorno
und Habermas stritten sich über "humanistisch tendenziöse" oder
"polyhistorische" Einflüsse bei einem Vorgang, der auf einen
einfacheren Nenner gebracht, mehr Ausbildung und weniger Überstunden für nicht
zum Ziel führende Arbeiten und proportionale Anpassung an andere Branchen
erbringen sollte. Als Johannes dies anmerkte, wurde er als Reaktionär
ausgebuht.
Weil er kein Abitur hatte, zog er zunächst
den Schwanz ein vor diesen akademischen Dozierern. Möglicherweise fehlte es ihm
ja tatsächlich an politischer Bildung. Als er wenig später mit seinem Vater und
Vera im Fernsehen eine Diskussion mit und um Rudi Dutschke wegen der
Vorkommnisse an der FU Berlin sah, erlebte er einen eifernden, rhetorisch
brillanten Mann, den er sinngemäß aber nicht verstehen konnte. Und im Kreis der
Familie traute er sich dies auch zuzugeben:
"Pappi! Der spricht immer von
politischer Basis im Volk und von der die Bildung beherrschenden Klasse. Redet
der jetzt so, weil er nur die oben erreichen will? Der kann doch wirklich nicht
im Ernst glauben, dass seine viel
zitierte proletarische Basis ihn versteht!"
Zu seiner Überraschung teilten Vater und
Schwester erstmals eine Meinung mit ihm. Er empfand diesen ideellen Moment als
entscheidenden Wendepunkt, mehr als
viele wirtschaftlich wichtigeren in seinem späteren Leben.
Dass die so genannten 68er etwas bewirkt
haben im politischen Szenario ist ihnen unbenommen. Doch wie viel mehr hätten
sie ausrichten können, wären nicht so viele praxisorientierte Menschen durch
deren dozierende Dialektik vor den Kopf gestoßen worden. Das inzestuöse
Theoretisieren in immer gleichen Kreisen muss bei einigen zudem zu einem
mitunter raschen meist jedoch latenten Verfall der Wahrnehmungsfähigkeit für
das "zu befreiende" Umfeld geführt haben. Johannes hatte Ulrike
Meinhofs "Bambule" gelesen und Andreas Bader als total neben der Spur
agierenden Teenager an seiner Privatschule erlebt. Wie konnte diese Mesalliance
zwischen der hoch begabten Autoren-Journalistin und dem unerzogenen,
ungezogenen Wirrkopf nur in dieser absurd isolierten Syntax der
RAF-Bekennerschreiben enden...?
"Hey, was machst du denn hier?"
"Ich bin Autor für ein
Olympia-Buch."
"Mann, tut das gut dich zu sehen, aber hätte ich dich nicht bei
den Akkreditierungen finden müssen? Ich bin beim NVASportECHO gelandet."
"Das ist ja dann wohl nicht mehr all zu
katholisch, aber - gratuliere! Ich bin nicht akkreditiert. Der Verleger kennt
den OK-Chef. Ich mache ja keine Sportberichterstattung, sondern schreibe
Porträts oder Geschichten hinter den Geschichten. Wo ich Zugang brauche,
bekomme ich spezielle Tickets oder werde gebracht - oder man arrangiert Treffen
für mich. Wie heute. Es geht um die Motivation nach den dramatischen
Vorkommnissen..."
Bei dem Wort Motivation entdeckte Johannes
seinen avisierten Gesprächspartner inmitten einer Schar Athletinnen mit
hängenden Köpfen. Darunter Heide Rosendahl. Es gelang ihm, mit dem
Bundes-Trainer Gerd Osenberg kurz Blickkontakt herzustellen, aber der
schüttelte nur unmerklich und anscheinend resigniert den Kopf.
"Hey, Johannes, wir müssen unbedingt
einen drauf machen. Das ist schließlich deine Stadt. Du kennst ja bestimmt
Plätze, wo man nicht so auf dem Präsentierteller sitzt. Du weißt schon, was ich
meine."
Hinter Johannes Stirn lief kurz ein trauriger
Film im Zeitraffer ab. Er trug den Titel "Wie die olympische Idee ihre
Unschuld verlor". Er sah diese umwerfend natürliche Siebzehnjährige mit
den Beinen, die kurz unter dem Kinn begannen, wie sie am Abend vor dem Drama
ein ums andere Mal über die Latte geflopt war, bis sie am Ende als jüngste
Hochsprung-Olympiasiegerin aller Zeiten ihre Arme zum nächtlichen Himmel über
München empor warf. Er sah den Typen mit dem weißen Tennishütchen am nächsten
Tag auf dem Balkon im Olympischen Dorf und die verschwommenen Fernsehbilder mit
dem Krachen und dem Mündungsfeuer auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck. Und er
hörte den verbiesterten alten Mann, der ein halbes Jahr zuvor den Ski-Helden seiner
Jugend, Karl Schranz, wegen verlogen ausgelegter Amateurparagraphen von den
Olympischen Spielen ausgeschlossen und gestern jedoch das einzig Wahre zu
verkünden hatte:
"The games must go on!"
Die
einzigen, die das allerdings in diesem Moment beherzigten, waren die
Leichtathletinnen der DDR. Er sah auf der anderen Seite der Laufbahn die bullige
Renate Stecher mit ihren Kolleginnen Starts und Staffelwechsel in
Trainingsanzügen üben. Hätte es für Johannes eines ultimativen Anlasses
bedurft, das Wesen der DDR durch etwas Dingliches zu verabscheuen, es wäre das
gewesen, was die volkseigenen Sportmode-Produzenten aus seiner Lieblingsfarbe
Blau gemacht hatten. Die gesamtdeutschen Olympiateams gehörten bereits der
Vergangenheit an, und da musste offenbar der scheußlichste Blauton her, den die
Kombinate „Plaste und Elaste“ zur totalen Abgrenzung liefern konnten.
"Einen drauf machen, ja? Du, irgendwie
ist mir nicht danach. Aber wenn du kannst und frei hast. Ich habe seit kurzem
eine eigene Bude in der Görresstraße. Da kannst du sogar zu Fuß hingehen. Ich
koche uns etwas, und dann können wir uns erzählen, wie es uns in der
Zwischenzeit ergangen ist.“
Drei Tage später tauchte Ronny mit einer
Kaviar-Dose, die er den Russen abgeluchst hatte, bei Johannes auf und es begann
etwas, was beide - hätte man sie
unabhängig von einander befragt - wohl
als eine den Umständen entsprechende "deutsch-deutsche
Männerfreundschaft" bezeichnet hätten.
Sie
warf auch bei der journalisteischen Arbeit Vorteile ab.
Bei der
Fußball-Weltmeisterschaft 1974 war Johannes neben seiner Autorentätigkeit auch
der Ghostwriter für das WM-Buch eines ehemaligen Fußballstars, das bereits am
Montag nach dem Endspiel an den Buchhandel ausgeliefert werden sollte. Ronny
Pietsch hatte Johannes für die einzige Begegnung zweier Deutscher
Nationalmannschaften den Tipp gegeben, dass für DDR-Auswahltrainer Georg
Buschner allein das Spiel gegen die BRD
zählen würde, und er solle für seine Analyse die "zwei Jürgen",
nämlich Sparwasser und Pommerenke, im Auge behalten. Was der bieder und einfach
gestrickte Bundestrainer Helmut Schön offenbar nicht getan hatte. Denn am 22.
Juni schoss die Nummer 14, Sparwasser, das geschichtsträchtige Siegtor.
Die
proletarischen Amateure, die keine waren, besiegten den kapitalistischen
Klassenfeind exemplarisch durch "Fleiß und Disziplin im Kollektiv".
Was wiederum den kapitalistischsten und genialsten aller Fußballstars auf
seinen Weg zur Lichtgestalt führte. Beckenbauer, den seine Mitspieler mit
Abitur hinter seinem Rücken in verkennender Weise gerne einmal
"Dummi" nannten, entmachtete Schön in einer heimlichen und sanften
Revolution und führte sein Team als Kapitän zum
zweiten Weltmeister-Titel -
wieder ins Münchner Olympiastadion.
In der Folge konnte Pietsch
propagandaträchtig eine Story von Johannes unbehelligt fertig schreiben, die
Johannes fast vor den Bundespresserat gebracht hätte. Die beiden Freunde waren
sich einig, dass hüben wie drüben
breitbandig gedopt wurde, was Muskeln und Sehnen hielten. Bis das Thema
wirklich ernsthaft angegangen wurde, gab es ein multilatererales und
pharisäerhaftes Glashaus-Steinewerfen, das immer ausging wie das Hornberger
Schießen. Johannes war unter der Überschrift "Streit um Evas Bart"
einer Mehrkämpferin auf die Schliche gekommen, die statt eines
Ovulationshemmers gleich ein halbes Dutzend Anti-Babypillen schluckte, um durch
hartes Gewichttraining den Gewichtszunahme-Effekt des Präparates in
Muskelwachstum umzuwandeln. Das Spielchen ging so weit, bis die stets bestreitende Athletin vor laufenden
Fernsehkameras einer eidesstattlichen Erklärung zustimmte und sich dann aber
hinter ihrem medizinischen Betreuer, einem Freiburger Professor mit Einfluss
verschanzte. Dieser war über das Ansinnen, an seiner ärztlichen Schweigepflicht
kratzen zu wollen, derart empört, dass er die Pressewächter anrief. Was den
Professor zwei Jahrzehnte später allerdings nicht hinderte, die Dienste von
Johannes als Ghostwriter in Anspruch zu nehmen...
1976 in Innsbruck konnte sich Johannes
revanchieren, indem er Ronny einen Exklusivkontakt zur Gold-Rosi vermittelte,
was der wiederum in Montreal durch ein exklusives Alexejew-Interview gutmachen
wollte. Die Jungs nannten das ihre "Gefälligkeitsbank", für die es
keiner Buchhalter bedurfte. Dass das Interview nicht zustande kam, war aber
nicht ursächlich schuld, dass von da an vermehrt Schatten auf ihren Treffen
lasteten (wie schlüssig dieses Bild war, sollte sich erst sehr viel später
erweisen).
Johannes hatte auf einer Spaghetti-Party, die
ein Schuhhersteller zum Auffüllen der Kohlenhydratspeicher "seiner"
Athleten in den ehrwürdigen Räumlichkeiten der McGill Unversität gegeben hatte,
Frank Shorter, den Marathon-Olympiasieger von München getroffen. Der dort
geborene US-Läufer schüttete Johannes sein Herz aus, nachdem er erfahren hatte,
dass der aus München kam. Es ging um Waldemar Cierpinski, den DDR-Athleten, der
ihm tags zuvor auf den letzten Kilometern das schon sicher geglaubte zweite
Double nach Bikila Abebe vermasselt hatte. Shorter beschwerte sich, dass
Cierpinski sich vorher "nie gezeigt" hätte und er so für ihn
überhaupt nicht einzuschätzen gewesen sei. Johannes wusste, dass es die Kanuten
und Ruderer der DDR genau so machten und kam auf die Idee, ohne die
Unterstützung von Ronny Pietsch ein Essay über "Die Kehrseiten der
Medaillen" vor Ort - also im
DDR-alltäglichen Umfeld der Athleten - recherchieren zu wollen. All diese aus
der Versenkung auf- und wieder abtauchenden
Olympia-Sieger, die die DDR in jenen Jahren zu Dutzenden produzierte und
die zu unheimlichen Medaillen-Bilanzen beitrugen, wollte er in ein Verhältnis
setzen zu den vereinzelten westdeutschen Medaillenträgern, die meist für immer
der Anonymität entronnen und dem Wohlstand bestimmt waren.
Wieder zu Hause, nahm er Kontakt zur Behörde
für innerdeutsche Beziehungen auf - und geriet hüben wie drüben in eine alle
Ideen beerdigende Bürokratie. Als Cierpinski - im Gegensatz zu Shorter - bei
den Boykott-Spielen von Moskau 1980 tatsächlich das zweite Marathon-Double
klarmachte, kannte ihn später trotzdem keiner. Aber Johannes war es
mittlerweile egal, weil er der Sportberichterstattung mehr oder weniger den
Rücken gekehrt hatte. Dass auch Pietsch ihm bei flüchtigen Begegnungen nur noch
Kryptisches zuraunte, führte der darauf zurück, dass Johannes nun "non
grata" sei, und er Schwierigkeiten bekäme, wenn sie zusammen gesehen
würden.
Dann kamen die Winterspiele von Sarajevo.
Alles schien auf einmal, als wäre Johannes' Wahrnehmung nun bereits mehr die
eines anderen... Und Ronny, der gute alte Ronny, tat so, als hätte in den
letzten vier Jahren kein Schatten auf ihrer Freundschaft gelegen. Ronny ließ
sich vom seelischen Verfall seines westdeutschen Kollegen berichten.
Beschwichtigte Johannes, empfahl fürsorglich therapeutische Ansätze und zeigte
sich allzeit gesprächsbereit. Man konnte ja seit neuestem direkt von einer
Redaktion in die andere telefonieren...