Dienstag, 25. Juni 2013

Ronny

Um die nächsten Monate im verwirrten, vom Wege abgekommenen Leben von Johannes Goerz zu verstehen, sollten die Leser etwas über den Beginn dieses "Lebenslaufes" wissen...

Die stete Vergegenwärtigung des zweiten Deutschen Unrecht-Regimes begann für Johannes schon in den 1950ern beim Baden an der Lübecker Bucht oder bei Wanderungen in Lauenburg östlich von Hamburg. Johannes, der nach Westen durch die Reiselust seiner Eltern, schon seit er kaum laufen konnte, ein vielfältiges Europa mit unbeschränkt durchlässigen Grenzen hatte erleben dürfen, begriff Warnschilder und Wachtürme mit Fernglas schwenkenden Stahlhelm-Trägern paradox als "unbegreifliche" Bedrohung. Schlimmer noch prägte sich die Verwahrlosung im Niemandsland zwischen den beiden deutschen Staaten ein. Das aus Mangel an historischem Hintergrundwissen simpel abstrahierende Kinderhirn speicherte also eine permanente Bedrohung oder zumindest ein zunehmendes Unbehagen, das von den "anderen Deutschen" ausging. Wie er kürzlich herausfand, ging es vielen seiner Altersgenossen genau so. Und wenn es in der Folge mit wachsendem Verstand und zusätzlichem Wissen einige Abbuchungen vom Konto dieses Unbehagens gab, so wuchs es doch so an, dass er sich einen Ausgleich nie mehr vorstellen konnte. Natürlich folgte auch er als Schüler den sentimentalen Aufrufen und stellte in der Weihnachtszeit abends Kerzen für "die drüben" ins Fenster. Aber er bekam auch mit, wie das Familien-Leben der Goerzens vom "eisernen Vorhang" tangiert wurde, obwohl die gar keine familiäre Bindungen in die DDR, wohl aber durch Geburt (Walter und Vera) ins geteilte Berlin hatten. Und allein schon die Umstände dort hin zu gelangen, waren prägend.
 
  Was den Status als Geheimnisträger der ersten Kategorie anging, so begegnete Johannes' Vater diesem rückbetrachtet wie Parzival aus Iwein, der deutschen Variante der Artussage - als tumber Tor gewissermaßen. Er ignorierte - was ihn als politische Person anging - die Bedeutung des zu seinen Aufgabenfeldern gehörenden Hamburger Freihafens als Ladestation für das Waffenarsenal der "alliierten Schutzstreitkräfte". Er hatte über seinen Künstler-Club zudem Umgang mit Freidenkern und Kunstschaffenden, die die nach Europa schwappende McCarthy-Hysterie schlicht als kommunistische Agitatoren klassifizierte. Und als 1955 die Bundeswehr kam, gehörten auch deren Liegenschaften auf einmal erschwerend in seinen Verwaltungsbereich.
  Zu dem nachrichtendienstlich "unsicheren Profil" seines Vaters trug aber nun auch - man möchte es heute kaum noch glauben - die unumstößliche Tatsache bei, dass die Vita von Walter Goerz absolut keinen einzigen braunen Flecken aufwies, der des berühmten "Persil-Scheins"  bedurft hätte. Viele höhere Dienstgrade der rund 12.000 Bundeswehrsoldaten der ersten Stunden waren hingegen zum Teil (mitunter schwer) vorbelastete Angehörige der ehemaligen Reichswehr gewesen...
  Mit bloßem Auge (oder war es doch das Fernglas des Zeltnachbarn?) - meinte Johannes sich erinnern zu können - hatten sie im Sommer 1956 von ihrem Strand südlich vom Ostseebad Dahme aus zugesehen, wie die Deutschen und Russen (?) drüben am anderen Ufer der Bucht als Reaktion auf die westdeutsche Wiederaufrüstung ihre Grenztruppen verstärkt und schweres Kriegsgerät in Position gebracht hatten. Zum Kriegsgetrommel kam, dass die Briten vom Schießplatz bei Hohwacht zur Bestätigung ihrer Präsenz - mit Vorliebe während dieser Ferienwochen - auf fliegende Attrappen über der Ostsee schossen.
 
  Zu dem teils bizarren Menschen-Zoo, den sein Vater sein Leben lang ohne Argwohn und aus reinem Interesse an sonderbaren Individuen (im Laufe der Jahre stetig wachsend und unter treuer Pflege per Briefkontakt) angelegt hatte, gehörte ein kleiner, im Prinzip staatenloser, aber dennoch oder gerade deshalb jovialer Mann. Der lebte auf einem Hausboot im Hamburger Freihafen direkt am Pier vor seiner Produktionsstätte. Johannes freute sich jedes Mal, wenn er auf seinen Spaziergängen mit seinem Vater auf dem Boot vorbeischaute, denn es barg für Kinder unerhörte Schätze wie "Buddelschiffe", afrikanische Stammesmasken, historische Waffen, und mit den alten Fotografien, die dicht an dicht die freien Bootswände innen bedeckten, wurden Sehnsüchte nach Freiheit und Abenteuer geweckt.
  Der Vater von Johannes hatte jedoch auch noch einen anderen Grund, den Mann regelmäßig aufzusuchen, und der war nicht nur auf die Tatsache zurückzuführen, dass die gepachtete Fabrikhalle für dessen Produktion zum Bundesvermögen gehörte. Boris Barylli, eine Kombination aus Louis de Funes und Dany DeVito mit Fadenbärtchen, hatte eine geniale Geschäftsidee gehabt. Selbst Vertriebener, Gefangener, Internierter zweier großer und einiger kleiner Kriege hatte er die Bedeutung von Stacheldraht im wahrsten Sinne des Wortes oft genug am eigenen Leib erfahren und folgende Erkenntnis gewonnen: So lange die Menschen nicht in Frieden leben, werden sie Stacheldraht brauchen, um sich oder andere ab- oder auszugrenzen.
  Zu dieser Erkenntnis kam ein schlaues geschäftliches Konzept. Mit dem Rückgang des Bergbaues und der Zunahme von Bergbahnen für das Freizeitvergnügen fielen Drahtseile und Förderkabel als Schrott an. Dieser Schrott wurde zollfrei in den Hamburger Freihafen eingeführt, "enttüdelt" und wie Boris, das kosmopolitische Chamäleon  - es in astreinem Hamburger Singsang, dem "Missingsch", nannte  - als "bangich feinen neuen Stocheldroht"  ebenso zoll- wie steuerfrei in alle Welt exportiert. Der Vater von Johannes wiederum leitete von Informationen über Baryllis Auftragslage für sich privat Tendenzen zur allgemeinen Weltsicherheitslage ab.
  Als Barylli die Liegegebühren für sein Hausboot mit dem wachsenden Wirtschaftswunder zu hoch wurden, fragte er eines Tages bei Walter Goerz an, ob etwas dagegen einzuwenden sei, wenn er das Hausboot auf das Dach der Werkshalle hievte. Fortan lebte Boris, der Gestrandete, in einem Hausboot auf dem Dach seiner Fabrik und wurde viel später als wahrer "Drahtzieher" zu einer Art Vordenker des Hamburger Freihafens...
 
  Dass die Goerz-Familie ihre ausgedehnten sommerlichen Ferien-Exkursionen ausgerechnet in der neuerlichen Permafrost-Zeit des kalten Krieges nach Osten verlagern wollte, verbesserte den suspekten Status ihres Oberhauptes vermutlich nicht. Dass sie 1958 alle fünf  - eingequetscht in einen „VW-Käfer“ (mit für mehr Stauraum herausgenommener Lehne der Rückbank) - dennoch durch Tito-Jugoslawien und im Transit-Konvoi durch Bulgarien nach Istanbul reisen durften, war nur vermeintlich ein Sieg der väterlichen Blauäugigkeit. Was war das damals noch für eine Abenteuerreise gewesen: Johannes begriff erst später nach und nach die "edle Einfalt" seines gramgebeugten Erzeugers beim Schaffen und Nutzen eigener Netzwerke. Es kam schon bei der zweiten Reise dieser Art, die sie 1960 bereits von München aus unternahmen, einerseits zu Erleichterungen, andererseits aber auch zu unheimlichen Begegnungen der wundersamen Art. Dieses Mal ging es bis nach Persien - da aber nur noch zu viert ohne die nun arbeitende Ulla und ohne den Transit-Konvoi durch Bulgarien! 
  Um die vermeintlich freien Reisebedingungen zu verstehen, müssen zunächst die neuen Wohnverhältnisse der Goerzens in München beschrieben werden:
 
  Johannes und sein Vater waren die ersten, die zwei von den US-Streitkräften geräumte Reihenhaus-Reihen einer Siedlung mit Dienstwohnungen im feinen Münchner Bogenhausen bezogen. Gemessen an der "Dienst-Behelfswohnung" in Hamburg war dieses Haus ein geräumiger Palast, dessen viele Zimmer zunächst nur zu füllen waren, weil das Möbeldepot des amerikanischen Konsulats mit äußerst repräsentativen Stücken aushalf. Um wenige Wochen versetzt zog dann auch der neue US-Vizekonsul Trevor Tight  gleich in zwei Häuser jenseits des Spielrasens, aber direkt gegenüber. Tight und seine rothaarige, grünäugige und unendlich schöne irische Frau (ja, die Klischees) brauchten beide Häuser mit Durchbruch, weil sie zehn Kinder unterbringen mussten, während Nummer 11  - beim Einzug bereits deutlich sichtbar - unterwegs war. Je drei hatten sie in ihre zweite Ehe (verwitwet, nicht geschieden, da streng katholisch) mitgebracht. Der Rest der Orgelpfeife, die sich jeden Sonntag brav für die Oberföhringer Kirche fein machte, war Gemeinschaftsarbeit. Tight war äußerlich ein wie Walter Goerz früh ergrauter Schönling von sensibler Sanftmut, was prima über die Tatsache hinwegtäuschte, dass er in Wahrheit ein knallharter Nachrichten-Mann war. Sein Nachbar war Josh Millar, ein hawaiianisch aussehender Jude mit einer kleinen quirligen Frau und zwei wie Indianerkinder anmutende Mädchen, die mit ihrem Temperament die ganze Nachbarschaft aufmischten. Millar war einer von drei Topagenten, die, wie DER SPIEGEL ein paar Jahre später aufdeckte, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs dazu ausersehen gewesen waren, mit einem Himmelfahrtskommando die "Alpenfestung" zu knacken, falls Hitler sich samt seiner Entourage aus dem eingekesselten Berlin in das ausgespähte Areal zurückgezogen hätte. Die restlichen drei Häuser der "amerikanischen Reihe" wurden nach Dienstgraden von  "Marines" bezogen, die das US-Konsulat in der Königinstraße zu beschützen hatten.
  Innerhalb eines halben Jahres formierte sich auch die "Deutsche Reihe": Neben die Goerzens zog Oberstleutnant Alzmüller mit Frau und zwei Kindern (ein drittes war unterwegs). Alzmüller war das beim MAD (Militärischer Abschirmdienst), was wiederum sein Nachbar,  Alexander Graf von Nedwitz, für die Bundesvermögensverwaltung war: Abteilungsleiter innere Kommunikation.
  Bundesvermögensverwaltung war einer der - leicht mit der Bundesvermögensstelle zu verwechselnden - Tarnnamen für die vom südlichen Münchner Vorort Pullach  koordinierten "Deutschen Dienste", die Ex-General Reinhard Gehlen schon seit 1945 unter US-Patronat wieder hatte aufbauen dürfen. Der Graf und seine wie eine Zwillingsschwester von Marlene Dietrich aussehende Gemahlin waren kinderlos. Sie machten zudem keinen Hehl daraus, dass sie irgendwelchen verlorenen Herrensitzen im Osten nachtrauerten und sich im Übrigen in der eher spießigen Nachbarschaft deplatziert vorkamen. Zumal Vlad Vermes, der nächste Nachbar ein osteuropäisches Image pflegte, das von seiner exotisch, slawisch schönen Frau degoutant mit knoblauchschweren Kochorgien unterstrichen wurde. Die Vermes hatten zwei heranwachsende Söhne. Der jüngere war im Alter von Johannes und wurde ein Wegbegleiter bis zur Gegenwart.
  Ob diejenigen, die für diese Konstellation verantwortlich waren, all die miteinander spielenden Kinder als Sicherheitsrisiko billigend in Kauf genommen  oder ob sie die vermeintliche Gefahr einer "infantilen Enttarnung" schlichtweg unterschätzt hatten, lässt sich auch im Rückblick nur schwer feststellen. Es ist jedoch eine Tatsache, dass die Kids - die sich bereits in "Denglish" unterhielten, ehe dieser Begriff geprägt wurde - innerhalb der nächsten Jahre alles über alle wussten. Auch über die restlichen beiden Familien in  der "deutschen Reihe" mit  fast erwachsenen Töchtern und Söhnen, zu denen die Rasselbande keinen Kontakt pflegte.
  Vater Offenbacher im vorletzten Haus arbeitete bei Alzmüller in der Abteilung und war eigentlich der Dienstältere gewesen, aber wegen eines leichten Alkohol-Problems bei der Beförderung übergangen worden. Was Teufel Alkohol in der Folge nach und nach die Oberhand gewinnen ließ. Mit dieser "Oberhand" griff er dann gelegentlich den flügge werdenden Nachbarstöchtern an Stellen, deren Berühren ihn heutzutage wegen sexueller Nötigung in den Knast gebracht hätte. Als Johannes' frühreife Schwester Vera - zu jenem Zeitpunkt der Jungfernschaft längst verlustig - behauptete, man müsse sich bei Offenbacher regelrecht "seiner Haut" wehren, löste sie in ihrer Familie indes nur zynisch zotiges Gelächter aus. O tempora! O mores!
  Für die Kinder der spannendste Nachbar war jedoch Major Carl Leonhardt im letzten Haus der Deutschen Reihe. Er konnte in Gurkeneimern aus in den Haushalten gängigen Chemikalien und Putzmitteln zu Silvester herrlich farbig krachende "Feuerwerkskörper" basteln. Die gesamte internationale Nachbarschaft  erstarrte vor Neid und Schreck, bevor sie beim nächsten Jahresende begeistert jubelte und das "Aufrüsten" mit eigenen Raketen und Böllern unterließ.
  In dieser (ge)heimeligen Konstellation hatte der Vater von Johannes eine Schlüsselposition, weil die Behörde, der er vorstand, sowohl für die Liegenschaften in Pullach als auch die der Bundeswehr verwaltungstechnisch zuständig war. Tatsächlich war er auch für die Wohnanlage übergeordnet verantwortlich, in der er nun selbst mit seinen geheimnisvollen Nachbarn wohnte.
  Unter diesen Vorzeichen war die Genehmigung der zweiten Reise nach Osten einerseits ein Wunder und andererseits nun doch wieder nicht. Die Unbedenklichkeit wurde quasi durch "Arrangements" gewährt, die unterwegs für die Goerzens getroffen wurden: Voraussetzung war wohl, dass an den strategisch bedenklichen Orten auf das so lieb gewordene Camping verzichtet wurde. In Belgrad traf man im Putnik-Hotel zufällig Freunde von den Vermes. In Sofia speisten sie beim amerikanischen Konsul, der beim Dinner von Tight als Kampfgenossen im Korea-Krieg schwärmte, und in Istanbul räumte ein hoher türkischer Nato-Offizier einen Teil seiner Wohnung, um die verrückte deutsche Familie, die er gar nicht kannte, "sicher" unterzubringen. - Sein Freund, Major Leonhardt, hatte ihn darum gebeten. In Ankara eilte ihnen ein eifriger Botschaftssekretär entgegen und meinte laut und für alle hörbar, man hätte ja schon sooo auf sie gewartet.  - Nur weil sie zwei Tage später eingetroffen waren als avisiert. 
  Schuld an der Verspätung war der Stadt-Kommandant im persischen Täbris gewesen. Er hatte als einziger Zicken gemacht. Wohl weil in jenem Moment gerade mal kein westlicher Dienst Zugriff auf ihn hatte. Er gehörte der antiamerikanischen Gruppierung des ehemaligen Ministerpräsidenten Mossadegh an, die wenig später erneut versuchen sollte, den Schah  zu entmachten (beseitigen?).
  Zwei Tage wurden die vier Goerzens festgehalten, ehe er sie großspurig vorführen ließ, um der Blut und Angst schwitzenden Familie nach einem langen Loblied auf Adolf Hitler und eine Tirade gegen Israel die konfiszierten Pässe samt sofort zu verwendenden Rückreise-Visen auszuhändigen. Johannes verstand von all dem nichts, aber er begriff sehr wohl schon, was die Hand eines der Sicherheitsoffiziere, mit dem er auf der Rückbank saß,  in seiner Unterhose suchte, als sie in  amerikanischen (!) Straßenkreuzern zum Hotel zurück chauffiert wurden.
   Hatten die politischen Seismographen im Hirn seines Vaters im Vorfeld des Kommenden warnend ausgeschlagen? Man weiß es nicht genau. Statt eines exotischen Ziels wurde 1961 eine ebenso umfassende wie unverfängliche Nordland-Reise für die großen Ferien in Angriff genommen, die die Familie just an jenem Tag wieder sicher (?) auf deutschem Boden sah, als der dritte Weltkrieg drohte.
  Am 13. August hatten die Vopos und Volksarmisten der DDR damit begonnen, in Berlin eine Mauer gegen die permanenten "imperialistischen Übergriffe" des Westens hochzuziehen. Ein Vorgang, der Johannes' Kindheit - wie er heute meint - von einem Tag auf den anderen beendet hatte. Mag sein, dass ihn das in den Leseorgien angeeignete Wissen infolge der gerade überwundenen schweren Erkrankung schon vorher in eine Art Übergangsstadium versetzt hatte. Die Wut über die von Walter Ulbricht in sächselnder Fistelstimme vorgetragenen Absurditäten entsprach bereits einem erwachsenen, politischen Bewusstsein - auch wenn der Kopf noch auf einem braungebrannten nur mit Badehose bekleideten Knabenkörper saß.
  Während die Gleichaltrigen nun bald darüber stritten, ob die Beatles oder die Rolling Stones die tollere Musik machten oder auf schummerigen Knutschpartys getwistet wurde, bis die Körper trieften - es  gelang Johannes schon da nicht, seine erneut wachsenden Urängste zu verdrängen. Und die Zeit war auch nicht angetan dazu.
  In den drei Jahren bis zum Eintritt der USA in den Vietnam-Krieg 1964 passierte so einiges, was den Fortbestand der Erde in Frage stellte und selbst historisch orientierte Erwachsene überforderte. Da feierte die Welt den charismatisch jugendlich wirkenden US-Präsidenten für seine Worte "Ick bin oin Balina" , dann obsiegte er sogar im Atom-Poker der Cuba-Krise und ein Jahr später war er auch schon tot - ermordet unter mehr als mysteriösen Umständen.
  Johannes, der in dieser Zeit regelmäßig wegen der bevorstehenden Konfirmation in die Kirche ging, registrierte, dass die ansonsten eher schütter besuchte evangelische Kirche in Bogenhausen vom September 1962 bis Weihnachten 1963 an ihre räumlichen Kapazitätsgrenzen stieß. In einer aus ansteckender Angst  geborenen Solidarität stürmten die Menschen - ob gläubig oder nicht - die Gotteshäuser. Die Volksrepublik China wandte sich von den Russen ab. Tito hatte sein Vielvölker-Jugoslawien fast unbemerkt auf einen eigenen Kurs gesteuert. Nur die DDR war ehrgeizig genug, russischer zu sein als die Russen selbst. Der tägliche Gräuel an der innerdeutschen Grenze wurde angesichts des drohenden Weltuntergangs für Monate zweitrangig, als folgte alles einer Art Masterplan.
  Es existierten daher in der Folge 870 km Grenzzaun, dazu auf 440 km Selbstschussanlagen SM-70, 230 km Minenfelder Typ 66, 602 km Kfz-Sperrgräben und 434 Beobachtungstürme. Flüchtige wurden als „Republikflüchtlinge“, die "rübergemacht" hatten, diffamiert; ihre zurückgelassenen Familien waren Repressionen bis hin zu langen Zuchthausstrafen ausgesetzt. Über 400 registrierten, vorsätzlichen Tötungen stand eine bis heute ungeklärte Dunkelziffer von tödlichen Schicksalen an Mauer und Todeszaun gegenüber. Johannes wollte dies alles selbst in dem Moment nicht vergessen, da nur noch museale Stücke dieses durchaus mit den KZs zu vergleichenden Horrors übrig geblieben waren. Die in solchem Unrecht meist allein und für sich Gestorbenen hätte die Zahl der Mitgefallenen gewiss nicht interessiert. Scheinheilige Moralisten versuchten trotz dessen eine abwägende Quantifizierung des Leidens unter Nazi- oder DDR-Lebensbedingungen.
 
  Als die Ungarn sich schon 1956 nach Stalins Tod aus der Umklammerung des Russischen Bären lösen wollten, war Johannes noch zu klein, aber da seine Mutter Rita akribisch jede Ausgabe des SPIEGEL von der ersten Nummer an gesammelt hatte, war er in der Lage, die damalige Stimmungslage durch Nachlesen nach zu fühlen, als aus der Tschechoslowakei bereits ab 1964 gegen den eisigen Wind Signale einer ähnlichen Entwicklung zu vernehmen waren.
  Es begann mit touristischen Erleichterungen. Ob der mit Östlichem betraute Nachbar Vlad Vermes den Goerzens die Pfingst-Reise nach Prag 1964 irgendwie als Floh ins Ohr gesetzt hatte, gibt die Erinnerung nicht mehr preis. Aber es war wohl so, dass der entscheidende Impuls für die Fahrt in die Goldene Stadt von Johannes selbst ausging, denn er wünschte sich nichts weiter als diese Reise als "Konfirmationsgeschenk".
  Über die möglichen Schwierigkeiten seines Vaters für die Genehmigung dieser Reise wurde im Familienkreis nicht diskutiert. Als sie erteilt wurde, ging es mit dem Ford 17M los, und es wurde bei all den Reisen, die Johannes noch unternehmen sollte, bis heute eine der eindrucksvollsten und schönsten, da sie aus einem neuen, persönlichen Bewusstsein heraus wahrgenommen und mit der ersten eigenen Kamera festgehalten wurde.
  Gemessen an der renovierten Wirtschaftswunder-Pracht von heute, wirkte das Prag von 1964 nicht golden, sondern eher düster und achtlos dem tristen Verfall  preisgegeben. Aber in dieser morbiden Schönheit schwelgte Johannes, weil er überall auf Lebenslust stieß. Dieses Pfingsten war vom Wetter her  wechselhaft, aber die Einheimischen waren es nicht. Sie genossen den Frühling, der noch nichts von jenem Horror ahnen ließ, der dem "Prager Frühling" folgen sollte. Die Kastanien blühten auf dem Moldau-Ufer der Kleinseite, und auf den Bänken unter ihnen kam es ein ums andere Mal zu unkomplizierten Begegnungen. Die Älteren kramten ihre Deutschkenntnisse mit diesem charmanten Akzent hervor, die Jungen erprobten ihr Englisch. Erstaunlicher Weise wurde wenig gejammert oder Schuld zugewiesen. Es wurde eher philosophiert. Die Einheimischen schienen mit einiger Sicherheit unterscheiden zu können zwischen den privilegierteren DDR-Bürgern, die schon seit einiger Zeit das billigere und reichhaltigere Warenangebot in der tschechoslowakischen Hauptstadt zu Hamsterkäufen nutzten und jenen Westdeutschen, die eher aus kulturellem Interesse auf ihren gewohnten Reisestandard verzichteten. In der Tat führten sich die Deutschen aus der DDR in den Einkaufsmeilen rund um den Wenzelsplatz einerseits oft wie Angehörige einer Besatzungsmacht auf. Das war eine gänzlich andere Klientel, als die, die ein Vierteljahrhundert später den Garten der deutschen Botschaft in Prag zum Bersten bringen sollte...
  Natürlich mischten sich auch die  Agenten der gefürchteten DSP, der geheimen Tschechischen Staatspolizei, in das bunte Treiben. Sie waren unschwer an ihrem meist tadellosen Deutsch und den eine Spur zu dick aufgetragenen "traurigen Legenden" auszumachen. Und dann hatte Johannes ja auch in der Münchner Nachbarschaft genügend von der konzentrischen Befragungstechnik "solcher Leute" mitbekommen, um durch Ausbrechen aus "den Kreisen" mittels unsinniger Gegenfragen zu signalisieren, dass bei ihm nachrichtentechnisch nichts zu holen war. Komischer Weise machten diese Dunkelmänner sich nicht an Walter, Rita und Vera heran.
  Drei Jahre später und achtzehn Monate bevor russische Panzer - logistisch von der Volksarmee unterstützt - von deutschem Boden (!) auf Prag zurollten, um Alexander Dubcek und seinen Reformen den Garaus zu machen, führte Johannes der pure Zufall noch einmal in die Tschechoslowakei. Das geschah vierzehn Tage bevor er ins Berufsleben eintreten sollte.
  Dieser Umstand, dass sein Lebensweg also bald eine neue Richtung nehmen sollte, war die eigentliche Motivation für den Trip und nicht etwa die religiöse Komponente der Reise:
   Johannes hatte  gerade die Schule geschmissen und seit Weihnachten sonst nichts zu tun, als einen Schreibmaschinen-Kurs bei den Salesianern zu besuchen.
   Der junge Pater, der den Kurs leitete und offenbar die Zerrissenheit von Johannes erahnte, nahm ihn eines Abends zur Seite und fragte mit einem Hinweis auf dessen  unübersehbare Athletik, ob er nicht gelegentlich in der Handball-Mannschaft des Salesianums als Rückraum-Spieler aushelfen wolle. Bei den DonBosco-Handballern musste er auch nicht lange auf seinen strikt agnostischen Standpunkt verweisen, denn seit einigen Jahren ging er in dieser Einrichtung, die mit seinem Privatgymnasium kooperiert hatte, ein und aus. Dampf ablassen würde ihm gut tun. Nach noch nicht einmal vierzehn Tagen hatte er so viel Dampf abgelassen, dass ihn der Trainer-Pater nicht länger als Aushilfe im Training betrachtete, sondern konkret mit ihm planen wollte.
  Der  "Prager Frühling" zeigte in jenen Wintertagen 1967 schon so kräftige grüne Triebe, dass die seit dem 15. Jahrhundert historisch politisch und geistlich aktive Gemeinde von Kolin nach Jahrzehnte langer Unterdrückung mit einem "ökumenischen" Handball-Turnier für Gottesdiener ein Zeichen zu setzen wagte. So kam es, dass Johannes am Faschingswochenende mit neun Patres in dieses malerische mittelböhmische Städtchen mit seinem weltberühmten Karlsplatz aufbrach, um im Namen des Herrn am Wurfkreis andere Kirchenmänner auflaufen zu lassen - allerdings mit wenig Erfolg.
  Das Turnier war aber eigentlich auch Nebensache und verblasste gegenüber den anderen Erlebnissen in seiner Erinnerung, weil die DonBosco-Ballermänner von drei Vorrundenspiele nicht eines gewannen. Viel spannender waren die politischen Dimensionen dieser Veranstaltung, die sich abends in unendlichen Diskussionen bei süffigem Bier und Knödeln mit Soße in den Altstadtkneipen erschlossen. Die Gastgeber wussten offenbar, was sie ihren historischen Helden, den  beiden radikalen Priestern Ambroz Hradecky und Jakub Vlk, die hier im 15. Jahrhundert als politische Epigonen des Reformators Jan Hus gewirkt hatten, unter den Kommunisten schuldig geblieben waren.
  Auch die anderen Teams waren mit Nichtklerikern oder aktiven Laien angereist. So  kam es für diese - die angereisten Patres wohnten natürlich in dem, was ihnen vom einstigen Kloster erhalten geblieben war -  zu kuriosen Situationen bei den Unterkünften. Johannes hatte einen Fußmarsch über die Elbbrücke zum Eisstadion zu absolvieren und fand sich dort in einem an eine Kaserne erinnernden Raum mit Stockbetten wieder, wo ihm das einzige Einzelbett zugewiesen wurde. Er bekam die Waschräume gezeigt und einen Universalschlüssel in die Hand gedrückt. Das war es dann auch schon.
  Für das Turnier war auch ein Priester-Team einer katholischen Gemeinde aus Dresden gemeldet. Das wurde von einem jungen Laien verstärkt, der etwas älter war, aber sich dermaßen positiv von den anderen DDR-Bürgern unterschied, die Johannes bislang gesehen hatte, dass sofort Zutrauen und Sympathie zwischen ihnen entstand.
  Ronny Pietsch wollte Journalist werden, Johannes hatte eine Lehre zum Verlagsbuchhändler unmittelbar vor sich, und aus diesem Umstand entspann sich nach den Spielen oft ein literarischer Diskurs mit den tschechischen Priestern. Es fielen Namen wie Ota Sik und Vaclav Havel. Ronny schwärmte von Wolf Biermann, Stefan Heym und dem  aktuellen Literatur-Altstar Wolfgang Joho. Johannes konnte nicht mitreden, aber umso intensiver zuhören. Erstmals verspürte er, dass das Verfassen von Texten möglicher Weise auch eine Perspektive für ihn selbst sein könnte. Er wurde regelrecht von einem heiligen Schauer erfasst, als ihm klar wurde, was die Veröffentlichungen der gebannten Genannten unter schwierigsten Umständen bei seinen Zechgenossen an Ehrfurcht auslösten.
  Das Bier war so süffig gewesen, dass er sich ein wenig beschickert, aber unendlich entspannt im Halbdunkel des notbeleuchteten Eisstadions zu seinem Bett getastet hatte. Beiläufig war ihm noch aufgefallen, dass er in dem Schlafraum nicht mehr alleine war, aber da hatte ihn Morpheus schon fest umarmt.
  Als er am nächsten Morgen etwas verschwiemelt erwachte, fiel sein trüber Blick auf eine buschige weibliche Scham und einen sportlich trainierten Knackpo daneben. Er wollte sich angesichts des netten Traumes schon auf die andere Seite wälzen, als ihm verlegen weibliches Kichern und verhaltene spitze Schreie sowie Tuscheln signalisierten, dass er sich durchaus in der Realität wieder gefunden hatte.
   Als er sich aufsetzte, waren die beiden und all die anderen weiblichen Dekorationsstücke hinter hässlichen, olivfarbenen Armeehandtüchern verschwunden. Hie und da lugten zwar noch vereinzelt in der Überraschung vergessene meistenteils ansehnliche Brüste hervor, aber die übersah Gentleman Johannes natürlich gleich - beim zweiten Hinsehen.
  Weil ihm nichts Besseres einfiel, sagte er nur:
  "Good morning ladies, did you sleep well?"
  Und dann ging das babylonische Geschnatter auch schon los. Völlig ungeniert setzten sich zwei der jungen Frauen an sein Fußende, drei auf das untere Stockbett gegenüber und der Rest gruppierte sich auf der anderen Seite, als handele sich das ganze um ein Levée bei Louis XIV.
  Folgendes stellte sich heraus: Das Team von Damen-Handballerstligist Dukla Iglau war auf dem Weg zu einem Vorbereitungslager auf eine Europa-Pokal-Begegnung mit seinem antiken „Skoda“-Bus am gestrigen Abend in Kolin gestrandet. Ihnen waren von der Stadion-Verwaltung die übrigen Betten zugeteilt worden, und man hatte offenbar vergessen, dass das Einzelbett von einem deutschen Handballer belegt war. Beim Sport nehme man es  aber hier mit der Geschlechter-Trennung auch nicht so genau, meinte eine in radebrechendem Deutsch nachdrücklich nickend, indem ihr Blick gespielt versonnen über Johannes nackten Oberkörper huschte.
  Zwei Tage zog sich die Reparatur des Mannschaftsbusses hin, weil ein Betreuer erst ein Ersatzteil organisieren musste. Da die berühmten Handballerinnen ihre Vorbereitung nicht unterbrechen sollten, war die Turnierleitung mit den Trainern der Teams übereingekommen, dass die ausgeschiedenen Mannschaften in einer anderen Halle als Trainingspartner der Damen dienen könnten. Die jungen Priester waren begeistert, war doch dies wohl eine der wenigen noch verbleibenden Gelegenheiten, bei denen sie mit  straff trainierter weiblicher Anatomie auf Tuchfühlung gehen konnten. Und sie machten notgedrungen reichlich Gebrauch davon, denn die Dukla-Damen spielten alle Teams in Grund und Boden. Sie wären mühelos Turniersieger geworden. Die Palme des Sieges ging jedoch an die Makkabi-Männer. Kolin war nicht nur ein historisches Zentrum des christlichen Glaubens, sondern nach Prag schon in der Renaissance auch die zweitgrößte Jüdische Gemeinde der Tschechoslowakei gewesen. Die, die den Holocaust überlebt hatten und sich vorstellten, es ginge ihnen unter häheren  sozialistischen Bestrebungen nach gleichen Lebensbedingungen für alle besser, waren ja  schon nach dem Krieg und vor der kommunistischen Machtübernahme in ihre Heimatstadt  zurückgekehrt - und wurden wieder Opfer; diesmal von Moskaus schleichend initiiertem Antisemitismus.
  Die jungen Leute jedoch vergaßen während des Turniers die real existierenden Probleme. Die Veranstaltung, die zu keiner Zeit bigott und von kameradschaftlicher Toleranz und politischem Optimismus geprägt wurde, war ein voller Erfolg. Johannes fühlte eine starke Dankbarkeit, dass er - der stets eher reserviert schüchterne Einzelgänger - diese "Sport-Kameradschaft" hatte erleben dürfen. Die Dukla-Damen und er waren im Übrigen übereingekommen, dass er nicht das Quartier wechseln sollte.
  Drei Nächte allein mit einem Dutzend junger Frauen das klang viel versprechend, lief aber tatsächlich auf eine geschlechtsneutrale Sport-Kumpanei hinaus, an deren Ende Bruder-Schwester-Küsse und reichlich Adressen ausgetauscht wurden. Man wollte unbedingt in Briefkontakt bleiben. Und wer wusste es damals denn, vielleicht würde es ja schon bald mehr Reisefreiheit geben? Aber natürlich kam alles anders - auch wenn Ronny Pietsch sich zum Abschied sicher war:
  "Wir sehen uns wieder!"
  Johannes nutzte die neuen Kontakte der ersten Monate im Beruf, um seine literarischen Lücken zu schließen. Dabei fiel ihm folgendes auf: Während er vom Ostberliner Aufbau-Verlag die gewünschten Bücher ohne Probleme zum Kollegen-Rabatt ausgeliefert bekam, musste andererseits jede Bücherkiste seines Verlages, die durch "die Zone" per Spedition an Westberliner Buchhandlungen geschickt wurde, mit einer Werke- und Autorenliste ausgestattet werden. Bücher und Autoren, die der DDR nicht genehm waren, liefen ernsthaft Gefahr, im Transit beschlagnahmt zu werden. Sie wurden deshalb zum Teil nach einer Art Index-Liste gesondert behandelt und im Zweifelsfall per Luftfracht in die geteilte Stadt geschickt. - Auch oder besonders der mittlerweile in der DDR  geächtete Stefan Heym, der einstige Aushänge-Dichter des Arbeiter- und Bauernstaates...
   Trotz dieser Erfahrung "verschlang" Johannes zunächst unvoreingenommen Wolfgang Johos "Klassentreffen", den gerade erschienene Roman über ein deutsch-deutsches Wiedersehen ehemaliger Schulkameraden. Es war brillant geschrieben und romantisierte ganz dezent das auf das intellektuelle Dasein in begrenzten Möglichkeiten reduzierte bürgerliche Leben in der DDR: Der Dichter neben dem Dachdecker in den Kneipen einer malerischen Altstadt als Parabel einer Einklassen-Gesellschaft gewissermaßen. Johannes wäre dem Staatsschreiber auch fast auf den Leim gegangen, hätte ihn - den Reisenden - nicht die jähe Erkenntnis getroffen, dass nichts seine so nachdrücklich geweckte Lust auf Weimar oder andere historische Städte hinter Mauer und Todesstreifen stillen konnte. Wenn Johannes Tübingen, Dinkelsbühel oder Rothenburg ob der Tauber besuchen wollte, konnte er da notfalls auch per Anhalter hin trampen, sollte ihm das Geld fehlen. An die Wirkungsstätten Goethes führte kein Weg... Es gab deshalb in seinen Augen am real existierenden Sozialismus nichts, aber auch gar nichts zu romantisieren.
  Ein um vierzig Jahre intoleranter gewordener Johannes sollte Anfang des neuen Jahrtausends nicht müde werden, unter kaum zu beherrschenden Wutanfällen daran zu erinnern, wenn Kollegen oder Kunden mit Doktor-Titeln aus Leipzig und Jena in seinem Beisein einmal wieder über ihre Studentenzeit in der DDR ins Schwärmen kommen wollten.
  1967 noch war dieses Romantisieren des tatsächlich herrschenden Kommunismus tägliches Kulturgut und Rüstzeug für hitzige Debatten unter den im fast grenzenlosen Wohlstand heranwachsenden  westdeutschen Teens und Twens.
   Johannes war gleich nach der Unterschrift unter den Ausbildungsvertrag sendungsbewusst  in die Gewerkschaft eingetreten. Bücher wie Steinbecks "Stormy Harvest" hatten bei ihm Vorstellungen über die Notwendigkeit einer basispolitischen Tätigkeit geweckt. Und draußen auf den Straßen wurde ja auch manches zu Recht angeprangert. Dass Benno Ohnesorg auf einer Demonstration in Berlin erschossen wurde, löste auch bei ihm einen Anfall von Ohnmacht aus, gegen den  man unbedingt ankämpfen musste:
  Aber sein praxispolitisches Engagement fand bereits nach wenigen Monaten ein jähes Ende. Wegen seiner argumentationsstarken Rhetorik war Johannes alsbald in eine Kommission gewählt worden, die die Situation der Lehrlinge im Buchhandel verbessern sollte. Im Vergleich zu Auszubildenden bei Nahrung und Genuss betrug die Ausbildungsbeihilfe im Buchhandel nur gerade einmal fünfzig Prozent. Bei dieser Bezahlung verweilten aber Lehrlinge viel zu lange bei Tätigkeiten, die mit der eigentlichen Ausbildung zu speziellen kaufmännischen Gehilfen nicht zu tun hatten. Gegen die Ausbeutung mit diesen Hilfsarbeiten wollte Johannes konkret vorgehen und scheiterte an dem verklausulierten Verständnis für Basisdemokratie der 68er. Statt sein Papier mit konkreten Forderungen nach Situationsverbesserungen zu diskutieren und zu verabschieden, musste in den Gremien erst grundsätzlich geklärt werden, von welcher politischen Plattform überhaupt diskutiert werde: Anhänger von Adorno und Habermas stritten sich über "humanistisch tendenziöse" oder "polyhistorische" Einflüsse bei einem Vorgang, der auf einen einfacheren Nenner gebracht, mehr Ausbildung und weniger Überstunden für nicht zum Ziel führende Arbeiten und proportionale Anpassung an andere Branchen erbringen sollte. Als Johannes dies anmerkte, wurde er als Reaktionär ausgebuht.
  Weil er kein Abitur hatte, zog er zunächst den Schwanz ein vor diesen akademischen Dozierern. Möglicherweise fehlte es ihm ja tatsächlich an politischer Bildung. Als er wenig später mit seinem Vater und Vera im Fernsehen eine Diskussion mit und um Rudi Dutschke wegen der Vorkommnisse an der FU Berlin sah, erlebte er einen eifernden, rhetorisch brillanten Mann, den er sinngemäß aber nicht verstehen konnte. Und im Kreis der Familie traute er sich dies auch zuzugeben:
  "Pappi! Der spricht immer von politischer Basis im Volk und von der die Bildung beherrschenden Klasse. Redet der jetzt so, weil er nur die oben erreichen will? Der kann doch wirklich nicht im Ernst glauben, dass seine  viel zitierte proletarische Basis ihn versteht!"
  Zu seiner Überraschung teilten Vater und Schwester erstmals eine Meinung mit ihm. Er empfand diesen ideellen Moment als entscheidenden Wendepunkt,  mehr als viele wirtschaftlich wichtigeren in seinem späteren Leben. 
  Dass die so genannten 68er etwas bewirkt haben im politischen Szenario ist ihnen unbenommen. Doch wie viel mehr hätten sie ausrichten können, wären nicht so viele praxisorientierte Menschen durch deren dozierende Dialektik vor den Kopf gestoßen worden. Das inzestuöse Theoretisieren in immer gleichen Kreisen muss bei einigen zudem zu einem mitunter raschen meist jedoch latenten Verfall der Wahrnehmungsfähigkeit für das "zu befreiende" Umfeld geführt haben. Johannes hatte Ulrike Meinhofs "Bambule" gelesen und Andreas Bader als total neben der Spur agierenden Teenager an seiner Privatschule erlebt. Wie konnte diese Mesalliance zwischen der hoch begabten Autoren-Journalistin und dem unerzogenen, ungezogenen Wirrkopf nur in dieser absurd isolierten Syntax der RAF-Bekennerschreiben enden...?
 
 

 Als Ronny Pietsch und Johannes Goerz sich am  7. September 1972 nach mehr als fünf Jahren auf dem Aufwärm-Trainingsplatz am Münchner Olympia-Stadion durch Zufall (?) wieder trafen, hatten beide infolge verschiedener Lebensumstände diverse Häutungen hinter sich. - Und die bilaterale Weltunsicherheit hatte zur Komponente kalter Krieg zwischen Ost-West quasi über Nacht eine dritte dramatische Dimension hinzu bekommen: Den Terrorismus.
  
  "Hey, was machst du denn hier?"
  "Ich bin Autor für ein Olympia-Buch."
  "Mann, tut das gut  dich zu sehen, aber hätte ich dich nicht bei den Akkreditierungen finden müssen? Ich bin beim NVASportECHO gelandet."
   "Das ist ja dann wohl nicht mehr all zu katholisch, aber - gratuliere! Ich bin nicht akkreditiert. Der Verleger kennt den OK-Chef. Ich mache ja keine Sportberichterstattung, sondern schreibe Porträts oder Geschichten hinter den Geschichten. Wo ich Zugang brauche, bekomme ich spezielle Tickets oder werde gebracht - oder man arrangiert Treffen für mich. Wie heute. Es geht um die Motivation nach den dramatischen Vorkommnissen..."
  Bei dem Wort Motivation entdeckte Johannes seinen avisierten Gesprächspartner inmitten einer Schar Athletinnen mit hängenden Köpfen. Darunter Heide Rosendahl. Es gelang ihm, mit dem Bundes-Trainer Gerd Osenberg kurz Blickkontakt herzustellen, aber der schüttelte nur unmerklich und anscheinend resigniert den Kopf.
  "Hey, Johannes, wir müssen unbedingt einen drauf machen. Das ist schließlich deine Stadt. Du kennst ja bestimmt Plätze, wo man nicht so auf dem Präsentierteller sitzt. Du weißt schon, was ich meine."
  Hinter Johannes Stirn lief kurz ein trauriger Film im Zeitraffer ab. Er trug den Titel "Wie die olympische Idee ihre Unschuld verlor". Er sah diese umwerfend natürliche Siebzehnjährige mit den Beinen, die kurz unter dem Kinn begannen, wie sie am Abend vor dem Drama ein ums andere Mal über die Latte geflopt war, bis sie am Ende als jüngste Hochsprung-Olympiasiegerin aller Zeiten ihre Arme zum nächtlichen Himmel über München empor warf. Er sah den Typen mit dem weißen Tennishütchen am nächsten Tag auf dem Balkon im Olympischen Dorf und die verschwommenen Fernsehbilder mit dem Krachen und dem Mündungsfeuer auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck. Und er hörte den verbiesterten alten Mann, der ein halbes Jahr zuvor den Ski-Helden seiner Jugend, Karl Schranz, wegen verlogen ausgelegter Amateurparagraphen von den Olympischen Spielen ausgeschlossen und gestern jedoch das einzig Wahre zu verkünden hatte:
  "The games must go on!"
  Die einzigen, die das allerdings in diesem Moment beherzigten, waren die Leichtathletinnen der DDR. Er sah auf der anderen Seite der Laufbahn die bullige Renate Stecher mit ihren Kolleginnen Starts und Staffelwechsel in Trainingsanzügen üben. Hätte es für Johannes eines ultimativen Anlasses bedurft, das Wesen der DDR durch etwas Dingliches zu verabscheuen, es wäre das gewesen, was die volkseigenen Sportmode-Produzenten aus seiner Lieblingsfarbe Blau gemacht hatten. Die gesamtdeutschen Olympiateams gehörten bereits der Vergangenheit an, und da musste offenbar der scheußlichste Blauton her, den die Kombinate „Plaste und Elaste“ zur totalen Abgrenzung liefern konnten.
  "Einen drauf machen, ja? Du, irgendwie ist mir nicht danach. Aber wenn du kannst und frei hast. Ich habe seit kurzem eine eigene Bude in der Görresstraße. Da kannst du sogar zu Fuß hingehen. Ich koche uns etwas, und dann können wir uns erzählen, wie es uns in der Zwischenzeit ergangen ist.“
  Drei Tage später tauchte Ronny mit einer Kaviar-Dose, die er den Russen abgeluchst hatte, bei Johannes auf und es begann etwas,  was beide - hätte man sie unabhängig von einander befragt  - wohl als eine den Umständen entsprechende "deutsch-deutsche Männerfreundschaft" bezeichnet hätten.
  Sie warf auch bei der journalisteischen Arbeit Vorteile ab.
  Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 war Johannes neben seiner Autorentätigkeit auch der Ghostwriter für das WM-Buch eines ehemaligen Fußballstars, das bereits am Montag nach dem Endspiel an den Buchhandel ausgeliefert werden sollte. Ronny Pietsch hatte Johannes für die einzige Begegnung zweier Deutscher Nationalmannschaften den Tipp gegeben, dass für DDR-Auswahltrainer Georg Buschner  allein das Spiel gegen die BRD zählen würde, und er solle für seine Analyse die "zwei Jürgen", nämlich Sparwasser und Pommerenke, im Auge behalten. Was der bieder und einfach gestrickte Bundestrainer Helmut Schön offenbar nicht getan hatte. Denn am 22. Juni schoss die Nummer 14, Sparwasser, das geschichtsträchtige Siegtor.
   Die proletarischen Amateure, die keine waren, besiegten den kapitalistischen Klassenfeind exemplarisch durch "Fleiß und Disziplin im Kollektiv". Was wiederum den kapitalistischsten und genialsten aller Fußballstars auf seinen Weg zur Lichtgestalt führte. Beckenbauer, den seine Mitspieler mit Abitur hinter seinem Rücken in verkennender Weise gerne einmal "Dummi" nannten, entmachtete Schön in einer heimlichen und sanften Revolution und führte sein Team als Kapitän zum  zweiten Weltmeister-Titel  - wieder ins  Münchner Olympiastadion.
  In der Folge konnte Pietsch propagandaträchtig eine Story von Johannes unbehelligt fertig schreiben, die Johannes fast vor den Bundespresserat gebracht hätte. Die beiden Freunde waren sich einig, dass hüben wie drüben  breitbandig gedopt wurde, was Muskeln und Sehnen hielten. Bis das Thema wirklich ernsthaft angegangen wurde, gab es ein multilatererales und pharisäerhaftes Glashaus-Steinewerfen, das immer ausging wie das Hornberger Schießen. Johannes war unter der Überschrift "Streit um Evas Bart" einer Mehrkämpferin auf die Schliche gekommen, die statt eines Ovulationshemmers gleich ein halbes Dutzend Anti-Babypillen schluckte, um durch hartes Gewichttraining den Gewichtszunahme-Effekt des Präparates in Muskelwachstum umzuwandeln. Das Spielchen ging so weit, bis die stets  bestreitende Athletin vor laufenden Fernsehkameras einer eidesstattlichen Erklärung zustimmte und sich dann aber hinter ihrem medizinischen Betreuer, einem Freiburger Professor mit Einfluss verschanzte. Dieser war über das Ansinnen, an seiner ärztlichen Schweigepflicht kratzen zu wollen, derart empört, dass er die Pressewächter anrief. Was den Professor zwei Jahrzehnte später allerdings nicht hinderte, die Dienste von Johannes als Ghostwriter in Anspruch zu nehmen...   
  1976 in Innsbruck konnte sich Johannes revanchieren, indem er Ronny einen Exklusivkontakt zur Gold-Rosi vermittelte, was der wiederum in Montreal durch ein exklusives Alexejew-Interview gutmachen wollte. Die Jungs nannten das ihre "Gefälligkeitsbank", für die es keiner Buchhalter bedurfte. Dass das Interview nicht zustande kam, war aber nicht ursächlich schuld, dass von da an vermehrt Schatten auf ihren Treffen lasteten (wie schlüssig dieses Bild war, sollte sich erst sehr viel später erweisen).
  Johannes hatte auf einer Spaghetti-Party, die ein Schuhhersteller zum Auffüllen der Kohlenhydratspeicher "seiner" Athleten in den ehrwürdigen Räumlichkeiten der McGill Unversität gegeben hatte, Frank Shorter, den Marathon-Olympiasieger von München getroffen. Der dort geborene US-Läufer schüttete Johannes sein Herz aus, nachdem er erfahren hatte, dass der aus München kam. Es ging um Waldemar Cierpinski, den DDR-Athleten, der ihm tags zuvor auf den letzten Kilometern das schon sicher geglaubte zweite Double nach Bikila Abebe vermasselt hatte. Shorter beschwerte sich, dass Cierpinski sich vorher "nie gezeigt" hätte und er so für ihn überhaupt nicht einzuschätzen gewesen sei. Johannes wusste, dass es die Kanuten und Ruderer der DDR genau so machten und kam auf die Idee, ohne die Unterstützung von Ronny Pietsch ein Essay über "Die Kehrseiten der Medaillen" vor Ort  - also im DDR-alltäglichen Umfeld der Athleten - recherchieren zu wollen. All diese aus der Versenkung auf- und wieder abtauchenden  Olympia-Sieger, die die DDR in jenen Jahren zu Dutzenden produzierte und die zu unheimlichen Medaillen-Bilanzen beitrugen, wollte er in ein Verhältnis setzen zu den vereinzelten westdeutschen Medaillenträgern, die meist für immer der Anonymität entronnen und dem Wohlstand bestimmt waren.
  Wieder zu Hause, nahm er Kontakt zur Behörde für innerdeutsche Beziehungen auf - und geriet hüben wie drüben in eine alle Ideen beerdigende Bürokratie. Als Cierpinski - im Gegensatz zu Shorter - bei den Boykott-Spielen von Moskau 1980 tatsächlich das zweite Marathon-Double klarmachte, kannte ihn später trotzdem keiner. Aber Johannes war es mittlerweile egal, weil er der Sportberichterstattung mehr oder weniger den Rücken gekehrt hatte. Dass auch Pietsch ihm bei flüchtigen Begegnungen nur noch Kryptisches zuraunte, führte der darauf zurück, dass Johannes nun "non grata" sei, und er Schwierigkeiten bekäme, wenn sie zusammen gesehen würden.
  Dann kamen die Winterspiele von Sarajevo. Alles schien auf einmal, als wäre Johannes' Wahrnehmung nun bereits mehr die eines anderen... Und Ronny, der gute alte Ronny, tat so, als hätte in den letzten vier Jahren kein Schatten auf ihrer Freundschaft gelegen. Ronny ließ sich vom seelischen Verfall seines westdeutschen Kollegen berichten. Beschwichtigte Johannes, empfahl fürsorglich therapeutische Ansätze und zeigte sich allzeit gesprächsbereit. Man konnte ja seit neuestem direkt von einer Redaktion in die andere telefonieren...
 
















Samstag, 22. Juni 2013

Ed

Johannes Goerz kommt vom Weg ab, und auch der Ex-Elitepolizist vom NYPD schafft es nicht, ihn wieder in die Spur zu bringen, weil jener selbst auf religiöse Abwege gerät...

  Ed Randolphs hatte auf einer Tangente den Wirkungskreis von Johannes berührt, die einer dauerhaften Beziehung in Form einer Männerfreundschaft eher widersprach. Cops und Journalisten sind ja nicht nur in den USA selten gut aufeinander zu sprechen. Beide, berufsbedingt mit einer Vorratspackung Misstrauen ausgestattet, trafen sich zum ersten Mal in einem Umfeld, in dem man gerade davon reichlich brauchte: der Lower Eastside von Manhattan, und das auch noch nach Einbruch der Nacht.
  Ed stand 1980 im Jahr seiner Pensionierung und Johannes noch voll im Saft als Hals-und-Beinbruch-Reporter. "Stylische Reality Fotoreportagen" waren gerade hoch im Kurs, und der Chefredakteur eines der Blätter, die in dieser Zeit genau so schnell erschienen, wie sie wieder eingestampft wurden, hatte sich eine Bildreportage über eine Nachtstreife in New York eingebildet.
  Randolphs war auf St. Thomas geboren und ein derart hellhäutiger Schwarzer, dass er schon allein durch diesen Umstand wirkte wie ein Karibik-Prinz. Attitüden, die auf den ersten Blick geradezu überheblich arrogant wirkten, sorgten wie das Strahlenschild eines Star-Trek-Raumschiffs für den gewissen Abstand zu jeder Art Mitmenschen - gleichgültig auf welcher Seite des Gesetzes sie standen. Warum NYPD ausgerechnet ihn zum PR-Officer gemacht hatte, war daher nicht ganz ersichtlich.
  Johannes jedoch, der sperrige Typen liebte, hatte seine Hausaufgaben gemacht und über einen NBA-Basketball-Spieler, mit dem sowohl Ed als auch er freundschaftlichen Kontakt pflegten, mehr über den "Gentleman-Cop" erfahren.
    Ed Randolphs hatte im Narcotic Branch zusammen mit dem legendär verfilmten Serpico gegen die ganz ganz großen Drogen-Bosse ermittelt. Serpico meist undercover, während Ed - seine Attitüden nutzend - als "er selbst" wie eine Art Doppelagent fungierte: Sein Hang zu Designer-Klamotten, sowie die Tatsache, dass er einen Porsche fuhr und in Central Park West in einer teuren Eigentumswohnung wohnte, mussten nicht vorgetäuscht werden, denn sie entsprachen seinem tatsächlichen Lebensstil. Dadurch, dass nur Eingeweihte wussten, dass er den vor allem seiner Frau Charlene verdankte, die bei "United" ein hohes Tier im Controlling war - hatte er genau den richtigen Hautgout. Er war im bisweilen durch Korruption unterwanderten Innen- wie auch im tödlich gefährlichen Außenverhältnis überlebenswichtig, um glaubwürdig den "Bladerunner" zu spielen.
  Zwei Jahre, bevor Johannes Ed 1980 zum ersten Mal traf, war jener, als sie den "capo dei tutti capi" in einer spektakulären Aktion auf der Verrazano-Bridge stellten, nicht mehr in seiner Rolle zu halten gewesen. Die Presse und die Eyewitness-Channels hatten ihn derart ins Rampenlicht gezerrt, dass der Chief-Commissioner die Flucht nach vorne antrat und ihn mit seiner Trademark "Gentleman-Cop" ins PR-Department abkommandierte. Und Randolphs machte seine Sache gut - er profilierte nicht nur das NYPD, sondern feilte auch weiter an seinem eigenen Image.
  Während diverser Observierungen hatte er sich mit unterschiedlichsten Kameras beigebracht, unter den schwierigsten Bedingungen technisch einwandfreie Fotos zu schießen. Seit er PR machte, nutzte er jede freie Minute für - wie er es nun nannte – „serious artwork“.
  Johannes hatte am Tag vor ihrem Meeting die Foto-Galerie "Blackstar" am Broadway aufgesucht, um etwas zum Reden und Eisbrechen für das erste Aufeinandertreffen zu haben. Ed Randolphs hatte dort unter dem Titel "Silent Autumn Night Winds" seine erste Ausstellung, und das gierige New Yorker Kunst-Volk hatte ihm innerhalb des ersten Monats einen Umsatz von über 150 000 Dollar beschert. Mit einer ebenso simplen wie dekorativen Idee:
  Ed war in den Indian Summer nach Vermont gereist und hatte seine Nikon-Motorkamera mit Zoom-Linse, langen Belichtungszeiten und feinkörnigen Tageslichtfilmen nächtens in verfärbte Laubbäume gehalten, die von verschiedensten Lichtquellen erhellt wurden. Das Ergebnis waren vor schwarzem Hintergrund verwischte, vielfarbige Laubwesen, die merkwürdig erstarrte Figuren tanzten und grotesk kontrastiert wurden durch Ecken von den typischen überdachten Holzbrücken  oder geisterhaft angestrahlten weißen Georgian Townhalls. Das ganze hatte dann ein Labor auf türgroße Abzüge aufgeblasen, die Ed als Unikate signierte.
  Die Reportage selbst ging gründlich schief, weil entweder alle Ganoven der Lower Eastside - entgegen dem Image, dort ruhe das Verbrechen nie - gemeinsam in Urlaub gefahren oder wegen der extremen Kälte in Streik getreten waren. Zudem prügelte kein Ehemann seine Frau, kein Junky hatte sich eine Überdosis gespritzt, und die berüchtigten Streetgangs rückten nicht aus, weil keiner auf der Straße war. Nur die bekannten Kanal-Deckel dampften wie eh und je still vor sich hin... Aber das gab Ed und Johannes andererseits die Zeit, vorsichtige freundschaftliche Bande zu knüpfen. Immerhin war Randolphs zu diesem Zeitpunkt schon 52 - also mehr als 20 Jahre älter als der Deutsche.
  Johannes, der gerne Synergien nutzte und Spaß an journalistischen Gimmicks hatte, fragte Ed nach den zwei im Polizeifahrzeug gemeinsam verbrachten Nächten, ob er sich zutraute, nach der Pensionierung die eine oder andere Fotoreportage für ihn zu machen. Er habe sich seine Ausstellung angeschaut und wäre neugierig, ob er fotografisch auch mit beweglichen Zielen umgehen könne. Johannes sagte tatsächlich "moving targets", um ein wenig Reaktion zu provozieren, aber da geriet er an den Falschen. Randolphs hatte ein hollywoodwürdiges Minenspiel. Er konnte wie Cosby Grimassen schneiden, wie Belafonte lachen und wie Poitier tiefgründig blicken. Er setzte mit der Überheblichkeit des Elite-Polizisten aus "In The Heat Of The Night" seinen Blick genau zwischen die Augen von Johannes, als er meinte:
  "Young, very young, bossman - you've got no idea about moovin' targets and you certainly don't wanna know about hittin' them!"
  Da war klar, auch ihm würde er  - ähnlich wie das bei seinem Vater der Fall war - nicht die Frage über das Töten stellen können. Aber zumindest war ihm auf diese Weise sein neuer Spitzname verpasst worden. „The young bossman“ revanchierte sich, indem er Randolphs schlicht "Killer-Cop" nannte..., wenn er sich künftig über ihn ärgerte und ihn deshalb auch ärgern wollte.
  Dennoch waren sie in den gut zwei Jahren, die sie nun schon zusammen arbeiteten, wirkliche Freunde geworden. Das lag zum einen am sonnig karibischen Gemüt, aber vor allem an dem bösartigen Humor dieses Gentleman, der jede obskure Idee mit Vergnügen umsetzte.
  Beispielsweise wurde er von Johannes auf eine Reportage rund um das Kentucky-Derby geschickt, das selbst in den aufgeklärten 1980ern noch eine Veranstaltung südstaatlicher „Herrenmenschen“ war. Den "Horsebreeders" fiel es dann auch richtig schwer, nicht böses Spiel zu guter Mine zu machen, als ohne Vorwarnung ein schwarzer Fotograf auf ihren Banketten und in ihren Logen auftrat. Johannes hatte bei dessen Akkreditierung listiger Weise keine Veranlassung gesehen, auf die Hautfarbe des "berühmten New Yorker Fotografen" abzuheben, den er mit dem deutschen Pferdesport-Autoren angekündigt hatte. Und zu Ehren seiner oberbayerischen Landsleute muss festgehalten werden, dass diese nicht nur cooler, sondern auch herzlicher reagierten, als er den Gentleman-Cop im Trachtenjanker und mit Jägerhut und Gamsbart auf Fotopirsch durch das Fünf-Seen-Land vor den Toren Münchens jagte.
  Ed hatte eine Chance erhalten, nicht im kinder- und enkellosen Ruhestand zu versauern und er nutzte sie. Natürlich hätte es niemals seinem Wesen entsprochen, Danke zu sagen, aber die versteckte Geste tat es auch. Eines Tages lag auf dem Schreibtisch von Johannes Radolphs' Original-Dienstmarke und ein großer, sehr dienstlich aussehender Stempel als Überbleibsel von dessen Schreibtisch. Den benutzte Johannes fortan mit großem Genuss: B U L L S H I T verkündete nämlich die rote Stempelfarbe, nachdem er ihn beispielsweise auf ein Manuskript geknallt hatte!

  Nun würde Ed in Trinidad am Flughafen auf den von einem immer noch unbekannten Erreger gebeutelten Johannes warten. In Zeitreisen muss daran erinnert werden, dass es damals weder Cellulars, Fax  noch generell Übersee-Ferngespräche mit Selbstwahlkomfort gab. Auf den Inseln schon gar nicht. Man denke nur an den Hit "Smooth Operator" und die sich immer verheddernden Lochstreifen vom Telex... Wenn zwei zeitgleich unterwegs waren, gestaltete sich die Kommunikation immer noch sehr schwierig.
  Johannes hatte mit Edwards das letzte Mal telefoniert, als er ihn nachträglich  auch noch für den Jamaika-Job buchen wollte. Normaler Weise hielten sie für "assignements" über Charlene Kontakt, weil die natürlich bei "United" über die besten Kommunikationsstränge verfügte. Aber Eds Frau war diesmal mit dabei. Das war der Deal gewesen, der Johannes viel vom knappen Budget retten sollte. Charlene selbst flog mit Dienstmeilen, und Ed zahlte als Ehemann in Standby selten mehr als zehn Prozent des regulären Flug-Preises.
  So wie der Ex-Cop jederzeit ein Netzwerk an einschlägig befassten Kollegen überall in der Welt aktivieren konnte, so nutzte seine Frau die Airline-Computer. In der Karibik kam noch ein drittes Netzwerk dazu. Zwar waren die Eheleute Randolphs selbst ohne Kinder, aber als Tochter und Sohn beziehungsweise  Onkel und Tante bei der über alle Inseln verteilten vielköpfigen Verwandtschaft heiß geliebter Besuch. Charlenes Mutter stammte aus Port of Spain, und das versprach ja die besondere Nähe zum Carnival, die sie für ihre Reportage brauchten...
  Charlene muss es wohl auch gewesen sein, die irgendetwas an den Tickets gedreht hatte. Denn in der Boeing 727 der British Westindian Airline sass er ohne sein Zutun plötzlich allein in der aus nur acht Sitzen bestehenden First Class. Die Fürsorge, die ihm die Stewardessen zuteil werden ließen, tat ihm gut, denn noch immer - wenn auch wegen der verabreichten Medikamente nicht mehr so stark - kamen die Fieberschübe überfallartig.
   Jeder hatte ihn gewarnt, weiter zu fliegen: Clarence, der ihn mit zu sich nach Hause hatte nehmen und Beverly, die unbedingt ihre Dankbarkeit beweisen wollte.  Der Minister sogar, der zunächst ein wenig sauertöpfisch reagiert und gemeint hatte, Johannes habe sich ja wohl einen regelrechten Fan-Club auf Jamaika geschaffen, bot ihm nach den Untersuchungen ein Gästehaus der Regierung an. Wenn Johannes überhaupt bereit gewesen wäre, vernünftig zu reagieren, dann hätte er am ehesten auf die vier neuen Chefs seiner Reisebekanntschaft Beverly gehört. Die frisch in den USA promovierten Fachärzte hatten sich ein blitzendes mit den neuesten Instrumenten versehenes privates Medical Center geschaffen und ihre Dankbarkeit für die kostenlose Werbung in Public Eye bewiesen, indem sie ihn  gratis wirklich gründlich durchgecheckt hatten. Da es Quicktests noch nicht gab, hatte sich die Ermittlung der  Laborwerte bis zum Abend hingezogen. Aber um die Zeit zu nutzen, hatten sie ihn obendrein an den Tropf gehängt, um den möglichen Folgen der Dehydration prophylaktisch zu begegnen - und ihm Antibiotika und vorsorglich Penicillin gespritzt. Da sie außer einem stark erhöhten Blutzuckerspiegel, der sich aber innerhalb der Stunden im Center wieder normalisiert hatte, nichts finden konnten, tippten sie auf eine versteckte Tropenkrankheit. Aber um die zu ermitteln, hatte die Zeit nicht gereicht. Johannes hatte ihnen von Jalbahadurs Tertiana-Verdacht erzählt, und auch die Dengue-Gerüchte seines früheren Skippers Mugsy betreffend erwähnt, obwohl das ja schon mehr als drei Jahre her gewesen war. Die Ärzte hatten ganz entschieden ihre Köpfe geschüttelt. Bei deren Inkubationszeiten hätte Johannes nur künstlich infiziert werden können, weil beide Erreger auf Jamaika ja nicht existierten. Sie hatten gemeint, er solle sich schleunigst in den nächsten Flieger nach Hause setzen und in die Obhut eines Tropen-Institutes begeben. Gerade das in München habe ja doch Weltruf. - Aber was wussten Ärzte schon von den Zwängen journalistischer Produktionen...
  Als Johannes die ausgelassen lärmenden Menschenmassen im Abfertigungsgebäude des Flughafens von Port of  Spain sah, wurde ihm seine Schwäche nur zu sehr bewusst. Wäre er im normalen Besitz seiner Kräfte gewesen, hätte ihn diese Welle der Euphorie einfach fortgerissen. So machte er sich zunächst einmal Sorgen, ob er es überhaupt bis durch die obligatorische Gepäckkontrolle beim Zoll schaffen würde. Ed hatte ihn schon vorgewarnt, dass wegen der Drogen-Exzesse beim Carnival jedes Gepäckstück nicht nur durchwühlt, sondern auch an einer Staffel eigens trainierter Deutscher Schäferhunde vorbei musste. Johannes bemühte sich um ruhige, gleichmäßige Atmung und versuchte sich zu entspannen. Aber dann wurde er gewissermaßen aus der Warteschlange heraus verhaftet. Zwei Polizeibeamte mit unanständig trockenen und glatt gebügelten Uniformen schnappten sich wortlos Kameratasche samt Koffer und führten den erbärmlich tropfenden Johannes an beiden Ellbogen gepackt in ein mit Milchglasscheiben versehenes Compartment.
  Der eine begann sofort, dienstbeflissen die Kameras auseinander zu nehmen und die vom Laundryservice  so schön in Päckchen verpackten Kleidungsstücke zu zerwühlen. Der andere hatte eine Liste von Fragen vor sich, die er inquisitorisch mit Johannes durchging und abhakte. Dass der seinen internationalen Journalistenausweis vorlegte, machte den Beamten nur noch stoischer:
  "Sir, Sie sehen so aus, als hätten Sie Drogen konsumiert. Haben Sie Drogen dabei? Wo haben Sie sie versteckt? Wissen Sie, dass in diesem Land auch auf Drogenbesitz zum eigenen Konsum hohe Gefängnisstrafen stehen?"
  Johannes versuchte gerade die Sache mit seiner Erkrankung dadurch zu erläutern, dass er aus einem Seitenfach der Kameratasche die nun wieder prall gefüllte Reiseapotheke nestelte, als ein grinsender Bill-Cosby-Kopf um die Ecke schielte und triumphierend rief:
  "Trapped!"
  Aber der mit seinen einheimischen Ex-Kollegen inszenierte Scherz ließ  Ed Randolphs' Gesichtsausdruck  im selben Moment einfrieren, in dem sein Polizisten-Blick den Zustand von Johannes registrierte.
  Es war ein Segen, dass alle weiteren Formalitäten durch die guten Beziehungen seines Fotografen im Handumdrehen erledigt waren. Er brauchte frische Luft.
  Welche Naivität! Das Flughafengebäude war - was man erst beim Verlassen bemerkte - klimatisiert gewesen. Draußen wehte zwar ein aromatischer Wind vom nahen Meer. Aber das war etwa so, als wedelte einer nach dem Aufguss in einer Sauna mit einem Handtuch herum. Heiße, feuchte Luft schlug ihm ins Gesicht, die Johannes beim Einatmen fast das Gefühl des Ertrinkens vermittelte. Offenbar war gerade ein Gewitter herunter gegangen.
  Charlene, die Johannes schon von einem Besuch in München kannte, führte das fünfköpfige Empfangskomitee an, das bei einem Pick-Up stehend im Freien auf ihn wartete, als sei das Klima höchst erfrischend.
  Charlene, eine hochgewachsene Frau in Eds Alter, hatte einen olivbraunen immer noch völlig faltenfreien Teint. Sie trug ihre langen ungefärbten Haare zu einem tief im Nacken hängenden Dutt gebunden und war in eine Wolke verschiedener safranfarbener Hemden aus Kattun gekleidet. Wenn sie mit Ed auf unbekanntem Terrain unterwegs war, hielt sie sich dezent im Hintergrund. Hier erschien sie Johannes jedoch wie die Queen der Insel, und es war offensichtlich, dass der pensionierte Ed trotz seines prestigebehafteten Fotoreporter-Jobs beim Heimspiel ihr Satellit war. Die vier anderen waren seine Gastgeber, weil Ed gemeint hatte, der Carnival sei nicht vom Hotel aus zu erleben.
  Tod war Chefarzt und Eigentümer der größten Privat-Klinik des Landes. Er war ein unbekümmert wirkender Karibe in den Vierzigern mit deutlich indischem Einschlag. Seine Frau Lyn stammte sichtbar aus dem benachbarten Surinam und erschien als eine fragile klassische Mestizen-Schönheit Ende Dreißig. Die beiden Teenies - Kim ein 17jähriger Modellathlet und Ann eine 15jährige mit den Allüren eines Top-Models - sahen aus, als seien sie zum Dreh eines CocaCola-Spots unterwegs. Ihre Surfboards waren genauso fantasievoll bemalt wie der Pick-Up. Die Begrüßung durch die Vier kontrastierte zu Charlenes stürmischen Umarmungen und Küssen, dass Johannes zunächst befürchtete, er sei in Wahrheit nicht willkommen. Er beschloss bei sich, die vier nicht nur wegen ihrer Vornamen "die Einsilbigen" zu nennen. Was - wie sich bald herausstellte - eine komplette Fehleinschätzung sein sollte.
  Die Gruppe löste sich noch am Parkplatz auf. Kim warf den einen Koffer von Johannes mit leichter Hand auf die Ladefläche des Pick-Ups und ließ sich mit Ann von Lyn zum Training an den Strand chauffieren. Tatsächlich waren die zwei trotz Highschool bereits Profi-Sportler und hatten von einem Big-Tube-Wettbewerb auf Hawaii im Dezember genügend Preisgeld für ihr künftiges Studium in den USA mit nach Hause gebracht. Tod fuhr zur Klinik um die Carnivalsschichten einzuteilen und nahm Charlene zu ihrer Mutter mit. Die Aufgabe von Tod wurde als äußerst schwierig beschrieben, weil Carnival Patienten-Hochbetrieb bei knappem Personal bedingte. Das Dilemma würde aber dadurch noch größer, dass der Chef selbst Supporter einer der aussichtsreichen Mas-Bands war und zumindest am Dienstag mit marschieren wollte.
  Ed und Johannes fuhren in einem angenehm klimatisierten und aufgemotzten Ambassador-Taxi - wie es auch in London hätte verkehren können - zum Festival-Komitee am Grand Stand der Pferde-Rennbahn. Das gab Ed die Möglichkeit, seinen "Young Bossman" zu briefen.
  Die Einsilbigkeit seiner Gastgeber beruhte auf Vorkommnissen, die zwei Tage her waren. Lyn hatte Tod in seinem Konsultationszimmer beim Üben des Calypso-Shuffles mit einer blutjungen Krankenschwester erwischt. Sie hatten die Kostüme der Band - stilisierte Baströcke der Arawak-Indianer - anprobiert und waren einander dabei  zu nahe gekommen... Lyn hatte Tod noch am gleichen Tag aus dem Haus geworfen, weil das beileibe nicht die erste "Tanzstunde" gewesen war. Was wiederum gar nicht so schlecht sei - wie der den Unbekümmerten mimende Ed meinte - weil Johannes jetzt im ehelichen Schlafzimmer der beiden residieren könne.
  Als Johannes endlich dazu kam, Ed die Ereignisse auf Jamaika zu schildern, ließ der sich erst recht nicht aus seiner guten Stimmung bringen, denn  Tod, der Medizinmann, würde ihm schon das richtige Doping gegen den "Bazillus Bavaricus" verabreichen, damit er die 72 Stunden auch noch durchhielte. Heute Abend ginge es ja zunächst einmal ruhig los:
  Das Festival-Komitee habe ihn zum "Panorama" und zu den Contests als prominenten Gast in die Ehrenloge der Jury eingeladen. Das bedeute tiefe Sessel, Gratis-Drinks und Fingerfood, das damals noch Hors d'Oeuvres genannt wurde.
  Das Queen's Park Savannah Hippodrom mit seinen Tribünen war eine große Grünfläche mit Pferde-Rennbahn nur wenige Gehminuten vom Rathaus und dem historischen Stadtzentrum entfernt und gewisser Maßen die Aufmarschzone für die kostümierten Battalione. Überhaupt war Port of Spain eine typische karibische Insel-Metropole, bei der große Teile der Innenstadt von flachen Bauten und üppiger Vegetation geprägt waren. Schon bei der Anfahrt zum Grand Stand erkannte Johannes den Ausnahmezustand, in dem sich die Stadt befand, denn ihn empfing eine Kakophonie aus unterschiedlichsten musikalischen Klängen, deren mannigfaltigen Harmonien zu einer einzigen Disharmonie anschwollen. Es war also eher eine physikalische Welle als eine sinnliche, die ihn erfasste, aber er war wild entschlossen, sie zu surfen und sich nicht durch einen Erreger abwerfen zu lassen. Er hatte soviel von dem "Spirit of Mas" gehört, das er sich auf ihn einlassen wollte - selbst wenn es das letzte sein sollte, was er in seinem Leben täte...
  Die Akkreditierungsformalitäten verliefen kurz und schmerzlos, weil die internationale Journaille, die dem Event beiwohnte, ja schon seit dem närrischen Freitag auf der Insel war. Ein ausführliches Programm mit historischen und aktuellen Hintergründen stimmte ihn präzise auf die Wettbewerbe am Abend ein, und seine Rolle als Juror würde auch denkbar einfach sein. Er brauchte lediglich Punkte von eins bis zehn und am Ende eine Platzziffer zu vergeben. Fast wie beim Eislaufen.
  Ed hatte ihn dann noch kurz zu Lyns Bungalow gebracht, der in der Mitte eines geräumigen botanischen Gartens lag. Sie hatte ihm tatsächlich das eheliche Schlafzimmer geräumt und war selbst ins Gästezimmer gezogen. Auf Johnannes' Beteuerungen, sie solle sich keine Umstände machen, meinte sie nur lapidar, sie würde sich ohnehin  nie wieder in dieses Bett legen... Sich in der Zugluft eines Deckenpropellers leicht bewegende Gazevorhänge zum Schutz vor den Moskitos vermittelten Johannes das Gefühl, das Bett stünde inmitten einer Bananen-Plantage. Ein Eindruck, der noch dadurch verstärkt wurde, dass das Dekor der chinesischen Seiden-Tapete an der Wand das Schattenspiel der grünen Fächerblätter aufnahm und changierend reflektierte. Sechs Stunden später sollte sie ihm allerdings gänzlich andere Impressionen vermitteln.
  Ed gab den Dress-Code für den Grand Stand am Abend vor, als er ihn bei Einbruch der Dunkelheit wieder abholte. Statt in dem erwarteten Buschhemd, mit dem er beim Fotografieren die nötige Bewegungsfreiheit haben würde, trug er einen edlen dreiteiligen eischalenfarbenen Kattun-Anzug mit einem altmodischen Krawatten-Schal aus teuerster Strukturseide, zu dem die Kameratasche und sein Akkreditierungsausweis aus Plastik nicht recht passen wollten. Johannes der insgeheim gehofft hatte, sein schlichtes langes Parliamentjacket aus Indien wäre passend, schlüpften in Erwartung neuer Schweißbäder wieder einmal in den Kenzo-Anzug und lieh sich von Lyn eine von Tods Fliegen.
  In der Jury-Lounge waren sie damit absolut passend gekleidet, denn sie tauchten in die Kulisse eines Schwarzweiß-Films wie "To Have And Have Not" ein. Es fehlten nur Bogey und die Bacall. Die Society von Port of Spain - obwohl seit 1962 genauso aus vom Vereinigten Königreich unabhängigen Bürgern bestehend wie die Jamaikas - verharrte noch stärker als diese in den Ritualen traditionellen Clublebens, so dass sich Johannes beim Willkommensdrink ein wenig wie ein Edelkomparse fühlte. Zu dem steifen Unbehagen trug auch noch die Tatsache bei, dass sein Beinahe-Gastgeber Tod als Präsidiumsmitglied des Organisationskomitees nicht darauf verzichtet hatte, seine junge "Tanzpartnerin" mitzubringen, während Lyn es vorgezogen hatte, mit Freunden auf den North Stand zu gehen.
  Dort, wo in anderen Jahreszeiten die Pferde durchs Ziel gingen, war auf dem Racetrack  eine leicht erhöhte Rampe mit sanftem An- und Abstieg errichtet worden. Sie stieg so an, dass die Jury-Loge auf gleicher Höhe war und denen, die da in lässigen Sesseln  saßen, das Gefühl vermittelte, mitten im Geschehen zu sein. Bei dem ersten Wettbewerb, dem "Panorama", war das bereits ein Härtetest für Johannes, denn was immer in seinem Inneren wütete - es hatte sein Nervenkostüm geschwächt.
  Nun rollten zweizellige, bisweilen auch zweigeschossige, seitlich offene Bandwagen auf die Bühne, in denen die traditionellen Steelbands beim "March" gezogen und geschoben wurden. Wie in einem Laufgitter marschierten meist mehr als ein Dutzend Drummer hinter ihren im Gestänge montierten Steel-Pans (daher Pan-o-rama) im Takt ihrer Darbietungen her. Lediglich zum Schutz vor Sonne und gelegentlichen Regengüssen waren die Gestelle mit bunt dekorierten Dächern versehen. Die hohe Kunst der Panorama-Steelbands bestand darin, die Wagen wie von geheimer Kraft gesteuert im Einklang mit der Performance zum rollenden Gleiten zu bringen. Das musste mühelos aussehen und war doch physischer und psychischer Dauerstress für die Akteure. Zum einen mussten sie ja zunächst die leichte Steigung hoch, und dann wollte ja jede Band möglichst lange auf der Rampe bleiben, um Eindruck zu schinden. Das bedeutete den Abstand zum vorderen Wagen unmerklich zu vergrößern, ohne von den Schiedsrichtern ermahnt zu werden, aber immerhin noch so, dass die Trommler des folgenden Wagens vielleicht ein wenig aus dem Rhythmus kämen. Tod, der neben Johannes saß, während Ed seinen Job erledigte, schrie ihm alle taktischen Finessen ins Ohr, aber Johannes vertraute seinem Pylorus, um herauszufinden, welche Darbietung besser war als die andere. Bei schlechten Schwingungen reagierte das Nervengeflecht am Mageneingang und um seinen Pförtner-Muskel am Magenausgang mit heftigem fast Übelkeit erregenden Zucken. Offenbar ging das auch anderen Zuhörern so, denn sobald ein Wagen wie auf einem Luftkissen über die Rampe glitt und die Melodien angenehm ins zentrale Nervensystem eindrangen, riss es die Leute von den Sitzen. Auch Johannes sprang ein ums andere Mal auf und ließ sich von den schwirrend jubilierenden Tonsalven die Illusion vermitteln, er können auf und davon fliegen. Die Qualitätsmerkmale waren so eingängig, dass Johannes am Ende mit seinem Votum fast kongruent auf dem Price-Ranking lag.
  Bei den Vorrunden zum "Calypso Monarch" und dem Wettbewerb um den Titel "Kings and Queens of Carnival" war das schon schwieriger. Denn hier ging es allein um Geschmack und der sagte Johannes, dass weniger manchmal mehr gewesen wäre. Aber es war nun einmal eine Tatsache, dass sich um den Karneval auf Trinidad eine regelrechte Designer-Industrie entwickelt hatte. Die Kostüme der Kings und Queens, die von ihren Trägerinnen und Trägern kaum ohne sichtbare Kraftanstrengungen zu tragen waren, kosteten bis zu 50 000 US-Dollar. Sie waren das Motto für die Verkleidungen der Supporters, die diese bereits ab November für viel Geld bestellt hatten. Selbst bettelarme Insulaner verschuldeten sich, um in so einer Mas-Band an prominenter Stelle mit zu marschieren. Da bis zum Mardi Gras vor allem die Bands der Kings oder Queens auf bis zu 4000 Mitglieder anschwollen, war jeder siegreiche Designer ein gemachter Mann. Selbst wenn die kleinsten Kostüme bei einem nationalen Druchschnittsverdienst von etwa 200 Dollar "nur" 100 Dollar kosteten.
  Der "Calypso Monarch", der Sieger des alljährlichen Wettbewerbs für den besten Karnevalsschlager hingegen, war nicht  so auf der sicheren Seite. Denn welcher Song am häufigsten gespielt wurde, entschied das Fußvolk auf den Straßen bei den so genannten "Jump Ups“, den spontanen Gruppen, die sich in der Innenstadt ab der Nacht zum Sonntag hinter den Band-Trucks versammelten. In Mitten von Ladungen Kleiderschrank großer Verstärker verrichteten die Bands mit ihren Sängern Schwerstarbeit im Dauereinsatz, denn damit ihre Songs auch überall gehört wurden, wiederholten die Trucks ihre Sternfahrt ins Zentrum immer wieder aufs Neue.

  Die vier Ärzte aus Jamaika hatten Johannes den Tip gegeben, wegen des Fiebers ruhig einmal auch ein chininhaltiges Getränk zu sich zu nehmen. Um etwas lockerer zu werden, ließ er sich allerdings wahlweise etwas Wodka oder Gin hinzugießen und tarnte seine Sünden mit frisch ausgepresstem Limonensaft. Er befand sich deshalb am Ende der Darbietungen in einer derartigen Euphorie, dass er ohne zu zögern einwilligte, mit Tod und seiner Krankenschwester, die übrigens Sam (für Samantha) gerufen wurde (blöde Einsilbigkeit), in der Nähe des Rathauses einen "Jump Up" zu wagen.
  Was dann kam, ließ sich am besten so beschreiben:
  Man nehme eine geräumige Sauna, fülle sie zum Bersten mit Menschen, erhitze sie auf etwa 100 Grad, mache gleich mehrere Aufgüsse, um sich so dann in Positur zu bringen: Mit leicht gebeugten Knien und sehr schräg gestellten Füßen streckt  der Tänzer oder die Tänzerin seinen Pürzel wie Donald oder Daisy Duck extrem nach hinten, während versucht wird, im schlurfenden Watschelschritt  (dem Shuffle) dem mit den Armen fuchtelnden extrem vorgebeugten Oberkörper den Kopf im Rhythmus wackelnd zu folgen. Klar, dass die Musik dazu die krank machende Dezibel-Höchstgrenze bei weitem überschreiten muss. Sonst bliebe einem dabei der "Spirit of Mas" genauso versagt, wie beim Verzicht auf ein entsprechendes weibliches Hinterteil als Lotsen- und Orientierungspunkt.
  In kernigen Männerrunden pflegte sich Johannes als "Arschiologen" oder "Popomanen" zu beschreiben, um seinen verhängnisvollen Hang zu den "kallipygischen Reizen" drastisch zu dokumentieren. Bei einem gefühlten Verhältnis von neun Tänzerinnen auf einen (noch dazu weißen) Mann, sah sich Johannes im Nu von einer Traube wippender kaum bekleideter Hinterteile umringt, bei denen ihn jene Hilflosigkeit befiel, die ihm auch überbordende Büfetts verursachten. Aber er konnte sich drehen und wenden wie er wollte - von all den Pos, die vor ihm im Shuffle wackelten, hatte Sam den perfektesten. Tod hätte ein Heiliger sein müssen, hätte er von dieser so appetitlich dargebotenen Frucht nicht genascht. Fast beneidete er ihn um diesen "Besitz". Johannes war sich sicher, dass auch besagte antike Aphrodite im Angesicht von Sams Po einen Anfall von "Stutenbissigkeit" erlitten hätte. Er nutzte Sam - mit  respektvollem und gebührendem Abstand  natürlich - gewissermaßen als Leit-Po, obwohl ihm die Konzentration zunehmend schwerer fiel, weil seine eigene, zu jener Zeit noch recht knackige,  Kehrseite ihrerseits zum Objekt der Begierde flinker Frauenhände geworden war.

  Er war vielleicht zwei Blocks „geshuffelt“, als er die euphorisierende Wirkung des Alkohols bereits ausgeschwitzt hatte und der Erreger Entzug signalisierte. Mehr schlecht als recht gab er Tod und Sam ein Signal und sie bogen in eine kühl wirkende Rum-Bar ein. Der riesige auf Hochtouren laufende Kasten einer lärmenden Klimaanlage kämpfte ohne großen Erfolg gegen die Schwüle der dampfenden Leiber an. Dabei standen die bunten Plastikbänder, die ihn schmückten, waagerecht wie in einem Orkan.
   Johannes klammerte sich gerade noch an die kühlende Messingreling, da hatte ein erneuter Fiebersturm seinen Begleitern die Nacht im Rausch versaut. Denn natürlich setzte sich der Arzt in Tod durch, als er dessen Temperatur spürte. Er wollte Johannes sofort in sein Krankenhaus bringen, aber der widersprach unter Hinweis auf den Job, den er zu Ende zu bringen habe. Ein paar Stunden Schlaf, und er würde wieder ok sein - genau wie in den letzten Tagen...
   Das wiederum brachte Tod in die Verlegenheit, vielleicht seiner Frau unter die Augen treten zu müssen. Er ließ Sam an der Bar zurück und schleppte Johannes zu einem Taxi. Sie fuhren zunächst Tods Arzttasche und diverse Spritzen holen, und dann begann der Dornenweg, der nicht wirklich einer wurde, weil natürlich auch Lyn sofort erkannte, in welchem Zustand Johannes war. Die beiden gingen sehr sachlich miteinander um, und Johannes - der Frauenversteher - war gerade noch in der Lage, die Blicke der beiden entsprechend wahrzunehmen, um sich sicher zu sein, dass beide wieder einen Weg fänden, ihre Ehe weiter zu führen.
  Zuvor würde er selbst aber zu einer Art Prüfstein für diese werden. Er zitterte Tod den Arztbrief der Jamaikaner zu und fiel nur noch mit einem Slip bekleidet auf das Ehebett der beiden, dass angesichts der Wassermassen, die er wieder verlor, mit zwei Lagen Badehandtüchern bedeckt war. Tod spritzte ihm etwas und flösste ihm den Inhalt eines braunen Tütchens ein, das er mit dem Gemurmel über Amphetamine begleitete. Lyn wies er an, Johannes in der nächsten Stunde noch heiße und kalte Wadenwickel zu legen. Er hörte die zwei irgendwo im Haus noch über ihn streiten. Lyn sagte so etwas wie: Sie dürfe hier die Krankenschwester spielen, während er eine vögeln würde... Dann war Johannes weg.
  Als er wieder aufwachte, donnerte gerade draußen an dem doch so großen Garten einer der mächtigen Band-Trucks voll aufgedreht vorbei, als führe er durchs Haus. Patois:
  "It's suma once, it's suma twice, it's suma threetimes round da band." Johannes war sich - obwohl halb ohnmächtig - ganz sicher, dass es dieser Hit zum Roadmarch bringen würde.
  Lyn hatte ihm einen geeisten Lappen auf die Stirn gelegt und Wickel um seine Waden. Sie saß auf der anderen Seite des Bettes und weinte, wobei Johannes nicht wusste, ob das, was sie sagte, wirklich für ihn bestimmt war. Denn sie sprach detailliert darüber, wie es war mit so einem "Island-Monarch" zu leben, ihn zu lieben, Kinder mit ihm zu zeugen, seine Liebschaften zu ertragen und dabei wie in einem goldenen Käfig zu leben. Derweil wurde die Bananen-Plantage, in der er lag, von einem Buschfeuer erfasst, und die Dekors auf der Tapete verwandelten sich in seinem Wahn in Drachen und Schlangen, die mit feurigen Zungen nach ihm leckten.
  Beim nächsten Erwachen raste eine anderer Bandwagen mitten durchs Schlafzimmer und quer über sein Kopfkissen: "...isn't all that easy!"
   "Hey die kenn' ich. Das sind Swamp!", schrie er aufgeregt in das leere Zimmer. Lyn, die vielleicht schon geschlafen hatte, stürzte aufgeregt herein, weil sie irgendeinen Anfall befürchtete. Johannes war völlig wach und erzählte ihr, um sie zu beruhigen, von seinen "Abenteuern" auf Jamaika. Dann merkte er plötzlich, dass er schrecklich fror und im gleichen Moment wurde er von einem gewaltigen Schüttelfrost erfasst, der schier unendlich zu dauern schien.
   Lyn hatte ihn erst zugedeckt, dann aber begonnen, ihn mit einem leicht brennenden, stark aromatischen Öl einzureiben. Dann passierte etwas sehr Peinliches. Mitten im nächsten Schüttelfrost spürte er eine gewaltige Erektion, die er vor Lyn zu verbergen hoffte, indem er sich auf die abgewandte Seite wälzte. Aber das ließ Lyn nicht zu, sie legte sich - einem Instinkt folgend - vielleicht um ihn zu wärmen, auf ihn. Was für ein Unsinn! Sie war so klein, dass er das Gefühl hatte, sie würde kaum seinen Brustkorb bedecken und ausserdem stieß sie ja mit den Beinen an seine ärgerlich öffentliche Erregung. Dass er ausgerechnet in diesem Moment an eine Biographie über den Maler Egon Schiele dachte, ließ ihn hoffen, das ganze sei nur eine Fieberphantasie. In dieser Biographie wurde gemutmaßt, dass das 28jährige Genie 1918 - nachdem seine Frau Edith hochschwanger zuvor schon an den Folgen der damals grassierenden spanischen Grippe verstorben war -  die  letzten Tage seiner Erkrankung im Dauer-Geschlechtsakt mit zwei seiner Modelle verbracht habe. Sie hatten ihm gewissermaßen den letzten Lebensaft geraubt. Jetzt würde es ihm vielleicht genau so gehen. Schöne Arztgattin! Noch war ja gar nicht klar, ob er nicht ebenso schrecklich ansteckend wäre…
  Aber der Lebenssaft? Wie konnte man totkrank so fürchterlich geil sein? Da musste sich doch wohl irgendeine Art Ur-Instinkt äußern! Er hatte die unendlich schmalen Hüften der kleinen Frau an seinen Mund gezogen. Wie konnten aus einem derart winzigen Becken zwei solche Prachtkinder kommen? Sie hatte geboren! Johannes war sich in diesem Moment sicher, das er das schmecken konnte. Da war wohl aber auch ein Lebenssaft, den sie jetzt selber schmecken wollte, als sie nur noch halb bekleidet auf  ihn kroch und mit ihrer Zunge seinen fiebrigen Körper entlang glitt bis sie in seinem Mund war...
  Es war ein Segen, dass der Sonntag im Carnival traditionell als ruhige Einstimmung auf den folgenden Dauerwahnsinn relaxed begangen wurde. Johannes hatte den Rest der Nacht in tiefem, erholsamen Schlaf verbracht und hätte sich wie neu geboren fühlen können, wäre er nicht vom schlechten Gewissen geplagt worden. Als er zu Lyn in die Küche kam, waren glücklicher Weise die Kids nicht in der Nähe. Dennoch wusste er nicht, was er sagen sollte und behielt die Augen gesenkt, als er dann doch sprach:
  "Ich habe mich wohl nicht wie ein ordentlicher Gast benommen. Es ist auch keine Entschuldigung, dass ich nicht ganz bei Sinnen war..."
  Die zierliche Lyn, die sich beinahe recken musste, um sein Kinn zu erreichen, hob dieses so an, dass sie von unten einen tiefen Blick in seine Augen versenken konnte:
    "Paid in full", sagte sie zärtlich, dann drehte sie sich um, und braute ihm einen der Karibischen Kaffees, in denen sprichwörtlich der Löffel stecken bleiben konnte. Das Radio lief, und ein Referent forderte die Zuhörer nochmals nachdrücklich auf, in den kommenden närrischen Stunden auf keinen Fall der Sünde freien Lauf zu lassen. Er beschwor geradezu ein Horroszenario von dem, was durch die Promiskuität über die Inseln hereinbrechen könnte. Lyn und Johannes brachen fast gleichzeitig in tränendes Gelächter aus.
  Gegen Mittag holte Ed alle samt zu einer der klassischen Carnival- Brunchparties ab, die seine Schwiegermutter auszurichten pflegte. Zum ersten Mal spürte Johannes wieder so etwas wie echten Hunger und aß mit großem Appetit von den Köstlichkeiten, die die Frauen von Bekannten und Verwandten mit großer Liebe und Sorgfalt zubereitet und mitgebracht hatten. Es gab unter anderem Steinkrabben-Scheren in Kokospanade. Jerk-Chicken, Fruchtsalate und einen sagenhaften Krebsfleisch-Curry. Vom Alkohol ließ er in Erwartung des kommenden Nonstop-Narrenreigens lieber die Finger und trank dafür nur leicht gekühlte aber ansonsten naturbelassene Säfte. Das Leben begann sich wieder schön zu färben.
  Gegen fünf Uhr am Morgen des Rosenmontags läutete der Bürgermeister mit der besonderen Glocke am Rathaus den "Jouvay" ein (Patois für Jour Ouvert), und der Roadmarch brach in einer Heftigkeit los, in der sie der ja leicht vorgewarnte Johannes nicht erwartet hätte:
  Johannes blieb die folgenden 36 Stunden - was Sex, Drugs, Salza  und Alkohol anging -  standhaft, obwohl es, im nüchternen Zustand betrachtet, die größere Qual darstellte. Die psychische aber auch physische Leistung, die von allen Teilnehmern dieses Karnevals verlangt wurde, war vor allem wegen des Nonstop-Wahnsinns permanent im roten Bereich. Pausen von Jump-Ups wurden in kaum versteckten Winkeln oft auch noch zu exzessiven, leidenschaftlichen Geschlechtsakten genutzt. Ein paar Mal hatte sogar der nur vom Rande aus beobachtende Johannes, aggressiv vorgetragene Avancen abzuwehren. Erstaunlich waren seine gemischten Gefühle dabei. Hin und her gerissen zwischen animierter Wolllust und schlechtem Gewissen als Ehemann, tauchte auf einmal auch ein Gefühl der Rücksichtnahme gegenüber Lyn auf. Als fände er es einfach nicht statthaft, ihr "Geschenk des Lebenssaftes" nachträglich zu besudeln oder abzuwerten - durch einen one-hour-stand...

 
  Er hatte mit Ed verabredet - um dem Trubel bei der Abfertigung zum Heimflug zu entgehen - bereits am Dienstag, vor dem March über das Savannah, heim zu fliegen. Als er bereits mittags mit seinem Taxi bei beizender Hitze in Sichtweite an dem Park vorbeikam, stauten sich schon  die Mas-Bands in dicht an dicht gedrängten Leibern. Einerseits kam sich Johannes vor wie ein Fahnenflüchtiger, andererseits  war er froh, dass er es überstanden - ja überlebt hatte.
  Am Aschermittwoch 1982 landete ein Johannes, der in den vergangenen zehn Tagen 15 Kilo abgenommen hatte, bei nasskaltem Winterwetter in München Riem. Für den nächsten Tag hatte der alte Johannes bereits einen Termin mit seinen Verlegern auf einer Messe in Berlin angesetzt. Der neue - vom Wege abgekommene - sagte ihn rigoros ab und begab sich sofort in die Obhut des Tropeninstitutes. Gleichgültig wie wütend die Reaktion seiner Verleger war, er wollte zunächst wissen, wie es mit ihm weiterginge. Und er musste auch das schlechte Gewissen gegenüber seiner Familie loswerden. Er war an der Weggabelung zwischen egoistischem, rücksichtslosen Weiterleben und der Akzeptanz einer allgegenwärtigen Sterblichkeit angelangt. Kurios, dass ihm dabei das Ende eines Liedes aus Schuberts "Winterreise" immer wieder durch den Kopf ging. Eine sehr schwere Partitur, die er mit seinem Bariton so gerne sang
Der Wegweiser:
 ... Und ich wand're sonder Maßen
Ohne Ruh' und suche Ruh'
Einen Weiser seh' ich stehen
Unverrückt vor meinem Blick;
Eine Straße muss ich gehen,
Die noch keiner ging zurück!

  Einige Wochen später lieferte Ed Randolphs seine Fotos persönlich ab, weil er  - seit er Jancker und Trachtenhut von Lodenfrey trug - auch eine Schwäche für das Starkbier vom Nockherberg entwickelt hatte. Es war eine Produktion von heiterer Leichtigkeit geworden, die der Sinnlichkeit, die Johannes nicht erleben durfte, voll gerecht wurde. Johannes fälschte seine Reportage, indem er seine persönlichen Gefühle und Erinnerungen gegen die in den Fotos festgehaltene Stimmung der anderen tauschte... Ed berichtete auch - als habe er persönlich das Wunder vollbracht -, dass Lyn und Tod sich versöhnt hätten.
  Die Männerfreundschaft zwischen Johannes und Ed überdauerte fast die gesamten 1980er Jahre. Eines Tages gegen Ende des Jahrzehnts berichteten Bekannte von Johannes, die wiederum Ed nur flüchtig kannten, von merkwürdigen Missionierungsversuchen seines Fotografen. Irgendwie stellte sich in der Folge heraus, dass Scientology komplett Kontrolle über Ed und Charlene gewonnen hatte. Sie hatten ihnen ein schönes safranfarbenes Haus in Wichita-Falls hingestellt und schickten den berühmten Gentleman-Cop Ed Randolphs als "Fotografen des Bösen" auf Vortragsreisen von Staat zu Staat.